Deckert, Renatus
geb. 1977 in Dresden, Schriftsteller und Herausgeber, lebt in Lüneburg. Veröffentlichungen u. a.: »Ruine und Gedicht. Das zerstörte Dresden im Werk von Volker Braun, Heinz Czechowski und Durs Grünbein« und »Adolf Endler: Dies Sirren. Gespräche mit Renatus Deckert« (beide 2010). (Stand 6/2022)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/2002 | Gedichte
- 5/2002 | Gespräch mit Heinz Czechowski
- 3/2003 | Gespräch mit B.K. Tragelehn
- 2/2004 | Der Nachgeborene auf dem Barockwrack. Durs Grünbein über Dresden
- 1/2005 | Gespräch mit Marcel Beyer
- 3/2006 | Gespräch mit Paul Nizon
- 6/2010 | Gespräch mit Jürgen Becker
- 6/2011 | »Das ist eine untergegangene Welt.« Gespräch mit Richard Wagner
- 1/2021 | Alle meine Toten – samt einigen Krokodilen. Schreibanfänge, Lebensenden: Wie aus Krümeln vom Schreibtisch Goldstaub wird
- 5/2021 | Das Japanische Palais
- 6/2022 | »Vielleicht wissen Sie gar nicht, was Liebe ist«. Ein unbekannter Brief Ernst Barlachs aus dem Dresdner Sommer 1892
RENATUS DECKERT: Ein Satz, den ich mehrfach bei Ihnen gefunden habe, lautet: »Nur der Fremde hat vor Verwunderung leuchtende Augen.« Sie haben ihn (...)
LeseprobeDeckert, Renatus
Gespräch mit Paul Nizon
RENATUS DECKERT: Ein Satz, den ich mehrfach bei Ihnen gefunden habe, lautet: »Nur der Fremde hat vor Verwunderung leuchtende Augen.« Sie haben ihn mit Blick auf Paris geschrieben. 1977 sind Sie von Zürich hierher übergesiedelt. Aber auch in Ihrem letzten Buch, »Das Fell der Forelle«, glaubt man noch die vor Verwunderung leuchtenden Augen zu spüren. Fühlen Sie sich, nach fast drei Jahrzehnten in Paris, noch immer als Fremder?
PAUL NIZON: In diesen drei Jahrzehnten ist Paris für mich Heimat geworden. Bevor ich hierherkam, kannte ich dieses Gefühl nicht. Meine Liebe zur Schweiz war immer eine gebrochene. Hier ist es anders. Sobald ich einige Tage nicht hier bin, sehne ich mich zurück. Das war noch nie der Fall in meinem Leben. Durch das Aufwachsen meines jüngsten Sohnes in Paris bin ich hier noch in besonderer Weise verankert. Ich fühle mich nicht als Zugezogener, sondern als Parisien. Das schließt das Gefühl des In-der-Fremde-Seins nicht aus. Man könnte vielleicht von einer geliebten Fremde sprechen. Für mich gehört Paris in das Kapitel der Liebschaften. Mit den großen Städten, in denen ich längere Zeit gewesen bin, hatte ich immer eine Art Liebesverhältnis. Die Liebe zu Paris ist ungebrochen. Von Gewöhnung oder gar Abstumpfung kann keine Rede sein. Noch immer ist diese Stadt die schöpferische Herausforderung, die große Fremde, die mich immerzu anstachelt, lockt und dazu verführt, ihr schreibend beizukommen. Es vergeht eigentlich kein Tag, an dem Paris mich nicht überwältigt und in mir Glücksgefühle, mitunter fast rauschhafte Zustände, auslöst.
DECKERT: In Ihrem Roman »Das Jahr der Liebe« heißt es: »Ich war nur noch Ich selber, was immer das bedeuten mochte. Ich war glücklich, elend glücklich, so ganz allein in Paris. Und ich war frei. (…) Nimm mich an, bring mich hervor! schrie ich, während ich herumlief, ich lasse dich nicht, ich will in die Welt!« Eine Assoziation, die sich einstellt, ist das Bild des jungen Eugène de Rastignac in Balzacs Roman »Père Goriot«, der am Ende des Buches auf einer
Anhöhe des Friedhofs Père-Lachaise steht und der vor ihm liegenden Stadt wie eine übermütige Kampfansage die Worte entgegenschleudert: »Und nun zu uns beiden!«
NIZON: Ja, dieser Ausruf Rastignacs, der diese Stadt erobern will, paßt ziemlich gut zu meinem damaligen Zustand. Als ich herkam, ging es mir darum, ein neues Leben zu beginnen, auch als Autor. Man muß dieser Stadt etwas beweisen, um angenommen zu werden. Das empfand ich damals sehr stark. Ich war noch nicht ins Französische übersetzt. In Paris kannte mich kein
Mensch. In meiner damaligen Situation, einer Krisensituation, gefiel mir das. Aber mein Anspruch war schon ein anderer. Ich wollte auch in dieser Stadt mit ihrer großen kulturellen Tradition, die man unentwegt spürt und mitdenkt, zum Vorschein kommen. Das ist mir insofern gelungen, als ich heute von französischer Seite mehr akzeptiert werde als im deutschen Sprachraum. Sicher, die Franzosen neigen dazu, die Wahl-Pariser zu vereinnahmen. Aber ich war natürlich stolz, daß ein Kritiker erklärte, meine Bücher gehörten zum französischen Patrimonium. Und daß Le Monde schrieb, »Das Jahr der Liebe« sei eines der allerschönsten Paris-Bücher, war ein unglaubliches Kompliment. Denn es ist schwierig, dieser Stadt einen neuen Aspekt abzugewinnen und nicht nur die bekannten Klischees zu reproduzieren.
DECKERT: Italo Calvino, der von 1967 bis 1980 in Paris lebte, hat in einem autobiographischen Essay mit dem Titel »Eremit in Paris« darüber nachgedacht, warum keines seiner Bücher in Paris spielt. Er schreibt: »Ein Ort muß zu einer inneren Landschaft werden, damit die Phantasie darangehen kann, diesen Ort zu bewohnen, daraus ihren Schauplatz zu machen. Doch Paris war schon die innere Landschaft eines so großen Teils der Weltliteratur, mit einer solchen Anzahl von Büchern, die wir alle gelesen haben, die in unserem Leben wichtig waren.« Dieses Problem haben Sie gerade angesprochen. Schüchtern diese zahllosen Bücher über Paris eher ein – oder spornen sie an?
NIZON: Man bewegt sich hier wie in einem romanhaft aufgeladenen Geschehen. Diese Stadt ist schon so oft übersetzt worden, in Literatur, in Musik, in Filme, und so vieles davon ist in einem gespeichert, daß man all das mitempfindet, wenn man durch Paris geht. Ja, das schüchtert ein. Gleichzeitig aber bedeutet es einen gewaltigen Ansporn, die Geister der hier entbundenen Dichter zu spüren und ihre Stimmen zu hören. Das ist ein Trost und auch eine große Ermutigung. Oft hatten diese Leute, zum großen Teil Emigranten, alles auf eine Karte gesetzt. Dieser existentielle Einsatz, die kämpferische Haltung, dieses Sich-Aussetzen auf Gedeih oder Verderb sind auch für mich wichtig. Man könnte viele Autoren nennen, die hier zum Vorschein gekommen sind: Malcolm Lowry, für mich einer der Größten, Joyce, er hätte seinen »Ulysses« in Irland nicht publizieren können. Henry Miller, der durch die Pariser Lebensschule gehen mußte, um zu seinen Quellen vorzustoßen. Für ihn war diese Stadt die große Entbinderin. Wenn man in Paris schreibt, ist man Teil eines großen Orchesters. Man bewegt sich auf dem Feld der Weltliteratur. Das gibt ein ungeheures Freiheitsgefühl. Die Abschottung durch einen nationalen Kontext fällt weg, auch die unbewußte Zensur. In Paris habe ich meine Provinz hinter mir gelassen.
DECKERT: Auch in bezug auf sich selbst haben Sie von der »Metropole als Entbindungsanstalt« gesprochen. Sie schreiben: »All die Anstöße zu Büchern oder in meinem Sinne: zu Poesie, zu poetischem Ertrag, kamen von den Städten her.« Hätte es auch eine andere Stadt als Paris sein können, sagen wir Berlin?
NIZON: Nein. Ich kenne Deutschland ziemlich gut. Meine erste Frau war Deutsche, ihre ganze Verwandtschaft lebte dort, alle in Pfarrhäusern übrigens, und ich habe eine Zeitlang in München studiert. Aber in Deutschland zu leben habe ich mir nie vorstellen können. Warum das so ist, kann ich nur vermuten. Ich habe das kürzlich wieder für mich notiert: Immer, wenn ich von Frankreich nach Deutschland komme, stelle ich fest, daß die Luft dünn wird. Sie ist wie entfettet. Es fehlt etwas. Aber was? Und ich kam auf den Begriff Lebensschmieröl. In Deutschland nehme ich eine große Nüchternheit wahr. Auch die kann interessant und anregend sein. Aber mir liegt sie nicht so. Berlin habe ich immer als eine relativ leere Stadt empfunden. Dieses Getümmel, dieses Trübe, das auch die Tröstlichkeit der großen Illusion erzeugt, finde ich nicht in Deutschland. Anders als in den romanischen Ländern, in Spanien, Italien oder Frankreich. Ich glaube, das französische Klima ist für mich das vertrauteste. Aber damit meine ich nicht die Provinz, sondern nur Paris.
DECKERT: Woher kommt die Affinität zu dieser Stadt?
NIZON: Als Kind bin ich in den Ferien immer zu meiner Pariser Tante gefahren. Sie wohnte unterhalb von Pigalle. Das erste Mal 1947. Ich habe die Atmosphäre in mich aufgesogen, diese existentielle Stimmung der Nachkriegsjahre. Später ist mir die geistige und kulturelle Größenordnung aufgegangen, auch die Anmaßung, die hier herrscht, die Einschüchterung. Natürlich war ich schon vorher mit der französischen Literatur und dem französischen Film vertraut. Ich komme aus Bern, da gab es traditionell eine Ausrichtung nach Frankreich, während man sich in Zürich an Deutschland orientierte. Es war immer mein Traum, nach Paris zu gehen, aber es hat lange gedauert, bis ich den Absprung geschafft habe. Vor mir sind ja schon andere Schweizer, Giacometti und Le Corbusier etwa, hergekommen, um sich einen Namen zu machen oder sich mit dem Zeitgeist zu konfrontieren. In Paris war man der Provinz weit voraus. Heute gibt es diese Zeitverschiebung ja nicht mehr. Durch die Massenmedien geschieht alles überall gleichzeitig. Damals aber kam man in Paris an eine Quelle.
DECKERT: Wie haben Sie Paris 1947 erlebt?
NIZON: Es war ein unglaublicher Lebenshunger zu spüren, eine Gier nach Vergnügung. Die nächtlichen Straßen bei Pigalle waren voller Menschen, voller Licht und voller Lockung. Aus den Bars drang ein Schwall von Lärm und Musik. In Paris erfuhr ich, was Nachtleben war. Da war eine Intensität des Leben-zurück-Gewinnens! Überall sah man Uniformen, amerikanische und
englische, das waren die Urlauber, die aus den Besatzungszonen kamen. Ich war überwältigt von dieser Urbanität, die ich aus Bern nicht kannte. Damals gab es noch die Hallen, diese riesige Burgenstadt, die belagert war von den Lastwagen, die Nacht für Nacht heranrollten, um den Bauch von Paris zu füllen, die Camions, die die engen Gassen verstopften. Das Viertel quoll über von Fisch und Fleisch, Gemüse, Früchten und Blumen. Um diese Futterplätze herum ballte sich das Nachtleben. In den sechziger Jahren wurden die Hallen abgerissen. Seither hat Paris viel von seinem Ambiente verloren. Doch die Substanz ist so gewaltig, daß sie fast unzerstörbar erscheint. Manche Bilder, die man mit Paris in Verbindung bringt, wird es wohl immer geben, zum Beispiel die Liebespaare, die wie lebende Denkmäler die Stadt bevölkern. Das ist mir schon damals aufgefallen.
DECKERT: Sie haben geschrieben: »Ich muß mir Paris in täglichen leibhaften Übungen unausgesetzt anverwandeln, um den Traum oder das Movens meines Schreibens wachzuhalten.« Wie sieht das konkret aus?
NIZON: Meine Schreibateliers sind manchmal sehr weit von meiner Wohnung entfernt. Das heißt, daß ich jeden Tag die Stadt durchquere. Das ist nicht nur ein Auslauf oder ein Anlauf zur Arbeit, sondern auch ein Sturz in die Außenwelt, ein tägliches Mich-Hineinwerfen in das Pariser Leben. Das bringt Reibungen mit sich, emotionale Berührungen; und aus den Reibungen entstehen Funken. Etwas flammt auf, sticht mir ins Auge und provoziert innere Bilder. Über die Augenwege sammle ich ein, was mich an Eindrücken anspringt. Mitunter habe ich das Gefühl, ich kann im Vorbeilaufen ernten. All das speichere ich, und im Atelier fließt es in die Arbeit ein. Um meine Wirklichkeit mit der Sprache festzuhalten, brauche ich die Ruhe, das Abgekapselt-Sein. Ich bin keiner, der mit dem Notizblock herumläuft, und ich könnte auch nicht im Café schreiben. Ich bin mit tausend Antennen ausgestattet, so daß ich alles höre und aufnehme. Aber das Durchqueren der Stadt gehört schon zum Arbeitsprozeß. Ich nenne es die tägliche Aufkurbelung. Auf dem Weg zur Arbeit wiege ich meine Sätze wie ein Dromedar das in seinem Höcker gespeicherte Fett. Manchmal ist es, als würde ich beim Gehen Worte herausstampfen. Dieses Physische des Marschierens gehört für mich ebenso zur Kreation wie das Sammeln von immer neuen Eindrücken. Dafür brauche ich Paris. Und noch ein Aspekt ist wichtig: das Sich-verlieren-Können, das Untergehen in der Großstadt. Man kann natürlich auch durch Zürich laufen, aber diese Intensität, diese Dichte gibt es dort nicht. In Zürich können Sie vielleicht im Alkohol untergehen, aber nicht in den Straßen.
DECKERT: Ihr Journal »Die Innenseite des Mantels« beginnt mit dem Satz: »In Paris habe ich wohl alles Mögliche an Glanz, Hoffnung, Flitter verloren, aber ich habe diese poetische Existenz gefunden, die ich verteidige und für die ich bezahle, unter anderem mit Einsamkeit.« Was meint das: eine poetische Existenz? Ist es dieses tägliche Sich-Anverwandeln von Paris?
NIZON: [...]
SINN UND FORM 3/2006, S. 314-326
RENATUS DECKERT: Ihre Eltern haben Sie Richard Wagner genannt. Das kann ja kaum Zufall sein. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Eltern (...)
LeseprobeDeckert, Renatus
»Das ist eine untergegangene Welt«.
Gespräch mit Richard Wagner
RENATUS DECKERT: Ihre Eltern haben Sie Richard Wagner genannt. Das kann ja kaum Zufall sein. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Eltern leidenschaftliche Wagnerianer waren?
RICHARD WAGNER: Mein Vater war tatsächlich Wagnerianer. Hinzu kommt, daß er in seiner Jugend ein eher ungewöhnliches Instrument spielte, nämlich Waldhorn. Das war nicht sehr verbreitet. Er war in einem Laienorchester, das Ouvertüren und dergleichen mehr spielte, und da hatte er einmal einen Einsatz mit seinem Waldhorn. Das ist ihm in Erinnerung geblieben. Seitdem hat er sich immer wieder mit Wagner befaßt, so gut er eben konnte. Und 1952, als ich geboren wurde, das war im tiefsten Stalinismus, für die deutsche Minderheit in Rumänien war das eine schlimme Zeit, da haben die Leute ihren Kindern germanische Vornamen gegeben, um zu verhindern, daß sie ins Rumänische übersetzt werden. Meine Landsleute waren ja katholisch, und deshalb hießen sie Franz oder Joseph oder Nikolaus, Katharina oder Elisabeth. Wenn man aber einen solchen Vornamen wählte, wurde der rumänisiert in die Geburtsurkunde eingetragen. Um das zu verhindern, entschied man sich für einen germanischen Namen – und natürlich wollte man damit auch ausdrücken: Wir sind Deutsche. In meinem Fall war das doppelt begründet: Man wählte mit Richard einen germanischen Namen, zugleich war es für meinen Vater die Gelegenheit, seinen Sohn Richard Wagner zu nennen und mir das aufzubürden.
DECKERT: Wo war das denn, wo Ihr Vater im Orchester gespielt hat?
WAGNER: Das war in Perjamosch, wo meine Familie gelebt hat, zehn Kilometer von Lovrin entfernt, wo ich geboren wurde. Das war ein größeres Dorf mit 6000 Einwohnern, ein wenig kleinstädtisch schon. Und da leistete man sich in den Sommerferien einen Kapellmeister. Der kam aus Temesvar, der Regionalhauptstadt, um mit den jungen Leuten zu proben. Das war in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
DECKERT: Besaß Ihr Vater denn einen Plattenspieler, um Wagner zu hören?
WAGNER: Mein Vater ist früh von zu Hause weg. Er hat eine Lehre gemacht auf einer Wassermühle und ist 1939 zur rumänischen Armee eingezogen worden. Als der Krieg kam, blieb er bei der Armee. Er war bei der Flußmarine, und da fuhr er den Krieg über die Donau auf und ab; sie hatten die Aufgabe, den Fluß zu kontrollieren. Und da kam er viel herum, auch in die großen Städte. Ich nehme an, daß er dort Schallplatten gehört hat. Denn bei uns zu Hause gab es nach dem Krieg überhaupt nichts mehr. Als sich im September 1944 die Front näherte, sind die Leute geflohen, meine Familie bis nach Österreich. Und als sie 1945 zurückkamen, war das Haus völlig ausgeplündert, da standen bloß noch die Mauern. Ja, und später, in den fünfziger Jahren, als ich geboren wurde, da galt Wagner in Rumänien als Wegbereiter des Nationalsozialismus. Er wurde nicht aufgeführt, und auch Schallplatten konnte man keine kaufen.
DECKERT: Ihr Vater, sagten Sie, war von Beruf Müller. Welchem Milieu entstammte Ihre Familie?
WAGNER: Diese Dörfer sind ja im 18. Jahrhundert buchstäblich auf dem Reißbrett angelegt worden, und zwar von den Wiener Beamten, die die Kolonisation des Banats organisierten. Die Habsburger waren vorbildlich in ihrer Siedlungspolitik, sie haben das genau geplant. Und es hat ja dann auch wirklich funktioniert; das moderne Banat war in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts einer der großen Lieferanten landwirtschaftlicher Produkte; das weiß man heute gar nicht mehr. Damals, als man daranging, diese neuen habsburgischen Gebiete zu kolonisieren, wurden zielgerichtet Leute angeworben, die Banater Schwaben, wie sie später hießen, die ihrem Selbstverständnis nach übrigens nicht einfach Auswanderer waren, sondern Kolonisten, Siedler. Nichts überließ man dem Zufall. Jedem Dorf ordnete man eine bestimmte Anzahl von Bewohnern zu, abhängig vom Beruf. Die größte Zahl waren Bauern, und dann rechnete man, wie viele Handwerker und welche Berufe man sonst noch braucht in einem Dorf. Ich selbst komme väterlicherseits aus einer Handwerkerfamilie, das waren alles Müller, über Generationen hinweg. Bis zu mir hießen die alle Nikolaus Wagner, das kann man zurückverfolgen bis ins 18. Jahrhundert. Und zwar haben sie Flußmühlen betrieben. Die standen auf zwei fest verankerten Kähnen im Fluß, dazwischen befand sich das Mühlrad, das von der Strömung angetrieben wurde; und so wurde gemahlen. Das ging so bis in die zwanziger Jahre, als die ersten Motormühlen aufkamen. Dann starben die Flußmühlen aus, die Müller verloren ihre Selbständigkeit. Auch mein Großvater mußte aufgeben, er wurde dann Angestellter in einer dieser neuen Motormühlen. Das war ein ziemlicher Bruch in der Lebensweise dieser Leute.
DECKERT: Wie hatten sie vorher gelebt?
WAGNER: Sie hatten eine gewisse Souveränität, nicht nur in ihrem Selbstverständnis; sie lebten in einer eigenen Siedlung am Fluß, an der Marosch. Das Dorf war ja ein paar Kilometer vom Fluß entfernt, wegen der Überschwemmungsgefahr lag es auf einem Hügel. Man hatte auch einen Damm gebaut, Anfang des 19. Jahrhunderts. Und in der Au, zwischen dem Fluß und dem Damm, befand sich die Siedlung der Wassermüller; die hatten dort ihre Mühlen. Und im Winter, wenn der Fluß vereiste, das waren ja harte Winter dort, mußten diese Mühlen an Land gebracht werden; im Frühjahr ließ man
sie dann wieder zu Wasser. Deshalb wohnten die Müller am Fluß in der Au. Ihre Häuser waren nicht aus Stein, sondern sie bestanden traditionell aus Holzbalken und einem Weidengeflecht, das man mit Lehm verkleidete, wegen der Überschwemmungen. Wenn im Frühjahr das Eis schmolz, stellten sie ihre Sachen auf den Dachboden, und das Hochwasser schwemmte zwar den Lehm weg, aber das Weidengeflecht und die Holzstützen blieben erhalten; den Häusern passierte im Grunde nichts. Wenn das Wasser wieder weg war, hatten die Leute Arbeit; dann wurde das alles zugekleistert, bis es wieder in Ordnung war. Die arbeiteten auch nicht das ganze Jahr über, sie hatten ja nur zu tun, wenn etwas zu mahlen war. Im Winter trafen sie sich in ihrem Wirtshaus zum Kartenspielen, und dabei wurde viel erzählt. Sie hatten eine sehr ausgeprägte Erzähltradition, und zumindest die blieb erhalten. Ich habe das alles ja nicht mehr erlebt, aber das wurde dann weitergetragen in den Gesprächen der Familie, und deshalb weiß ich heute einiges über die Lebenswelt dieser Müller.
DECKERT: Und was machte die Familie Ihrer Mutter?
WAGNER: Mein anderer Großvater, der Vater meiner Mutter, war Wagnermeister. Er baute Leiterwagen für die Bauern, richtige Pferdewagen. Räder schnitzen, Felgen legen – das machte er alles, und wenn etwas kaputtging, dann reparierte er es. Noch in den fünfziger Jahren hatte er seine Werkstatt. Als Kind fühlte ich mich zu der Drehbank hingezogen, aber damit durfte ich nicht spielen, denn dort ging es ja zur Sache. Da lagen die Messer, mit denen gedrechselt wurde. Zu der Zeit hat er schon schwarz gearbeitet. Die Kommunisten wollten diese Gewerbe in Genossenschaften zusammenfassen, aber er hat sich geweigert, und da haben sie die Steuern so lange erhöht, bis er sie nicht mehr bezahlen konnte. Meine Mutter war in der gleichen Lage, sie war Schneiderin und sollte auch so hohe Steuern zahlen. Da haben sie beide aufgegeben und ihre Gewerbe abgemeldet. Und dann haben sie schwarz gearbeitet. Ich kann mich gut an diese Atmosphäre erinnern, im Haus und im Hof, da lag immer etwas wie Gefahr in der Luft. Das Tor war stets abgesperrt, und mir wurde gesagt, ich soll es nicht aufmachen. Der Hund war im Hof und bellte, wenn jemand am Tor erschien. Es sollte ja keiner wissen, daß da schwarz gearbeitet wird. Aber natürlich wußte das das ganze Dorf, schließlich hat das ganze Dorf schwarz gearbeitet. Und das blieb auch den Behörden nicht verborgen. Daß die Leute Schnaps brannten, das roch man ja. Aber das war illegal, weil der Staat das Schnapsmonopol hatte. Man hätte eine Genehmigung gebraucht, aber so etwas hatte keiner. Die haben aus Pflaumen Schnaps gebrannt. Dazu haben sie sich Schnellkochtöpfe angeschafft, die sie zu Destillieranlagen umbauten; die Kupferrohre haben sie in irgendwelchen Betrieben geklaut. Am Ende dieses Prozesses tropfte da der Schnaps heraus. Und der wurde dann zweimal, also doppelt gebrannt, damit er auch die richtige Balkanstärke hatte.
DECKERT: Und das machten alle im Dorf?
WAGNER: Ja, und das wußten die Behörden auch. Die Sache war die: Sie versuchten gar nicht erst, das zu unterbinden; das wäre auch schwierig gewesen. Aber wenn sie etwas gegen jemanden hatten oder wenn einer politisch aufgefallen war oder ihnen nicht paßte, dann benutzten sie das als Vorwand, um gegen den Betreffenden vorzugehen.
DECKERT: Wie hat Sie das als Kind geprägt, wenn immer das Hoftor geschlossen war? Sie waren ja ganz auf sich gestellt.
WAGNER: Ich war im Grunde gerne allein; ich war ein Einzelkind und kam gut damit zurecht. Ich habe sehr viel gelesen. Aber es gab auch in der Nachbarschaft zwei Jungen, mit denen ich oft zusammen war. Das war eine gemischte Familie, wie das im Banat häufig der Fall war, weil dort ja mehrere Bevölkerungsgruppen aufeinanderstießen. Außer den Banater Schwaben, also Deutschen, lebten dort Ungarn, Rumänen, Serben und Zigeuner. Die Mutter, die eigentlich Deutsche war, sprach Ungarisch mit ihren Kindern und mit ihrem Mann, der Serbe war. Aber die Jungen gingen auf die deutsche Schule, und damit sie Deutsch lernten, sollte ich mit ihnen spielen. Deshalb war ich häufig bei denen im Hof, wenn ich nicht gerade in meine Lektüren vertieft war.
DECKERT: War denn Ihr Großvater, der Wagnermeister, ein wichtiger Ansprechpartner für Sie?
WAGNER: Als ich elf oder zwölf war, da fing das an, daß ich mit meinem Großvater Gespräche geführt habe, politische Gespräche, denn mein Großvater war sehr politisch. Und in seiner illegalen Werkstatt gab es immer so eine Runde von Rentnern, die sich dort trafen, seine Freunde, die alle im Ersten Weltkrieg gewesen waren, das war ihr Grunderlebnis. Sie sprachen immer vom Ersten Weltkrieg; der Zweite interessierte sie nicht, weil sie da nicht direkt dabei waren. Wenn es um den Zweiten Weltkrieg ging, redeten sie immer nur von den Folgen. Beim Ersten Weltkrieg wußten sie alles bis ins Detail. Ich durfte bei diesen Gesprächen dabeisein, und da habe ich sehr viel gelernt über Geschichte und Herkunft. Als Angehöriger einer Minderheit muß man sich ja immer darüber definieren. Man lebt in einem Land, in dem eine andere Sprache die Amtssprache ist, die eigene Muttersprache wird nur von einer Minderheit gesprochen. Danach fragen einen immer die Leute, und da muß man erklären, warum das so ist. Also stellt man sich schon sehr früh solche Fragen: wer man ist und warum. Von diesen Dingen habe ich in dieser Werkstatt sehr viel mitgekriegt. Und ich fing auch an, Zeitung zu lesen. Mein Großvater hatte ein Abonnement der zentralen deutschsprachigen Zeitung, die unter dem schönen Titel »Neuer Weg« in Bukarest erschien; das war zwar auch eine gleichgeschaltete Presse, aber sie war auf Deutsch. Und dann sprachen wir eben über das, was wir in der Zeitung gelesen hatten.
DECKERT: Zu Hause sprachen Sie Deutsch. Wo hat man Rumänisch gelernt?
WAGNER: Das war ganz unterschiedlich, je nachdem, wo man aufwuchs. Manche Dörfer waren von den Ethnien her gemischt, da hat man es von den Nachbarn gelernt. In unserem Dorf lebten bis 1945 kaum Rumänen. Einige Leute aus der Verwaltung, die der Staat dahin geschickt hatte, und ein paar Tagelöhner, die als Saisonarbeiter auf den Gütern der deutschen Bauern arbeiteten. Nach der Flucht der Deutschen bei Kriegsende hat sich das geändert. Von ehemals 6000 Leuten ist nur die Hälfte zurückgekehrt, und so wurde das Dorf aufgefüllt, mit Flüchtlingen aus den ehemaligen rumänischen Ostgebieten, aus Bessarabien und der Bukowina. Das hat sich Stalin 1945 ja zurückgeholt. Und eine solche Flüchtlingsfamilie wohnte auch bei uns in der Nachbarschaft. Von den Kindern habe ich Rumänisch gelernt, auf der Straße, beim Spielen. Und dann hatten wir ja auch auf der deutschen Schule ein Fach Rumänisch und rumänische Literatur. Da habe ich das ergänzt. Meinem Rumänisch merkt man bis heute das Ländliche an, weil ich es damals von Bauern gelernt habe.
DECKERT: Welche Rolle war denn der deutschen Minderheit zugedacht?
WAGNER: Zunächst einmal wäre zu sagen, daß dieses Rumänien in seiner heutigen Gestalt ja ein Land ist, das nicht zu Ende gedacht war. Nach dem Ersten Weltkrieg wollte man zum einen das Habsburgische Reich zerschlagen, zum anderen die neu entstehende Sowjetunion blockieren. Man schuf den sogenannten Cordon sanitaire, darin nahm Rumänien eine Schlüsselstellung ein. Als Resultat des Weltkriegs hat es sein Territorium verdoppelt. Bis zu diesem Zeitpunkt lebten die Banater Schwaben nicht in Rumänien, sondern sie waren eine Bevölkerungsgruppe in der k.u.k.Monarchie. Und dann, mit einem Schlag, über Nacht, ohne das Dorf zu verlassen, sind meine Großeltern rumänische Staatsbürger geworden. Sie kannten weder die Sprache, noch wußten sie viel über Rumänien. Und dann waren sie eben da. Unter den Kommunisten kam den Deutschen eine ausgleichende Rolle zu. Was die ethnischen Konflikte betrifft, waren ja nicht sie das Problem, sondern die ungarische Minderheit, die noch viel größer war; bis heute gibt es in Siebenbürgen territoriale Streitigkeiten. Die Deutschen sah man als Ausgleich zwischen Rumänen und Ungarn, als den Dritten in dieser Konstellation. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele meiner Landsleute aber erst einmal zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Die anderen hat man enteignet. Uns nahm man das Haus weg, wir durften nur darin wohnen; erst nach zehn Jahren gab man es uns zurück. Also, die Deutschen hatten nichts. Und das führte dazu, daß man die Kinder in die Schulen schickte; sie sollten studieren. Denn das, was man im Kopf hat, kann einem niemand mehr wegnehmen. Und so kommt es, daß es in der deutschen Minderheit überdurchschnittlich viele Ingenieure gibt. Die sind später alle nach Deutschland gekommen. Denn das Geschäft mit der Ausreise wurde für das kommunistische Regime immer wichtiger, weil es Geld brauchte. Das fing in den fünfziger Jahren mit den rumänischen Juden an, die man an Israel verkaufte. Nach diesem Modell wurden ab den siebziger Jahren die Deutschen verkauft. Ceaus¸escu, mit diesem ganzen Wahnsinn, den er betrieb, brauchte Devisen, und so wurde dann Kopfgeld gezahlt, so ähnlich wie für die DDR-Bürger. Auf diese Weise wurden wir immer weniger. Inzwischen gibt es nur noch sehr wenige Deutsche in Rumänien. Die meisten leben heute in Deutschland.
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SINN UND FORM 6/2011, S. 793-813