Bönt, Ralf
geb. 1963 in Lich (Mittelhessen), arbeitete als Physiker u. a. am Europäischen Kernforschungszentrum CERN, lebt als Schriftsteller in Berlin. 2015 erschien der Roman »Das kurze Leben des Ray Müller«. (Stand 5/2022)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 5/2022 | Über Unwissende. Versuch zum Verlust der Gegenwart
Das Ende der Vormoderne:
Die Erosion der Kirche und die Notwendigkeit von Religion
Schon bevor der russische Präsident seinen (...)
Bönt, Ralf
Über Unwissende.
Versuch zum Verlust von Gegenwart
Das Ende der Vormoderne:
Die Erosion der Kirche und die Notwendigkeit von Religion
Schon bevor der russische Präsident seinen heillosen Krieg gegen die Zukunft anfing, war auch im Westen die Vorstellung von ihr verlorengegangen. Mehr noch, mit den Kirchen und der Wissenschaft waren in Deutschland die vermeintlichen Vertreter von Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig unter Legitimationsdruck geraten, weil es am Verständnis dafür mangelt, worin der Unterschied zwischen beiden besteht. Inmitten einer Pandemie mit ihren bedrohlichen Unwägbarkeiten wendeten sich mehr Menschen als je zuvor von den Kirchen ab, statt dort etwa Halt zu suchen. Gleichzeitig wurden in diesen Tagen Geistliche in großer Zahl für schwerste Vergehen an jungen Menschen verantwortlich gemacht, die man in ihre Obhut gegeben hatte. Und nicht nur dafür, sondern auch für die jahrzehntelange Vertuschung der Sexualstraftaten. Schockiert nimmt die Öffentlichkeit zur Kenntnis, daß Vaterfiguren über Minderjährige verfügt haben, als habe es nie eine sexuelle Revolution, eine emanzipative Moderne und eine liberale Selbstbestimmung und Gleichwertigkeit unter Menschen gegeben.
Während Kirchenvertreter Verantwortung nicht übernehmen, wo sie es unbedingt müßten, wird den Wissenschaftlern eine Verantwortung zugewiesen, die sie nicht zu tragen haben und auch nicht tragen können. Wissenschaftler werden persönlich verantwortlich gemacht für eine Naturkatastrophe, von der sie die Öffentlichkeit unterrichten, und ebenso werden sie verantwortlich gemacht für unvollständiges oder fehlendes Wissen darüber. Man möchte sie haftbar machen für das verursachte Leid, obwohl klar ersichtlich ist, daß die Menschheit mittels Statistik, Informationstechnologie, Gentechnik und einiger anderer Disziplinen erstmals einer Seuche ernsthaft trotzt. Die Verwechslung des Boten mit der Botschaft, die Unterstellung, die Wissenschaftler seien altväterlich verantwortlich für alles, was geschieht, und verfolgten damit eigene Ziele, führt zu einer grotesken Situation: Einfache, epidemiologisch skalierte Hygiene wird häufig ebenso rigoros abgelehnt wie hocheffiziente Impfstoffe, welche diese Hygiene weitgehend überflüssig machen würden. Statt dessen zieht man eine vormoderne Hingabe an das Schicksal vor, dem man sich lieber anvertraut als den Fachleuten. Für diese wirren Fehleinschätzungen ist das noch immer ungeklärte Verhältnis des modernen Menschen zu Religion und Wissen ebenso verantwortlich wie das ungeklärte Verhältnis von Religion und Wissen zueinander. Oft wird einfach angenommen, das Wissen folge dem Glauben und ersetze ihn, weil man jetzt manches genauer wisse. Vielleicht etwa so wie einst die Fotografie die Porträtmalerei ersetzt habe, weil sie angeblich die Wirklichkeit tatsächlich wiedergebe. Doch diese Vereinfachung wird weder den Möglichkeiten des Glaubens noch denen des Wissens gerecht. Sie führt zur Überforderung beider. Malerei gibt es noch immer, sie wird nicht weniger geschätzt als früher. Anders als die Kirchen hat sie sich allerdings entwickelt, heute ist sie moderne Malerei. Eine moderne Kirche aber gibt es nicht. Das Problem: Aus Unkenntnis der grundsätzlichen Unterschiede zwischen Wissen und Glauben werden lang eingeübte Haltungen, mit denen man Geistlichen zu begegnen gewohnt war, heute unkritisch und unbewußt auf die Wissenschaft und deren Vertreter übertragen. Das kann nicht funktionieren. Deshalb muß das Verhältnis von Wissen und Glauben eingehender betrachtet werden, als das bislang geschehen ist.
Daß Wissenschaft keine letzten Fragen behandelt, wie die Religion es tut, sondern immer nur die nächste, ist dabei schon eine hilfreiche, entlastende Formel. Sie impliziert, daß Religion nicht überflüssig werden kann und Wissenschaft sie nicht ersetzen muß. Erlösung ist von der Wissenschaft nicht zu erwarten, jedenfalls keine endgültige. Aus gutem Grund sind Religion und Wissenschaft in verschiedenen Sprachen verfaßt: Daß im Anfang die Zahl war, hätte leicht der erste Satz eines Manifests der Moderne sein können, das nie geschrieben wurde. Spätestens hier nämlich beginnen die Schwierigkeiten. Daß es trotz einiger Versuche keine Bibel der Neuzeit gibt, hat vielleicht damit zu tun, daß dieser Satz viele Menschen abschreckt. Niemand wird indes bestreiten wollen, daß eine verdreifachte Lebenserwartung eine große Emanzipation des Menschen darstellt. Man wird auch nicht denken, daß der Mensch im Prinzip so lebt wie zuvor, von einigen Fortschritten und Bequemlichkeiten abgesehen. Aber wie lebt er dann, was genau hat sich verändert?
Heute geht er bei Krankheiten, Katastrophen und Krisen nicht mehr beten und tut auch nicht mehr Buße, um den Herrn milde zu stimmen, sondern er sucht nach Lösungen. Immer häufiger findet er auch eine, die er anschließend verfeinert und verbessert. Ohne Zahlen ginge dabei nichts. Die Diskrepanz zwischen der Aversion gegen die Zahlen und ihrer Notwendigkeit birgt ein Problem, das immer weniger zu übersehen ist: Es ist die Diskrepanz zwischen der modernen Welt und dem mangelnden Verständnis ihrer Kultur. Zahlen stehen einem tieferen Verständnis davon, wie der Mensch jetzt in der Welt ist, oft im Wege. So ähnlich wie eine Fremdsprache dem Verständnis gängiger Witze eines Landes im Wege steht und dem Verständnis ihrer Verkehrsregeln, ihrer sonstigen Gesetze und Gepflogenheiten. Ohne diese Sprache zu lernen wird man in dem Land nicht zurechtkommen. In der Pandemie war auch nicht etwa die fehlende Kenntnis der Infektionswege, der kommenden Infektionswellen oder ein Mangel an Medikamenten und Impfstoffen das größte Problem. Das stand alles in kürzester Zeit zur Verfügung. Diese Leistungen gäben eigentlich Anlaß für ein Freudenfest oder ein stilles Gedenken an Seuchenopfer früherer Tage.
Daß all dies von so vielen abgelehnt wurde und die Pandemie deshalb weiterlief, ist eine historisch neue, hochgradig paradoxe Situation und das wichtigste Problem der Zeit. Die Pandemie ist ja kein Sonderfall, bei der Bekämpfung der Erderwärmung ist ein ähnlicher Verlauf schon Realität. Auch bei Transplantationsmedizin, Fortpflanzung, Genscheren und humanem Sterben stellen sich ähnliche Fragen mit hoher Dringlichkeit. Dazu kommt die Digitalisierung als Grundversorgung des Menschen mit Informationen. Das sind exakt jene Fragen, auf die Alexander Dugin als Stichwortgeber des russischen Präsidenten seine radikalen Antworten gibt, die vor allem radikal falsch sind. Schließlich lehnt er alle Errungenschaften ab, weil er eine Aushöhlung des Menschen in ihnen sieht, den er vor seinen eigenen Errungenschaften bewahren will. Eine Emanzipation des Menschen, welche die Moderne ausmacht, kann er offenbar nicht erkennen. Daß aus der einst göttlichen Autorität, die als personal, also launisch und beeinflußbar galt, eine apersonale, unbestechliche und lesbare Autorität geworden ist, scheint nicht hinreichend klar: Anders als ein Gott hat das Naturgesetz keinerlei menschliche Züge. Es ist eine unbestechliche Autorität, die in niemandes Dienst steht. Gerade das aber macht ihren revolutionären Charakter aus. Der entscheidende Unterschied ist die Zuverlässigkeit. Das Naturgesetz sagt immer dasselbe. Wenn es richtig verstanden wird, kann man es für sich nutzen. Statt das anzuerkennen, wird die moderne Autorität aber durch den einzelnen heute oft grundsätzlich abgelehnt. Das ist nicht emanzipiert, also erwachsen, sondern das glatte Gegenteil: kindisch.
Die Frühmoderne: Vom Sterndeuter zur Antimaterie
Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, muß man sich die Geschichte der Moderne, den Lauf der Entdeckungen ansehen und versuchen, sie in ihre Zeit einzuordnen. Es mag heute schwer vorstellbar sein, aber die Idee eines Naturgesetzes war nicht immer schon in der Welt. Man dachte lange, jemand wache über die Welt und den Menschen. Ob dieser gütig sei, fragte Luther und verzweifelte an der Frage. Daß aber niemand wirklich über allem wacht, daß sich die Welt vielmehr nach Gesetzmäßigkeiten richtet, die nicht weiter erklärbar sind, ist eine Idee, die schon bei Epikur und Lukrez virulent war und die Johannes Kepler dann als erster ernsthaft verfolgte. Kepler studierte Theologie in Weil der Stadt, wurde aber schon als junger Mann überredet, eine Stelle als Mathematiklehrer in Graz anzunehmen. Zu seinen Pflichten gehörten Horoskope, und je länger er die Sterne beobachtete, desto mehr ahnte er, daß schwere Körper einander anziehen und aufeinanderzueilen wollen. Kurioserweise wirkt ihr Gewicht dabei als Bremse. Das war überhaupt keine einfache Einsicht, darauf mußte man erst einmal kommen. Isaac Newton schien die Idee schon ausgearbeitet zu haben, sie beschäftigte dann aber noch Albert Einstein. Schließlich war der Mensch in der Lage, das zu tun, wovon Kepler geträumt hatte: zum Mond zu fliegen. Kepler hatte darüber eine Geschichte geschrieben, quasi den ersten Science-fiction-Roman der Welt. Auch Kepler lebte von Ideen, die schon vor ihm da waren. Als Lutheraner setzte er sich für die Lehren von Nikolaus Kopernikus ein. Kepler war es, der erstmals vom Lernprozeß über verschiedene Generationen sprach und damit auch ein neues Verhältnis der Generationen einführte.
Die Moderne fing nicht mit den Planeten und dem Himmel an, der Mensch selbst stand im Zentrum. Als Beginn der neuen Zeit gilt manchen die erste Schnittentbindung, die beide überlebten: Mutter und Kind. Der sogenannte Kaiserschnitt wurde vor einem halben Jahrtausend vom Schweizer Tierarzt Jakob Nufer durchgeführt, nachdem die Frau, Elisabeth Alespach, tagelang in den Wehen gelegen hatte. Sie drohte zu sterben, wie es damals dauernd vorkam. Nufer eilte zum Prälaten und bat um Erlaubnis für den gefährlichen Eingriff. Dann setzte und versorgte er den Schnitt, wie er es an Schweinen gelernt hatte. Die erfolgreiche Operation sprach sich schnell herum, viele Menschen gingen von da an, wenn sie Hilfe brauchten, zum Arzt. Das Beten rückte in den Hintergrund. Es war nicht mehr das erste, was man tat, sondern das letzte. Das Vertrauen in die Kirche und ihre Vertreter war zu diesem Zeitpunkt schon stark erodiert, denn ähnlich wie sie heute in der Pandemie keinen Rat weiß, war schon während der Pest klargeworden, daß die Erzählungen der Priester nicht stimmten: Weder war Krankheit Strafe, noch schützte Gottesfurcht. Der Konflikt eskalierte mit Nikolaus Kopernikus, der 1473 zur Welt kam. Seine Untersuchungen über die Revolution, also die Wiederkehr der Planeten, gab er erst 1543 auf dem Sterbebett zum Druck frei. Kopernikus bekleidete als preußischer Domherr ein geistliches Amt und fürchtete kirchliche Sanktionen, denn er betrachtete die Erde als einen von mehreren Himmelskörpern, der zudem um die Sonne kreiste. Man hatte das immer umgekehrt angenommen, denn für irdische Beobachter sieht es halt so aus.
Die Pointe, daß Geo- und Heliozentrismus keinen Widerspruch bilden, sondern gleichberechtigte Beschreibungen sind und leicht ineinander überführt werden können, war noch lange nicht erschlossen: Dazu mußte der Kopernikaner und Lutheraner Johannes Kepler erst die Gesetze der Gravitation auf den Weg bringen, den Isaac Newton dann zu Ende ging. Bis heute gilt allerdings als Allgemeinwissen, daß die Erde um die Sonne kreist und der Mond um die Erde, was mehr als ungenau ist. Es ist sogar eher doppelt falsch als halbwegs richtig. Es ist strukturell falsch, denn die Welt ist weder geo- noch heliozentrisch. Als Symptom der gegenwärtigen Orientierungsprobleme darf gelten, daß kaum jemand die Wahrheit kennt, daß nämlich die Welt gar nicht zentrisch oder gar zentristisch ist und zwei Körper immer um den gemeinsamen Schwerpunkt kreisen. Das ist jener Punkt, auf dem eine Wippe aufgelegt werden müßte, um in einem Schwerefeld beide Körper in die Waage zu bringen. Jeder kennt das, der schon mal mit einem Kind auf einem Spielplatz war und auf der Wippe nahe an die Mitte rücken mußte. Dieser Umstand hat die größten Konsequenzen. Nur weil Erde und Mond um diesen gemeinsam gebildeten Punkt kreisen müssen, wenn sie sich nicht verlieren oder zusammenstoßen wollen, gibt es zweimal am Tag Ebbe und Flut. Während die eine Flut wegen der Anziehung des Mondes immer genau unter ihm ist, türmt sich auf der gegenüberliegenden Seite die zweite Flut durch eine Fliehkraft auf, die von der Rotation der Erde um den mit dem Mond gebildeten Schwerpunkt herrührt. Dieser Punkt liegt sehr nahe am Erdmittelpunkt. Deshalb ist diese Rotation, salopp gesagt, nur ein leichtes Eiern der Erde: Sie bewegt sich wie ein Globus, dessen Achse nicht genau in der Mitte des Planeten, sondern seitlich versetzt ist. Doch noch heute wird kein Pastor erklären können, warum es zwei Gezeiten am Tag gibt.
Ob Kopernikus sein Buch selbst noch zu sehen bekam, ist unbekannt. Als Beginn der Moderne gilt es vor allem jenen, die darunter das endgültige Ende der kirchlichen Autorität verstehen, denn die Kirche machte einen verhängnisvollen Fehler: Sie bekämpfte von Rom aus die neuen Erkenntnisse mit aller Gewalt. Prozesse gegen Giordano Bruno und Galilei Galileo sorgten für eine historische Schuld, die bis heute nicht ausreichend aufgearbeitet wurde. Noch schädlicher war und ist die Blamage, alles Richtige abgelehnt zu haben. Denn die Menschheit lernte ja gleichzeitig die Welt zu lesen. Sie lernte auch darüber zu sprechen. Und die Probleme mit der Wahl des Bezugssystems kennt heute jeder, der sich unsicher ist, ob der Zug auf dem Nachbargleis anfährt oder der eigene. Sich mit diesen Dingen auszukennen hilft ungemein, etwas von einem anderen Standpunkt aus anzusehen.
Die Erkenntnis dabei ist, daß nicht ein Körper dem anderen vorgezogen wird. Sonne und Erde tragen in vollkommen gleichem Maße zur schönen Bewegung bei, auch wenn ein Körper, von einem fixierten dritten Punkt aus betrachtet, majestätisch und langsam, der andere flink und leicht ist. Aber nur wenn dieser Punkt weit genug entfernt ist, sieht es so aus, als bewege sich lediglich der leichtere Körper. Viele Dinge sehen wie etwas aus, was sie doch nicht sind, wenn man näher herangeht. Und näher heranzugehen ist modern. Nicht zufällig haben diese Erkenntnisse mit der Erfindung des Fernrohrs zu tun.
Der Kampf der katholischen Kirche war jedenfalls einer gegen Windmühlen. Man lernte später so viel über Symmetrien, daß die Antimaterie entdeckt wurde: Das ist eine faszinierende Geschichte, die obendrein leicht verständlich ist und sich gut erzählen läßt. Erst entdeckte Paul Dirac, daß die Gleichung für das Elektron auch noch einem Teilchen die Existenz zugestand, das die entgegengesetzte elektrische Ladung hat und sonst identisch ist. Also mußte entweder das Teilchen existieren oder die Gleichung falsch sein. Dann sah Carl David Anderson in einer Nebelkammer eine Spur, die sich im Magnetfeld mit demselben Radius andersherum krümmte, als er es von Elektronen gewohnt war. Beide dachten an einen Fehler oder ein Artefakt, bis sie voneinander erfuhren. Unsere ganze Welt gibt es noch einmal, nur elektrisch gespiegelt.
Geschichte und Psychologie der Antimoderne: Es irrt kein Mensch, der strebt
Die Bezeichnung »Moderne« entstammt übrigens der Notwendigkeit, das Heutige als solches zu benennen: Modernus ist das Gegenwärtige in Abgrenzung zum Damaligen. Es geht um die Haltung zur eigenen Zeit. Dabei ist das Gegenwärtige durchaus noch unverstanden und erst gerade im Prozeß, verstanden und angenommen zu werden. Daraus bezieht die Moderne ihre Spannung: Wenn jemand oder etwas modern ist, wird damit eine Bewegung gemeint, die Hinwendung nicht nur zum Neuen, sondern auch die Neigung, das Neue immer wieder anzuschauen und zu prüfen. Fertig wird man damit nicht. Ein moderner Mensch wird das Neue wohlwollend prüfen, ein konservativer wird es aus einer skeptischen Grundhaltung heraus tun. Modern sein ist eine positive Hinwendung zum Hier und Heute und Morgen. Man konnte um 1500 genauso modern sein wie 2022 oder 2800.
Daß der Widerstand gegen Neuerung und Fortschritt so erfolgreich war und ist, hat aber nicht nur mit dem drohenden Machtverlust der klerikalen Eliten zu tun. Sie hatten schließlich eine andere Möglichkeit: Sie hätten sich der Wissenschaft auch als erste annehmen können, hätten sie selbst betreiben und ihre Möglichkeiten als Beweis für Gottes Güte verstehen können. Kepler hat das so gesehen und auch Einstein klingt so ähnlich, wenn er die ernsthaften Forscher die einzigen tiefreligiösen Menschen einer materiellen Welt nennt. Die Ablehnung der Kirche muß daher einen anderen Grund haben. Es ist derselbe, an dem sich noch heute die Ablehnung von wissenschaftlicher Erkenntnis und Methode entzündet. Denn schon Kopernikus’ heliozentrisches Weltbild war leichter zu bekämpfen als zu verteidigen: Die Zahlen erschlossen sich nicht ohne weiteres. Nur ein paar wenige Menschen konnten überhaupt den Versuch unternehmen, das Werk zu verstehen.
Gleichzeitig erschienen die Behauptungen angesichts der Alltagserfahrung unsinnig. Es war doch für jeden sichtbar, daß die Sonne täglich auf einem Bogen über den Himmel strich, hinter dem Rand der Erde verschwand und Stunden später auf der anderen Seite wieder auftauchte. Außerdem fragten viele: Wenn sich die Erde so schnell bewegt, warum ist mir dann nicht schwindlig? Kopernikus’ Behauptungen waren auf Marktplätzen, Feldern und Kirchtürmen ohne Vorteil, aber von manchem Nachteil. Man verstand die Ökonomie in der Betrachtung der Planetenbahnen nicht, wenn man die Sonne in der Mitte plazierte. Heute würde man sagen: Die Sonne als Bezugssystem nimmt. Was wiederum nur bedeutet, den Nullpunkt des Koordinatensystems dorthin zu legen. (…)
SINN UND FORM 5/2022, S. 594 – 608, hier S. 594-599