
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-64-5
Heft 2/2022 enthält:
Labatut, Benjamín
Die tote Stadt, S. 149
Vor einigen Jahren, im Oktober 2008, gestand der englische Physiker Freeman Dyson in einer Vorlesung, daß er ein bestimmtes Lied von Monique Morelli (...)
Labatut, Benjamín
Die tote Stadt
Vor einigen Jahren, im Oktober 2008, gestand der englische Physiker Freeman Dyson in einer Vorlesung, daß er ein bestimmtes Lied von Monique Morelli – »La ville morte« – nicht hören könne, ohne von heftigsten Gefühlen überwältigt zu werden, ein ihm selbst unerklärliches Phänomen. Die mit schmerzvoller Stimme gesungene Ballade, begleitet von den Klagelauten eines Akkordeons, besticht durch ergreifende Bilder: Als wir in die tote Stadt einzogen / Hielt ich Margot an der Hand / Ein Morgen, der nicht endete / schenkte uns sein totes Licht / Wir liefen durch die Straßen, von Trümmern / zu Ruinen und von Tür zu Tür / Was einmal Türen waren / grenzte an ein seltsam fremdes Land. Egal wie oft Dyson die Aufnahme abspielte, jedesmal zerfloß er in Tränen, er schämte sich, das Lied in Gesellschaft zu hören; nur von Zeit zu Zeit, allein und wenn ihm danach war, gab er sich der Musik hin. Seine emotionale Reaktion war um so verstörender, als er praktisch kein Französisch konnte und nur eine äußerst vage Vorstellung davon hatte, worum es in dem Chanson ging. Selbst als ein Freund den Text für ihn übersetzte, war ihm das kein Trost. Nach jahrelangem Grübeln kam er zu der Überzeugung, daß diesen Strophen des französischen Dichters und Romanciers Pierre Mac Orlan etwas innewohnte, was in den tiefsten Schichten seiner unbewußten Erinnerung widerhallte, als sänge Monique nicht für die Lebenden, sondern für die zahllosen Seelen der Verstorbenen, deren Überreste sich, unsichtbar und vergessen, unter unseren Füßen sammeln. Eine plausible Erklärung für seine Anfälle von Melancholie fand Dyson schließlich in einem kurzen Artikel des russischen Mathematikers Yuri I. Manin, »Der Archetyp der leeren Stadt« aus seinem Essayband »Mathematik als Metapher«. Die leere Stadt ist hier die »Form einer Gesellschaft, der ihre Seele entzogen wurde und die nicht auf eine Eingabe wartet, eine Leiche, die nie ein lebender Körper war, ein Golem, dessen Leben selbst der Tod ist«. Die Wirkung dieses Archetyps auf unsere Psyche vergleicht Manin mit den diffusen Verlustgefühlen, die uns überkommen, wenn wir zufällig auf einen verlassenen Bienenstock schauen oder auf das endlos strömende Wasser in den Filmen des genialen russischen Regisseurs Andrei Tarkowski, der so besessen davon war, Bilder unserer Träume festzuhalten, daß er mit seiner Frau und seiner Crew in Flüsse voll giftiger Chemikalien stieg, um »Stalker« zu drehen, den Film, der ihn schließlich das Leben kostete. Die funkelnden Schlieren an der Oberfläche, in flüchtigen Bildern auf Zelluloid gebannt, stammten von giftigen Abfällen aus stillgelegten Fabriken und waren wahrscheinlich auch die Ursache für das Krebsgeschwür, das seine Lunge zerstörte und ihn 1986, mit gerade einmal 54 Jahren, umbrachte, und nicht nur ihn, sondern auch seine Frau Larissa und seinen Stammschauspieler Anatoli Solonizyn, die beide an derselben Krankheit starben. In »Stalker« ist ein weiter Landstrich – bekannt nur als »die Zone« – verseucht und unbewohnbar aufgrund von Kräften, die nicht nur den Körper und den Geist der Menschen infizieren, sondern vielleicht sogar ihre Seelen. Bewaffnete Truppen haben die Region abgeriegelt, doch eine kleine Gruppe verzweifelter Männer und Frauen wird unwiderstehlich von ihr angezogen wie Motten von einer radioaktiven Flamme, denn einem Gerücht zufolge gibt es tief im Inneren der Zone, im befremdlichsten Teil dieses Gebiets, einen kleinen und dem Anschein nach ganz gewöhnlichen Raum, in dem all jenen, die es hineinschaffen, ihre innigsten Wünsche erfüllt werden. Um den Fallen und Gefahren der Zone zu entgehen, müssen die Suchenden professionelle Führer anheuern, Stalker genannt, die sie durch die wüste Landschaft mit ihren verlassenen Ruinen und zerfallenden Gebäuden lotsen, wo die Vegetation das Land längst zurückerobert hat. Die Kettenspuren aufgegebener Panzer sind überwuchert, ebenso die Fassaden von Fabriken, Schulen und Krankenhäusern, andere leerstehende Gebäude sind halb verfallen und nicht wiederzuerkennen. Irgendwie sind die Gesetze der Wirklichkeit hier außer Kraft gesetzt, die Zeit fließt in seltsamen Schleifen, Erinnerungen und Träume nehmen Konturen an, Alpträume sind so real und schrecklich, als würden sie im Wachzustand erlebt. Die Szenerie ist erfüllt von einer berauschenden Melancholie, sie ergreift sowohl die Stalker als auch diejenigen, die sich die Verwirklichung ihrer Sehnsüchte erhoffen. Die Zone ist nämlich, obwohl unbewohnt und feindlich, eindeutig belebt und Teil von etwas, was dem menschlichen Bewußtsein ähnelt, ein hartnäckiger Wiedergänger, der sich dem unbarmherzigen Lauf der Zeit zu widersetzen vermag und einfach nicht vergeht, so wenig wie die Bilder vergangener Schrecken, die der Archetyp der leeren Stadt heraufbeschwört. Für Manin erklärt sich die Allgegenwärtigkeit dieses Archetyps in unserem kollektiven Gedächtnis aus den gesammelten Erfahrungen zahlloser Völker, die schon in grauer Vorzeit auf die Überreste alter vergessener Tempel stießen, zu Staub zerfallend im Wüstensand, begraben unter dem üppigen Grün undurchdringlicher Dschungel oder versteckt in den unzugänglichsten Hochtälern der Berge, Ruinen von solch kolossalen Ausmaßen, daß sie Göttern, wenn nicht Wesen von einem anderen Planeten als Wohnstatt gedient haben mußten. Es waren gespenstische Orte, man fürchtete und mied sie, wie auch die Angelsachsen sich fernhielten von den steinernen Mauern römischer Häuser, die sie als das Erbe sagenhafter Riesen betrachteten und niemals bewohnten. Die tote Stadt gibt es seit unvordenklichen Zeiten; sie geht zurück auf die Anfänge der Zivilisation, als die ersten Menschen begannen, sich in Siedlungen zusammenzuschließen, die immer größer wurden, blühten und gediehen und anderen Menschen ein Ansporn waren, Armeen aufzustellen, um diese Siedlungen zu überfallen, zu plündern und zu zerstören. Der Archetyp der leeren Stadt ist ein gedankliches Konstrukt, ein Destillat der Untergangserfahrungen zahlloser realer Gemeinschaften. Er steht für den nagenden Hunger in Zeiten der Dürre und die Nachglut der Brände, die die Häuser dem Erdboden gleichmachten, für die immer noch spürbaren Erschütterungen der Erdbeben, die ihre Fundamente auseinanderrissen, für die Narben, die die Seuchen hinterließen, die sie über Nacht entleerten. Doch Manin weist auch darauf hin, daß solche Phantombilder, egal wie schwach und verblassend, weder passiv noch neutral sind. Im Gegenteil, sie nähren unsere dunkelsten und ungestümsten Wünsche. Eine tiefe Sehnsucht nach Auflösung. Ein leidenschaftliches Verlangen, die Zerstörung all dessen zu erleben, was wir kennen. Ein Bedürfnis, die Welt vom Makel der Menschheit zu reinigen und unseren Planeten nicht nur von den Dämonen des Fortschritts zu befreien, sondern von allen Übeln, die unserer verfluchten Natur entspringen. Das kollektive Unbewußte ist kein bloßes geistiges Gepäck, sondern ein irrationaler Drang zu Tod und Zerstörung. Gleichgültig gegenüber den Träumen der Vernunft, ist das Unbewußte nicht eine Kraft, die zu Gemeinschaft oder Ganzheit führt, sondern etwas Irres, Verrücktes, Chaotisches, ein Sirenengesang, dem wir mit Nachdruck widerstehen müssen. »Diesem Potential«, schreibt Manin, »kann man nur die Erziehung des kollektiven Bewußtseins gegenüberstellen. Sonst wird die leere Stadt unsere letzte Heimstätte sein.«
Der Protagonist des Chansons, das Freeman Dyson so in seinen Bann schlug, ist ein älterer Soldat und Angehöriger einer Besatzungsarmee. Der namenlose Kämpfer ist nicht wach, sondern träumt: Er sieht sich selbst, wie er durch die Trümmer und den Staub einer eroberten Stadt geht und seine Frau an der Hand hält, beide betrachten die dunklen Ruinen ringsum. Sie kommen an ausgebombten Häusern vorbei, an ausgebrannten Autos, offenen Gräbern und dem verbogenen Metall eines zusammengeschmolzenen Spielplatzes, Szenen einer kaum vorstellbaren, von ihm selbst und seinen Kameraden angerichteten Verwüstung. Zwar weiß der Soldat, daß das, was er sieht, nur ein Traum ist und daß er in Wirklichkeit in der Kaserne schläft, fern des Gemetzels und allen Blutvergießens, doch kann er den Gedanken nicht ertragen, die Hand seiner Frau loszulassen, denn er ist fest davon überzeugt – mit einer Gewißheit, wie nur Träume sie schenken –, daß er sie niemals wiedersehen wird, weder in diesem noch in einem nächsten Leben. Und dennoch schultert er, als er die fernen Rufe eines Hornsignals hört, das Gewehr, küßt seine Frau auf den Mund und kehrt zurück in den Kampf.
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Aus dem Englischen von Thomas Brovot
SINN UND FORM 2/2022, S. 149-157, hier S. 149-152
Monique Morelli, »La Ville Morte« auf YouTube
Iljašenko, Marie
Aerodynamik. Gedichte, S. 158
Schulz, Nils B.
Auf verlorenem Posten. Überlegungen zu einer existentiellen Grundstimmung, S. 161
Neumann, Peter
Alles stürzt gemeinsam, S. 178
Adorno, Theodor W.
»Ich habe die Hosen voll, wenn ›ich an Deutschland denke in der Nacht‹«. Briefwechsel mit Lotte Lenya. Mit einer Vorbemerkung von Jens Rosteck, S. 180
Vorbemerkung Kurt Weills plötzlicher Tod im einundfünfzigsten Lebensjahr, ausgelöst durch einen Herzinfarkt, am 3. April 1950 warf seine Ehefrau (...)
Theodor W., Adorno
»Ich habe die Hosen voll, wenn ›ich an Deutschland denke in der Nacht‹«. Briefwechsel mit Lotte Lenya. Mit einer Vorbemerkung von Jens Rosteck
Vorbemerkung
Kurt Weills plötzlicher Tod im einundfünfzigsten Lebensjahr, ausgelöst durch einen Herzinfarkt, am 3. April 1950 warf seine Ehefrau Lotte Lenya (ursprünglich Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer, 1898–1981) völlig aus der Bahn. Zweieinhalb stürmische Jahrzehnte hatten sie verbunden, ein bemerkenswertes Auf und Ab in Liebesdingen, eine veritable Schaffensexplosion, eine beispiellose Premierenserie in Berlin, die glorreiche wie mythenumrankte Brecht-Ära, die schwierige Emigration, der Neuanfang in den Vereinigten Staaten und gleich zwei Hochzeiten. Weills letztes amerikanisches Bühnenwerk, »Lost in the Stars«, erlebte am Broadway nicht weniger als 281 Aufführungen und stand auch in seinem Todesjahr – ohne ihre Mitwirkung – noch immer auf dem Spielplan. Nun dämmerte Lenya, die sich von einer außerehelichen Beziehung zur nächsten gehangelt hatte und sich erst allmählich an ihre neue Rolle als »Witwe Weill« gewöhnte, zwischen Apathie und Hoffnungslosigkeit vor sich hin. In ihrem Domizil Brook House in New City vor den Toren New Yorks suchte die einst so Unternehmungslustige, im Grunde eine echte Großstadtpflanze, nach den bangen, schweren Stunden im Flower Hospital eine Zukunftsperspektive.
Untätig herumzusitzen war ihre Sache nie gewesen, die Bühnenkompositionen ihres in den USA zuletzt so populären Mannes Staub ansetzen zu lassen kam ebenfalls nicht in Frage. Doch stand sie, im Showbusineß ihrer Wahlheimat de facto ein Nobody, vor einem unüberwindbaren Dilemma: »Die Amerikaner«, so urteilte sie im Januar 1959 in dem Aufsatz »Kurt Weill’s Universal Appeal«, »hatten seine Musik geliebt, aber kannten nur seine hiesigen Werke, nichts dagegen aus seinen Jugendjahren. Sie wußten nichts von der Art und Weise, wie er die bittere Realität, die Unsicherheit des Deutschlands in den Zwanzigern in seiner Musik einzufangen verstanden hatte.« In der jungen Bundesrepublik wie in der neugegründeten DDR hingegen galten lediglich Weills Werke aus der späten Weimarer Republik etwas, waren seine im Exil entstandenen Musicals und seine Beiträge für eine erst im Entstehen begriffene »American Opera« weitgehend unbekannt, fanden wenig Anklang oder wurden ignoriert, verschmäht oder gar abqualifiziert. »Also entschloß ich mich, wenn auch sehr widerwillig, dort anzufangen.«
Eine doppelte Herkulesaufgabe zeichnete sich ab – den »amerikanischen«, vorgeblich oberflächlichen und regressiven Weill in Europa und den »deutschen«, vorgeblich anspruchsvollen und progressiven Vorkriegs-Weill in der Neuen Welt bekannt zu machen, um seine innovativen Zeitopern, Operetten und Einakter auch bei den nachfolgenden Generationen durchzusetzen. Hinzu kamen die immensen Schwierigkeiten, mit denen Lenya sich als Nachlaßverwalterin konfrontiert sah. Jahraus, jahrein mußte sie sich fortan mit Urheber- und Aufführungsrechten, Partituren, Verlegern, Produzenten, Abrechnungen, Tantiemen, Details von Schallplattenproduktionen und Vertragsstreitigkeiten herumschlagen. Am wichtigsten war freilich, daß sie wieder an Statur gewann: »Zuallererst mußte ich mir selbst einen Namen machen.« Um englischen Zungen die Aussprache zu erleichtern, hatte sie schon 1937 die Schreibweise ihres – an eine Tschechow-Figur angelehnten – Künstlernachnamens (ursprünglich Lenja) abgeändert. Nun wurde aus Lotte Lenya schlicht Lenya, im Big Apple kam sie mit zwei Silben und ohne Vornamen aus. Weitere Markenzeichen waren ihre markante, zusehends dunkler und rauher werdende Stimme und, wie sie ihrem Briefpartner Adorno sogleich mitteilte, ihr neuerdings rotgefärbtes Haar.
Lenyas tiefe Verunsicherung war persönlicher wie künstlerischer Natur und reichte bis in die Kriegsjahre zurück: Im Frühjahr 1945 hatte Weills Operette »The Firebrand of Florence« nach einem Libretto von Ira Gershwin, in der sie als Duchess aufgetreten war, in Boston und New York City teils vernichtende Kritiken bekommen, und das steckte ihr noch in den Knochen. Ihr Selbstbewußtsein als Weill-Interpretin war ins Wanken geraten, sie hatte sich in der Folgezeit von der Bühne zurückgezogen. Während ihr Mann sich im Kollegenkreis durch Fleiß, Kreativität, Erfindungsgabe und eine erstaunliche Assimilierungsbereitschaft rasch Anerkennung verschaffte und auf dem besten Weg war, ein echter Amerikaner zu werden, hatte sie in der Musical- und Showszene der Neuen Welt nie richtig Fuß gefaßt. Ihr Vortragsstil und ihre Gestik, ihr eigenwilliger Sprechgesang, ihre wienerisch-berlinerische Intonation, ihr teils ruppiger, teils lasziver Ausdruck und ihre unvollkommene Beherrschung des (bei ihr stets akzentbehafteten) Englischen entsprachen nicht der Erwartungshaltung der an Entertainment und Wohlklang gewöhnten US-Theatergänger. Alles, was Lenya ausmachte, befremdete sie. Erst später, als die amerikanische Fassung der »Dreigroschenoper« zum Kassenschlager wurde und sie das Musical »Cabaret« mit aus der Taufe hob, stellte sich der Erfolg ein, und sie konnte einen Triumph nach dem anderen feiern. Dann auch wieder als Filmschauspielerin.
Maßgeblichen Anteil an dieser zweiten, internationalen Karriere, die 1961 in einer Oscar- und Golden-Globe-Nominierung sowie 1963 in der Mitwirkung in einem James-Bond-Film gipfelte, hatte ihr nächster Ehemann, der acht Jahre jüngere Romancier und ehemalige Chefredakteur illustrer Zeitschriften (wie »Harper’s Bazaar« und »Mademoiselle«) George Davis (1906 – 57). Dieser vielgereiste frankophile Europakenner hatte schon Carson McCullers und Truman Capote gefördert und sah sich, obwohl vorübergehend mittellos und beruflich desorientiert, imstande, ihrer Bestimmung als authentische Weill-Interpretin Nachdruck zu verleihen.
Lenyas Isolation und Depression endeten rasch, als sie Davis, der sie schon zu Weills Lebzeiten in verschiedene New Yorker Künstlerkreise eingeführt hatte, im Mai 1950 wiederbegegnete. Seinerzeit hatte er zur legendären und auch experimentellen Wohngemeinschaft in der Brooklyner Middagh Street, dem sogenannten February house, gehört, wo sich Berühmtheiten, Bohemiens und Avantgarde-Figuren wie Benjamin Britten und Peter Pears, Jane und Paul Bowles, Christopher Isherwood, W. H. Auden oder die Thomas-Mann-Kinder Klaus und Erika die Klinke in die Hand gaben. Nun wurde der homosexuelle Davis zu Lenyas ständigem Begleiter und zum zweiten von insgesamt vier Gatten. Das Verhältnis war keineswegs frei von Konflikten, doch mit seiner Hilfe und Begeisterungsfähigkeit vermochte sie den Kopf wieder aus dem Sand zu ziehen. Diese »neue Lenya« war ganz und gar seine Schöpfung. Beide boten alle Kräfte auf, um für Weills genuines Konzept eines zeitgenössischen Musiktheaters jenseits von U- oder E-Kategorien zu kämpfen, es am Leben zu erhalten und ihm ein neues Publikum zu erschließen.
Auf die Eheschließung im Juli 1951, ein zaghaftes Comeback im Sprechtheater und einige Hommage-Konzerte für Weill in der New Yorker Concert Hall folgte die sensationell erfolgreiche Off-Broadway-Produktion der »Threepenny Opera« in einer Fassung von Marc Blitzstein. Sie kam, ab März 1954, auf die Rekordzahl von 2 600 Vorstellungen und brachte Lenya einen Tony Award ein. Das war weit mehr als eine Ehrenrettung für den in Amerika verkannten »Berliner« Weill, und dabei ging das Tandem, was dessen Ästhetik betrifft, keine kommerziellen Kompromisse ein und verwahrte sich gegen leichtfertige Vereinfachungen oder ästhetische Zugeständnisse: Im Frühjahr 1955, fünf Jahre nach seinem Tod, setzte Lenya in Begleitung von Davis erstmals seit 1934 wieder ihren Fuß auf deutschen Boden (und zwar auf beiden Seiten der Grenze), spielte maßgebliche Soloalben ein und überwachte mit ihrer historischen Kompetenz die Produktion weiterer Brecht-Weill-Stücke. In Düsseldorf kam 1955 Weills Musical »Street Scene« als westdeutsche Erstaufführung heraus, an der Städtischen Oper Berlin 1957 seine frühe Oper »Die Bürgschaft«. Mit dem Dirigenten Wilhelm Brückner-Rüggeberg wirkte sie in maßstabsetzenden Gesamtaufnahmen von »Mahagonny« und »Die sieben Todsünden« mit, in den Vereinigten Staaten spielte sie unter Maurice Levine »American Theatre Songs« ein. Zusätzlich beaufsichtigte sie dort die Schallplattenpremiere von »Johnny Johnson«. Auf diese Weise etablierten Davis und Lenya geradezu vorbildlich eine authentische und stimmige Weill-Interpretation, die auch für die folgenden Jahrzehnte verbindlich blieb. Ein Glücksfall.
Vor diesem Hintergrund setzt zum Jahresende 1956 der Briefwechsel mit Theodor W. Adorno ein, der sich über das gesamte Jahr 1957 – den Höhepunkt ihrer Bemühungen um Weills musikalisches Erbe in Deutschland – erstreckt und dann erst wieder im Februar 1960 eine Fortsetzung findet. Die Bekanntschaft der beiden geht auf das Berlin der späten Zwanziger zurück, wie eine handschriftliche Widmung der jungen Lenja (sic!) für »Th. Wiesengrund-Adorno« vom September 1929 auf einem Druckexemplar von Marieluise Fleißers Drama »Pioniere in Ingolstadt« belegt. Sie spielte damals in Brechts umstrittener Inszenierung im Theater am Schiffbauerdamm an der Seite von Peter Lorre und Hilde Körber die Rolle der Alma. »Eine Liebe muß keine dabei sein« – das von Lenja für die Widmung ausgewählte Zitat stammt aus Fleißers Stück.
In den Briefen von 1957 – Lenya und Davis pendeln damals zwischen Deutschland und den USA hin und her – ist viel von Weills Brecht-Vertonungen die Rede, den »Sieben Todsünden«, »Happy End«, der »Dreigroschenoper« und den verschiedenen »Mahagonny«-Fassungen. Zum einen, weil sie zu Adornos bevorzugten Weill-Bühnenwerken zählten, zum anderen, weil Lenya sie just in jenem Jahr einspielte, Songs daraus vortrug oder Pläne für Neuinszenierungen schmiedete. Der Leser begegnet in diesem anregenden Austausch, durchweg in liebevoll-zärtlichem Ton gehalten, gespickt mit geistreichen Aperçus und stellenweise auch mit englischsprachigen Einsprengseln versehen, prominenten Zeitgenossen wie den Tänzerinnen und Choreographinnen Irene Mann und Tatjana Gsovsky, den Regisseuren Harry Buckwitz, Heinz Tietjen und Hans Curjel, der Schauspielerin Hannelore Schroth und einer Dame namens »Helli«, der Brecht-Witwe Helene Weigel also, über deren Gier nach Tantiemen ausgiebig gelästert wird und an deren Unnachgiebigkeit so manches von Lenya und Davis angestoßene Projekt zu scheitern droht. Brechts Tod liegt ja noch nicht lange zurück.
Lenya ist merklich daran gelegen, daß Davis bei »Teddy« bzw. »Teddie« und Gretel einen guten Eindruck hinterläßt – ein Wunsch, der in Erfüllung geht –, und äußert mehrfach ihre Besorgnis um seine Gesundheit. Mehrere Herzattacken und -infarkte in immer kürzeren Abständen sind Vorboten seines Todes am 25. November 1957 in Berlin – zwei Wochen nur, nachdem sie im Westteil der Stadt mit der prestigereichen Friedensglocke ausgezeichnet wurde und nur wenige Wochen, bevor sie die »Dreigroschenoper« einspielt. Eine weitere Aufnahme, für die sie bereits den Vertrag unterzeichnet hat, »Das Berliner Requiem«, wird in Anbetracht der Umstände fallengelassen. Davis ist bei seinem Ableben nur unwesentlich älter als seinerzeit Weill, und Lenya erlebt es als Schock und Katastrophe, zumal die gleiche Todesursache vorliegt. Sie resümiert (1962 in der Theaterzeitschrift »Playbill«): »Mein Herz war gebrochen, aber noch viel schlimmer als damals, als es Kurt zugestoßen war. In diesen sechs Jahren unserer Ehe hatte George mich laufen gelehrt, so wie man es einem kleinen Kind beibringt.« Im vorliegenden Briefwechsel mit Adorno findet Davis’ Tod keine Erwähnung, da Lenya das letzte Schreiben vor der mehrjährigen Pause zweieinhalb Wochen vorher verfaßte. Wieder einmal geht es um eine im letzten Moment nicht zustande gekommene Begegnung: »Schade, daß ich nicht ein paar Tage in Frankfurt bleiben konnte. Aber ich lasse George sehr ungern allein mit seiner Furcht vor dem Alleinsein, das typisch für herzkranke Menschen zu sein scheint. So konnte ich also nur schnell noch Gretel anrufen zwischen Zug und Flugzeug.«
Daß Adorno und Lenya auf solch warmherzige, ja fürsorgliche Weise miteinander kommunizieren und auch in künstlerischer Hinsicht völlig übereinzustimmen scheinen, nimmt, gelinde gesagt, wunder: Im Briefwechsel der Eheleute Weill / Lenya trat nämlich, insbesondere in den frühen vierziger Jahren, ein ganz anderes, negatives Adorno-Bild zutage. Dort firmierte der jetzt so Verehrte als »der Wiesengrund« und wurde mit wenig schmeichelhaften, ja beleidigenden Attributen belegt. Hintergrund war vor allem eine Intervention Adornos im März 1942 zugunsten Brechts, dem eine Neubearbeitung der »Dreigroschenoper« mit exklusiv schwarzer Besetzung in Los Angeles vorschwebte. Weill, dessen Ehrgeiz längst dem amerikanischen Musiktheater galt und dem die Angelegenheit »zum Hals heraushing«, hielt jedoch nichts von Wiederbelebungsversuchen der vermeintlich goldenen Berliner Zeit. Er fürchtete um sein Mitspracherecht und witterte ästhetische Verfälschung, erregte sich in einem auf englisch verfaßten Antwortschreiben über Adornos pauschale Abqualifizierung des Niveaus zeitgenössischer Broadwayproduktionen und sprach ihm jegliches Urteilsvermögen in der Angelegenheit ab. Tags darauf, am 8. April 1942, informierte er Lenya per Brief: »Nun, dem Wiesengrund habe ich einen Brief geschrieben, den er lange Zeit nicht vergessen wird. Ich schrieb ihm: es ist eine Schande, daß ein Mann von seiner Intelligenz so falsch informiert sein soll. Und dann erklärte ich ihm, daß das amerikanische Theater nicht so schlecht ist wie er denkt.« Lenya, die gerade in Atlanta mit Maxwell Andersons Stück »Candle in the Wind« auf Tournee war, erwiderte am 9. April: »Eigentlich zu komisch, um sich darüber aufzuregen. Ich bin so froh, daß Du ihm den richtigen Brief über das amerikanische Theater geschrieben hast. Aber bitte Darling, bestehe darauf, daß sie das außerhalb von Hollywood nicht zeigen dürfen. Gib bloß nicht nach. Zum Teufel mit denen.« Lenya warnte ihn, daß Brecht mit Adornos Schützenhilfe »die Musik in Fetzen schneiden« und das Werk »billig und lächerlich machen« würde. Weill hatte es geärgert, daß Adorno als erklärter Jazzfeind und Verfechter absoluter Musik für Brecht Partei ergriff. Von »Fachleuten «, die sogenannte Unterhaltungsmusik als »dekadent« verunglimpften, habe er keine Belehrungen nötig, wie »wichtig« und »wertvoll« seine »Dreigroschenoper« sei. Die Eheleute zogen in dieser Hinsicht also an einem Strang. Dabei hatte Adorno einlenkend noch um Nachsicht mit einem alten Weggefährten gebeten und den Beweis antreten wollen, daß er in der Zeit seines »Schweigens musiksoziologisch noch nicht ganz vertrottelt« sei. Vergebens.
Für Weill stand seit 1931 fest, daß Adorno einen Großteil seiner Musik ablehnte und ihr die Avantgarde-Tauglichkeit absprach, daher erblickte er in ihm einen ideologischen Gegner seines Schaffens. Der Eindruck verfestigte sich noch mit der Publikation von Adornos »Philosophie der neuen Musik« (1949): In der Dichotomie zwischen dem Neoklassizismus Strawinskyscher Provenienz und der zum Ideal erhobenen Zweiten Wiener Schule Schönbergs war für einen dritten Weg, wie ihn Weill beschritt, kein Raum. David Drew, der Doyen der Weill-Forschung, konstatierte 1975, Adornos Abkehr von seiner Musik habe »lange vorher stattgefunden, nämlich zu einer Zeit, als sie beide noch in Deutschland lebten«. Während er über die »Dreigroschenoper« und »Mahagonny« noch Aufsätze publizierte, schwieg er sich über Weills späteres Werk aus. Drew urteilt: »Weill war ohne Reue als Broadwaykomponist gestorben und als solcher in der amerikanischen Presse geehrt und betrauert worden«, Adorno hingegen habe die »zersetzenden und explosiven Elemente« in Weills Brecht-Phase zum Maß aller Dinge erhoben, sei davon nicht mehr abgerückt und habe ihr Fehlen als Manko empfunden, ohne den veränderten Gesetzmäßigkeiten der in den USA entstandenen Kompositionen Rechnung zu tragen.
Von Ressentiments findet sich in der Korrespondenz zwischen Lenya und Adorno keine Spur, wobei man fragen kann, inwieweit letzterer überhaupt Kenntnis von der früheren Verachtung für seine Person und Haltung hatte. Letztlich trug aber auch Lenya durch ihre meisterhafte, ja prototypische Interpretation weiblicher Figuren aus den Weill-Brecht-Werken (Prostituierte, Halbweltdame, Rächerin, burleske Verführerin) zur Verengung der Rezeption auf jene Phase bei. Im September 1955 nahm sie die Moritat von Mackie Messer, den Weill-Hit schlechthin, in einer Dixieland-Fassung mit Louis Armstrong auf; der in der USA geschätzte »September Song« oder die melancholische Ballade »Speak Low« erreichten nie dieselbe Durchschlagskraft – denn sie erfüllten ja auch kein Klischee. Es ging viel Zeit ins Land, bis Weills amerikanischen Opern, Operetten und Musicals (deren Frauengestalten Lenya eben nicht automatisch auf den Leib geschneidert waren) ein vergleichbarer Rang eingeräumt wurde und auch seine übrigen Werke seit den frühen zwanziger Jahren wieder die Spielpläne erobern konnten. Mittlerweile ist eine gewisse Balance in der Beurteilung des »Berliner«, »Pariser« und »New Yorker« Stils zu beobachten, hat sich die Auffassung einer annähernden Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Schaffensphasen durchgesetzt.
In den verbleibenden drei Briefen vom Februar 1960 werden andere Sachverhalte erörtert. Lenya möchte eine Verbindung zum Suhrkamp Verlag herstellen und bittet ihren deutschen Freund um Hilfe, sie setzt sich für David Drew ein und denkt darüber nach, eine autobiographische Skizze zu schreiben. Zur Sprache kommt auch ihre Beteiligung an einem Konzert der Musica-viva-Reihe in München unter der Ägide von Karl Amadeus Hartmann. Freunde des frühen Weill können sich im April 1960 darüber freuen, daß bei einer mehrteiligen Produktion an den Städtischen Bühnen Frankfurt neben den »Sieben Todsünden«, in denen Lenya die Anna I verkörpert, zwei seiner Kurzopern mit auf dem Programm stehen, die Einakter »Der Protagonist« und »Der Zar läßt sich photographieren « (beide auf Libretti von Georg Kaiser).
Lediglich am Rande thematisiert wird in der Korrespondenz ein Gespräch, das die Briefpartner im selben Jahr dem Journalisten und Musil-Herausgeber Adolf Frisé für den Hessischen Rundfunk gewährten. Naturgemäß gilt beider Augenmerk wieder den berühmt-berüchtigten zwanziger Jahren und ihrem Hauptschauplatz Berlin – 1960 schon ein Mythos. Während Adorno sich über »Legenden und Ärgernisse« jener an Widersprüchen so reichen Epoche ergeht, spürt man bei praktisch jeder Verlautbarung Lenyas ihre Unbekümmertheit, ihre Nonchalance und ihre Weigerung, die Dinge zu verklären, sowie ihre Freude, zu diesem Mythos beigetragen zu haben, ohne sich dessen nur ansatzweise bewußt gewesen zu sein. Es lohnt sich (besonders nach Lektüre des Briefwechsels), dieses lebhafte, knapp einstündige Doppelinterview wieder anzuhören, und sei es nur, um sich vom unnachahmlichen Klang der Stimme Lenyas betören und von Adornos leichtfüßiger Eloquenz beeindrucken zu lassen.
Jens Rosteck
(…)
SINN UND FORM 2/2022, S. 180-194, hier S. 180-185
Dieckmann, Friedrich
Ausdruck als Befreiung. Schuberts Schulze-Lieder, S. 196
Hulpe, Marius
Rosige Hand. Gedichte, S. 212
Reichl, Veronika
Die Hummeln summen lauter. Katherina liest Clarice Lispector, S. 215
Katherina hatte schon als Kind die Schönheit schwergenommen: Sie hielt es nicht aus, wenn etwas Schönes verging, ohne ganz gesehen worden zu sein. (...)
Reichl, Veronika
Die Hummeln summen lauter. Katherina liest Clarice Lispector
Katherina hatte schon als Kind die Schönheit schwergenommen: Sie hielt es nicht aus, wenn etwas Schönes verging, ohne ganz gesehen worden zu sein. Während ihre Eltern bei Wanderungen immerzu weiterwollten, weil sie an den Kaiserschmarrn in der Gastwirtschaft oder den Kuchen zu Hause dachten, konnte Katherina einem berückenden Sonnenuntergang kaum den Rücken zukehren. Es wäre furchtbar, wenn die Schönheit umsonst dagewesen wäre. Nur wenn Katherina sah, daß andere Menschen den Sonnenuntergang bewunderten, mochte sie weitergehen. So ging es ihr mit allem, was sie liebte. Katherina trauerte die letzten drei Wochen der Sommerferien darum, daß sie zu Ende gingen. Der kommende Tod ihre Oma machte sie schaudern, das kommende Sterben ihrer Eltern war zu schrecklich, um gedacht zu werden. Und doch wußte sie jeden Tag darum. Das gab ihr etwas Altmodisches, aus der Zeit Gefallenes. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler verstanden nicht, daß alles eines Tages wirklich und für immer verschwindet. Sie lebten, als beträfe der Tod sie nicht. Katherina dagegen sah, wie durch und durch angemessen es war, unendlich traurig zu sein.
Als Katherina zehn Jahre später in Frankfurt studierte, bemühte sie sich, das Leben leichter zu nehmen. Sie fand neue Freundinnen und Freunde, die wie sie für Kultur und Philosophie brannten und sich um die Umwelt, den Rechtsruck der Gesellschaft und alle Arten von Ungerechtigkeiten sorgten. Über alle diese Dinge konnte sie nun endlich nächtelang mit anderen sprechen. Doch sie war mit ihrer Trauer über das Vergehen der Schönheit immer noch ziemlich allein. Weiterhin spürte sie eine Pflicht, möglichst viel Schönheit wahrzunehmen und ihr Verschwinden zu betrauern. Niemand außer ihr schien diese Aufgabe zu übernehmen.
Während sie an ihrer Dissertation schreibt, kommt Katherina durch ihre Lieblingsphilosophin auf Clarice Lispector. Die wichtigen Dinge zeigen einem ja immer die anderen. Sie und die Philosophin lernen sich bei einer Konferenz kennen und unterhalten sich länger beim Conference-Dinner, und die Philosophin sagt: Sie müssen Die Passion nach G. H. lesen. Gerade Sie, unbedingt! Sie erzählt voller Begeisterung, daß der Text von der Begegnung einer Frau mit einer Schabe in einem kleinen Raum handelt und gleichzeitig vom Leben und der Immanenz an sich. Die Philosophin ist klug und empfindsam und hat einen feinen Humor. Sie ist persönlich fast noch beeindruckender als in ihren Texten. Katherina möchte gern so ähnlich sein, wenn sie einmal sechzig ist. Es wird Katherina ob der persönlichen Empfehlung warm ums Herz. Doch das Buch ist vergriffen und die Fernleihe der Stabi weist eine ellenlange Warteliste auf. Vier Monate später findet Katherina das Buch in der Grabbelkiste eines Antiquariats. Es liegt da wie für sie hingelegt: ein dünner, vergilbter, grasgrüner Suhrkamp-Band für zwei Euro. Katherina freut sich ungeheuer. Sie trägt das Buch nach Hause, legt sich ins Bett und beginnt zu lesen. Der Text hat sofort etwas Besonderes. Katherina hält den Atem beim Lesen an, so schön ist die Sprache. Da steht zum Beispiel:
»Nein. Jedes plötzliche Verstehen ist schließlich die Enthüllung eines durchdringenden Nichtverstehens. Jeder Moment des Findens ist ein Sich-Selbst-Verlieren. Vielleicht widerfuhr mir ein Verstehen so vollständig wie eine Unwissenheit, und daraus gehe ich so unberührt und unschuldig hervor wie vorher. Kein Verständnis meinerseits wird jemals die Höhe dieses Verstehens erreichen, denn zu leben ist die einzige Höhe, die ich erreichen kann – meine einzige Ebene ist, zu leben. Nur daß ich jetzt – jetzt von einem Geheimnis weiß. Das ich schon wieder beginne zu vergessen, ach ich spüre, ich vergesse …«
Doch obwohl der Text Katherina fasziniert und sie Satz um Satz anstreicht, kann sie nach dreißig Seiten kaum sagen, was eigentlich gesagt wird. Das ärgert sie, denn sie möchte das Buch so tief in sich aufnehmen, wie es nur geht. Sie nimmt den Text deutlich wahr: Er ist erstaunlich hell. Er leuchtet geradezu. Katherina hatte Angst gehabt, daß die Schabe ihn ekelhaft machen würde. Sie hatte Erde, Schweiß und Kotze erwartet. Aber das kommt nur hier und da vor. Vor allem gibt es gekalkte Wände und Plasmen, die Wüste und die helle Sonne. Lispector spricht vom Leben an sich. Und doch mutet sie Katherina dieses Leben nur in kleinen Dosen zu. Sie gibt Katherina nur ein wenig Plasma, ein wenig weißliche Masse, ein paar Augenblicke blanken Lebens zu lesen. Katherina fühlt sich auf eine merkwürdige Weise geschont und weiß nicht, ob sie das gut finden soll.
Beim Weiterlesen wird Katherina nach und nach klar, daß Clarice Lispector versucht, von etwas kaum Sagbarem zu sprechen. Mit immer neuen Sätzen nähert sie sich etwas an. Darum widerspricht und verbessert sich die Erzählerin wieder und wieder: Weil der Text eine Suche ist, die zu keinem endgültigen Ergebnis kommt. Katherina muß das bewundern: diesen Eigensinn, ein ganzes Buch lang zu versuchen, etwas auszudrücken, was sich dem Ausdruck entzieht. Diese selbstbewußte Hartnäckigkeit einer Frau.
Die Erzählerin sagt irgendwo: »Ach, ich weiß nicht, wie ich es Dir sagen soll, denn ich neige nur dann zur Beredsamkeit, wenn ich irre, der Irrtum verleitet mich dazu zu diskutieren und nachzudenken. Doch wie soll ich mit Dir reden, wenn Schweigen herrscht, solange ich nicht irre?«
Katherina hat das Gefühl, daß das für das ganze Buch stimmt. Die Erzählerin versucht etwas zu formulieren, das so zentral und so schwer zu denken ist, daß die bestmögliche Annäherung ihr hundertfacher, übermütiger Versuch ist, einen Zipfel davon zu formulieren. Die Erzählerin ist bereit, sich tausendmal zu täuschen, tausendmal das Falsche zu sagen. Sie übertreibt immerzu. Nichts von dem, was sie sagt, stimmt ganz. Und trotzdem: Während der Text immer wieder neu ansetzt und immer wieder beredt wird in etwas, das Katherina als übertrieben und nicht ganz richtig wahrnimmt, sagt Lispector etwas, das zwar so nicht richtig sein mag, aber ein wenig anders gedreht vielleicht doch ganz ungeheuer richtig ist. Katherina vertraut Lispector. Denn der Text beschreibt Wahrnehmungen, Katherina kann es genau hören. Lispector fängt jeden ihrer Beschreibungsversuche mit einem Perzept an. Katherina haßt es, wenn Texte erfunden sind. Sie interessiert sich nicht für das, was die Leute sich so ausdenken. Schrecklich viele Romane tun das, manche gewinnen dabei sogar Preise für ihre Sprache, und Katherina schüttelt es. Weil man doch hört, wenn die Sprache lügt, wenn die Autorinnen und Autoren Satz für Satz die schnelle Pointe suchen und dabei Satz für Satz die Wahrheit opfern. Vermutlich ist ihnen das nicht einmal klar. Lispectors Text aber hat seinen Ursprung in Wahrnehmungen. Auch Lispector erfindet öfter mal etwas, auch sie ist immer wieder zu begeistert von ihren Ideen und läßt sich von ihnen fortreißen. Aber dann setzt sie wieder neu an.
Nach ein paar Tagen findet Katherina den perfekten Vergleich, um das Gefühl, Lispector zu lesen, zu beschreiben. Es fühlt sich an wie mit dem Rauchen aufzuhören. Wie damals fühlt Katherina sich noch ein Stück weiter vom Rest der Menschen entfernt. Wie damals fühlt sie eine leuchtend hellgraue Nüchternheit, die unbequem ist. Wie damals kann sie nicht sagen, welcher Rausch sich da eigentlich gelichtet hat. Und doch möchte Katherina diese hellgraue Nüchternheit – damals wie heute – nicht zurücktauschen gegen den angenehmen Nebel zuvor.
Nach 110 von insgesamt 180 Seiten beginnt Katherina darauf zu warten, daß es nun wirklich richtig losgeht. Denn sie hat zwar Seite für Seite das Gefühl, daß alles wichtig ist, aber sie kann den Inhalt weiterhin nicht recht festmachen. Sie findet sich selbst undankbar. Die bisherigen Seiten waren toll, sie sollte erfüllt sein. Und wenn man 110 Seiten in einem Buch gelesen hat, das immer neu ansetzt, ohne wirkliche Aussagen zu machen, warum sollte da noch etwas anderes kommen? Doch es stellt sich heraus, daß Katherina zu Recht gewartet hat: Die letzten 40 Seiten haben noch einmal einen besonderen Schub. Ein paar wichtige Motive bekommen einen ganz neuen Dreh und Gott bekommt vier Seiten, die Katherina den Atem nehmen. Katherina kommt aus einer katholischen Familie, Gott ist ihr wohlbekannt. Sie kennt ihn als einen gewalttätigen und fordernden Gott. Sie glaubt längst nicht mehr katholisch, doch sie weiß, daß die Position Gottes nicht leer ist. Was auch immer diesen Platz besetzt, es hat Macht. Und da sie keine stabile Alternative hat, drängt ihr alter christlicher Gott mit seinem Purpur und Gold und seinen tief in Katherina eingebrannten Formeln ständig in diese Position. In ihrer Kindheit auf dem Land war Katherina in ihrem Kampf gegen Gott allein, an der Uni kommt Gott nicht einmal vor. Die meisten Menschen um sie herum sprechen, als wäre das Leben im Prinzip freundliche Vernunft und gegen den Rest hülfe Homöopathie. Und selbst denen, die den Ernst der Lage spüren, ist Katherinas Interesse an Gott und ihr Kampf mit ihrem katholischen Erbe fremd. Lispector aber kennt Gott. Sie weiß um den Tod und um die Gnade. Katherina hat das Gefühl, Lispector biete ihr einen Tausch an: Katherina könnte ihren alten Gott gegen einen neuen, neutralen, farblosen Gott eintauschen. Nur so kann es gehen: Im Tausch von etwas angsterregend Universellem gegen etwas anderes angsterregend Universelles. Auf der Grundlage von Wahrnehmungen. Alle, die das Leben ohne Angst und Schmerz wollen, verkennen die Bedingungen ihrer eigenen Existenz. Katherina würde sehr gern Gott gegen Gott tauschen und liest die vier Seite viele Male.
* * *
Den Sommer verbringt Katherina mit einer Freundin schreibend in einem Gartenhaus. Sie stellen die Rechner auf alte, klapprige, grünlackierte Holztische und sitzen unter einem Kirschbaum, rundherum die Sträucher eines halbverwilderten Gartens. Sie gehen jeden Abend im See schwimmen. Wenn es sehr heiß ist, liegen sie in den Hängematten und dösen. Um sie summen Bienen und Hummeln. Im Gras zirpen die Grillen. Es ist herrlich.
Katherina hat es nicht geschafft, Gott gegen Gott zu tauschen. Als Anleitung für diesen Schritt taugte Lispectors Buch dann doch nicht. Doch etwas ist anders geworden, seit sie Lispector gelesen hat. Sie ist irgendwie fröhlicher. Die Hummeln summen seitdem lauter. Die Blätter der Eschen und Buchen rauschen unentwegt. Alles Lebendige ist ungeheuer stark. Überall sirren Insekten. Bisher erschien Katherina alles Leben zart und zerbrechlich. Und das ist es ja auch. Doch die Blätter der Bäume werden immer rauschen und immer werden Viecher herumkrabbeln. Auch dann, wenn Katherina längst nicht mehr da sein wird. Selbst wenn alle Bienen an Pestiziden sterben, selbst wenn die Erde zerspringt, werden auf einem anderen Planeten Schaben krabbeln. Bei Lispector ist jedes Leben mit gleich viel Bedeutung angefüllt. Jedes einzelne ist unendlich wichtig und zugleich völlig egal. Im Gartenhaus fühlt es sich tatsächlich so an. Wenn das so ist, muß Katherina keine Zeugin der Schönheit mehr sein. Weil immerzu neues Leben nachkommt, immer noch mehr Leben, das von innen vor Bedeutung leuchtet. Bisher war es Katherinas Aufgabe gewesen, die vergängliche Schönheit in sich aufzubewahren und um alles Verlorene zu trauern. Lispector hat ihr diese Aufgaben genommen. Sie hat Katherina unwichtiger gemacht. Sie hat sie den Schaben ähnlicher gemacht. Katherina und die Schaben sind heilig und zugleich unwichtig, und sie alle fliegen schnell durchs Leben und dann sind sie weg. Katherina wird weiter studieren. Sie wird weiter politisch streiten, sie wird Bücher schreiben und hoffentlich irgendwann selbst Professorin sein. Sie wird jedesmal untröstlich sein, wenn jemand stirbt, den sie liebt. Doch das alles ist nicht wirklich wichtig. Nur das Leben an sich ist wichtig. Katherina, die keine Kinder möchte, hat keine weitere Aufgabe, als lebendig zu sein, solange sie es ist. Katherinas Arbeit, ihre Karriere und sogar die Politik sind nur eine Zugabe, eine Spielerei. Das tut weh. Seit ihrer Kindheit war Katherina eine ernste Person, die alles besser verstand als die anderen und deshalb die große Aufgabe übernahm, um die vergehende Schönheit zu weinen. Sie hatte schon vor Jahren verstanden, daß das eine tendenziell narzißtische Idee ist. Weil es beinhaltete, daß sie eine größere Empfänglichkeit für die Schönheit und ein klareres Wissen um die Vergänglichkeit hatte als die anderen. Sie hatte sich eine Sonderrolle gegeben und sich selbst besonders wichtig genommen. Das war nicht sympathisch, und so hatte sie das Ganze mit zwei Therapeutinnen ausführlich besprochen, um es loszuwerden. Doch es war ihr nicht gelungen. Das Gefühl, daß dies nun einmal ihre Aufgabe war, war zu stark gewesen. Es hatte aus einer großen Tiefe an ihr gezogen und sie mit dieser Tiefe verbunden. Sie hatte das Gefühl geliebt. Das konnte sie nicht einfach loslassen. Vielleicht hatte ihr die Aufgabe des Trauerns auch geholfen, sich selbst als künftige Philosophin ernst zu nehmen und zu glauben, einen besonderen philosophischen Beitrag leisten zu können. Jetzt im Garten zieht die Aufgabe nicht mehr an ihr. Die Tiefe ist nicht mehr da, es gibt sie einfach nicht mehr. Dafür summen die Bienen und die Bäume rauschen und Katherina ist eine irgendwie fröhliche, aber auch verwirrte Schabe. Eine Schabe ohne Aufgabe. Daran muß sie sich erst mal gewöhnen.
SINN UND FORM 2/2022, S. 215-219
Reinert, Bastian
Ein Wort, dem man noch trauen könnte. Gedichte, S. 220
Ziebritzki, Henning
Was ist es, das Gedichte schreibt? Zu Peter Huchel und Thomas Kling , S. 223
Wandelère, Frédéric
Geheimnis des Regens. Gedichte, S. 236
Schlaffer, Hannelore
Liebe vor dem Sündenfall oder Das Paradies im Roman, S. 238
Eine Sammlung von Szenen wäre aus der Weltliteratur, aus Romanen und Erzählungen zusammenzutragen, die vergessen sind und doch nicht hätten (...)
Schlaffer, Hannelore
Liebe vor dem Sündenfall oder Das Paradies im Roman
Eine Sammlung von Szenen wäre aus der Weltliteratur, aus Romanen und Erzählungen zusammenzutragen, die vergessen sind und doch nicht hätten vergessen werden dürfen. Es sind dies anrührende Bilder einer erwachenden Liebe, die von sich noch nichts weiß. Die große Leidenschaft, die das – meist männliche – Gemüt entfacht und zur Eroberung einer Geliebten anfeuert, die Klage über deren Verlust, die Verführung zum Ehebruch, diese offenbaren Aufregungen aus lauter Liebe, die sich zum Motor einer Handlung so gut eignen, ist viel besprochen, theatralisch genutzt und lyrisch besungen worden. Doch gibt es Romane, Jean Pauls »Titan« etwa, Kellers »Grünen Heinrich« oder die Erzählungen Stifters, die nicht die Dramatik der großen Leidenschaft vorführen, sondern den Zauber einer erwachenden Neigung, die von Sünde kaum etwas ahnt und von Tragik nichts weiß. Während die literarisch zubereitete Leidenschaft durch starke Affekte enorme Effekte hervorbringt, äußert sich die erwachende Liebe in unscheinbaren Gesten, die im Gedächtnis des Lesers leicht wieder verblassen. Und doch sind häufig sie es, die, auch wenn sie nicht den Gang der Handlung bestimmen, der Erzählung Farbe geben und in der Erinnerung das Glück dieser Lektüren ausmachen.
Im Unterschied zur handlungsbestimmenden Leidenschaft steht für diesen Zustand der von der Pädagogik geprägte Begriff »Pubertät« zur Verfügung oder dessen poetische, durch Wedekind geprägte Version »Frühlings Erwachen«. Beide Bezeichnungen für den jugendlichen Liebesmorgen sind um die Jahrhundertwende entstanden, als Freud, Krafft-Ebing, Ricord, Charcot die Sexualität von einer Sünde zum Forschungsgegenstand erhoben. Die Leidenschaft war vom Skandal zum wissenschaftlichen Problem geworden, und damit entstand eine andere Literatur der Jugendlichkeit, die die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zog und ihren Niederschlag in den Internatsromanen fand, in Musils »Törleß« etwa, der den groben Sadismus erotisch erregter Pennäler darstellt, oder in Günter Grass’ witzigen Unanständigkeiten in der Novelle »Katz und Maus«.
Den Autoren dieser Werke war, im Unterschied zu ihren schüchternen Vorgängern, durch die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas Pubertät bereits die Romantik abhanden gekommen, die früher solche Jugendspiele verklärte und die eben in Roman und Erzählung jene versteckten, aber so anrührenden Szenarien der Liebe vor dem Sündenfall hervorgebracht hat. Von »Daphnis und Chloe«, dem antiken Hirtenroman, bis zu Stifters »Bunten Steinen« hat sich für die ahnende und scheue Liebe ein Repertoire von Gesten entwickelt, das Furcht und Seligkeit dieses Zustands zu fassen sucht.
Nahezu zwei Jahrtausende liegen zwischen Longos’ Roman und den Erzählungen von Musil und Grass, und dennoch stehen sie sich nah. Sie gehören der Idylle an, jener Gattung, die den Menschen in einem der Natur nahen Zustand und in einer zeitlich wie räumlich geschlossenen, befriedeten Umgebung vorführt. Der Hirtenknabe und die Hirtin der Antike sind solche idyllischen Charaktere, was man von den Figuren der modernen Erzähler nicht behaupten kann – und doch: Sie sind deren letzte Version, denn sie führen die Zerstörung des Idylls vor. Die Figuren beider Werke befinden sich in eben dem Lebensalter wie Figuren dieser Gattung immer. Sie kennen die Normen der Gesellschaft nicht genau, und auch sie leben, wie die Bewohner der Idylle, für eine begrenzte Zeit in einem geschlossenen Revier, dem Internat. Dieses allerdings ist als Ort strengster Erziehung das Paradox der Idylle, ein idyllisches Gefängnis. Das Erwachen der Liebe, die hier, dem aufgeklärten Jahrhundert und seiner Wissenschaft entsprechend, als Sexualität zu bezeichnen ist, führt die von dieser Erfahrung überraschten Jugendlichen ebenso in Verwirrung wie das Hirtenpaar des Longos. Die weitgespannte Geschichte der sündelosen Liebe also führt aus dem bukolischen Milieu der Antike ins Internat der Moderne, aus dem unschuldigen Spiel der Naturkinder zur verstörten Psyche moderner Jugendlicher. Die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen vollzieht sich am Anfang ihrer literarischen Darstellung als tapsende Erfahrung, an ihrem Ende als Teil einer Erziehung, die sie stört und verstört, sie wird von der Wiese in eine geschlossene Anstalt verlegt, immer aber schildert sie eine Initiation.
Zwischen diesen Polen, Entstehung und Ende einer erotischen Gattung, sind in der Roman- und Erzählliteratur zahlreiche Szenen versteckt, die das in der Antike begründete Schema der Idylle nutzen und variieren. Es lohnt, mit Daphnis’ und Chloes Liebe beginnend, sich der Mittel zu erinnern, mit denen jene dem Leser so wohlgefälligen Einschübe, diese Paradiese im Roman, hergestellt werden.
Naivität ist der wesentliche Zug, den der Autor seinen Figuren verleiht, sobald er das Frühlingserlebnis der Liebe darstellt. In Erscheinung tritt die kindliche Unschuld gerade dadurch, daß die Sinne rege werden, was der Leser bemerkt, was Knabe und Mädchen selbst aber kaum wahrnehmen und gar nicht verstehen. Nachdem Chloe Daphnis, den Knaben, im Bade nackt gesehen hat, nachdem also das Kleid, Symbol der Sitte, abgelegt und der Mensch in seiner natürlichen Gestalt vor Chloes Blick erschienen ist, setzt für sie ein Zustand ein, der sie überrascht. Jede Begegnung versetzt von nun an das Paar in selig-unselige Verwirrung: »Als aber der Tag wieder heraufkam, litten sie wieder wie zuvor. Sie waren selig, wenn sie sich sahen, und trauerten, sooft sie voneinander gehen mußten. Sie litten und sehnten sich nach etwas, wußten aber nicht, wonach sie sich sehnten. Nur so viel wußten sie, daß für ihn der Kuß, für sie das Bad der Anfang des Unheils gewesen war.«
Zum Kuß war es zwischen den beiden Paaren, die Jean Paul im »Titan« zu einer der schönsten Szenen jugendlicher Liebesahnung zusammenführt, nicht gekommen, doch führt auch hier die Begegnung von Albano und Liane, von Rabette und Roquairol zu geheimer Verwirrung in den Gemütern aller vier Freunde. Der Autor situiert die Gruppe, dem Modell der Idylle gehorchend, »tief in den dreifachen Blüten der Jugend, der Natur und der Zukunft«, dort also, wo sie »den weitesten Himmel in sich trug, den die Menschenbrust umspannen kann«.
Im Jahrhundert der sexuellen Aufklärung ist es leicht zu erkennen, woher diese schöne Verwirrung rührt, aus der quasi-idyllischen Unschuld nämlich, in der die Erziehung damals den Zögling noch zu halten suchte. Man braucht dazu nicht aus Jean Pauls Erziehungsbuch »Levana«, seiner Antwort auf Rousseaus »Émile«, zu zitieren, um zu wissen, daß »Mädchen, wie Perlen und Pfauen« sind, und man sie »schätzt (…) nach keiner andern Farbe als der weißesten«. Verwirrung war das Resultat einer sexuellen Nicht-Erziehung, einer Erziehung zur Unwissenheit, die Mädchen vor allem, aber auch Jünglingen in jenen Zeiten angetan wurde. Die Jungfrau sei, so Jean Paul in der »Levana«, »ein von der Gegenwart eng umkettetes Gemüte«, womit er die strenge Erziehung zur sogenannten Unschuld meint, vor dem ein Jüngling »auf einmal Glück und Freiheit weit ausbreitet«. Der Geliebte überrasche nun als der, »der alle Träume verkörpert, die bisher die uneigennützige Seele in Sterne, in Frühlinge, in Freundinnen und kindliche Pflichten eingekleidet hatte«. Diese »kräftig und rein erzogene Jungfrau ist eine so poetische Blume der matten Welt«, daß sie gehütet werden muß.
Aber auch für den Jüngling setzt ein Zustand ein, der zum ersten Mal jenseits aller bürgerlichen Erziehung seine Entscheidung herausfordert. Für ihn ist die Liebe die erste Entdeckungsreise, die er unternimmt. Die Selbsterforschung des ahnungslosen Knaben, an deren Ende die Selbsterkenntnis als erotisches Subjekt steht, nimmt, wie jegliche Entdeckungsreise, den Umweg über viele Irrwege. Jean Paul weiß diese Antriebe, die Ziel und Zweck noch nicht gefunden haben, in Szenen eines Quidproquo zu fassen, wobei die Verwirrung der Herzen nicht mehr ausdrücklich eingestanden werden muß, sondern gestisch dargestellt und durch geradezu tänzerische Fehltritte der Paare angedeutet werden kann.
(…)
SINN UND FORM 2/2022, S. 238-247, hier S. 238-240
Janz, Marlies
Die Frau, bei der sämtliche Standpunkte verfehlt sind. Walter Serners »Tigerin« im Kontext der Moderne, S. 248
Schiffner, Sabine
Immer geben nur die Armen. Gedichte, S. 255
Kempker, Kerstin
Fußnote 8, S. 258
Prabala-Joslin, Avrina
Das Paradox der uneigentlichen Archive, S. 265
Feßmann, Meike
Zsófia Bán oder Die Nordwestpassage der Imagination, S. 269
Schmölders, Claudia
Wer war Carl Czerny? Nachrichten von Grete Wehmeyer, S. 273
Hambitzer, Ulrich M.
Die heilige Seuche. Meditationen zu einem Gedicht von Stefan George, S. 276
Oswald, Stephan
Das Grabmal als Merkzeichen. August von Goethes Tod in Rom, S. 278