Edwards, Jorge
geb. 1931 in Santiago, 1971-73 Ministre conseiller unter Pablo Neruda in Paris, 1973-78 Exil in Barcelona, lebt in Santiago. Auf deutsch liegen vor »Adiós, poeta« (1992), »Der Ursprung der Welt« (2005) sowie »Persona non grata« (2006). (Stand 4/2006)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 5/2004 | Erinnerungen an Pablo Neruda
- 2/2005 | Gespräch mit Joachim Meinert
- 2/2005 | Persona non grata
- 4/2006 | Das Zeitalter der Briefe und andere Betrachtungen
Das Zeitalter der Briefe Die Kommunikation zwischen den Schriftstellern unserer Sprache war, wie wir bei einem literarischen Treffen feststellten, (...)
LeseprobeEdwards, Jorge
Das Zeitalter der Briefe und andere Betrachtungen
Das Zeitalter der Briefe
Die Kommunikation zwischen den Schriftstellern unserer Sprache war, wie wir bei einem literarischen Treffen feststellten, in den Sechzigern und Anfang der Siebziger viel besser als jetzt. Weshalb? Einer von mehreren Gründen liegt darin, daß es ergiebiger war, Briefe zu schreiben, als bloß zu telefonieren, zu mailen und was der Neuheiten mehr sind. Man erhielt und schrieb Briefe, manchmal mit Verspätung, oft in trägem Rhythmus, und doch war das Resultat in bezug auf Information, Freundschaftspflege, Nachdenken und Kritik dem heutigen überlegen. Wir in Chile wußten, wer die Schriftsteller in Argentinien, Peru, Mexiko und Uruguay waren. Hin und wieder traten wir auch mit denen in Spanien in Verbindung. Oder mit den Lateinamerikanern, die in Paris und anderen Städten der Welt vor Anker gegangen waren. Heute führt der Überfluß an Kommunikationsmitteln zu Kommunikationsmangel. Die Fülle der Medien, Bücher, Dinge erzeugt Armut: geistige Verarmung und ein armseliges Leben. Einen Brief zu schreiben hieß einstmals sich zurückzuziehen, zu sammeln, mit ein wenig Stille zu umgeben. Es war ein kreativer Akt, man betrat eine private Sphäre. Die tägliche Post wurde begierig, ja neugierig gesichtet. Heute sehe ich die Post auf dem Flurtisch und halte nicht einmal inne, um sie zu lesen. Sie besteht fast nur aus Werbung, Informationen von Banken und allerlei obskuren Institutionen sowie Einladungen zu Veranstaltungen, die ich mit Sicherheit nicht besuchen werde. Alle verkünden mir in emphatischem Stil Neuigkeiten, die mich kein bißchen interessieren.
Auf einem Kolloquium sprach der chilenische Lyriker Óscar Hahn kürzlich von der technischen Dehumanisierung. Die Funktion von Dichtung und Kunst bestehe darin, daß das echte Kunstwerk, das gute Gedicht, der anspruchsvolle Roman die letzten Zufluchten des Menschlichen bilden, Fluchtburgen gegen den Ansturm des Unmenschlichen, dem wir unablässig ausgesetzt sind. Ich meine, daß eine dieser Zufluchten vor nicht allzu langer Zeit das Genre des Briefes war. Gustave Flaubert zum Beispiel schrieb während der Jahre, in denen er an »Madame Bovary« saß, allabendlich an Louise Colet, seine Geliebte in Paris. Diese nach einem endlosen Arbeitstag niedergeschriebenen Episteln gaben ihm Gelegenheit, sich auszusprechen, seine Gedanken zu ordnen, Bilanz zu ziehen. Wer wissen will, was ein Roman ist, der lese aufmerksam diese Briefe. Auf dem Tiefpunkt berufsbedingter Deformation könnten wir sogar meinen, Flauberts Korrespondenz sei, als Korpus, als außergewöhnliches und einzigartiges Ganzes genommen, besser als sein eigentliches Werk. Das ist natürlich übertrieben. Doch sind die Briefe eine beachtliche literarische Schöpfung, die dasjenige ergänzen und bereichern, was man den Hauptstrang eines Werkes nennen könnte. Ein anderer Autor, der bemerkenswerte, amüsante, scharfe, oft mit einer kleinen Dosis Gift versehene Briefe schrieb, war Stendhal, Henri Beyle. Er unterzeichnete sie mit den verschiedensten Namen oder Spitznamen, da er ein unverbesserlicher Scherzbold und Mythenerfinder war, der sogar gefährlich werden konnte. In der erotischen Weltliteratur gehören James Joyces Briefe an seine Frau Nora zum Außerordentlichsten und Extravagantesten, das je zu Papier gebracht wurde. Joyce eiferte Rabelais und seinem Landsmann Jonathan Swift nach. Er war ein Mann, der bis an Grenzen ging, in gemeinhin verbotene Gefilde vordrang. In seinen Briefen an Nora finden wir eine erstaunliche Mischung aus Zärtlichkeit, Fleischeslust, ja Zoten. Er schrieb wie ein inspiriertes Schwein, das auch eine engelhafte Seite hat.
Tatsache ist, daß wir in der verflossenen Epoche des Briefeschreibens viel mehr von unseren Berufsgenossen, von den Menschen unserer Generation wußten. Ich erhielt damals, in Gestalt der Briefe von José Donoso, Jaime Laso, Jorge Sanhueza, ständig Nachrichten über die Welt und die Literatur. Als ich dann nach Paris übersiedelte und auf indirekte Weise, hinter den Kulissen, beobachten konnte, wie der sogenannte Boom des lateinamerikanischen Romans einsetzte, fand ich in der Post Sendungen von Mario Vargas Llosa, Julio Cortázar, Carlos Barral und Cristián Huneeus, der damals im englischen Cambridge studierte und an einer Dissertation über Joseph Conrad saß. Zahlreiche Zuschriften, meistens solidarisch, manchmal kritisch, bekam ich, nachdem ich »Persona non grata« veröffentlicht hatte, also Anfang 1974. Bald darauf wurde das Zeitalter der Briefe durch das des Telefonierens abgelöst, und damit begann, so scheint mir, der Abstieg. Vom Telefonieren gingen wir zum Faxen über, Faxe sind so etwas wie Pseudobriefe, und von da zum Mailen. Mails sind stets in Eile geschrieben, ohne Syntax, ja ohne Orthographie und oft voller Viren, welche der Lepra ähneln. So sind wir von den schönen Briefen früherer Zeiten zu einer leprösen Kommunikation gelangt, und dabei bilden sich manche Leute ein, wir hätten Fortschritte gemacht. Ich erkläre mit allem Nachdruck, daß wir keineswegs vorangekommen, sondern große Schritte rückwärts gegangen sind. Der Verfall des Briefeschreibens, der traditionellen Post, ist Symptom und Sinnbild einer tristen Realität.
Ich erinnere mich an Post, die voller Überraschungen steckte, an Schreiben, die poetische Objekte verkörperten, an lyrische Episteln, Briefe voll schwarzen Humors oder in allen Farben des Regenbogens. Jorge Sanhueza, dem man im Literaturbetrieb allenthalben begegnete und der doch nie ein Buch vollendete, war ein außerordentlicher Briefschreiber. Wären wir ein Land der Kultur, hätte man die ausgewählte oder vollständige Korrespondenz von Jorge, den wir alle nur Keke nannten, längst herausgegeben. Ein anderer großer Briefschreiber war Luis Oyarzún Peña, er füllte Blatt um Blatt mit seiner regelmäßigen, winzigen Schrift, zart wie Fliegenbeinchen. Lucho schilderte mir in zwei bemerkenswerten langen Briefen, die mit normaler Luftpost von Valdivia nach Paris gelangten, das geistige Klima, das während der Unidad Popular in der extremen Linken und der extremen Rechten herrschte. Heute würde sich kein Mensch diese scheinbar unnütze Mühe machen. Briefe gehören zu einer Zeit, als die Literatur noch weit davon entfernt war, lediglich eine Ware unter vielen zu sein. Briefeschreiben war ein schöner, uneigennütziger Zeitvertreib, eine Übung in Freiheit und Freundschaft.
Stets amüsant waren die Schreiben von Pablo Neruda, obwohl er für gewöhnlich schwer erfüllbare Wünsche äußerte. Neruda frönte dem abscheulichen Laster der Sammelwut. Mit Begeisterung häufte er allen möglichen Krimskrams an, und wir, seine Freunde, waren die bevorzugten Opfer dieser seltsamen Neigung. Einmal schrieb er mir einen langen Brief, in dem er mich bat, das Village Suisse, einen etwas besseren Flohmarkt in der Nähe des Eiffelturms, aufzusuchen und zwei schottische Regimentstrommeln zu erstehen. Die wären teuer, warnte er, aber ich sollte nicht feilschen, weil sonst die Gefahr bestünde, sie nie mehr zu ergattern. Am Rand hatte er verschiedene Trommeln skizziert. Manche waren durchgestrichen mit dem Hinweis: »die nicht«, andere unterstrichen, weil gewünscht. Ich übernahm den Auftrag, fragte im angegebenen Laden und suchte im ganzen Village Suisse, dann mußte ich ihm mitteilen, die entsprechenden Regimenter seien aufgelöst worden, die berühmten Trommeln auf immer verschwunden. Zur Antwort schrieb der Dichter, diese hallten immerfort in seinem Herzen nach, mit feierlich-traurigem Wirbel. Es war wie eine Klage aus der »Barkarole« oder einem anderen Gedicht aus »Aufenthalt auf Erden«.
Ich könnte von den Liebesbriefen erzählen, die ich in den langen Sommermonaten meiner Jugend- und Knabenjahre bekam, von manchem Geheimbriefchen, von einer Nachricht, die mit einer gezeichneten Schnecke begann. Eine Schreiberin versicherte mir, sie habe ihre Epistel auf einem Baumwipfel verfaßt. Es war ein furchtloses modernes Mädchen, das Albert Camus und Simone de Beauvoir las, ich hatte keinen Grund, ihre Behauptung anzuzweifeln. Jetzt, da ich mich dem vorgerückten Alter nähere, komme ich mir wie eine Reliquie aus der Epoche der Korrespondenz vor, ein allerletzter Briefschreiber. Anfang 1971 frühstückte ich im Quartier Latin mit Graham Greene, dem Autor von »Das Herz aller Dinge« und anderen Meisterwerken, und mit Cristián Casanova, dessen Romane zwar voll guter Absichten waren, aber nicht an die des englischen Schriftstellers heranreichten. Nach jener Begegnung korrespondierte ich mit Greene. Neben der Literatur verband uns damals hauptsächlich das Thema Kuba. Ich war jedesmal überrascht, wie rasch er meine Briefe beantwortete. Die Schriftsteller seiner Zeit waren zuverlässige Briefpartner. In Greenes Briefkopf stand eine Adresse im französischen Hafenstädtchen Antibes, sie lautete, wenn ich nicht irre, Quai aux Fleurs. Ein paar Briefe von Greene zu besitzen, dringliche Aufträge von Neruda, mit Zeichnungen verzierte Episteln von Keke Sanhueza, dazu das Liebesbriefchen eines Mädchens, geschrieben im Gezweig eines Baums, mit Blick auf das Meer im Süden Chiles – das alles hat sich gelohnt. Hätten wir damals schon Mail und Internet gehabt, wäre das alles unvorstellbar gewesen.
Vier Briefe an Jorge Edwards
Salvador Reyes
Athen, 27. Januar 1952
Lieber Freund,
wie zum Teufel bringen Sie es nur fertig – als ob nichts dabei wäre –, so tief in die Empfindungen einzudringen, die Figuren unter die Lupe zu nehmen und im Leser so starke Gemütsbewegungen hervorzurufen? »Gente de la ciudad« hat mich zauberhafte Momente genießen lassen. Ich mag das ganze Buch, doch vor allem »Cielo de los domingos« und »Rosaura«. Ich glaube, wir alle finden uns wieder in Doña Celinda, an jenen hellen, leeren Sonntagen in harmloser häuslicher Einsamkeit, welche dennoch die schreckliche und absolute Einsamkeit des Lebens ist.
Vor allem aber »Rosaura«. Mit welch unglaublicher Einfachheit Sie alle ihre Enttäuschungen resümieren. Das ist erlebt, und ich habe es mit Ihnen in der Wirklichkeit des Geschriebenen erlebt, die ja die wahre ist. Warum haben Sie später nicht mehr nach Rosaura gesucht? Warum habe ich nicht nach meinen Rosauras gesucht? Es hat mich wütend gemacht, auf Sie und auf mich.
Wenn inmitten der Dummheit und der Schulmeisterei im chilenischen Geistesleben noch eine Spur Geschmack übrig ist, muß Ihr Buch ein großer Erfolg werden.
Wann kommt ein Roman? Sie sind mehr als reif dafür.
Ich gratuliere Ihnen aufrichtig und danke Ihnen, daß Sie sich meiner erinnert haben, um mir Ihr Buch zu schicken.
Mit herzlichen Grüßen
Salvador Reyes
P. S. Ich schreibe Ihnen ins Ministerium, weil ich Ihre Privatadresse verlegt
habe.
Casilla 3674
Valparaiso (Chile)
14. Juni 1963
Lieber Jorge:
Die verstummten Trommeln hallen in mir nach und versetzen mich in schmerzenden Pessimismus. Das Hinscheiden des »Ruedo Ibérico« war diesen toten Trommeln zuzuschreiben. Claudio hat mir jetzt eine gute Nachricht verkündet. Er hat die Trommel, ohne die kein Leben möglich ist, auf dem Grunde des Loch Ness entdeckt.
Modus operandi: beiliegend findest Du eine Vollmacht, um meine restlichen Honorare bei Gallimard abzuheben. In Absprache mit dem genannten Véliz und sofern die Summe den Zwecken entspricht, wirst Du Claudio durch Vermittlung Profumos oder seiner Schönen oder über sonst einen Kanal einen angemessenen Betrag zukommen lassen. Es scheint, daß er die Trommelsache übernehmen wird.
Lieber Jorge: in Paris wird ein Buch von mir, auf spanisch, zum Verkauf angeboten.
Es heißt »Sumario« und war ich weiß nicht wo ausgestellt. Es ist ein drucktechnisches Meisterwerk. Obwohl ich kein Honorar dafür bekomme, bin ich daran interessiert, daß die Exemplare dieser von dem großen italienischen Drucker Alberto Tallone hergestellten Edition verkauft werden. Der einzige, der Dir sagen kann, wo es verkauft wird, ist der italienische Kulturattaché in Paris.
Ich sage Dir das, damit Du es Lesern von mir, denen Du unterwegs begegnest, empfiehlst. Wir sind begierig, Neuigkeiten, auch von der Familie, zu hören. Übrigens möchte ich, daß Du uns einen Deiner schalkhaften Briefe schenkst, die wir sofort zerreißen, aber auf immer in Erinnerung behalten.
Es umarmt dich
Pablo
Mario Vargas Llosa
Lima, 7. Juli 1966
Lieber Jorge,
ich habe es geschafft, Dir eine Ansichtskarte mit Rothäuten aus einem Nest in Colorado zu schicken, durch das wir auf dem Wege nach San Francisco mit dem Bus fuhren, aber ich bezweifle, daß Du sie erhältst, weil ich die Adresse nicht richtig angegeben habe. Wir waren ein paar Tage in New York auf dem PEN-Kongreß, eine riesige, langweilige Veranstaltung, dauernd Cocktails und Picknicks und Dinners, die Patricia und ich systematisch mieden. Das einzig Amüsante war die New Yorker Apotheose Nerudas, die fast eine sozialistische Revolution im Yankee-Paradies ausgelöst hat. Der erlauchte Dichter wandelte mit einem Gefolge von Kameraleuten, Fotografen und Autogrammjägern umher; er veranstaltete Lesungen vor großem, frenetisch begeistertem Publikum; seine Übersetzer küßten ihm die Hand auf dem Podium, und alle PEN-Gewaltigen widmeten sich der Aufgabe, ihm zu Diensten zu sein und ihn nachzuahmen. Dieser Erfolg war dem Romancier Sábato unerträglich, welcher 48 Stunden nach seiner Ankunft in New York nach Argentinien heimkehrte, von Neid zerfressen. Er zerrüttete auch die Nerven Nicanor Parras, der sich den ganzen Kongreß über in seinem Hotelzimmer verkroch, und wenn er sporadisch einmal daraus auftauchte, sah man ihn bärtig und schweigsam, deprimiert und neurotisch. Ebenfalls in New York waren der sympathische Martínez Moreno, Onetti (der wie eine Romanfigur von Onetti wirkt), Emir, der seine brandneue Zeitschrift verteilte (sie erschien mir miserabel, und Dir?) … Ich glaube, Schriftstellerkongresse sind eine Dummheit, nur dazu nutze, das Schlimmste zu zeigen, was Schriftsteller an sich haben (besser gesagt, was wir an uns haben).
Ich bin erst gestern abend in Lima angekommen, packe aber gleich wieder meine Koffer, um sofort aus diesem Loch zu verschwinden. Wir müssen zum Monatsende in Buenos Aires sein wegen des Primera Plana, und von da reisen wir nach Europa, direkt nach London, denn es wäre sehr schwierig, mit der Macht des Schicksals auf dem Buckel weitere Zwischenstationen einzulegen. Don Álvaro ist in diesem Monat noch dicker geworden und hat sagenhaft zugenommen, und wenn wir nicht bald abreisen, fürchte ich, daß sie uns im Flugzeug wegen seiner strammen Figur einen zusätzlichen Sitz berechnen. Ich weiß nicht, was wir nach der Ankunft in London machen, vielleicht kannst Du mir behilflich sein. Es sieht so aus, als ob wegen der Fußballweltmeisterschaft im perfiden Albion derzeit kein Hotelzimmer zu bekommen ist. Sind die Véliz immer noch dort? Ich habe seine Adresse nicht, um ihn zu bitten, uns bei der Suche nach einer nicht gar zu teuren Pension oder einem kleinen Apartment zu helfen. Könntest Du ihm ein paar Zeilen schreiben? Ich rechne, daß wir zwischen dem 15. und 20. August in London ankommen. Schon jetzt fordere ich Dich, mein lieber Alter, nachdrücklich auf, mich zu besuchen, auf daß wir lange und ausführlich über Millionen von Dingen reden können. Auch ich vermisse unsere sonntäglichen Gespräche sehr. Hier habe ich mit fast niemandem über Literatur geredet, und obwohl ich noch mit einigen Leuten verkehre, habe ich den Eindruck, daß mir kaum Freunde geblieben sind. In diesem Drecksland wird einem sogar die Freundschaft allmählich vermasselt.
Es freut mich zu hören, daß Du täglich schreibst und daß es mit dem Erzählungsband vorangeht. Ich bin mir sicher, es wird ein gutes Buch, denn ich erinnere mich deutlich an die Erzählungen, die Du mir vor meiner Abreise geliehen hast – vor allem an die Geschichte vom Hahn, vom kleinen Platz, vom alten Junggesellen und seiner Mutter –, und ich glaube, das ist der größte Triumph einer Erzählung oder eines Romans: daß sie im Gedächtnis bleiben. Ich habe einen ganzen Monat nicht geschrieben, wegen der Reise, aber jetzt will ich wieder arbeiten und den Roman vom Leibwächter ein Stück voranbringen. Obwohl ich über meine ganze Zeit verfügen kann, ist das deprimierende Peru derart deprimierend, daß es mich fürchterliche Anstrengung kostet, ein paar Stunden an der Maschine zu verbringen. Ich konnte dir »Das grüne Haus« nicht schicken, weil Barral wohl vergessen hatte, daß ich mich in Lima aufhielt, und die mir zustehenden 20 Belege in den Parc des Expositions schickte! Klingt wie ein Witz, stimmt aber. Bitte erklär das den Benedettis, den Flakolls, den Cortázars. Sie müssen sich gewundert haben, daß ich ihnen meinen Roman nicht schicke. Ich habe zwei Rezensionen dazu gelesen, eine von hier, die andere aus Buenos Aires. Die peruanische ist des Lobes voll, aber sehr dumm; die argentinische ist ernster zu nehmen, aber drischt kräftig auf mich ein.
Danke für die Dollars. Mach Dir keine Sorgen wegen dem Rest. Du kannst sie mir nach London schicken, sobald Du dazu in der Lage bist. Teile Umarmungen von mir an alle Freunde aus, an die Lihns, die Davids, an Benedetti etcetera.
Liebe Grüße an Pilar und die Neffen. Sei kräftig umarmt, Alter.
Mario
Sei mit dem Antworten nicht so träge wie ich und schreib mir bald.
José Santos González Vera
Stgo., 9. Januar 1967
Lieber Freund Jorge,
ich habe Ihren Roman seinerzeit gelesen, weil Hernán del Solar ihn mir zukommen ließ. Ich habe ihn in zwei Nächten durchgelesen. Er ist faszinierend und hinterläßt im Gemüt ein schmerzliches Gefühl, vielleicht wegen des fürchterlich schäbigen Lebens des jungen Helden, vor allem die Szene, in der er angetrunken mit einer Frau loszieht, die ihn am Ende bestiehlt. Das Buch hat klare Konturen, und obwohl, glaube ich, inzwischen zwei Jahre vergangen sind, habe ich noch immer die Mutter und das Mädchen, die sympathischste Figur der ganzen Familie, vor Augen, und natürlich den Helden, gegen den ich etwas habe, nicht, weil er nicht real oder schlecht geschildert wäre, sondern weil ich eine instinktive Abneigung gegen ihn empfinde. Ihr Buch ist eines, das man nicht vergißt, vielleicht muß man es mehrfach lesen. Sobald ich das Exemplar zurückbekomme, das Sie mir geschenkt haben und dessen Empfang ich erst jetzt bestätige, werde ich es mir erneut vornehmen. Hier wurde es gut aufgenommen. Ich konnte Ihnen damals nicht schreiben, weil ich viele Monate lang Herzprobleme hatte, die mir allen Lebensmut raubten, jetzt aber, in der warmen Jahreszeit, schreibe ich meinen Freunden. Bitte grüßen Sie Ihre Frau und seien Sie umarmt von einem Freund und Bewunderer. (Die Leute, mit denen ich verkehre, mögen es alle, so daß Sie in aller Munde sind.)
González Vera
Aus dem Land der Schafe
In Erwartung schlafloser Nächte muß ich mich beim Zubettgehen mit Büchern umgeben. Und so bin ich stets mit mehr oder weniger schwerem Gepäck unterwegs. In den letzten Wochen lebte, reiste, ja schlief ich sogar mit einem dicken Band von Jonathan Swift, dem irischen Dekan, der in der zweiten Hälfte des 17. und bis weit ins 18. Jahrhundert (1745) in Irland und England lebte. In meiner Jugend las ich »Gullivers Reisen«, und später habe ich für einen Verlag, der nie wirklich existierte, die »Reise ins Land der Houyhnhnms« übersetzt. Als ich vor kurzem die Geschichten des Schiffsarztes und Kapitäns Lemuel Gulliver wiederlas, meinte ich, nie in solche Fernen wie er vordringen zu können. Geleitet vom Zufall, von Neugier und Abenteuergeist, kommt Gulliver auf jeder seiner Reisen – mit leichtem Gepäck, ohne den Anker von Büchern – von seiner Route ab und findet sich alsbald, wie in einem Traum versinkend, in einem seiner imaginären Länder wieder. Es handelt sich gewissermaßen um philosophische Fiktionen, aber zugleich um weit mehr. Neben Vorwänden oder Lehrfabeln sind es echte Gefilde der Imagination, beunruhigende Räume, in denen die präzisen Gesetze der phantastischen Literatur gelten. Daher rührt der Erfolg Swifts, eines keinesfalls einfachen, ja äußerst luziden, erbarmungslos-bitteren Schriftstellers, als Kinderbuchautor. Die Spiele der Lilliputaner mit ihren Juckreiz erzeugenden Pfeilen, der Riesen, der Bewohner einer fliegenden Insel, der edelmütigen Pferde sind als Metaphern zu lesen, aber auch als Erzählungen, die für sich stehen. Vergessen wir nicht, daß Doktor Samuel Johnson den Autor Swift in seine »Lebensbeschreibungen der Dichter« einreihte. Der irische Kleriker war ein gewaltiger satirischer Schriftsteller, ein leidenschaftlicher Kämpfer, ein wütender Feind der neuen, vom Geld und vom Bürgertum geprägten Zeiten, ein Verfechter archaischer, ländlicher, konservativer Lebensformen. Doch abgesehen davon schuf er, einer der größten Prosaschriftsteller englischer Sprache, auch Fiktionen. So jedenfalls hat ihn eine ganz anders geartete, anscheinend entgegengesetzte Persönlichkeit wie der ebenfalls aus Irland stammende James Joyce immer verstanden. Der historische Swift und der seiner Erfindungen sind in einem der komplexesten Romangebilde des 20. Jahrhunderts, in »Finnegan’s Wake«, miteinander verflochten. Da Joyce ein großartiger Parodist war, könnte man behaupten, er habe Swift gleichsam zu seinem Heteronym gemacht. Ohne Swifts »Tonnenmärchen« oder den »Bescheidenen Vorschlag« würde es Joyces gewaltiges Gelächter nicht geben.
Ich reiste also, einen dicken Band Swift im Gepäck, weit hinunter ins chilenische Patagonien, zu einer Buchausstellung in der Stadt Coyhaique. Und zwar völlig arglos, ohne Kenntnis und vorherige Erkundung der Gegend, ohne vorgefaßte Ideen. Just so, wie Gulliver reiste oder zu reisen behauptete. Als ich auf dem Flughafen Balmaceda landete und in einiger Entfernung die zwei roten Gebäude der argentinischen Zollverwaltung erblickte, dachte ich, hinter den verschneiten Bergen müßten sich Swifts Länder befinden, in die man nach dem Durchqueren eisiger, schon vor hundert Jahren niedergebrannter Wälder gelangte, vielleicht mitten in der Pampa gelegen, die sich dort bis nach Chile erstreckt. Ich behielt den Gedanken für mich. Es erschien mir unklug, derlei gegenüber den wildmähnigen jungen Männern und den Mädchen in plissierten Miniröcken zu äußern, die wie rasende Automaten zum Rap tanzten, und ebensowenig gegenüber den Einwohnern der zweiten Generation von Coyhaique, die in Erinnerungen an den »Krieg von Chile Chico«, die großen und blutig niedergeschlagenen Streiks auf den patagonischen Viehfarmen der zwanziger Jahre, schwelgten, von ihren Erlebnissen erzählten und gegen fast alles waren, zumal wenn es aus dem fernen, nicht faßbaren, ins Unwirkliche verschwimmenden Zentrum des Landes kam. Die wild zuckenden Raptänzer gehörten zur Rasse der in sich gekehrten Wesen, die Gulliver im Reich Laputa vorfand: »Ihre Köpfe«, erzählt der Schiffskapitän, denn man muß darauf bestehen, daß hier die imaginäre Gestalt Gulliver und nicht der Dekan von St. Patrick spricht, »waren sämtlich entweder nach der rechten oder nach der linken Seite geneigt; das eine Auge war einwärts gekehrt, das andere geradewegs empor gerichtet zum Zenit. Ihre Obergewänder zierten Bilder von Sonnen, Monden, Sternen, durchsetzt mit Geigen, Flöten, Harfen, Trompeten, Gitarren, Cembali und allerlei anderen, bei uns in Europa gänzlich unbekannten Musikinstrumenten.«
Die jedoch im fernen Patagonien mit seinen hohen, dünnstrahligen, auf den ersten Blick wie gefroren wirkenden Wasserfällen sowie den zahlreichen Höhlen mit heiligen Stätten und brennenden Kerzen die natürlichste Sache der Welt sind und sich samt ihren Zeichen und Symbolen deuten lassen. Die in Monde und Geigen gekleideten Gestalten, die auf der fliegenden Insel umherzogen, waren so in Gedanken versunken und pflegten ein derart schwindelerregendes Geistesleben, daß sie ab und zu durch einen leichten Klaps geweckt werden mußten. Sofern sie es sich leisten konnten, wanderten sie in Begleitung von Gehilfen, die Stöcke mit einer Blase voll Erbsen und Kieseln mit sich führten. Um sie damit auf Mund und Ohr zu patschen und wachzuhalten!
»Gullivers Reisen« reißen uns aus unserer Routine, lassen uns die Landschaft mit anderen Augen betrachten, indem sie auch uns zur Anregung und Warnung einen Klaps geben. Sie sind ein Lobgesang auf die Relativität aller Dinge, auf die Toleranz und die Unverzichtbarkeit der Kritik, aber auch auf die Notwendigkeit des Witzes. Nur ein eifriger Leser der englischen Satiriker wie Machado de Assis, der vor etwa einem Jahrhundert lebende brasilianische Autor, konnte uns im Vorwort zu seinem Roman »Don Casmurro« erklären, er habe sein Buch mit der »Feder des Witzes und der Tinte der Melancholie« geschrieben. Wenn eine menschliche Gesellschaft auf ein Zehntel ihrer Größe schrumpft oder sich um das Fünffache vergrößert, springt das Lächerliche bestimmter Situationen sofort ins Auge. Man kann Menschen, die zehnmal so klein sind wie wir, nicht lieben. Und auch nicht die Haut einer Riesin bewundern, mögen ihresgleichen sie auch als jung und glatt preisen. Das erzwingt die Feder des Witzes, wenn sie in reichlich mit Galle versetzte Tinte getaucht wurde. Die Bewohner von Lilliput zum Beispiel führen mit ihren Nachbarn aus dem Lande Blefuscu langwierige, grausame Kriege über die Frage, wie ein Ei aufzuschlagen sei. Es gibt die Rundendler, die es an der runden Seite aufschlagen, und ihre Widersacher, die ihr Leben für die entgegengesetzte Theorie einsetzen, daß man mit der Spitze beginnen müsse. Die grundlegenden Lehrbücher enthalten lediglich die Regel, daß die Anhänger des wahren Glaubens das Ei »am passenden Ende« aufschlagen sollten. Mit anderen Worten, die fanatisch verfochtenen Ideen, welche die Welt erschüttern, haben nicht den geringsten Sinn. Dies will uns Dekan Swift sagen, jener Mann, der zum Paladin der Torypartei wurde, weil er so vieles in den modernen Gesellschaften verabscheute. Seine politische Vision verband sich mit leidenschaftlichem Einsatz für die Rechte des Parlaments gegenüber dem Absolutismus. In seinen letzten Jahren wurde er zudem zu einem Verfechter der irischen Freiheitsrechte. Er war ein Andersdenkender, ein liberaler Konservativer, ein direkter Vorgänger von Schriftstellern aus der Familie von Aldous Huxley, Bernard Shaw und George Orwell. Die literarische Phantasie von »1984« oder der »Farm der Tiere« steht »Gullivers Reisen« nicht allzufern, doch erscheinen mir Swifts Fiktionen subtiler, geheimnisvoller, überraschender. Man könnte behaupten, Swift sei der englische Schriftsteller, der – trotz der gewaltigen Unterschiede – Kafka am nächsten kommt. Er befindet sich wie Joyce, sein literarischer Verwandter, in engster Nachbarschaft zu Rabelais.
Es ist eine einzigartige Erfahrung, Swift in den legendären Gefilden Patagoniens zu lesen, unter den Sternen des äußersten Südens unseres Planeten. Seine Methode besteht darin, die vermeintlich normale Wirklichkeit von fernen Landen aus zu betrachten, aus der Anormalität, und also entsprechend der Beziehung von Einbildungskraft und Anormalität. Er hat ein Genre erfunden, das wir die philosophische Reise nennen könnten, zu dem auch die »Persischen Briefe« Montesquieus gehören. Nun gibt es jedoch Gegenden, in denen jede reale Reise sogleich etwas Irreales bekommt. Natürlich vermittels Imagination und Literatur. Jemand schlägt mir einen Ausflug vor, um die Umgebung von Coyhaique zu erkunden. Nach einer hartnäckigen Legende gab es im Süden, hinter einem Gebirgszug, einen lauwarmen See, dessen Wasser das Leben verlängerten. Dort erhob sich die Stadt der Cäsaren, das patagonische Gegenstück zu El Dorado und vielen anderen magischen Räumen. Eines Morgens steigen wir im Dauerregen zu viert in einen Jeep und fahren auf einer Bergstraße zwischen Wasserfällen, Schluchten, Landschaften mit bemoosten, seit hundert Jahren verdorrten Bäumen dahin. In der Ferne erkennen wir die gewundenen Ufer des Lago Elisalde, der sich Dutzende von Kilometern durch die Ausläufer der Kordilleren zieht. Man hat uns von einem Haus auf einer
Landzunge zwischen zwei Seen berichtet, wo wir Unterkunft fänden. Dort ist alles verbarrikadiert, so daß wir an einen Irrtum glauben. Dicke, moosüberwucherte Baumstämme versperren uns den Weg. Der Besitzer des Jeeps ist genauso starrköpfig wie ich, wir gehen durch eine Pforte und stapfen durch den Schlamm, heftiger Regen peitscht uns ins Gesicht. Nach einer Weile erblicken wir vor uns zwei Gestalten: eine massige untersetzte Frau in gelbem Regenmantel und etwas, das wie ein fetter Hund aussieht und genauso groß ist wie sie. Die beiden Wesen nähern sich gemessenen Schrittes. Als sie herangekommen sind, erweist sich der vermeintliche Hund als ein riesiges Schaf, das gehorsam neben ihr her trottet, spitznasig, mit rötlichen, friedfertigen Äuglein. Wir fragen nach dem Mann, der das Haus weiter hinten verwaltet. Man hat uns was von einem großen Kamin vorgeschwärmt, von hohen Fenstern, die auf ineinander mündende Seen hinausgehen, von einem Lamm, das man uns auf Holzkohle grillen würde. »Lamentariamente«, sagt die Frau im gelben Regenmantel, »leider ist der Verwalter gestern oder vorgestern weggefahren, zu seinen Eltern.« Das massige Schaf blickt die Frau an. Dann uns, mit ironischer Miene, und mit geschlossenem Maul scheint es das falsche Wort zu korrigieren: »Lamentablemente«. Ich erkläre meinem Begleiter, daß wir im Land der Schafe angekommen sind, und er weiß nicht, ob ich es ernst meine. Ich wiederum vermute, daß die Schafe vom Lago Elisalde hochmütigere Geschöpfe sind als die Houyhnhnms, Gullivers Pferde, interessanter und angenehmer als die Yahoos, die entarteten Menschenwesen, die ihnen dienen, und daß sie einen bemerkenswerten Sinn für Grammatik und Philologie besitzen, im Unterschied zu den Bewohnern der fliegenden Insel, die nur etwas von Mathematik, Geometrie und Musik verstehen. »Was hast du entdeckt?« fragen mich die junge Journalistin und der ältere Schriftsteller, die im Auto geblieben sind. »Das erkläre ich euch noch«, erwidere ich. »Sobald wir ein Dach über dem Kopf und ein Glas Wein vor uns haben.«
Die Lilliputaner sind wir selbst, durch ein umgekehrtes Fernrohr betrachtet. Auch die Riesen sind wir, in vergrößerter Form. Die Bewohner der fliegenden Insel Laputa verkörpern den Irrwitz unseres logischen, mathematischen, musikalischen Verstandes, der tadellos und brillant funktioniert, aber gefährlich wird, sobald er darangeht, seine Theorien zu verwirklichen. Es sind Wesen, die zur Zerstreutheit, Geistesabwesenheit und Realitätsverweigerung neigen und die man deshalb wach halten muß. Die Pferde, die Houyhnhnms, sind die verkannten Edlen, die die Wahrheit unbedingt respektieren, eine Rasse, die sich elliptischer Wendungen bedienen muß, um den Begriff der Lüge auszudrücken, was nur die Menschen, zu ihrem Unglück, perfekt beherrschen. Die Yahoos sind degenerierte Menschen, Zerrbilder an der Schwelle zum Tierhaften. Gullivers neues Land, das der grammatisch und philologisch bewanderten Schafe, wartet noch auf seinen Erforscher und Erzähler. Womöglich entsprechen die Schafe einer Kategorie von Kritikern, die im »Tonnenmärchen« definiert wird, oder vielleicht müßte man sie als eine neue Kategorie erfassen. Swifts Humor erzeugt mitunter ein wahnsinnig machendes Ohrensausen. Man lese den »Bescheidenen Vorschlag, wie man es verhüten kann, daß die Kinder armer Leute in Irland ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen, und wie sie der Allgemeinheit nutzbar gemacht werden können«, eine Sammlung von Ratschlägen und Rezepten, wie man in Hungersnöten die Kinder Irlands verspeisen könnte. Jonathan Swift, der Dekan von St. Patrick, hatte, so heißt es, den Verstand verloren, als er mit achtundsiebzig Jahren starb, und er wurde an einem Ort begraben, wo, wie die Grabinschrift sagt, »grimmige Empörung ihm
nicht mehr brechen kann das Herz«.
Übermaß
Es ist viel die Rede von den Problemen der Kultur, von der Notwendigkeit, sie zu fördern. Eine offensichtliche Schwäche der heutigen Kultur ist jedoch das Übermaß an Minderwertigem und Mittelmäßigem. Nehmen wir beispielsweise die Bücher. In Mexiko, so höre ich, hat man darüber nachgedacht. In Spanien, Argentinien, Chile hingegen fehlt eine solche Diskussion. Es gibt in der spanischsprachigen Buchproduktion ein deutliches Überangebot und ein sichtbares Absinken von ästhetischem Anspruch, intellektueller Strenge, handwerklicher Qualität. Man geht in irgendeine Buchhandlung in Madrid und ist erschlagen von der Fülle der Titel. Wird deshalb tatsächlich mehr gelesen? So sollte es sein, aber so ist es offenbar nicht. Eine Verlegerin erklärt mir, der Verkauf entspreche bei weitem nicht der erheblich gesteigerten Produktion. Sie sieht eine Krise heraufziehen und prophezeit eine baldige, dramatische Korrektur. In Frankreich habe man diese bereits vorgenommen, sagt sie. Dort überlege man jetzt zweimal, ehe man sich für einen neuen Autor, eine neue Übersetzung, eine neue Buchreihe oder einen neuen Themenstrang entscheide. Gleiches stehe in Spanien und der hispanischen Welt bevor.
In meiner Jugend war Schreiben eine ausgefallene, originelle Berufung. Heute ist es lediglich ausgefallen, keine literarischen Ambitionen zu haben und keine Romane oder Gedichte zu verfertigen. Ein großes Gedicht oder ein herausragender Roman sind Inseln inmitten des allgemeinen Scheiterns, Zufluchtstätten des Menschlichen. Die Vermehrung der Schreiberlinge garantiert jedoch nicht, daß weiterhin solche Werke geschaffen werden. Die Literatur bedarf weniger Schriftsteller und eines großen Kreises anspruchsvoller Leser. Zur Zeit vollzieht sich die umgekehrte Entwicklung.
Das Übermaß, paradoxerweise begleitet von Verarmung, ist eines der Hauptphänomene heutigen Lebens. Ich weiß nicht, ob es dafür eine Lösung gibt. Wir treten auf die Straße und sind sofort mit einem Überfluß an Autos, Läden, Musikkonserven und Werbebotschaften konfrontiert. Wir kommen auf einen Flughafen und meinen, alle Welt sei auf Reisen. Die Menschen schlafen auf Bänken, auf dem Fußboden, in irgendeinem Winkel. Nach allem und jedem muß man sich anstellen, und obendrein gerät man in Streiks. In Zeiten von Verkehrsüberlastung, sommerlicher Hysterie und massenhaften Reiseverkehrs entfaltet ein Streik letale Wirkung. In einer Gesellschaft, in der alle Druck machen, dem schnellen Geld nachjagen, unverhohlen triumphalistischen Ideologien folgen, ist es nicht verwunderlich, daß Gruppen in vorteilhaften Positionen diese zumindest zeitweise auszunutzen versuchen. Wenn ich Pilot bin und sehe, wie ruhelose, rauschhaft getriebene Massen von mir abhängen, ist es kein Wunder, daß ich davon profitieren will. Ich glaube, das täten die meisten. Daß es sich um Faschisten handele, die noch in der Franco-Luftwaffe dienten, diese Erklärung überzeugt mich nicht. Ich denke, es sind Menschen des modernen Lebens, der modernen Gesellschaften. Mit ihren vielfältigen Formen des Übermaßes führen sie uns alle zum Exzeß und zum Irrsinn.
Ich sehne mich nach der Zeit, als es wenige, aber gute Bücher gab, reizvolle, faszinierende Bücher, und man sich vornahm, sie alle zu lesen. Obwohl man es letztlich nicht schaffte. Jetzt stehe ich vor den überladenen Büchertischen und spüre die Last, auswählen zu müssen. Oft nehme ich am Ende doch nichts. Ein andermal bin ich in einer fremden Wohnung, ziehe ein Buch aus dem Regal, einen mir unbekannten Text oder einen Klassiker, der mir aus dem Sinn gekommen war, und verschlinge ihn. Es gibt zu viele Bücher und sogar, wage ich zu behaupten, zu viele Schriftsteller. Früher wurde mir bisweilen angetragen, eine Werkstatt für »kreatives Schreiben« zu organisieren (wie schwer, diesem Anspruch gerecht zu werden!), ich schlug als bescheidenere Alternative eine Lesewerkstatt vor. Wer eine solche leitet, muß lesen, bis ihm der Kopf platzt, und wie der gewitzte Leser weiß, sind Exzesse nie heilsam. Wenn man mir heute eine Werkstatt oder ähnliches antrüge, würde ich einen Kurs zur Schreibentwöhnung vorschlagen. Wir alle haben das Recht zu schreiben, wie mir jemand mal sagte, aber auch ich habe das Recht zu erklären, daß ein guter Leser einen mittelmäßigen Autor tausendmal aufwiegt. Er beteiligt sich nicht daran, die Welt mit bedrucktem Papier zu verstopfen, sondern steckt andere mit seiner Leselust an.
Der mit dem spanischen Liberalen und Chilereisenden José Joaquín de Mora befreundete englische Romantiker William Blake sagt in einem Gedicht, die Straße des Exzesses führe zum Palast der Weisheit. Mag sein, daß dies für die Moral zutrifft, aber nicht für Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Die Tore des Übermaßes haben uns den Weg ins Chaos erschlossen, in eine nicht mehr verkraftbare Vermehrung von Produkten. Ich betrachte auf einem Markt die Stände und denke angesichts der Fülle von Nahrungsmitteln, daß gesundes Gemüse, Obst und Gewürz immer seltener werden. Obwohl ich mit dem Rauchen aufgehört habe, gilt meine Sympathie eher den Tabakbefürwortern. Tabak nimmt das Hungergefühl und hilft beim Abnehmen. Gern hätte ich einen Beweis dafür, daß er schädlicher ist als Milch, Sahne, Vanilleeis, Mayonnaise und sämtliche Saucen. Müßte man nicht auch achtzig Prozent dieser Produkte mit einem kleinen Totenkopf oder sonst einer Warnung versehen? Der Tabak bringt uns um, aber desgleichen das Übermaß an Spirituosen, Gebäck und Süßigkeiten. Der Gegensatz zwischen unserem Überfluß und dem Elend, den Hungergesichtern, die uns aus dem tiefsten Afrika anstarren, ist eine der großen Tragödien der modernen Welt.
In Chile und vielerorts im sogenannten Lateinamerika stoßen wir immer wieder auf die schlimmste Seite des Mangels. Die wenigen Bücher etwa, die oft auch noch schlecht sind. Als die Schriftsteller sich ihren Lebensunterhalt noch anderweitig verdienten, schrieben sie nach ihrem eigenen Rhythmus, gaben jedem Text Zeit, ließen ihn liegen, um ihn nach sechs, acht Monaten wiederzulesen. Sie lieferten ihn den Lesern nicht aus, ehe sie sicher waren, daß die Zeit dafür gekommen war. Das sind Sitten, die längst der literarischen Prähistorie angehören. Wir Schriftsteller spüren den enormen Druck des Marktes, der allein durch seine Präsenz auf uns einwirkt. Wenn du nicht jedes Jahr ein Buch herausbringst, fällst du leicht unter den Tisch. Man vergißt dich, dein Name wird von der Flut neuer Namen weggeschwemmt. Das Leben als Schriftsteller, einst eine Berufung, eine Form der Auseinandersetzung mit der Welt, ein Privileg, ist zu einer immer hastigeren, atemlosen Karriere geworden. Um deine Bücher auf einer Messe signieren zu können, mußt du zwei Wochen vorher ein Buch auf den Markt werfen. Dann aber zwingt dich dein Verlag, auf jeder Messe und in jeder Talkrunde aufzutreten. Dort sollst du Wellen der Sympathie auslösen und deinen Schnabel wetzen. Sonst bist du kein gutes Schlachtroß. Wir müssen Nicanor Parra bitten, eine neue Version seiner »Laster der modernen Welt« zu schreiben. Seine wohl aus den vierziger Jahren stammende Fassung ist ziemlich veraltet. Die Laster rennen, während wir, wie Nicanor sagte, durchs Gestrüpp kriechen.
Ich schlage vor – wohl wissend, daß ich nicht mit gutem Beispiel vorangehe –, weniger zu reisen, Museen gemächlicher, weniger häufig und lange zu besuchen und die Annehmlichkeiten des eigenen Patios zu erkunden. Eine junge Journalistin erzählt mir, daß sie übers Wochenende von Madrid nach Menorca fliegt. Auf einen Flugplatz zu rasen, sich durch eine erhitzte und aufgeregte Menge zu drängeln, um sich dann am Strand zu sonnen, ist, nach ihrem Ton zu urteilen, lebensnotwendig und ein Zeichen von Überlegenheit. Ich rate ihr, statt dessen durch den Botanischen Garten zu bummeln, zwischen Mangobäumen, Platanen, Araukarien, karibischen Jasminsträuchern zu wandeln. Sie schaut mich verstört an, wie einen geistig Minderbemittelten oder einen unbegreiflichen Provokateur. Ich versuche sie mit Argumenten zu überzeugen: daß die unbekannten Pflanzen, die man im 18. Jahrhundert von Amerika nach Spanien brachte, hier gediehen, daß sie Krisen und Bürgerkriege trotz völliger Vernachlässigung, ja sogar ohne Bewässerung überstanden. Und duftigen Schatten spenden, der dem der Sonnenschirme und Sträucher Menorcas nicht nachsteht. Die Journalistin geht darauf gar nicht ein, und ich festige meinen Ruf als Sonderling, der immer mehr zu einem alten Sturkopf wird.
Das Übermaß an Information, um einen anderen Fall zu nennen, schlägt mehr und mehr um in einen Mangel an Wissen. Wir schauen in die Zeitung, schalten den Fernseher ein, surfen ein Weilchen im Internet, und schon werden wir bombardiert mit Nachrichten aus Moskau, den USA, Ekuador, Tibet, Paraguay und Argentinien. Am Ende des Tages wissen wir ein bißchen von allem und doch nichts Genaues, Gesichertes über irgend etwas. Der mediale Überschuß macht uns zu aufgeklärten Ignoranten. Früher wußte man absolut nichts über Tschetschenien. Heute wissen wir ein bißchen was über Tschetschenien, über Chiapas, Tibet und Buenos Aires, über sonstige Orte auf der Welt, aber dieses bißchen ist in gewisser Weise weniger als nichts. Oder sehe ich reizbarer alter Griesgram das falsch, und wir nähern uns mit Riesenschritten der besten aller Welten? Ich hätte nichts dagegen, blicke aber, offen gestanden, mit sehr gedämpftem Optimismus auf die Dinge dieser Welt.
Aus dem Spanischen von Joachim Meinert
SINN UND FORM 4/2006, S. 437-451