Dotzauer, Gregor
geb. 1962 in Bayreuth, Literaturredakteur beim Berliner Tagesspiegel. (Stand 6/2015)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 5/2010 | Das Balkonzimmer
- 6/2015 | Innen leben. Abschied von einer romantischen Idee
Eine Zeitlang bildete ich mir ein, ich könnte das Balkonzimmer tatsächlich bewohnen. Keine Woche verging, ohne daß ich von zu Hause aufbrach, um (...)
LeseprobeDotzauer, Gregor
Das Balkonzimmer
Eine Zeitlang bildete ich mir ein, ich könnte das Balkonzimmer tatsächlich bewohnen. Keine Woche verging, ohne daß ich von zu Hause aufbrach, um herauszufinden, warum ich ausgerechnet dort, am anderen Ende der Stadt, das Gefühl hatte, mein sonstiges Leben hinter mir zu lassen. Ich träumte davon, mich auf einem Sonnenspalt am Boden auszustrecken, in den Stuckhimmel hinaufzuschauen, mir die Nasenspitze zu wärmen und mich bei einer Tasse Tee seiner angenehmen Leere zu überlassen.
Ein Sofa, zwei Stühle, ein Spiegel – viel mehr gehörte nicht zum Mobiliar. Selbst später, als ich gelernt hatte, dem Arrangement, wie ich es mir eingeprägt hatte, zu mißtrauen, mußte ich mich jedes Mal wieder davon überzeugen, daß ich das Zimmer nur im ersten Augenschein so wahrnehmen konnte: rechts der mächtige, von dunklem Holz gerahmte Spiegel mit den gedrechselten Spitzen, davor, mit einander zugewandten Rücken, die beiden Stühle; schließlich, an die Wand gerückt, das Sofa.
So spartanisch die Ausstattung, so freundlich war der ewige Vormittag, der das Zimmer durchwehte. Immer stand die Balkontür offen, ein leichter Wind blähte die Gardinen, und ob sich hinter dem Tüll ein Hof, ein Garten, eine Straße, ein Platz, ein Park oder ein See befand, wollte ich erst wissen, nachdem mir klarwurde, daß ich es gar nicht hätte wissen können. Auch wer hier wohnte, ja ob hier überhaupt noch jemand wohnte, schien mir an diesem Ort, an dem mit der äußeren Welt zugleich das Innere zu verblassen schien, anfangs eine müßige Frage.
Das Geisterhafte des Balkonzimmers wurde mir auf einen Schlag bewußt, wenn ich rechts in den Spiegel schaute und darin klar und deutlich das gestreifte Sofa erkannte, von dem sich allerdings an der Zimmerwand, wo es als raumbeherrschendes Sprungfedermonstrum hätte stehen müssen, bloß ein paar schmutzfarbene Schemen abzeichneten. Dagegen gehörte der rotbraune Teppich mit den dunklen Fransen zu Füßen dieses Sofaspuks zweifellos zur materiellen Einrichtung.
Oder der riesige weiße Fleck. Auf Augenhöhe schwang er sich in einem fetten Linksbogen Richtung Sofa. Das Vorhaben, die Wand frisch zu tünchen, schien nach wenigen Pinselstrichen aufgegeben worden zu sein. Man hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, den kleinen Bilderrahmen in der Mitte abzuhängen, an den nun, da er doch abgenommen worden war, ein vom Pinsel ausgespartes Rechteck in der alten Wandfarbe erinnerte. Vielleicht zeigte der Spiegel einen Teil eben dieses Gemäldes, das von der jetzigen Leerstelle weg über das Sofa gerückt worden war: eine von einem breiten Passepartout eingefaßte, leicht angeschnittene und nur vage erkennbare Gestalt, die besonders unheimlich wirkte, weil auch sie allein in ihrem Widerschein existierte.
Jedes Detail schien zu sagen: Du siehst etwas, was du nicht sehen kannst. Die Welt hat sich in einen Spiegel hinein entleert, der nun eine reichere, vollständigere, in gewissem Sinne wirklichere Version der Dinge zeigt als die, von der du umgeben bist. Genauso einleuchtend klang aber auch das Umgekehrte: Die Welt im Spiegel ist trügerischer als diejenige, in der du dich aufhältst.
Das Balkonzimmer war ein Ort des Übergangs, an dem auch ich vielleicht bloß ein Schemen war. Zu gern hätte ich mich vor den Spiegel gestellt, um zu prüfen, ob und wie ich darin erschienen wäre. Doch das Balkonzimmer war nicht mehr als das Bild eines Zimmers, das nicht mehr existiert, in einem Haus, das nicht mehr steht, in einer Straße, die ihr Gesicht verändert hat. Ein Stück Berliner Wirklichkeit, das es wohl einmal gab, so aber niemals geben konnte. Das Bild selbst, Adolph Menzels »Balkonzimmer«, dieses Ölgemälde von 1845, verrät nichts davon. Es gibt nicht preis, daß Menzel eine glaubwürdigere Version des Balkonzimmers in der Schöneberger Straße, in der Nähe des Anhalter Bahnhofs, bewohnte. Der Betrachter kann sich nicht einmal vergewissern, ob das Gemälde seinen Titel zu Recht trägt. Denn ob sich hinter den beiden Flügeltüren tatsächlich ein Balkon befindet, weiß nur der Maler.
Meinen Traum, Menzels »Balkonzimmer« in dreidimensionaler Gestalt wiederzufinden, beeinträchtigte das nicht. Nimmt man nicht alles, was gemalt, fotografiert oder geschrieben ist, für das Abbild einer zumindest möglichen Wirklichkeit? Am liebsten würde ich in Menzels Bild hineinkriechen, die Vorhänge aufreißen, wer weiß welche Aussicht entdecken, und rätsle doch, durch was für eine Tür ich das Balkonzimmer beträte. Befindet sie sich in meinem Rücken? Öffnet sie sich zu meiner Linken? Was berechtigt mich zu der Annahme, daß es überhaupt eine Tür gibt?
Man kann sich der falschen Voraussetzungen vergewissern, die einem eine bestimmte Darstellung der Wirklichkeit aufzwingt. Man kann Sinnestäuschungen auflösen, mit Hilfe der Vernunft Schein und Wirklichkeit auseinanderhalten und sogar Vergnügen an Vexierbildern haben – das Gefühl, daß sich auch ein so unwahrscheinlicher Raum wie Menzels »Balkonzimmer« erforschen ließe, wird davon nicht gemindert. Daß es sich, wie Kunsthistoriker erklären, um eine Skizze, also etwas Unfertiges handelt, behindert die Einbildungskraft so wenig wie die Gefahr, selbst auf eine mindere, unfertige Existenz zurückgestuft zu werden. Der Frieden des Balkonzimmers nahm zu, je öfter ich ihn suchte, und ich empfand es nicht als Schutz vor den Zumutungen seiner Absonderlichkeit, daß er sich mir nur in einer Wirklichkeit zweiter Ordnung, im Gemälde, darbot.
Schon wenn ich die Kolonnaden der Alten Nationalgalerie erreichte, in der das Bild hängt, und mich nur noch ein halbes Stockwerk davon trennte, überkam mich ein eigentümliches Hochgefühl. Egal, wie viele Besucher sich in dem kleinen Kabinett vor dem Gemälde drängten, seine freundliche Leere ergriff von mir Besitz. Das Balkonzimmer sperrte die Zeit aus und tat es auch noch, als sich der Vorstellungsraum mit Bildern anderer Orte füllte, die ihr stärker ausgesetzt waren: von Menzel mit akkuratem Realismus gemalte Zimmer und Hinterhöfe, die er gleichfalls bewohnt hatte. Der Raum füllte sich mit Fotografien von ihm selbst, die seine Verankerung in der preußischen Ordnung zeigten: Menzel im Ornat des Schwarzen Adlerordens. Menzel an der Seite von Kaiser Wilhelm II.Menzel mit seinen 1,40 Meter Körpergröße vor den Langen Kerls mit aufgepflanzten Gewehren. Und es fanden sich Sätze, mit denen andere die Leere des Balkonzimmers gefüllt hatten, etwa der Kunstschriftsteller Julius Meier-Graefe, der 1906, im Jahr nach Menzels Tod, beim Betrachten des Zimmers »ein prickelndes Ticken des Blutes« zu spüren meinte, »wenn der Blick auf das kleine rotgrüne Ornament des Plafonds trifft«. »Das Behagen in diesem Sonnenschein«, schrieb er, »dehnt die Glieder«, eine Empfindung, die Bilder früherer Jahrhunderte niemals ausgelöst hätten. In Menzels Skizze finde sich »die Sehnsucht des hoch entwickelten Menschen nach Unabhängigkeit von der Last niederer Triebe, und diese Sehnsucht spiegelt das teuerste Ideal unserer Zeit«.
Was wüßte ich über das Balkonzimmer, wenn ich von all dem nichts in Erfahrung hätte bringen können? Und was hatte ich gesehen, als ich es zum ersten Mal sah? Ein Idyll aus der Zeit des Vormärz? Eine zeitlose Ahnung von Transzendenz? Eine, wie man mich später überzeugen wollte, vorimpressionistische Art von Malerei? Hatte ich anfangs ein Zimmer gesehen oder das Bild eines Zimmers? Zwischen dem, was man über einen Ort oder ein Kunstwerk weiß, obwohl man nichts zu wissen meint, und dem, was man nicht weiß, auch wenn man schon eine Menge weiß, kann ein unendlich großer Unterschied bestehen. Wäre ich eines Morgens unvermutet im Balkonzimmer erwacht, hätte ich wohl nicht daran gezweifelt, mich in der Gegenwart zu befinden. Man schläft nicht Anfang des 21. Jahrhunderts ein, um im 19. Jahrhundert aufzuwachen.
Ich wollte Menzels »Balkonzimmer« nie besitzen. Doch ich entwickelte den Wunsch, wenigstens ein Souvenir zu haben. Zunächst hing es in der Küche, als zusehends verwellte, mit einem Reißnagel an die Wand gepinnte Kunstpostkarte, dann als gerahmter Druck im Flur: eher unbeachtetes Zeichen einer bereits nachlassenden Faszination denn Gegenstand täglicher Verehrung. Bis ich, als ich mich wieder einmal in den Geheimnissen des Gemäldes verlor, beschloß, es nachmalen zu lassen.
[...]
SINN UND FORM 5/2010, S. 661-670
1 In Peking hängen die Wolken an versmogten Tagen so tief, daß einem der Himmel bis in den Hauseingang nachkriecht. Das Firmament hockt auf der nächsten Laterne, und die Sonne ist vollständig pulverisiert. Die Stadt besitzt dann ein gesteigertes Fluidum. Ihre zerklüftete Silhouette zerfließt im Schwebstaub, und sobald es Abend wird, rücken die Fassaden der Wolkenkratzer schimmernd auf einen zu und entfernen sich wieder. Wenn danach die sogar bei Vollmond mondlose Nacht einsetzt, verschwimmen im Dunst die aus allen Richtungen heranwogenden Meere pulsierender Schriftzeichen, und über den Brücken der inneren Ringstraßen steigen bengalische Sumpflichter empor, die einen in unbekannte Viertel locken. In dem Augenblick, in dem man ihre Quelle endlich ausfindig gemacht zu haben glaubt, verlöschen sie und flackern woanders auf. »Go inside to greet the light«: Was James Turrells Großmutter ihrem Enkel riet, lange bevor er sich daranmachte, der Dinghaftigkeit des Lichts eine Gestalt zu geben, wie andere Künstler Ton und Lehm formen, klingt wie das Gegenteil dessen, was man in Peking tun sollte. Die Stadt leuchtet nirgendwo so sakral wie in ihrem säkularen Gepränge. (...)
LeseprobeDotzauer, Gregor
INNEN LEBEN
Abschied von einer romantischen Idee
1
In Peking hängen die Wolken an versmogten Tagen so tief, daß einem der Himmel bis in den Hauseingang nachkriecht. Das Firmament hockt auf der nächsten Laterne, und die Sonne ist vollständig pulverisiert. Die Stadt besitzt dann ein gesteigertes Fluidum. Ihre zerklüftete Silhouette zerfließt im Schwebstaub, und sobald es Abend wird, rücken die Fassaden der Wolkenkratzer schimmernd auf einen zu und entfernen sich wieder. Wenn danach die sogar bei Vollmond mondlose Nacht einsetzt, verschwimmen im Dunst die aus allen Richtungen heranwogenden Meere pulsierender Schriftzeichen, und über den Brücken der inneren Ringstraßen steigen bengalische Sumpflichter empor, die einen in unbekannte Viertel locken. In dem Augenblick, in dem man ihre Quelle endlich ausfindig gemacht zu haben glaubt, verlöschen sie und flackern woanders auf. »Go inside to greet the light«: Was James Turrells Großmutter ihrem Enkel riet, lange bevor er sich daranmachte, der Dinghaftigkeit des Lichts eine Gestalt zu geben, wie andere Künstler Ton und Lehm formen, klingt wie das Gegenteil dessen, was man in Peking tun sollte. Die Stadt leuchtet nirgendwo so sakral wie in ihrem säkularen Gepränge.
Turrell hat sich in der Quäkertradition, aus der er kommt, immer wieder auf ein inneres Licht bezogen, das für die Gotteserfahrung dieser Glaubensbewegung steht: eine Form der Versenkung, die sich von östlichen Meditationsarten dadurch unterscheidet, daß sie nicht auf Entpersönlichung aus ist. Es handelt sich vielmehr um intensives Beten im direkten Kontakt mit einem Gott, der keine weitere Versinnbildlichung braucht, weil sich der Zugang zu ihm allein über das Innere erschließt. Quäker verehren das Numinose als das Luminose. Obwohl er keine religiösen Absichten verfolgt, kann man Turrell getrost das Oberhaupt einer weltumspannenden Kirche des Lichts nennen. Roden Crater, der erloschene Vulkan in Arizona, in dessen Lavagestein er Gänge, Treppen, Tunnel und Hallen gefräst hat, die ins Licht planetarer Konstellationen führen, ist ihr zentrales Heiligtum, und jedes der rund um den Globus errichteten Skyspaces eine Filiale. Ihre Erhabenheit behalten sie auch als wahrnehmungspsychologische Observatorien.
Gäbe es nur eine einzige dieser Kapellen, wie er sie erstmals 1960 für den italienischen Grafen Giuseppe Panza di Blumo in dessen damaliger Privatvilla in Varese errichtete, wäre die Verwirrung der Dimensionen von Innen und Außen bloß eine frappierende Idee. Man betritt einen Raum, um durch eine runde, ovale oder rechteckige Öffnung in den freien Himmel zu schauen, der sich wiederum in eben diesen Raum hinabsenkt und in der Morgen- und Abenddämmerung eine Lichthaut bildet, die eine objektiv nicht vorhandene Grenze vorgaukelt. Gäbe es vier, fünf oder sechs davon, würde man sagen, daß Turrell bei allem Variationsbemühen nicht mehr viel eingefallen sei. Weil mittlerweile aber über achtzig Skyspaces existieren, haben sie einen kultischen Charakter angenommen und ziehen Scharen von Pilgern an. Turrells einziges chinesisches Skyspace liegt im Pekinger Dongcheng District. Von der Wusi Dajie, einer Hauptstraße unweit der Verbotenen Stadt, biegt man in ein Areal geschäftiger Hutongs ab, jener Wohnhöfe umschließenden Gassen, die seit Jahren in vielen Teilen der Stadt Hochhauskomplexen weichen. Auf handgeschriebenen Plakaten wird gegen drohende Abrisse protestiert – die unvermutete Pracht, die sich am Ende der Shatan Beijie, einer Sackgasse, hinter einem riesigen Eisentor verbirgt, interessiert hier niemanden. Aus den Ruinen eines buddhistischen Tempels, dessen Ursprünge bis zu einer kaiserlichen Druckerei in der Ming-Dynastie zurückreichen, die Sutras und Dekrete herstellte, ist eine museumsartige Hotelanlage entstanden, deren kostbare Ruhe mit ihrer unübersehbaren Kostspieligkeit konkurriert.
Der nüchterne weiße Raum, der Turrells Installation beherbergt, hat einen schwarz glänzenden Steinboden. Darauf verteilt liegen zwanzig Isomatten mit runden Strohkissen für Kopf und Füße. Während in anderen Skyspaces oft Sitzbänke die Mauern säumen, liegt man hier ausgestreckt auf dem Rücken und beobachtet durch die rechteckige Aussparung in der Decke, wie sich der Himmel, durchtränkt von der untergehenden Sonne, im Lauf von anderthalb Stunden in einen Schwamm verwandelt. Nachtblau scheint er die Öffnung zu verschließen, bis changierende Komplementär- und Tertiärfarben ihn unmerklich aus den umlaufenden Lichtleisten ins Tiefgrüne und Schwarze wenden, während er sich zwischendurch wie ausgepreßt ins Innere des Skyspace ergießt. Alle Konturen, die körperlichen des Betrachters eingeschlossen, lösen sich in einem einzigen Feld auf.
Der Septembertag ist für Pekinger Verhältnisse ungewöhnlich klar und blau, anfangs ziehen in großer Höhe Vogelschwärme vorüber. Doch spätestens wenn die Wolken in der Öffnung des Skyspace zu zittern beginnen wie von einem windbewegten Teich gespiegelt, gehen das Gegebene und das Geformte eine unauflösliche Liaison ein. Sie erinnert daran, daß Sinnesdaten und ihre Verarbeitung darüber entscheiden, welches Licht im Auge des Betrachters funkelt. »Farbe«, heißt es in einer Definition der Internationalen Beleuchtungskommission, »ist diejenige Gesichtsempfindung eines dem Auge des Menschen strukturlos erscheinenden Teiles des Gesichtsfeldes, durch die sich dieser Teil bei einäugiger Beobachtung mit unbewegtem Auge von einem gleichzeitig gesehenen, ebenfalls strukturlosen angrenzenden Bezirk allein unterscheiden kann.« Soviel kühlen Formsinn muß man sich angesichts derart substantieller Erlebnisse erst einmal bewahren.
James Turrell ist ein Meister der Illusion, aber gleichwohl nicht auf Verblüffung aus. Ihn beschäftigen die trügerischen Anteile jedes Sehakts, die physiologischen Mechanismen und psychologischen Deutungen, die Nachbilder und das Eigenlicht der Netzhaut. Licht, sagt Turrell, der sich in seinen öffentlichen Äußerungen so ausdauernd wiederholt wie in seinen Arbeiten, offenbart letztlich nichts, es ist die Offenbarung selbst. Wir sehen es nicht nur, wir nehmen es auch über die Haut auf. Als Lichtfresser sind wir jedoch weder für die gleißende Sonne gemacht noch für die Nacht. Wir sind Wesen der Dämmerung. Ort und Ortlosigkeit des künstlerischen Blicks überkreuzen sich dabei auf irritierende Weise. Rein topographisch befand sich Turrell nie in größerer Nähe zu buddhistischen Gedanken. Auf dem Tempelgelände wurde einst mit Sicherheit auch das Herz-Sutra gedruckt, dem zufolge Form nichts anderes ist als Leere und Leere nichts anderes als Form. Zugleich dürfte er seiner Umgebung selten fremder geblieben sein. Das Hotel läßt seine Lichtinstallation von einem Soundtrack begleiten, der den Lärm aus den benachbarten Hutongs übertönen soll, wofür sich die Restaurants und Garküchen mit einem Anflug von Essensgerüchen revanchieren, die durch die Dachluke ins Innere des Skyspace dringen.
[...]
SINN UND FORM 6/2015, S. 774-783, hier S. 774-776