Bosworth, David
geb. 1947 in Northampton, Massachusetts, Essayist und Erzähler, lehrt Creative Writing an der Universität von Washington in Seattle. (Stand 2/2017)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 3/2001 | Der Fachidiot: Henry Ford als Prototyp des postmodernen Menschen
- 2/2004 | Der Jugendkult: Kommerzielle Indoktrinierung und der Zusammenbruch bürgerlicher Tugend
- 1/2008 | Gespräch mit Matthew Mehan
- 2/2017 | Gewissenhaftes Denken und die Transformation der modernen Wissenschaften
Eine gleichsam post-moderne Denkweise hat unsere Wissenschaften reformiert, mit Folgen, die wir uns noch vor Augen führen müssen. Trotz der Verschiedenheit der betroffenen Bereiche sind viele dieser Veränderungen, die dramatische Vorschläge in der Kosmologie und eine verblüffende Wiederbelebung lamarckistischer Prinzipien in der Evolutionsbiologie einschließen, ihrer Natur nach gleichgestimmt. Und obwohl sie das darstellen, was Thomas Kuhn 1962 als "Paradigmenwechsel " in der Auffassung der wissenschaftlichen Gemeinschaft bezeichnet hat, spiegeln sie überdies eine viel ausgeprägtere Neuordnung des kulturellen Common Sense. Mehr als bloß Merkmale einer signifikanten Revision in der präferenziellen Logik der Naturphilosophie (wie man die Wissenschaft einst nannte), markieren sie die weitere Artikulierung einer sich ausformenden Weltsicht, einer, die auch die sozialen Annahmen der Modernität in Frage stellt. (...)
LeseprobeBosworth, David
Gewissenhaftes Denken und die Transformation der modernen Wissenschaften
Eine gleichsam post-moderne Denkweise hat unsere Wissenschaften reformiert, mit Folgen, die wir uns noch vor Augen führen müssen. Trotz der Verschiedenheit der betroffenen Bereiche sind viele dieser Veränderungen, die dramatische Vorschläge in der Kosmologie und eine verblüffende Wiederbelebung lamarckistischer Prinzipien in der Evolutionsbiologie einschließen, ihrer Natur nach gleichgestimmt. Und obwohl sie das darstellen, was Thomas Kuhn 1962 als »Paradigmenwechsel « in der Auffassung der wissenschaftlichen Gemeinschaft bezeichnet hat, spiegeln sie überdies eine viel ausgeprägtere Neuordnung des kulturellen Common Sense. Mehr als bloß Merkmale einer signifikanten Revision in der präferenziellen Logik der Naturphilosophie (wie man die Wissenschaft einst nannte), markieren sie die weitere Artikulierung einer sich ausformenden Weltsicht, einer, die auch die sozialen Annahmen der Modernität in Frage stellt.
Solch radikale Revisionen im Common-Sense-Denken sind von Natur aus kontrovers, und angesichts der vieldeutigen und oft vagen Begriffe bedarf es zunächst einer Präzisierung. Mit den Wörtern modern oder Modernität beziehe ich mich auf die umfassende Revolution im westlichen Denken, die sowohl zur wissenschaftlichen als auch zur industriellen Revolution geführt hat – bestenfalls, politisch, zu einer Wiederbelebung der Demokratie; schlimmstenfalls zu den utopischen Wahnideen, die zum Massenmord anstifteten. Ich erwähne hier nicht die Kunstbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, gemeinhin Moderne genannt (deren Methoden ironischerweise mitunter post-moderne Techniken andeuten); und ich verwende diese Wörter auch nicht als ungefähre Begriffe für Zeitgenössisches. Weil die Logik der Modernität die zentralen Institutionen Amerikas kalibriert hat, bleibt sie in unserem Leben machtvoll präsent. Doch jetzt befindet sich diese Logik nicht nur im Niedergang, was wohl die »Experten"-Strategien belegen, die unsere letzte Wirtschaftskrise verursachten, sie wird auch von einer Reihe anbrandender post-moderner Methoden, Maßnahmen und Wertvorstellungen unablässig in Frage gestellt.
Postmodern ist an sich ein hochproblematischer Begriff, der eng mit unseren Kulturkriegen assoziiert und dadurch befleckt ist. Um solche parteiischen Assoziationen zu vermeiden, schreibe ich hier post-modern mit einem Bindestrich, der die eigentliche Wortbedeutung hervorhebt. Weltsichten vergehen schließlich. Ob nun zum Guten oder zum Schlechten, wir haben uns von vielen Annahmen unserer Vergangenheit als Gründer der ersten wahrhaft modernen Gesellschaft auf der Welt entfernt und stecken statt dessen schon seit hundert Jahren in einem zwiespältigen Übergang fest. Wir sind unstrittig post-modern, insofern wir nach dem Höhepunkt der Neuzeit leben, ohne aber schon einen kohärenten Konsens zu besitzen, was an ihre Stelle treten sollte. Und nirgends ist dieser Wandel so wirksam wie in eben den Wissenschaften, deren Leistungen ein Siegel des modernen Geistes waren.
Die Wesenszüge des neuzeitlichen Bewußtseins und der neuzeitlichen Kultur begannen sich im 17. Jahrhundert als eine radikale Alternative zu dem seit langem verfallenden mittelalterlichen Weltbild zu entwickeln. Sie folgten auf die technischen Fortschritte im professionellen Messen wie auch im Alltagswissen, einschließlich Teleskop, Mikroskop und vor allem der durch den Buchdruck und die zunehmende Lesefähigkeit gezündeten Informationsexplosion. Die durch die psychische Wirkung des stillen Lesens enorm gesteigerte Logik des phonetischen Alphabets förderte geistige Gewohnheiten wie Isolation, Abstraktion und Spezialisierung; und die alphabetische Strategie, Sprache in ihre einfachsten Teile zu »atomisieren«, führte bald zu ähnlichen Theorien über die der physischen wie auch der sozialen Welt zugrundeliegende Ordnung.
Der nachfolgende Aufstieg des Skeptizismus (ein von Gefühlsbindungen und herkömmlichen Auffassungen methodisch getrenntes Denken, wie es Descartes in der »Abhandlung über die Methode« kodifiziert) und des Individualismus (eine neuartige Hervorhebung des sozialen Atoms gegenüber der Gemeinschaft, ja sogar der Familie als der Primäreinheit menschlicher Erfahrung) war psychisch und politisch zutiefst beunruhigend. Bereits Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die Default-Logik (Default = Standardannahme, von der man in Ermangelung anderer Informationen ausgeht; A. d. R.) der westlichen Kultur durch die aggressiven Zergliederungen des Modernisierungsgeistes von allen Seiten attakkiert. Neuartige »wissenschaftliche« Theorien und unternehmerische Strategien wurden vorgetragen, nur um von klerikalen Zensoren und königlichen Anordnungen zermalmt zu werden, und dieser krampfartige Rhythmus von Dissens und Repression entlud sich alsbald in Bürgerkriegen, da Religionsspaltungen in sektiererische Gewalt übergingen und politische Revolutionen auf dem Kontinent wie auch in England ausbrachen.
Erst nach jahrelangen Wirren bildete sich doch eine neue Kulturordnung heraus: eine liberale Modernität, die zwar für individuelle Rechte, geistige Spezialisierung, wissenschaftliche Weltanschauung, ästhetische Betrachtungsweise und für eine Ökonomie von einzelunternehmerischen Freien Agenten war, aber Mittel fand, sie alle mit den checks and balances von neuen Pflichten, Normen, Ausdrucksformen, politischen Verfassungen und Vertragsrechten zu disziplinieren. Mit ihrer ruckartigen, aber gründlichen Kalibrierung des Common-Sense-Denkens und der herkömmlichen Praktiken veranschaulicht diese geschichtliche Periode am besten die Herausforderungen, vor denen wir heute, da wir selbst mit dem Übergang zu völlig neuen Anschauungen kämpfen, stehen. Erst jetzt wird auch die moderne Logik selbst von allen Seiten durch einen signifikanten Wandel in den dominierenden Modellen der Alltagserfahrung attackiert, da diese Modelle von der post-modernen Maschinerie unserer digitalen Ära inskribiert werden.
Wir »machen Sinn« durch das Zeugnis unserer Sinne, und unsere hochgerüsteten technischen Geräte verändern die Art, wie dieses Zeugnis angeordnet und übermittelt wird. Indem wir einen vor langer Zeit mit dem ersten elektronischen Medium begonnenen Prozeß beschleunigen, revidieren wir durch den täglichen Gebrauch von Desktops, Laptops, Mobiltelefonen und Tablets mit ihren Suchmaschinen, ihrer Shareware und durch wiki-betriebene soziale Netzwerke unsere Standard-Erwartungen (default expectations) bezüglich dessen, was natürlich, richtig und erfreulich anmutet, in einer Weise, die althergebrachte Ansichten über das Wahre, Gute und Schöne in Frage stellt (ohne sie zwangsläufig zu ersetzen). Diesen Wandel spürt man in den sozialen Beziehungen, da der Wert der stoischen Zurückhaltung der Wichtigkeit des »Teilens« Platz gemacht hat, und auch in der bildenden Kunst, da das einzelne, fixe und »unsterbliche« Objekt (eine Skulptur von Rodin) durch Environment-Installationen und Here-thengone-staged-Events (die Bildnisse des Burning Man) ergänzt wurde.
In einem bewußten Spiel mit science nenne ich diese post-modernen Weltbewertungen conscientious thinking (gewissenhaftes Denken). Die Etymologie des ersten Wortes – das die Vorsilbe con "mit« oder »zusammen« und den Stamm scientia, "Wissen, Wissenschaft«, verknüpft – erläutert die Denkweise, die es beschreibt, und wie diese sich von den bevorzugten Operationen des modernen Geistes unterscheidet. Während die erhöhte Aufmerksamkeit der modernen Wissenschaft die Welt durch Isolation und Spezialisierung zu erkennen trachtete, erstrebt das post-moderne Denken ein Erkennen mit. Es betont con-szientifische (conscientious) Maßnahmen, die das »Miteinander« von Erfahrung begründen können, und wählt natürlich lieber Beziehung statt Isolation, Hybridität statt Reinheit und Konsens-Autorität statt individuelles Genie. Kollaborativ, interdisziplinär, multisensorisch, multikulturell: Auf unterschiedliche Weise strebt der con-szientifische Geist danach, Denken mit Fühlen, Wissenschaften mit Künsten, Visuelles mit Akustischem, Bekanntes mit Fremdem, dieses Medium oder Genre mit jenem zu vereinen. Während die Hauptmetapher des modernen Geistes das Atom war, hat der post-moderne Geist unsere Aufmerksamkeit auf alle Wechselwirkungsbereiche ausgeweitet.
Dieser Wandel in der Organisationsgrammatik des autoritativen Denkens ist in allen Disziplinen der Kunst und Anthropologie bis hin zur Physik und Genetik anzutreffen, und die Konflikte, die er angespornt hat, beschränken sich nicht auf die Sphären und Fehden geistiger Tätigkeiten. Der Streit zwischen der wissenschaftlichen und der conszientifischen (modernen und postmodernen) Denkweise ist in fast jedem Bezirk des amerikanischen Lebens entbrannt; er attakkiert und verändert oft die Art und Weise, wie Schulbildung vermittelt wird, wie Freunde miteinander umgehen, wie Geld gemacht wird, Verbrechen begangen, Lebenspartner gewählt und Trauerfeiern gestaltet werden. Unsere Standard-Vorstellungen (default conceptions) von Raum und Zeit und von der angemessenen Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft verändern sich immer rascher. (Um ein Beispiel für letztere zu nennen: Das handschriftliche Tagebuch wird heute von Blog, Podcast und Facebook-Seite abgelöst, wobei das introspektive Selbst der gebildeten Modernität dem öffentlich gemachten Selbst der digitalen Konnektivität weicht.) Auch wenn eine Anhänglichkeit an ältere Formen fortbesteht und noch viele Fragen im Hinblick auf die ausgereifte Gestalt der neuen Formen offen bleiben, erscheint diese Schwerpunktverlagerung von Atom, Text und Figur zu Feld, Kontext und Grund – von, grob gesagt, der Logik der Anatomie zur Logik der Ökologie bei der Darstellung der Welt – inzwischen unumkehrbar: eine Schlußfolgerung, die ich hier eher als anthropologische Feststellung denn als ideologische Billigung äußere.
Der neue Akzent auf Wissen von und durch »Miteinander« ging mit einem noch umstritteneren Trend einher: einem neuerlichen Beharren auf der inhärenten Fehlbarkeit der menschlichen Denkweise, selbst wenn sie optimal praktiziert wird. Dieses Beharren hat zwei in Beziehung stehende Dimensionen: erstens, einen tiefgehenden Argwohn, daß wir, im Gegensatz zu den utopischen Annahmen der kartesianischen Philosophie, nie »alles wissen«, nie das Rätsel unseres Ortes endgültig lösen und somit auch nie unser Geschick hier völlig beherrschen werden; und zweitens die Erkenntnis, daß gerade diese Objektivität, die der moderne Geist als Mittel zur Erlangung solch endgültigen Wissens idealisiert hat, viel fragiler ist als zunächst gedacht. Obwohl unter der Herrschaft des modernen Denkens ein beträchtlicher materieller Fortschritt gelang, wurde die menschliche Unvollkommenheit nicht beseitigt. Wie wir noch sehen werden, passiert es sogar in der strengen Laborforschung, daß Motive und Methoden den Versuchsergebnissen einen Drall geben und in Frage stellen, wie und sogar ob Objektivität überhaupt erreichbar ist. Um Shakespeare und Marshall McLuhan zu verknüpfen: Es geschieht noch immer häufig, daß »die Vernunft den Willen kuppelt«, und das »Medium« unseres Denkens kann die voraussichtliche Form seiner endgültigen »Botschaft« tatsächlich unbewußt aufzeigen.
Obgleich diese umfassenderen Themen des conszientifischen Denkens, sein Hang zum Miteinander und zum Eingestehen seiner Fehlbarkeit nun schon seit einem Jahrhundert im Spiel sind, ist der dominante Common Sense der Modernität nicht gelassen in die gute Nacht der kulturellen Veralterung gegangen. So wie eine vormoderne Treue zum Wert von Gemeinschaftlichkeit und Demut die gesamte Neuzeit in Einschlüssen überlebte, nur um in diesen neuen und andersartigen Formen wiederbelebt zu werden, so werden die atomistischen Werte und die kulturelle Konstruktion der Modernität sicherlich noch viele Jahre bestehen.
Was die folgende Untersuchung indes nahelegt, ist der Grad, in dem die Mainstream-Wissenschaft sich das conszientifische Denken, oft ohne Anerkenntnis, bereits zu eigen gemacht hat.
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Aus dem Englischen von Heide Lipecky
SINN UND FORM 2/2017, S. 251-269, hier S. 251-255