Adorno, Theodor W.
(1903 –1969), deutscher Philosoph, Soziologe, Musiktheoretiker und Komponist. Seine Gesammelten und auch seine Nachgelassenen Schriften sind im Suhrkamp Verlag erschienen.
Siehe auch SINN UND FORM:
- 5/2020 | »Er hat in keiner Weise an den Erfolg geglaubt«. Gespräch mit Anne Andresen über Alban Berg (1955
- 5/2021 | »Sie sollten sich über diesen Ungeist wirklich einmal orientieren«. Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger 1955 – 66. Mit einer Vorbemerkung von Jan Bürger
- 2/2022 | »Ich habe die Hosen voll, wenn ›ich an Deutschland denke in der Nacht‹«. Briefwechsel mit Lotte Lenya. Mit einer Vorbemerkung von Jens Rosteck
- 6/2022 | »Ich muss mich drum auch hüten, mir Hoffnungen auf Arbeit zu machen«. Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann
- 6/2023 | »Ich kann auch den kleinsten Weg nicht anders als allein gehen«. Briefwechsel mit Elias Canetti. Mit einer Vorbemerkung von Sven Hanuschek
Vorbemerkung Mitte der sechziger Jahre prägten Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno den noch vergleichsweise kleinen Suhrkamp Verlag wie (...)
LeseprobeAdorno, Theodor W.
»Sie sollten sich über diesen Ungeist wirklich einmal orientieren«.
Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger 1955 – 66
Vorbemerkung
Mitte der sechziger Jahre prägten Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno den noch vergleichsweise kleinen Suhrkamp Verlag wie eine Doppelspitze. Beide waren auf unterschiedliche Weise Identifikationsfiguren, beide rückten mit ihrem Sensorium für politische, soziale, kulturelle und künstlerische Probleme die Wirtschaftswunder- Gesellschaft gewissermaßen zurecht: Der 1903 in Frankfurt geborene und 1934 ins Exil gegangene Adorno stellte durch seinen intellektuellen Anspruch, die Ausnahmerolle des Remigranten und nicht zuletzt durch seine Präsenz im Massenmedium Radio besonders für Studierende die Verbindung zur deutschsprachigen Wissenschaft und Kultur vor 1933 wieder her, die wesentlich von Intellektuellen mit jüdischem Familienhintergrund geprägt wurden. Zudem galt er als überragender Rhetor, der es wie wenige verstand, hochkomplexe Gedanken frei vor seinem Publikum zu entwickeln.
Wurde durch Adorno die Erinnerung an die europäische Bedeutung der deutschsprachigen Philosophie, Musik und Literatur vor dem Zivilisationsbruch aktiviert, so schien Enzensberger einen Weg in die Zukunft für all diejenigen zu weisen, die zu spät auf die Welt gekommen waren, um sich im Nationalsozialismus schuldig zu machen. Dadurch, daß er erst Ende 1929 geboren wurde, war Enzensberger sogar zu jung gewesen, um als Menschenmaterial verheizt zu werden. Als man ihm 1945 eine Waffe in die Hand drückte, war der Krieg schon so gut wie vorbei. Der hochbegabte Jugendliche ergriff sofort die Gelegenheit, sich auf die veränderten Bedingungen einzustellen. Anders als den meisten seiner Kameraden ging es ihm dabei nicht nur ums nackte Überleben und um eine bescheidene Teilhabe am relativen Wohlstand der amerikanischen Besatzer. Enzensberger war auch bildungshungrig: Er wollte von den GIs lernen, er wollte raus in die Welt und wurde, ehe er sich’s versah, zum Dolmetscher und Leser von Weltliteratur. Denn die GIs brachten nicht nur Exotika wie Dosenfleisch der Marke Spam oder Nescafé, sondern auch eine Form von Verpflegung, die jene Soldaten, die mit dem jungen Sprachkünstler rasch fraternisierten, selbst für vollkommen nutzlos hielten: eine Kiste voller amerikanischer Bücher. Für den Schüler Hans Magnus allerdings wurde diese zum ersten Handapparat, zum ersten Museum der modernen Poesie.
Unter anderem enthielt die Kiste eine der berühmten Lyrik-Anthologien von Louis Untermeyer:
»Anscheinend war in Washington irgendjemand zu der Überzeugung gelangt, daß die Truppe unbedingt William Carlos Williams, T. S. Eliot, Marianne Moore und Wallace Stevens lesen wollte …« (»Wie ich fünfzig Jahre lang versuchte, Amerika zu entdekken «, in: »Scharmützel und Scholien«, 2009) Noch erstaunlicher war, daß Enzensberger in ihr auch bislang verbotene deutsche Meisterwerke entdecken konnte. So habe er zum ersten Mal den »Zauberberg« und den »Process« gelesen, und zwar in englischer Übersetzung.
Der kalifornische Zirkel um die Familie Mann, zu dem auch Adorno gehörte, war ihm damit schon nähergerückt, als er es jemals hätte ahnen können. In der Rückschau erscheint vieles zielgerichtet und sinnvoll, was im Augenblick des Erlebens nur zufällig gewesen ist, eine Möglichkeit unter vielen. Durch sein früh ausgeprägtes Gespür für maßgebliche Stimmen der internationalen Moderne wurde Enzensberger später als Lyriker, Essayist und Herausgeber wegweisend für das Programm des Suhrkamp Verlags und für mindestens zwei Generationen literarisch Interessierter. Hinzu kam das seltene Talent, gesellschaftliche Debatten zu provozieren und zu forcieren, mit dem er seine anfangs ebenfalls bei Suhrkamp veröffentlichte Zeitschrift »Kursbuch« zwischen 1965 und 1970 zum wohl wichtigsten Organ der Studentenbewegung machte. Enzensbergers Ausnahmebegabung hatte sich bereits zu Beginn seiner Laufbahn gezeigt, besonders bei seinen Radioarbeiten.
Daher wirkt es fast selbstverständlich, daß er in den fünfziger Jahren auf Adorno und Horkheimer stieß, und dies noch bevor er selbst Suhrkamp-Autor wurde. Die »Dialektik der Aufklärung« besorgte er sich in der seinerzeit schwer erhältlichen Ausgabe von 1947, und die Lektüre des grundlegenden Werkes der Kritischen Theorie wurde zum Anlaß jenes Briefes, den er Adorno am 24. August 1956 aus einem nagelneuen Hochhaus im Stuttgarter Süden schrieb. Er markiert den Beginn des eigentlichen Austauschs zwischen beiden. Daß das Denken Adornos und Horkheimers einen fünfundzwanzigjährigen Intellektuellen in der Adenauerzeit herausforderte und inspirierte, ist nicht erstaunlich. Überraschend hingegen, daß der renommierte und durchaus statusbewußte Adorno dem talentierten, aber noch weitgehend unbekannten Enzensberger antwortete, als wäre er ein einflußreicher Kollege. Wie kam es dazu?
Abgesehen davon, daß Adorno der Ton, den der junge Autor anschlug, imponiert zu haben scheint, wird es daran gelegen haben, daß er Enzensberger in den Monaten zuvor bereits persönlich kennengelernt hatte. In dieser Zeit machte Alfred Andersch den Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart zu einer wichtigen Adresse für ambitionierte Schriftsteller und Wissenschaftler, die mit ihren Arbeiten über die Fachkreise hinaus wirken wollten. Adorno gehörte mit seinen Radiovorträgen zu Anderschs bevorzugten Mitarbeitern, und Enzensberger war seit 1955 sein Assistent.
Enzensberger hielt es nicht lange auf dem Posten eines festangestellten Rundfunkredakteurs aus. Dennoch verdankt er der Stuttgarter Zeit und seinem ersten Mentor viel: Andersch zeigte ihm, wie man als Redakteur und Schriftsteller professionell arbeiten konnte, und machte ihn, was oft vergessen wird, mit einer Reihe wichtiger deutschsprachiger und internationaler Autoren bekannt. Ihre Texte sendete Andersch nicht nur im Rundfunk, er veröffentlichte sie auch in der von ihm zwischen 1955 und 1957 herausgegebenen Zeitschrift »Texte und Zeichen«, die in manchem dem späteren »Kursbuch« ähnelte.
In einem unveröffentlichten autobiographischen Gespräch erinnerte sich Enzensberger 1974 an seine Anfänge beim Rundfunk und daran, daß es immer ein besonderes Ereignis gewesen sei, wenn Adorno aus Frankfurt zu Aufnahmen nach Stuttgart kam. Der Philosoph sei dabei stets von ausgesuchter Höflichkeit gewesen: »Er trat vor das Mikrophon im Studio, er war leutselig, er hat einen freundlich begrüßt, auch den jungen Redakteur (…). Wenn der dann wirklich etwas Inhaltliches dazu gesagt hat, zu dem Vorhaben, hat er sehr geneigt zugehört (…), manchmal sogar ist er auf den Gedanken eingegangen, der geäußert wurde. Und das war schon ungewöhnlich genug. Und das hat ihn vom Mandarin unterschieden.« (Autobiographisches Interview, geführt von Gaston Salvatore, Abschriften, dritte Mappe, S. 9, DLA Marbach, A: Enzensberger, Hans Magnus) Adorno habe immer frei gesprochen, frei und druckreif, was dem jungen Enzensberger zutiefst imponierte. Im Rhetorischen wurde er für ihn zum unerreichbaren Vorbild. Erst in späteren Jahren seien Enzensberger auch Adornos persönliche Schwächen und Defizite aufgefallen, die Verletzungen, die sein Leben geprägt hatten, und vor allem sein unerfülltes Künstlertum.
Anfang 1960, nach Peter Suhrkamps Tod, wurde Enzensberger auf Siegfried Unselds Wunsch Lektor im Suhrkamp Verlag. Zufälle oder persönliche Beziehungen sorgten dafür, daß er in der Frankfurter Westendstraße in unmittelbarer Nähe der Adornos eine Wohnung fand und von seinem Balkon aus in den Kettenhofweg blicken konnte. In Frankfurt sei er »sein Nachbar« gewesen, erinnerte sich Enzensberger später: »Das heißt, an der anderen Seite des Blocks war die Wohnung von Adorno, eine einigermaßen großbürgerliche Wohnung im Westend in Frankfurt. Und da ergab sich, er nahm auch Notiz davon, das war ja dieser junge Mann da, aus dem Radio, und der ist jetzt hier im Verlag, und der hat auch dieses und jenes veröffentlicht. (…) Und dann wurde man da auch eingeladen. Da gab es diese Abende bei Adorno. Und ich ging auch in die Universität gelegentlich, um ihn zu hören. Und immer war da diese imponierende rhetorische Fähigkeit von ihm, die war einfach unwiderstehlich. Hinreißend. Und er hat nicht memoriert gehabt, es war produziert beim Sprechen.« (Ebd.)
Die Frankfurter Anstellung bei Unseld blieb für Enzensberger kaum mehr als ein Zwischenspiel, genau wie jene beim Süddeutschen Rundfunk. Von 1962 an zog er es vor, mit seiner norwegischen Frau Dagrun und ihrer Tochter Tanaquil auf der abgelegenen Insel Tjøme zu leben. Diesen Rückzug aus Westdeutschland verstand er durchaus auch als Antwort auf den Provinzialismus des Literaturbetriebs, in dem er zugleich immer erfolgreicher agierte. Spätestens der Band »Einzelheiten« aus demselben Jahr machte Enzensberger zum maßgeblichen Essayisten seiner Generation. Eröffnet wird das Buch mit einem Versuch über die »Bewußtseins-Industrie«, den man als eine unmittelbare Reaktion auf die »Dialektik der Aufklärung« lesen kann und der von Adorno genau so verstanden wurde. Nun verwandelte sich die intellektuelle Beziehung zwischen Adorno und Enzensberger tatsächlich in einen Austausch zwischen Gleichgesinnten, die allerdings so weit voneinander entfernt wohnten, daß die Post oft mehrere Tage benötigte. So reichte es nur noch zu gelegentlichen Treffen im Umfeld des Suhrkamp Verlags und zu jenem Briefwechsel, der hier erstmals veröffentlicht wird, soweit er in Hans Magnus Enzensbergers Papieren im Deutschen Literaturarchiv Marbach, im Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main, und im Historischen Archiv des SWR überliefert ist.
In den legendären Anfangsjahren der Zeitschrift »Kursbuch« erschien letztlich nie ein Beitrag Adornos, so sehr sich Enzensberger auch darum bemühte. Reizvoll und politisch akut wäre eine Kritik am Parteiprogramm der SPD gewesen, die sich Adorno im Herbst 1965 vornahm. Darüber, warum er diesen Essay niemals schrieb, kann nur spekuliert werden. Am Willen und an Sympathie für Enzensberger und dessen Projekte scheint es nicht gefehlt zu haben. Wahrscheinlich fühlte sich Adorno tatsächlich aus inhaltlichen Gründen gehemmt, wie Enzensberger in dem autobiographischen Gespräch vermutete. Er erinnerte sich, Adorno bei einer persönlichen Begegnung einmal nach den Gründen gefragt zu haben, im Vertrauen, unter alten Bekannten. Adorno habe auf entwaffnende Weise zugegeben, »Angst« gehabt zu haben vor dieser »Kritik des Godesberger Programms «, mit der er sich in die Tradition von Karl Marx’ Kritik des Gothaer Programms gestellt hätte: »Und so unbegründet, so irrational diese Angst gewesen sein mag, das war eine Antwort, die war sehr gut, weil sie wahr war. Das war der Grund.«
Erinnerungen dieser Art sollte man nicht unbedingt trauen, Enzensberger selbst hat dies 2014 mit seinem autobiographischen Großversuch »Tumult« exemplarisch vorgeführt. Unabhängig davon kann man ihm allerdings getrost zustimmen, daß es eher für als gegen Adorno sprach, sich einer intellektuellen und publizistischen Herausforderung auch einmal nicht gewachsen gefühlt zu haben.
Jan Bürger
SINN UND FORM 5/2021, S.581-613, hier S. 581-584
Vorbemerkung Kurt Weills plötzlicher Tod im einundfünfzigsten Lebensjahr, ausgelöst durch einen Herzinfarkt, am 3. April 1950 warf seine Ehefrau (...)
LeseprobeTheodor W., Adorno
»Ich habe die Hosen voll, wenn ›ich an Deutschland denke in der Nacht‹«. Briefwechsel mit Lotte Lenya. Mit einer Vorbemerkung von Jens Rosteck
Vorbemerkung
Kurt Weills plötzlicher Tod im einundfünfzigsten Lebensjahr, ausgelöst durch einen Herzinfarkt, am 3. April 1950 warf seine Ehefrau Lotte Lenya (ursprünglich Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer, 1898–1981) völlig aus der Bahn. Zweieinhalb stürmische Jahrzehnte hatten sie verbunden, ein bemerkenswertes Auf und Ab in Liebesdingen, eine veritable Schaffensexplosion, eine beispiellose Premierenserie in Berlin, die glorreiche wie mythenumrankte Brecht-Ära, die schwierige Emigration, der Neuanfang in den Vereinigten Staaten und gleich zwei Hochzeiten. Weills letztes amerikanisches Bühnenwerk, »Lost in the Stars«, erlebte am Broadway nicht weniger als 281 Aufführungen und stand auch in seinem Todesjahr – ohne ihre Mitwirkung – noch immer auf dem Spielplan. Nun dämmerte Lenya, die sich von einer außerehelichen Beziehung zur nächsten gehangelt hatte und sich erst allmählich an ihre neue Rolle als »Witwe Weill« gewöhnte, zwischen Apathie und Hoffnungslosigkeit vor sich hin. In ihrem Domizil Brook House in New City vor den Toren New Yorks suchte die einst so Unternehmungslustige, im Grunde eine echte Großstadtpflanze, nach den bangen, schweren Stunden im Flower Hospital eine Zukunftsperspektive.
Untätig herumzusitzen war ihre Sache nie gewesen, die Bühnenkompositionen ihres in den USA zuletzt so populären Mannes Staub ansetzen zu lassen kam ebenfalls nicht in Frage. Doch stand sie, im Showbusineß ihrer Wahlheimat de facto ein Nobody, vor einem unüberwindbaren Dilemma: »Die Amerikaner«, so urteilte sie im Januar 1959 in dem Aufsatz »Kurt Weill’s Universal Appeal«, »hatten seine Musik geliebt, aber kannten nur seine hiesigen Werke, nichts dagegen aus seinen Jugendjahren. Sie wußten nichts von der Art und Weise, wie er die bittere Realität, die Unsicherheit des Deutschlands in den Zwanzigern in seiner Musik einzufangen verstanden hatte.« In der jungen Bundesrepublik wie in der neugegründeten DDR hingegen galten lediglich Weills Werke aus der späten Weimarer Republik etwas, waren seine im Exil entstandenen Musicals und seine Beiträge für eine erst im Entstehen begriffene »American Opera« weitgehend unbekannt, fanden wenig Anklang oder wurden ignoriert, verschmäht oder gar abqualifiziert. »Also entschloß ich mich, wenn auch sehr widerwillig, dort anzufangen.«
Eine doppelte Herkulesaufgabe zeichnete sich ab – den »amerikanischen«, vorgeblich oberflächlichen und regressiven Weill in Europa und den »deutschen«, vorgeblich anspruchsvollen und progressiven Vorkriegs-Weill in der Neuen Welt bekannt zu machen, um seine innovativen Zeitopern, Operetten und Einakter auch bei den nachfolgenden Generationen durchzusetzen. Hinzu kamen die immensen Schwierigkeiten, mit denen Lenya sich als Nachlaßverwalterin konfrontiert sah. Jahraus, jahrein mußte sie sich fortan mit Urheber- und Aufführungsrechten, Partituren, Verlegern, Produzenten, Abrechnungen, Tantiemen, Details von Schallplattenproduktionen und Vertragsstreitigkeiten herumschlagen. Am wichtigsten war freilich, daß sie wieder an Statur gewann: »Zuallererst mußte ich mir selbst einen Namen machen.« Um englischen Zungen die Aussprache zu erleichtern, hatte sie schon 1937 die Schreibweise ihres – an eine Tschechow-Figur angelehnten – Künstlernachnamens (ursprünglich Lenja) abgeändert. Nun wurde aus Lotte Lenya schlicht Lenya, im Big Apple kam sie mit zwei Silben und ohne Vornamen aus. Weitere Markenzeichen waren ihre markante, zusehends dunkler und rauher werdende Stimme und, wie sie ihrem Briefpartner Adorno sogleich mitteilte, ihr neuerdings rotgefärbtes Haar.
Lenyas tiefe Verunsicherung war persönlicher wie künstlerischer Natur und reichte bis in die Kriegsjahre zurück: Im Frühjahr 1945 hatte Weills Operette »The Firebrand of Florence« nach einem Libretto von Ira Gershwin, in der sie als Duchess aufgetreten war, in Boston und New York City teils vernichtende Kritiken bekommen, und das steckte ihr noch in den Knochen. Ihr Selbstbewußtsein als Weill-Interpretin war ins Wanken geraten, sie hatte sich in der Folgezeit von der Bühne zurückgezogen. Während ihr Mann sich im Kollegenkreis durch Fleiß, Kreativität, Erfindungsgabe und eine erstaunliche Assimilierungsbereitschaft rasch Anerkennung verschaffte und auf dem besten Weg war, ein echter Amerikaner zu werden, hatte sie in der Musical- und Showszene der Neuen Welt nie richtig Fuß gefaßt. Ihr Vortragsstil und ihre Gestik, ihr eigenwilliger Sprechgesang, ihre wienerisch-berlinerische Intonation, ihr teils ruppiger, teils lasziver Ausdruck und ihre unvollkommene Beherrschung des (bei ihr stets akzentbehafteten) Englischen entsprachen nicht der Erwartungshaltung der an Entertainment und Wohlklang gewöhnten US-Theatergänger. Alles, was Lenya ausmachte, befremdete sie. Erst später, als die amerikanische Fassung der »Dreigroschenoper« zum Kassenschlager wurde und sie das Musical »Cabaret« mit aus der Taufe hob, stellte sich der Erfolg ein, und sie konnte einen Triumph nach dem anderen feiern. Dann auch wieder als Filmschauspielerin.
Maßgeblichen Anteil an dieser zweiten, internationalen Karriere, die 1961 in einer Oscar- und Golden-Globe-Nominierung sowie 1963 in der Mitwirkung in einem James-Bond-Film gipfelte, hatte ihr nächster Ehemann, der acht Jahre jüngere Romancier und ehemalige Chefredakteur illustrer Zeitschriften (wie »Harper’s Bazaar« und »Mademoiselle«) George Davis (1906 – 57). Dieser vielgereiste frankophile Europakenner hatte schon Carson McCullers und Truman Capote gefördert und sah sich, obwohl vorübergehend mittellos und beruflich desorientiert, imstande, ihrer Bestimmung als authentische Weill-Interpretin Nachdruck zu verleihen.
Lenyas Isolation und Depression endeten rasch, als sie Davis, der sie schon zu Weills Lebzeiten in verschiedene New Yorker Künstlerkreise eingeführt hatte, im Mai 1950 wiederbegegnete. Seinerzeit hatte er zur legendären und auch experimentellen Wohngemeinschaft in der Brooklyner Middagh Street, dem sogenannten February house, gehört, wo sich Berühmtheiten, Bohemiens und Avantgarde-Figuren wie Benjamin Britten und Peter Pears, Jane und Paul Bowles, Christopher Isherwood, W. H. Auden oder die Thomas-Mann-Kinder Klaus und Erika die Klinke in die Hand gaben. Nun wurde der homosexuelle Davis zu Lenyas ständigem Begleiter und zum zweiten von insgesamt vier Gatten. Das Verhältnis war keineswegs frei von Konflikten, doch mit seiner Hilfe und Begeisterungsfähigkeit vermochte sie den Kopf wieder aus dem Sand zu ziehen. Diese »neue Lenya« war ganz und gar seine Schöpfung. Beide boten alle Kräfte auf, um für Weills genuines Konzept eines zeitgenössischen Musiktheaters jenseits von U- oder E-Kategorien zu kämpfen, es am Leben zu erhalten und ihm ein neues Publikum zu erschließen.
Auf die Eheschließung im Juli 1951, ein zaghaftes Comeback im Sprechtheater und einige Hommage-Konzerte für Weill in der New Yorker Concert Hall folgte die sensationell erfolgreiche Off-Broadway-Produktion der »Threepenny Opera« in einer Fassung von Marc Blitzstein. Sie kam, ab März 1954, auf die Rekordzahl von 2 600 Vorstellungen und brachte Lenya einen Tony Award ein. Das war weit mehr als eine Ehrenrettung für den in Amerika verkannten »Berliner« Weill, und dabei ging das Tandem, was dessen Ästhetik betrifft, keine kommerziellen Kompromisse ein und verwahrte sich gegen leichtfertige Vereinfachungen oder ästhetische Zugeständnisse: Im Frühjahr 1955, fünf Jahre nach seinem Tod, setzte Lenya in Begleitung von Davis erstmals seit 1934 wieder ihren Fuß auf deutschen Boden (und zwar auf beiden Seiten der Grenze), spielte maßgebliche Soloalben ein und überwachte mit ihrer historischen Kompetenz die Produktion weiterer Brecht-Weill-Stücke. In Düsseldorf kam 1955 Weills Musical »Street Scene« als westdeutsche Erstaufführung heraus, an der Städtischen Oper Berlin 1957 seine frühe Oper »Die Bürgschaft«. Mit dem Dirigenten Wilhelm Brückner-Rüggeberg wirkte sie in maßstabsetzenden Gesamtaufnahmen von »Mahagonny« und »Die sieben Todsünden« mit, in den Vereinigten Staaten spielte sie unter Maurice Levine »American Theatre Songs« ein. Zusätzlich beaufsichtigte sie dort die Schallplattenpremiere von »Johnny Johnson«. Auf diese Weise etablierten Davis und Lenya geradezu vorbildlich eine authentische und stimmige Weill-Interpretation, die auch für die folgenden Jahrzehnte verbindlich blieb. Ein Glücksfall.
Vor diesem Hintergrund setzt zum Jahresende 1956 der Briefwechsel mit Theodor W. Adorno ein, der sich über das gesamte Jahr 1957 – den Höhepunkt ihrer Bemühungen um Weills musikalisches Erbe in Deutschland – erstreckt und dann erst wieder im Februar 1960 eine Fortsetzung findet. Die Bekanntschaft der beiden geht auf das Berlin der späten Zwanziger zurück, wie eine handschriftliche Widmung der jungen Lenja (sic!) für »Th. Wiesengrund-Adorno« vom September 1929 auf einem Druckexemplar von Marieluise Fleißers Drama »Pioniere in Ingolstadt« belegt. Sie spielte damals in Brechts umstrittener Inszenierung im Theater am Schiffbauerdamm an der Seite von Peter Lorre und Hilde Körber die Rolle der Alma. »Eine Liebe muß keine dabei sein« – das von Lenja für die Widmung ausgewählte Zitat stammt aus Fleißers Stück.
In den Briefen von 1957 – Lenya und Davis pendeln damals zwischen Deutschland und den USA hin und her – ist viel von Weills Brecht-Vertonungen die Rede, den »Sieben Todsünden«, »Happy End«, der »Dreigroschenoper« und den verschiedenen »Mahagonny«-Fassungen. Zum einen, weil sie zu Adornos bevorzugten Weill-Bühnenwerken zählten, zum anderen, weil Lenya sie just in jenem Jahr einspielte, Songs daraus vortrug oder Pläne für Neuinszenierungen schmiedete. Der Leser begegnet in diesem anregenden Austausch, durchweg in liebevoll-zärtlichem Ton gehalten, gespickt mit geistreichen Aperçus und stellenweise auch mit englischsprachigen Einsprengseln versehen, prominenten Zeitgenossen wie den Tänzerinnen und Choreographinnen Irene Mann und Tatjana Gsovsky, den Regisseuren Harry Buckwitz, Heinz Tietjen und Hans Curjel, der Schauspielerin Hannelore Schroth und einer Dame namens »Helli«, der Brecht-Witwe Helene Weigel also, über deren Gier nach Tantiemen ausgiebig gelästert wird und an deren Unnachgiebigkeit so manches von Lenya und Davis angestoßene Projekt zu scheitern droht. Brechts Tod liegt ja noch nicht lange zurück.
Lenya ist merklich daran gelegen, daß Davis bei »Teddy« bzw. »Teddie« und Gretel einen guten Eindruck hinterläßt – ein Wunsch, der in Erfüllung geht –, und äußert mehrfach ihre Besorgnis um seine Gesundheit. Mehrere Herzattacken und -infarkte in immer kürzeren Abständen sind Vorboten seines Todes am 25. November 1957 in Berlin – zwei Wochen nur, nachdem sie im Westteil der Stadt mit der prestigereichen Friedensglocke ausgezeichnet wurde und nur wenige Wochen, bevor sie die »Dreigroschenoper« einspielt. Eine weitere Aufnahme, für die sie bereits den Vertrag unterzeichnet hat, »Das Berliner Requiem«, wird in Anbetracht der Umstände fallengelassen. Davis ist bei seinem Ableben nur unwesentlich älter als seinerzeit Weill, und Lenya erlebt es als Schock und Katastrophe, zumal die gleiche Todesursache vorliegt. Sie resümiert (1962 in der Theaterzeitschrift »Playbill«): »Mein Herz war gebrochen, aber noch viel schlimmer als damals, als es Kurt zugestoßen war. In diesen sechs Jahren unserer Ehe hatte George mich laufen gelehrt, so wie man es einem kleinen Kind beibringt.« Im vorliegenden Briefwechsel mit Adorno findet Davis’ Tod keine Erwähnung, da Lenya das letzte Schreiben vor der mehrjährigen Pause zweieinhalb Wochen vorher verfaßte. Wieder einmal geht es um eine im letzten Moment nicht zustande gekommene Begegnung: »Schade, daß ich nicht ein paar Tage in Frankfurt bleiben konnte. Aber ich lasse George sehr ungern allein mit seiner Furcht vor dem Alleinsein, das typisch für herzkranke Menschen zu sein scheint. So konnte ich also nur schnell noch Gretel anrufen zwischen Zug und Flugzeug.«
Daß Adorno und Lenya auf solch warmherzige, ja fürsorgliche Weise miteinander kommunizieren und auch in künstlerischer Hinsicht völlig übereinzustimmen scheinen, nimmt, gelinde gesagt, wunder: Im Briefwechsel der Eheleute Weill / Lenya trat nämlich, insbesondere in den frühen vierziger Jahren, ein ganz anderes, negatives Adorno-Bild zutage. Dort firmierte der jetzt so Verehrte als »der Wiesengrund« und wurde mit wenig schmeichelhaften, ja beleidigenden Attributen belegt. Hintergrund war vor allem eine Intervention Adornos im März 1942 zugunsten Brechts, dem eine Neubearbeitung der »Dreigroschenoper« mit exklusiv schwarzer Besetzung in Los Angeles vorschwebte. Weill, dessen Ehrgeiz längst dem amerikanischen Musiktheater galt und dem die Angelegenheit »zum Hals heraushing«, hielt jedoch nichts von Wiederbelebungsversuchen der vermeintlich goldenen Berliner Zeit. Er fürchtete um sein Mitspracherecht und witterte ästhetische Verfälschung, erregte sich in einem auf englisch verfaßten Antwortschreiben über Adornos pauschale Abqualifizierung des Niveaus zeitgenössischer Broadwayproduktionen und sprach ihm jegliches Urteilsvermögen in der Angelegenheit ab. Tags darauf, am 8. April 1942, informierte er Lenya per Brief: »Nun, dem Wiesengrund habe ich einen Brief geschrieben, den er lange Zeit nicht vergessen wird. Ich schrieb ihm: es ist eine Schande, daß ein Mann von seiner Intelligenz so falsch informiert sein soll. Und dann erklärte ich ihm, daß das amerikanische Theater nicht so schlecht ist wie er denkt.« Lenya, die gerade in Atlanta mit Maxwell Andersons Stück »Candle in the Wind« auf Tournee war, erwiderte am 9. April: »Eigentlich zu komisch, um sich darüber aufzuregen. Ich bin so froh, daß Du ihm den richtigen Brief über das amerikanische Theater geschrieben hast. Aber bitte Darling, bestehe darauf, daß sie das außerhalb von Hollywood nicht zeigen dürfen. Gib bloß nicht nach. Zum Teufel mit denen.« Lenya warnte ihn, daß Brecht mit Adornos Schützenhilfe »die Musik in Fetzen schneiden« und das Werk »billig und lächerlich machen« würde. Weill hatte es geärgert, daß Adorno als erklärter Jazzfeind und Verfechter absoluter Musik für Brecht Partei ergriff. Von »Fachleuten «, die sogenannte Unterhaltungsmusik als »dekadent« verunglimpften, habe er keine Belehrungen nötig, wie »wichtig« und »wertvoll« seine »Dreigroschenoper« sei. Die Eheleute zogen in dieser Hinsicht also an einem Strang. Dabei hatte Adorno einlenkend noch um Nachsicht mit einem alten Weggefährten gebeten und den Beweis antreten wollen, daß er in der Zeit seines »Schweigens musiksoziologisch noch nicht ganz vertrottelt« sei. Vergebens.
Für Weill stand seit 1931 fest, daß Adorno einen Großteil seiner Musik ablehnte und ihr die Avantgarde-Tauglichkeit absprach, daher erblickte er in ihm einen ideologischen Gegner seines Schaffens. Der Eindruck verfestigte sich noch mit der Publikation von Adornos »Philosophie der neuen Musik« (1949): In der Dichotomie zwischen dem Neoklassizismus Strawinskyscher Provenienz und der zum Ideal erhobenen Zweiten Wiener Schule Schönbergs war für einen dritten Weg, wie ihn Weill beschritt, kein Raum. David Drew, der Doyen der Weill-Forschung, konstatierte 1975, Adornos Abkehr von seiner Musik habe »lange vorher stattgefunden, nämlich zu einer Zeit, als sie beide noch in Deutschland lebten«. Während er über die »Dreigroschenoper« und »Mahagonny« noch Aufsätze publizierte, schwieg er sich über Weills späteres Werk aus. Drew urteilt: »Weill war ohne Reue als Broadwaykomponist gestorben und als solcher in der amerikanischen Presse geehrt und betrauert worden«, Adorno hingegen habe die »zersetzenden und explosiven Elemente« in Weills Brecht-Phase zum Maß aller Dinge erhoben, sei davon nicht mehr abgerückt und habe ihr Fehlen als Manko empfunden, ohne den veränderten Gesetzmäßigkeiten der in den USA entstandenen Kompositionen Rechnung zu tragen.
Von Ressentiments findet sich in der Korrespondenz zwischen Lenya und Adorno keine Spur, wobei man fragen kann, inwieweit letzterer überhaupt Kenntnis von der früheren Verachtung für seine Person und Haltung hatte. Letztlich trug aber auch Lenya durch ihre meisterhafte, ja prototypische Interpretation weiblicher Figuren aus den Weill-Brecht-Werken (Prostituierte, Halbweltdame, Rächerin, burleske Verführerin) zur Verengung der Rezeption auf jene Phase bei. Im September 1955 nahm sie die Moritat von Mackie Messer, den Weill-Hit schlechthin, in einer Dixieland-Fassung mit Louis Armstrong auf; der in der USA geschätzte »September Song« oder die melancholische Ballade »Speak Low« erreichten nie dieselbe Durchschlagskraft – denn sie erfüllten ja auch kein Klischee. Es ging viel Zeit ins Land, bis Weills amerikanischen Opern, Operetten und Musicals (deren Frauengestalten Lenya eben nicht automatisch auf den Leib geschneidert waren) ein vergleichbarer Rang eingeräumt wurde und auch seine übrigen Werke seit den frühen zwanziger Jahren wieder die Spielpläne erobern konnten. Mittlerweile ist eine gewisse Balance in der Beurteilung des »Berliner«, »Pariser« und »New Yorker« Stils zu beobachten, hat sich die Auffassung einer annähernden Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Schaffensphasen durchgesetzt.
In den verbleibenden drei Briefen vom Februar 1960 werden andere Sachverhalte erörtert. Lenya möchte eine Verbindung zum Suhrkamp Verlag herstellen und bittet ihren deutschen Freund um Hilfe, sie setzt sich für David Drew ein und denkt darüber nach, eine autobiographische Skizze zu schreiben. Zur Sprache kommt auch ihre Beteiligung an einem Konzert der Musica-viva-Reihe in München unter der Ägide von Karl Amadeus Hartmann. Freunde des frühen Weill können sich im April 1960 darüber freuen, daß bei einer mehrteiligen Produktion an den Städtischen Bühnen Frankfurt neben den »Sieben Todsünden«, in denen Lenya die Anna I verkörpert, zwei seiner Kurzopern mit auf dem Programm stehen, die Einakter »Der Protagonist« und »Der Zar läßt sich photographieren « (beide auf Libretti von Georg Kaiser).
Lediglich am Rande thematisiert wird in der Korrespondenz ein Gespräch, das die Briefpartner im selben Jahr dem Journalisten und Musil-Herausgeber Adolf Frisé für den Hessischen Rundfunk gewährten. Naturgemäß gilt beider Augenmerk wieder den berühmt-berüchtigten zwanziger Jahren und ihrem Hauptschauplatz Berlin – 1960 schon ein Mythos. Während Adorno sich über »Legenden und Ärgernisse« jener an Widersprüchen so reichen Epoche ergeht, spürt man bei praktisch jeder Verlautbarung Lenyas ihre Unbekümmertheit, ihre Nonchalance und ihre Weigerung, die Dinge zu verklären, sowie ihre Freude, zu diesem Mythos beigetragen zu haben, ohne sich dessen nur ansatzweise bewußt gewesen zu sein. Es lohnt sich (besonders nach Lektüre des Briefwechsels), dieses lebhafte, knapp einstündige Doppelinterview wieder anzuhören, und sei es nur, um sich vom unnachahmlichen Klang der Stimme Lenyas betören und von Adornos leichtfüßiger Eloquenz beeindrucken zu lassen.
Jens Rosteck
(…)
SINN UND FORM 2/2022, S. 180-194, hier S. 180-185
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Ein Vulkan an Ressentiment.
Vorbemerkung zum Verhältnis von Theodor W. Adorno und Elias Canetti
Hilde Spiel hat in den Erinnerungen »Welche Welt ist meine Welt?« (1990) von einem Mittagessen in ihrem Garten erzählt: Unter einem Kastanienbaum bewirtete sie Theodor W. Adorno, Elias Canetti sowie Ernst und Lou Fischer, und in der Nacht spaltete ein Blitz den Baum – am nächsten Tag habe sie mit ihrem Mann gewitzelt, die geballte Eitelkeit der beiden Geisteshelden habe wohl noch in der Luft gelegen und die himmlische Entladung auf sich gezogen. Daß zwischen Canetti und Adorno jenseits ihrer gewaltigen Eitelkeiten einiges an Spannungen in der Luft lag, ist dem erhaltenen Briefwechsel nur indirekt zu entnehmen; man verkehrt formvollendet, ja überhöflich miteinander, versichert sich der gegenseitigen Hochschätzung, läßt den direkten Austausch aber auf sich beruhen, nachdem das mehrtägige Kennenlernen brieflich hinreichend nachbesprochen ist. (...)
Adorno, Theodor W.
»Ich kann auch den kleinsten Weg nicht anders als allein gehen«
Briefwechsel mit Elias Canetti
Ein Vulkan an Ressentiment.
Vorbemerkung zum Verhältnis von Theodor W. Adorno und Elias Canetti
Hilde Spiel hat in den Erinnerungen »Welche Welt ist meine Welt?« (1990) von einem Mittagessen in ihrem Garten erzählt: Unter einem Kastanienbaum bewirtete sie Theodor W. Adorno, Elias Canetti sowie Ernst und Lou Fischer, und in der Nacht spaltete ein Blitz den Baum – am nächsten Tag habe sie mit ihrem Mann gewitzelt, die geballte Eitelkeit der beiden Geisteshelden habe wohl noch in der Luft gelegen und die himmlische Entladung auf sich gezogen. Daß zwischen Canetti und Adorno jenseits ihrer gewaltigen Eitelkeiten einiges an Spannungen in der Luft lag, ist dem erhaltenen Briefwechsel nur indirekt zu entnehmen; man verkehrt formvollendet, ja überhöflich miteinander, versichert sich der gegenseitigen Hochschätzung, läßt den direkten Austausch aber auf sich beruhen, nachdem das mehrtägige Kennenlernen brieflich hinreichend nachbesprochen ist.
Das Ereignis, das die Korrespondenz begründet, ist Adornos Einladung, Canetti möge an der Frankfurter Universität über einen frei gewählten Komplex aus seinem philosophisch-anthropologischen Lebenswerk »Masse und Macht« (1960) sprechen, an dem er etwa ein Vierteljahrhundert im Exil gearbeitet hatte. Als er »Das Chaos der Größe« vorschlägt, wünscht Adorno sich angesichts des universitären Publikums einen Titel, der etwas mehr »down to earth« ist, und so wird »Macht und Überleben« daraus.
Canetti reist am 17. Februar 1962 an, er liest und diskutiert im Vorlesungssaal zwei Tage später vor Adorno, seinen akademischen Schülern und studentischem Publikum, wiederum zwei Tage später führen die beiden das bekannte und mehrfach abgedruckte Rundfunkgespräch über »Masse und Macht« – am 21. Februar 1962, aus der Korrespondenz ist das genaue Datum zu entnehmen (bisher wurde es meist falsch auf März 1962 datiert). Abgesehen von den beiden Terminen gibt es wenige Treffen: Gretel und Theodor W. Adorno laden Canetti zum Abendessen ein, Adorno empfiehlt seinem Gast die eigenen Schriften und schickt ihn in Frankfurter Antiquariate. Es geht vor allem um die »Dialektik der Aufklärung« (1947), zu diesem Zeitpunkt nicht im Handel, und die Frage nach möglicherweise parallelen Gedankengängen. Canetti bedankt sich im März 1962 artig bei Frau Gretel und bei Adorno, sie wechseln noch zwei geradezu freundschaftlich klingende Briefe, in denen es vor allem um die kulturkritischen »Prismen« (1955) und ihre Aufnahme in Großbritannien geht, damit bricht die Korrespondenz ab.
Sie steht in einem größeren Zusammenhang, der sich von der Canetti-Seite her umfassend darstellen läßt, auf Adornos Seite bestätigen sich die raren Erwähnungen Canettis im veröffentlichten Werk auch in seiner Korrespondenz. Er hat sich nie so recht auf den anderen eingelassen; das berühmte Radiogespräch der beiden ist auch schon als Beleg für Adornos Autismus gesehen worden, er kreist in seiner eigenen Begriffswelt, obwohl seine Rolle die des Interviewers hätte sein sollen. Dabei war sein Einstieg in Canettis Werk ein sehr persönlicher: Seine Frau Gretel Karplus war eine entfernte Cousine der österreichischen Malerin Marie-Louise von Motesiczky (1906 –1996), einer Schülerin Max Beckmanns; die schmale (unveröffentlichte) Korrespondenz zwischen Adorno und Motesiczky (»Piz«) zeigt, wie engagiert sie versucht hat, ihn mit Canetti zusammenzubringen. Adorno war wohl auch nicht ganz unempfindlich gegenüber diesen Versuchen; eine der wenigen Nennungen Canettis scheint ihr zuliebe erfolgt zu sein – in dem Programmheftbeitrag »Bilderwelt des Freischütz« (1961) verweist er auf den Wald, der in »Masse und Macht« als das »Massensymbol der Deutschen« benannt wird.
Motesiczky war jahrzehntelang Freundin, Geliebte und Mäzenin von Elias Canetti, wie er aus Wien nach London geflohen. Die Korrespondenz der beiden ist 2011 unter dem Titel »Liebhaber ohne Adresse« erschienen, herausgegeben von Ines Schlenker und Kristian Wachinger. Hier ist nachzulesen, daß Motesiczky 1961 mit den Adornos einen Sommerurlaub in Sils Maria verbracht hat, und sie hat auch vorher schon für Canettis Werk geworben. Sie schreibt ihm, Adorno stehe »gemischt« zu »Masse und Macht« und wolle seine Vorbehalte nur mit Canetti selbst diskutieren, tatsächlich hat Adorno ihr von einer Verwandtschaft zu Teilen der »Dialektik der Aufklärung« geschrieben, von »frappierenden Übereinstimmungen« gar. Ihr Eindruck ist, es handle sich dabei nicht um eigentliche Einwände, sondern um Prioritätsfragen. Er solle doch bitte Adorno keine Absage schreiben, solange sie mit ihm und seiner Frau in Sils sei (16. August 1961). Canetti hat da schon zugesagt, nach Frankfurt zu kommen, wenn auch ein Semester später als ursprünglich gewünscht, und er antwortet seiner Geliebten etwas stachelig, sie schaffe einen »Vulkan an Ressentiment« in ihm – falls Adorno in Einzelheiten auf anderen Wegen zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sei, bestätige das doch nur seine Ergebnisse und auch seine Selbständigkeit, schließlich kenne er Adornos soziologische Schriften nicht und sei überhaupt der Soziologie ausgewichen (18. August 1961).
Canetti fliegt also bereits mit gemischten Gefühlen nach Frankfurt; in seinem Nachlaß gibt es in einer Adorno-Aufzeichnung die Bemerkung, er sei seit Jahren keinem geistigen Menschen begegnet, mit dem er wirklich habe sprechen können, er bewunderte einzelne Formulierungen in den »Prismen«, sah die umfassende Bildung Adornos und die Leichtigkeit, mit der er sich in Systemen bewegte – all dies trotz des eingepflanzten Ressentiments. Aber seine Einschätzung muß schnell gekippt sein, gleich während des Frankfurter Aufenthalts; er war mit den Veranstaltungen nicht einverstanden, ärgerte sich über Fragen des akademischen Publikums, das er gut abgerichtet fand. Adornos Gesprächsführung im Funk schien ihm perfid, weil sein Gesprächspartner wieder mit der »Dialektik der Aufklärung« ankam, von der er wußte, daß Canetti sie nicht kannte, wohl auch nicht kennen konnte – vor 1969 gab es nur die Exil-Ausgabe im Amsterdamer Querido Verlag (1947), in einer niedrigen Auflage. Obendrein spricht Adorno vom »Skandalon« der »Subjektivität des Ansatzes« von »Masse und Macht« – ein Buch, das sich mit seinem anthropologischen Zugriff in der Tat trotz des wissenschaftlichen Gebirges, auf dem es steht, durch einen antiwissenschaftlichen Gestus, ein Denken in Bildern und seinen Essayismus auszeichnet. Mindestens der letztere dürfte aber Adorno nicht fremd gewesen sein.
Es ist also schon nachvollziehbar, daß Canettis Einschätzung seines Gegenübers rasch ins Negative kippt. In einer Aufzeichnung, die auf 1962 datiert ist und die Canetti nach Adornos Tod in »Die Provinz des Menschen« (1973) veröffentlicht hat, heißt es:
»Er spielt auf zu vielen Instrumenten zugleich. Aber Denken ist nicht Komponieren. Im Denken wird etwas rücksichtslos auf die Spitze getrieben. Der Prozeß der Erkenntnis besteht vorerst darin, daß alles über Bord geworfen wird, um rascher und leichter an das eine geahnte Ziel zu gelangen. A. kann nichts über Bord werfen. Er schleppt sich immer ganz mit. Er gelangt nirgends hin. Alles, was er weiß, ist ihm immer gegenwärtig. Er pocht an alle Türen und tritt nirgends ein. Da er gepocht hat, glaubt er, er ist dort gewesen.«
Nun war das Rundfunkgespräch für die Rezeption von »Masse und Macht« durchaus von einiger Bedeutung; im Jahr der deutschen Erstausgabe war zu Canettis tiefer Enttäuschung sein erklärtes Hauptwerk versunken, fast ohne öffentliches Echo. Sein Buch kam über den Umweg des Erfolgs der englischen Übersetzung zu seiner großen Wirkung im deutschen Sprachraum, und ein weiterer Treppenstein dorthin war das Adorno-Gespräch – die erste deutsche Verlegerin, Hilde Claassen, hat das offensichtlich erkannt. Und es gab eine weitere Einmischung Adornos, die für Canetti wichtig war: Sein Stück »Hochzeit« (1932) erlebte am 3. November 1965 in Braunschweig seine Uraufführung, die einen Skandal zur Folge hatte. Autor und Theater wurden wegen Erregung geschlechtlichen Ärgernisses, vulgo Obszönität, denunziert, die Staatsanwaltschaft ermittelte und stellte noch im Dezember 1965 das Verfahren ein, es wurde keine Anklage erhoben. Das Theater hatte eine Reihe von Prominenten um Stellungnahmen gebeten, die auch in großer Zahl kamen, darunter von Fritz Bauer und Hermann Kesten, Erwin Piscator, Hilde Spiel, Peter Weiss, die grundsätzlichste Einlassung kam von Theodor W. Adorno. Er wies sich als genauer Kenner des Werkes von Canetti aus, »und zwar des sehr bedeutenden wissenschaftlichen (›Masse und Macht‹) ebenso wie des dichterischen (das Hauptwerk ist ›Die Blendung‹)«. Die Vorwürfe des anonymen Denunzianten – seiner Argumentation nach ein autoritärer Charakter – seien lächerlich, das Stück verdiene als Verbindung zwischen Expressionismus und absurdem Theater größtes Interesse und sei in seiner moralischen Absicht ganz unzweideutig: »Wer an diesem Stück Ärgernis genommen hat, der muß schon gekommen sein, um Ärgernis zu nehmen.«
Adorno hatte schnell reagiert, er mußte sich für seine Stellungnahme offenbar nichts neu anlesen, weil er große Teile von Canettis bislang erschienenem Werk kannte – mindestens so gut, daß es für eine solche Stellungnahme ausreichte. Daß er im letzten hier abgedruckten Brief zur Anrede »Lieber Herr Canetti« übergeht und sich wünscht, daß »der Kontakt zwischen uns nicht abreißen soll«, war also vermutlich doch ganz ernst gemeint, entsprechende Äußerungen gibt es auch in Adornos Briefen an Marie-Louise von Motesiczky (wo er von unvergeßlichen Tagen schreibt und der Hoffnung, ihn bald wiederzusehen). Canetti erwidert diese Anrede nicht, und auch die Stellungnahme zu »Hochzeit«, so wichtig sie für ihn in der Situation selbst gewesen war, änderte seine kritische Haltung nicht; er blieb auf Distanz. Durch die Verbindung über Motesiczky haben sich die beiden noch ein paarmal gesehen, etwa 1965 in Paris (vor der Uraufführung); in seinen Aufzeichnungen mokiert Canetti sich über die Weltfremdheit des Philosophen, der hinter jeder Frau, mit der er gern spreche, eine literarische Figur sehe: »Es ist klar, daß er von keinem wirklichen Menschen eine Ahnung hat«, seine einzige Leidenschaft sei sein Ehrgeiz. »Ein Denker, der von nichts Konkretem ausgehen kann, ist für mich keiner, und ein einziges Fragment von einem griechischen Philosophen, von dem sonst nichts besteht, ein einziger Satz ist mir mehr als die ganzen Werke des lebenden Adorno.«
Im Zuge der Recherchen für sein Kafka-Buch »Der andere Prozeß« (1968) las Canetti Adornos »Aufzeichnungen zu Kafka« (1953), ebenfalls 1955 in die »Prismen« aufgenommen. Diesen Text ertrug Canetti offenbar nicht mehr; die meisten seiner Sottisen sind in dem Band »Prozesse. Über Franz Kafka« (2019, herausgegeben von Susanne Lüdemann und Kristian Wachinger) veröffentlicht worden. Adorno habe »Kafka auf sein schmuckes Rad geflochten«, es »ist, als hätte ein Tintenfisch nach Kafka gegriffen«; er habe »sprachliche und gedankliche Elemente von Kraus, Kierkegaard, Freud, Marx, Proust und Gott weiß was noch« hineingebracht, der »abscheulichste Eklektizismus, ein geistiger Snobismus«, und er schwört sich: »nie wieder Adorno!« Daß ihm die »Aufzeichnungen über Kafka« im Weg gewesen sein könnten, weil es tatsächlich Berührungen mit eigenen Gedankengängen gibt, zeigt sich indirekt in einem Gespräch, das Heinz-Klaus Metzger 1967 mit Canetti geführt hat.
Dabei wird es bleiben; Canetti beobachtet Adornos Leben aus der Ferne, es finden sich noch einige einfallsreiche Schimpftiraden in seinen Aufzeichnungen 1969, danach werden sie seltener und knapper, kaum mehr als kurze Bemerkungen. Daß sich Adornos Studenten im Zuge der Achtundsechziger-Revolte gegen ihn aufgelehnt haben, verzeichnet Canetti mit leiser Genugtuung, nicht einmal Adornos Tod wenige Monate später ruft eine Revision der harten Urteile hervor, wenn sie auch lakonischer werden. Die wenigen vom Autor selbst veröffentlichten sind anonymisiert (»A.«), wie er ihn auch zu Lebzeiten nie offen kritisiert hat. Canettis Tiraden sind mitunter treffsicher, strikt subjektiv und polemisch, und sie bewegen sich auf einer schmalen Basis: Er hat Adorno ein paarmal erlebt, hat wenige Jahre äußerst freundlich mit ihm korrespondiert, wie hier nachzulesen ist, und er hat ihn – (fast) nicht gelesen. Auch aus dem Nachlaß wird nicht klar, ob er mehr kannte als die »Prismen«, nicht einmal die »Dialektik der Aufklärung« erscheint als gelesenes Buch in den Nachlaß-Notizen, der »Jargon der Eigentlichkeit« (1964) bloß als Schlagwort, ganz zu schweigen von den Komponisten-Monographien oder Hauptwerken wie der »Negativen Dialektik« (1966) oder der postum erschienenen »Ästhetischen Theorie« (1970). Ob es nun Parallelen zwischen der sich selbst erhaltenden Vernunft, die Adorno in seinem Gespräch mit Canetti für die »Dialektik der Aufklärung« reklamiert, und der Figur des Überlebenden (»Masse und Macht«) gibt, ist ein großes Thema, über welches das Lesepublikum selbst entscheiden möge – dazu braucht es mehr als ein paar Seiten.
Sven Hanuschek
SINN UND FORM 6/2023, S. 790-810, hier S. 790-793
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