Bormuth, Matthias
geb. 1963 in Bad Arolsen, Professor für Vergleichende Ideengeschichte an der Universität Oldenburg und Leiter des Karl-Jaspers-Hauses. Zuletzt erschienen »Zur Situation der Couchecke. Martin Warnke in seiner Zeit« (2022) und »Schuld und Freiheit. Zur geistigen Situation nach 1945« (2023). (Stand 3/2023)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 3/2016 | Die Ergänzung der eigenen Erfahrungen. Ein Gespräch über Schriftsteller und Editionen mit Inge Jens und Matthias Weichelt
- 5/2018 | Der Maler Michael Triegel
- 4/2020 | Wort und Bild. Martin Warnke zum Gedächtnis
- 3/2023 | Des Herzens Meinung. Dieter Henrich in späten Jahren
MATTHIAS WEICHELT: Frau Jens, Sie haben sich vor allem als Herausgeberin einen Namen gemacht, seit Sie in den frühen sechziger Jahren die Briefe (...)
LeseprobeBormuth, Matthias
Die Ergänzung der eigenen Erfahrungen. Ein Gespräch über Schriftsteller und Editionen mit Inge Jens und Matthias Weichelt
MATTHIAS WEICHELT: Frau Jens, Sie haben sich vor allem als Herausgeberin einen Namen gemacht, seit Sie in den frühen sechziger Jahren die Briefe Thomas Manns an den Philologen Ernst Bertram veröffentlichten. In den nächsten Jahrzehnten folgten dann weitere Editionen, die Werke des Literaturhistorikers und Schriftstellers Max Kommerell, die Briefe und Aufzeichnungen der Geschwister Scholl und ihres Freundes Willi Graf, die Tagebücher des Komponisten Ralph Benatzky und immer wieder die Familie Mann. Wie kamen Sie – ohne von einer Institution getragen zu sein – zu diesen ganz unterschiedlichen Autoren?
INGE JENS: Ich habe immer auf eigene Faust gearbeitet, aber meine Stoffe habe ich mir nie selbst ausgesucht. So kam im Fall von Max Kommerell seine Witwe auf mich zu. Bei den Geschwistern Scholl fragten mich Inge Aicher-Scholl und Otl Aicher. Großes Glück hatte ich mit den Tagebüchern von Thomas Mann, die mein Leben doch ziemlich verändert haben. Mein Mann Walter Jens war nicht ganz unschuldig daran, daß ich den Auftrag erhielt. Als jemand vom S. Fischer Verlag bei uns anrief und fragte, ob ich für einen Band der Werkausgabe ein Nachwort schreiben könne, lehnte er ab. Ohne Rücksprache mit mir behauptete er, ich sei nur an den Tagebüchern interessiert. Und so wurde mir nach dem Tod des Herausgebers Peter de Mendelssohn diese große Aufgabe übertragen.
MATTHIAS BORMUTH: Vielleicht können wir mit Hans und Sophie Scholl beginnen, die mit ihren Freunden aus der »Weißen Rose«, darunter Willi Graf, als Märtyrer des Widerstands gegen den Nationalsozialismus bekannt sind. Ich habe Sie, Frau Jens, kennengelernt, als ich mit Medizinstudenten Ihre Editionen gelesen habe, um der Gedankenwelt dieser mutigen jungen Menschen näherzukommen.
JENS: Es ist trotz der beeindruckenden Zeugnisse leider eine miserable Edition, bei der mir von seiten der Familie ständig hineingeredet wurde, was ich bringen dürfe und was nicht. Die Hinterbliebenen, vor allem Inge und ihr Mann Otl, wußten genau, wie es gewesen war, und ließen keine historische Forschung gelten, die ihre Sicht auf Widerstand und Tod der Geschwister in Frage stellte. So sollte nicht herauskommen, daß zwischen Sophie Scholl und ihrem Freund Fritz Hartnagel, der später die Schwester Elisabeth heiratete, mehr als ein platonisches Verhältnis bestand. Inge, die konvertiert und gut katholisch war, paßte es nicht, daß Sophie vor der Ehe mit einem Mann geschlafen hatte. Dabei kann man doch nur hoffen, daß die beiden vor Sophies Tod wirklich etwas Schönes erlebt haben, wenn sie sich im Park trafen oder eine Nacht miteinander verbrachten. Inge Aicher-Scholl beanspruchte aber, nachdem sie ihr Buch über die »Weiße Rose« veröffentlicht hatte, die Deutungshoheit über das Bild ihrer Geschwister in der Öffentlichkeit.
BORMUTH: Sie bekamen es als Herausgeberin von Briefen und Tagebuchaufzeichnungen hier mit einer Form von Legendenbildung zu tun, die einer kritischen Sichtung der Materialien zuwiderlief.
JENS: Die Dokumente sagten etwas anderes, als man wahrhaben wollte. So sprach sich die Familie auch gegen meine Einleitung aus, in der ich erwähnte, daß Hans und Sophie nicht nur in der Jugendbewegung, sondern bis 1935 auch in der Hitler-Jugend aktiv gewesen waren. Das durfte es nicht geben: Helden, die zunächst mitmachten bei dem, was sie später bekämpften. Mir waren und sind historisch »gewordene« Helden jedoch lieber als solche, die gewissermaßen vom Himmel fallen. Dennoch durfte ich meine Sicht der Dinge nicht innerhalb der Edition publizieren; der S. Fischer Verlag veröffentlichte sie separat in der »Neuen Rundschau«. Ich habe mich damals auf diese Form von Zensur eingelassen, da ich nicht wollte, daß die erste Edition von Zeugnissen des studentischen Widerstands durch öffentliche Streitigkeiten entwertet würde. Auch war die Situation insofern nicht einfach, als mein Mann und ich uns gemeinsam mit Inge und Otl Aicher gegen die Stationierung von US-Atomraketen in Mutlangen engagierten.
BORMUTH: War Ihnen so etwas schon bei früheren Editionen passiert? Bei Autoren wie Ernst Bertram und Max Kommerell, die zeitweilig zum George-Kreis gehörten und als durchaus konservativ galten, könnte man sich doch viel eher vorstellen, daß die Beschäftigung mit dem Nachlaß heikel war, daß es Versuche der Einflußnahme gab.
JENS: Nein. Thomas Manns Briefe an Ernst Bertram lagen in Marbach, und auch Frau Kommerell machte mir keine Vorschriften. Sie war außerordentlich großzügig und gab mir ihren Segen: Wenn Sie nach Marbach ins Literaturarchiv fahren, können Sie alles einsehen und alles benutzen, was Sie möchten. Gerade durch die Beschäftigung mit Max Kommerell erweiterte sich meine zunächst recht undifferenzierte Sicht auf den George-Kreis und seine Adepten. Ich verstand plötzlich die mich so befremdende Hörigkeit der Jünger und begriff, was Kommerell durch seinen Bruch mit »dem Meister« wagte. Ich sah aber auch die ungeheure Anstrengung, die ihn, den einstigen Lieblingsjünger, dieser Schritt kostete. Kaum jemand sonst hat es geschafft, eine solche anhaltende Distanz zu gewinnen. Frau Kommerell erzählte mir allerdings, George habe ihren Mann bis zum Ende seines Lebens – er starb 1944 – in Alpträumen verfolgt. Zugleich wurden mir die Kompromisse deutlicher, die er in seinem Leben einging, die Schlupflöcher, die er, der das neue Regime zunächst begrüßt hatte und Mitglied der Reiter-SA war, sich später suchte.
WEICHELT: Was mich an Ihren Arbeiten immer sehr beeindruckt hat, war die Fairneß und Unvoreingenommenheit, mit der Sie auch über Menschen schrieben, mit denen Sie ganz offensichtlich nicht übereinstimmten. Fiel es Ihnen manchmal schwer, solche fremden Weltbilder zu akzeptieren, zumal Sie im Politischen immer klare Positionen vertreten haben?
JENS: Ich habe andere Sichtweisen immer als Ergänzung meiner eigenen Erfahrungen wahrgenommen. Wie schon gesagt: Mir sind Menschen, die gegen Mißstände und Bedingtheiten ihrer Zeit handeln, aber natürlich auch in sie verstrickt sind, lieber als solche, an denen es nichts auszusetzen gibt.
WEICHELT: Wie bringen Sie die Quellen zum Sprechen, wenn Sie das Material für eine Edition zusammenstellen? Liegt diesem ersten Schritt, der Auswahl und Anordnung, nicht auch schon eine Art Interpretation zugrunde?
JENS: Meines Erachtens muß man die Fakten so präsentieren, daß jeder, unabhängig von seiner Einstellung, einen Zugang zu ihnen finden kann. Wenn Sie es schaffen, die geistigen Einflüsse und historischen Hintergründe in den Kommentaren ausgewogen und anschaulich darzustellen, ist schon viel gewonnen. Sie dürfen nichts verfälschen und müssen sich vor Spekulationen hüten. Denn wenn Sie, wie ich in meiner Scholl-Ausgabe, Unliebsames ausblenden und auf bestimmte historische Belege verzichten müssen, hat der Leser keine Chance, sich so objektiv wie möglich zu informieren und möglichst viele Seiten einer Person oder eines Vorgangs zu verstehen.
WEICHELT: Wenn man Ihre Veröffentlichungen liest, merkt man schnell, wie wichtig es Ihnen ist, durch das Arrangement der Texte und die Art ihrer Kommentierung eine erzählerische Gesamtkomposition entstehen zu lassen. Sie haben im Gespräch einmal erwähnt, daß man Ihnen riet, auf der Grundlage Ihrer Anmerkungen zu den Tagebuch-Eintragungen Thomas Manns eine Katia-Mann-Biographie zu schreiben. Wäre das eine Methode, durch chronologisch stimmige Anordnung der Dokumente zu einer biographischen Erzählung zu kommen? Als Herausgeberin hatten Sie ja ein geschärftes Bewußtsein für den redlichen Umgang mit dem historischen Material und seinen Widersprüchen.
JENS: Das Editorische kann eine Vorstufe des Erzählerischen sein, muß es aber nicht. Während es hier nötig ist, die Fakten möglichst umfassend und möglichst vorurteilsfrei zu betrachten und darzustellen, darf eine biographische Arbeit, wie die über Katia Mann, auch schon mal einer subjektiver gewichteten Linie folgen. Die Haltung des Herausgebers hat vor allem kritisch zu sein.
WEICHELT: Worin besteht die Kunst des Edierens?
JENS: Sie müssen versuchen, alle oder jedenfalls möglichst viele Implikationen etwa eines Tagebucheintrags zu berücksichtigen. Wenn Sie sich lange mit einem Autor und seiner Handschrift beschäftigen, lernen Sie ihn ganz anders kennen. Sie erhalten interessante Einblicke in seine Arbeits- und Denkweise. So ging es mir mit den fünf Bänden der Tagebücher Thomas Manns, die ich herausgegeben habe, obwohl ich im Unterschied zu meinem Ehemann kein wirklicher Kenner und Verehrer seines Werkes war.
BORMUTH: Kann es sein, daß Thomas Mann, der sich zu Lebzeiten als Repräsentant des deutschen Kulturbürgers gesehen und stilisiert hat, späteren Generationen mit den Tagebüchern auch einen kritischen Zugang zu seiner Person und seinem Werk eröffnen wollte?
JENS: Ganz sicher. Thomas Mann fühlte sich als Repräsentant eines Kulturbürgertums, dessen Normen er in starkem Maße verinnerlicht hatte. Wie erleichtert war er, als er den 1933 in München zurückgelassenen Koffer mit den alten Tagebüchern wieder in seinen Händen hielt! Er hat aus Angst, seine homoerotischen Neigungen könnten öffentlich werden, sogar später im kalifornischen Exil noch einige Bände verbrannt. Aber die meisten bewahrte er auf. In ihnen drückt er aus, wie ihm zumute war und was es ihn kostete, die ihm so wichtige glanzvolle Fassade der Bürgerlichkeit aufrechtzuerhalten, die ihm Sicherheit garantierte und natürlich auch viel Freude bereitete.
BORMUTH: Als Sie in den achtziger Jahren mit der Edition begannen, kam es auch zu näherem Kontakt mit Golo Mann, der selbst Historiker und Erzähler war.
JENS: Golo Mann befürchtete zunächst, ich würde an Peter de Mendelssohns eher literarische Form des Kommentierens anknüpfen, während es ihm, als Historiker, doch in erster Linie um die zeitgeschichtliche Erhellung der Epoche ging, in welche die Tagebücher eingebettet waren. Mir auch, deshalb haben wir uns so gut verstanden. Ich hätte nie so kommentieren können wie de Mendelssohn, weil mir dafür alle Insider-Kenntnisse fehlten. Für mich waren die Tagebücher vor allem eine große Chronik ihrer Zeit.
WEICHELT: Wie verliefen Ihre Treffen mit Golo Mann?
JENS: Am Anfang war es schwierig. Ich habe ihn immer besucht, wenn ich in Zürich im Thomas-Mann-Archiv zu tun hatte. Er wohnte damals im elterlichen Haus in Kilchberg. Nach und nach bürgerte es sich ein, daß wir meinen Fragenkatalog der Reihe nach abarbeiteten, er also antwortete, soweit er konnte. Später bat er mich, ihn öfter zu besuchen. Weil ihn meine Recherchen zunehmend interessierten, ist er sogar auf den Dachboden gestiegen, um nach alten Briefen zu schauen. Die gab er mir dann mit den Worten: Lesen Sie das zu Hause. Sie können es mir nächstens wiedergeben.
BORMUTH: Entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Ihnen?
JENS: Ja, eines Tages erhielt ich einen Brief mit dem Anfang: »Liebe Inge, wie wäre es, wenn wir die Curialien fortlassen würden?« Das fand ich sehr schön. Und bei »liebe Inge«, »lieber Golo« sind wir dann geblieben.
WEICHELT: Golo Mann gehörte wie seine Eltern zu den deutschen Emigranten. Welche Erfahrungen haben Sie selbst mit jenen gemacht, die Deutschland nach 1933 verlassen haben?
JENS: Ich lernte während meiner Arbeit im Deutschen Literaturarchiv in Marbach viele Emigranten kennen. Bernhard Zeller, der damalige Direktor, stellte mich ihnen vor, vielleicht auch um zu zeigen, daß man sich in Deutschland mit der Vergangenheit auseinandersetzte und versuchte, Ursachenforschung zu betreiben. Aber es waren nur wenige, die sich in den sechziger und siebziger Jahren überhaupt mit Emigration und Remigration beschäftigten.
BORMUTH: Sie haben Katia Mann besucht und geschildert, wie sie auf die Erwähnung der Emigration reagiert hat.
JENS: Ich habe Katia Mann zwei- oder dreimal besucht, und sie hat mir großen Eindruck gemacht, vor allem mit der Szene, auf die Sie anspielen, diesem Ausbruch: »Hinausgeworfen hat man uns! Und das nach einem ehrenwerten Leben!« Das werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen. Daß man eine Emigration aus Deutschland als bürgerliche Schande empfinden konnte, war eine neue Erkenntnis für mich und hat mich sehr bewegt.
WEICHELT: Sie haben in Tübingen enge Beziehungen zu Hans Mayer und Ernst Bloch gepflegt, zwei anderen ehemaligen Emigranten, die nach ihrer Rückkehr nach Deutschland erst im Osten lebten und dann in den Westen gingen.
JENS: Hans Mayer ist wahrscheinlich der Mensch, der meine geistige Biographie am meisten beeinflußt hat. Er hat mich gefördert und gefordert. Für ihn war es selbstverständlich, daß ich das, was er von mir verlangte, konnte und also auch machte. Das setzte er einfach voraus. So etwas kann ungeheuer hilfreich und anregend sein, denn die Kenntnisse, die ich noch nicht hatte, habe ich mir schleunigst angeeignet. Ich wollte mir vor ihm ja keine Blöße geben.
(…)
SINN UND FORM 3/2016, S. 341-352, hier S. 341-345