
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-62-1
Heft 6/2021 enthält:
Wackwitz, Stephan
Mein Leben als Schwamm, S. 725
Es war im September 1979. Ich war siebenundzwanzig und wanderte an einem dunklen Herbstabend auf der Stuttgarter Schloßstraße in Richtung (...)
Wackwitz, Stephan
Mein Leben als Schwamm
Es war im September 1979. Ich war siebenundzwanzig und wanderte an einem dunklen Herbstabend auf der Stuttgarter Schloßstraße in Richtung Liederhalle. Erstes Herbstlaub fiel und verwehte. Gelbliches Laternenlicht warf filigran windbewegte Baumschatten von Robinien auf den grauen Bürgersteig. Eine beunruhigende Begegnung mit einem ehemaligen Internatskameraden lag hinter mir. Eine verwahrloste Wohnung in einem Hinterhof des Stuttgarter Westens, dämonisch inkohärentes Gerede, der Eindruck eines durch Drogen zerstörten Menschen. Der unvermeidliche Joint, an dem ich widerwillig partizipiert hatte. »Nach etwas bedrückt-reduzierter Zeit mit Absencen auf der Schloßstraße von einem Schritt auf den anderen voll drauf«, verzeichnet mein Tagebuch. »Ich wehre mich dagegen, schreckliche Angst, trockener Mund. Bekämpfe die Panik; ich will nicht abfahren (verrückt werden), ich will mich behalten. Ich will der bleiben, der ich bin, aber ich weiß plötzlich nicht mehr, wer das ist. Furchtbare Angst, den Verstand zu verlieren.«
Ich wußte es gleich. Es war mehr als eine haschischinduzierte Panikattacke. Was mich jetzt in einem Moment mutwillig herbeigeführter innerer Hilflosigkeit heimsuchte, war immer schon eine Möglichkeit und eigentlich auch immer schon dagewesen. Körperlich ähnelte der Zustand, der mich in den nun folgenden Wochen in immer tiefere Ratlosigkeit stürzte, einem Schwindel oder einer Übelkeit. Seine untrennbar mit diesen unangenehmen, aber immerhin bekannten Symptomen verbundene psychische Seite war aber noch viel unheimlicher: »Die Dinge, die man anschaut und erlebt, werden einem irgendwie fremd. Es gibt keine emotionale Verbundenheit mit ihnen, es scheint mir eine gewisse Unverständlichkeit und Absurdität an ihnen aufzufallen. Eine bisher unbekannte Lieblosigkeit meiner Umwelt mir gegenüber und eine Lieblosigkeit meiner selbst meiner Umwelt gegenüber tritt hervor. Die Gegenstände meiner Umwelt sind mir fremd geworden.« Auf halbem Weg zu meiner Wohnung flüchtete ich mich in ein Restaurant. Ich vermutete aufgrund meines Herzrasens, meiner Schweißausbrüche und meiner allgemeinen Geschwächtheit einen Unterzuckerungszustand. Auch konnte ich vor Schwindel fast nicht mehr gehen. »In der Pizzeria am Schloßgarten bestelle ich eine Torte, zu der ich einen Kaffee mit zahllosen Löffeln Zucker trinke. Ganz schlecht drauf, kann kaum mehr sehen. Angst, ohnmächtig zu werden. Dazu die wellenartig anflutenden irrationalen Angstschübe. Dissoziationsgefühle. Ich bin nicht mehr, der ich bin. Der realen Situation ganz unangemessene Gefühle: Angst vor einem Löffel, so absurd es klingt. Alltagsdinge, banale Gesprächssituationen nehmen eine unfaßbare Gräßlichkeit an, wie wenn man in einem Alptraum über ein einzelnes Ding oder Wort oder einen Satz in Panik gerät, weil er ein namenloses Grauen angenommen hat.«
Und es ging wochenlang nicht vorbei. Auch nach dem Abklingen der eigentlichen körperlichen Intoxikation passierte es mir in den folgenden Tagen immer wieder ohne Vorwarnung oder erkennbaren Grund, daß die Welt sich in einen durch unüberbrückbare innere Distanzen von mir getrennten Ort verwandelte. So nahm zum Beispiel das Gemälde eines in die braune Dämmerung des offenen Meeres hinausfahrenden Segelschiffs von Caspar David Friedrich, das ich für meine Dissertation beschreiben wollte, jenes formlose Grauen an. Das Bild drohte plötzlich, mich mitzunehmen auf ein nächtliches inneres Meer, aus dessen Weiten ich nie mehr zurückkehren würde. Mein Selbst würde für den Rest meines Lebens in dieser sich verdichtenden Dunkelheit treiben und irgendwann untergehen, ohne daß mich jemand noch einmal zu Gesicht bekäme. Das Kino, in dem ich mir einige Tage später den Film »Apocalypse Now« ansah, mußte ich vorzeitig verlassen, zitternd und schweißüberströmt. Der Zustand hatte mich übermannt, als in Coppolas Film zu erotischer Truppenbetreuung engagierte »Playboy Bunnies« unter den Klängen lauter Rockmusik, umstrahlt von grellem Scheinwerferlicht, auf eine Bühne im Dschungel stürmten, an deren Rand sich Hunderte sexuell ausgehungerte GIs drängten.
Dann begannen die Ausnahmezustände sich täglich zu wiederholen. Nach jedem Rückfall verringerte sich das natürliche und unhinterfragte Gefühl für die Welt. Es war sogar noch schlimmer: »Mein Selbst« kam mir stückweise abhanden. Ich ertappte mich mittlerweile dabei, daß ich möglichst vermied, meine Wohnung zu verlassen. Es war unübersehbar geworden, daß mit mir etwas Grundlegendes nicht in Ordnung war. Ich hatte gewissermaßen ein Rendezvous mit der Natur des menschlichen Selbstgefühls. Das »Selbst«, lernte ich damals, ist ein kleiner, unscheinbarer Bestandteil unserer inneren Verfassung. Wenn er ein paar Wochen dauerhaft fehlt, hat man das Gefühl, sich am liebsten aufhängen zu wollen. Man hat das Gefühl, verrückt zu werden. Oder es längst zu sein.
Was war mit mir los? Vierzig Jahre später versuche ich mir einen Reim auf meine damaligen Angstzustände zu machen. Überraschend schnell führt die psychoanalytische Tragikomödie eines nicht besonders drogenfesten Jungkommunisten aus bürgerlichem Haus auf gesellschaftspsychologisch Grundsätzliches. Im zeitlichen Abstand wird an meinen Verwirrungen zum Beispiel deutlich, daß die politisch-moralische Selbstsicherheit der Generation, die sich damals in ein neues Jahrzehnt hineinbewegte, in Wirklichkeit eine ziemlich instabile Sache war. Jenes Selbst, über das ich nach meinem nächtlichen Gang auf der Stuttgarter Schloßstraße im September 1979 ein paar Wochen lang nicht mehr uneingeschränkt verfügte, ist in der riskanten Atmosphäre gesellschaftlicher Umbruchsituationen offenbar besonders störanfällig. Und um 1980 bewegten sich die Kontinentalplatten unter der Oberfläche der bundesrepublikanischen Wirklichkeit. Es rumpelte und grollte in der Tiefe. Der Erdstoß aus den sechziger Jahren war verebbt. Eine Dekade zuvor, um 1970 herum, hatten unsere Autoritäts-, Lehr-, Aufsichts- und Respektspersonen unsere Vorstöße ins gesellschaftlich Ungedeckte und Radikale noch mit Sympathie begleitet, sogar ermutigt. Unvergeßlich ist mir zum Beispiel die Bemerkung eines der beiden Jungtheologen, die uns im »Evangelisch-Theologischen Seminar« nicht nur in den »Hörsälen« und »Stuben« beaufsichtigten, sondern im Klosterrefektorium auch ihre Mahlzeiten mit uns einnahmen und Apartments im Schlafsaaltrakt bewohnten – sie hießen seit dem 16. Jahrhundert »Repetenten«. Er wolle, gab dieser ernste junge Mann vor den Osterferien 1969 beiläufig zu Protokoll, in den beiden nächsten Wochen »einmal wieder nichts anderes tun, als Ernst Blochs Prinzip Hoffnung ganz durchzuarbeiten«. Seine Ankündigung beeindruckte mich tief. Es war ein Akt intellektueller Selbstterrorisierung, der ihm durchaus zuzutrauen war. Besonders die Vorstellung, daß unser Repetent sich jener Lektüre offenbar schon einmal unterzogen hatte und nicht ausschloß, dies in einer unbestimmt hinter den bevorstehenden Osterferien liegenden Zukunft ein weiteres Mal zu tun, die Vorstellung also, daß man Blochs Buch offenbar immer wieder durcharbeiten solle, war das Eindrucksvolle und eigentlich Haarsträubende. Die Erwachsenen schienen plötzlich ganz auf demselben trip zu sein wie wir; sie waren uns sogar voraus, wenn es um seine intellektuelle Facette ging. Ich erinnere mich an durch Jungmannschwärmerei überglänzte Abende mit einer jungen Kollegin meines Vaters, die mir Che Guevaras »Bolivianisches Tagebuch« ausgeliehen hatte und während eines Ferienaufenthalts im heimischen Blaubeuren die Verlautbarungen des südamerikanischen Revolutionsromantikers bei Bier und Zigaretten bis spät in die Nacht mit mir diskutierte. Der Mond erotischer und politischer Illusionen stand über dem Rand der Schwäbischen Alb und die Sommerbäume des Jahres 1969 rauschten, als flöge meine Seele durch die stillen Lande nach Haus.
Ein Jahrzehnt später jedoch, unter den Nachwirkungen des RAF-Schocks von 1977, sah sich unser aufrührerisches Selbstgefühl zunehmend alleingelassen von den großen Brüdern und Schwestern, an denen wir uns so lange orientiert hatten. Die waren jetzt Gymnasiallehrer und Professoren. Sie bekamen Kinder. Sie schlossen Bausparverträge ab. Sie wiegten plötzlich bedenkenträgerisch den Kopf, wenn ich von der antimonopolistischen Revolution schwadronierte. Ich fühlte mich 1980 – seit sechs Jahren Mitglied des MSB Spartakus, der Studentenorganisation der DKP – wie das Witzmännchen in jenem berühmten Comic, das von selbstbewußtem Überschwang enthusiasmiert über einen Abgrund hinauswandert, dann gleichsam erwachend nach unten sieht – und sich plötzlich im freien Fall befindet. Es kam zu einer Art Renaissance der Wirklichkeit. Der väterlich-herrische Helmut Schmidt saß schon ein paar Jahre als Kanzler im Sattel, der utopisch-mütterliche Willy Brandt war längst zurückgetreten. Und rechts griff der CDU-Kandidat Helmut Kohl beherzt an, allgemein lächerlich gemacht als »Birne«. »Birne« rief eine »geistig-moralische Wende« aus, die viel verspottet wurde, aber auch als unbestimmte Drohung im politischen Raum stand. »Berufsverbote« wurden ausgesprochen, die »Nachrüstung« beschlossen und gegen erstaunlich massive Demonstrationen unbeirrt durchgesetzt. Nachdem mein pseudorevolutionärer Drang sich ein Jahrzehnt lang von allgemeiner Sympathie bürgerlicher Bezugspersonen und Vorbilder getragen gefühlt hatte, stellte sich neuerdings das mulmige Gefühl ein, daß es von ihnen so radikal dann eben doch nicht gemeint gewesen war. Der illusionäre Überschwang linker Selbstfeier geriet nach einem euphorisch bewegten Jahrzehnt ins Stolpern.
Das Selbstgefühl – das haben meine Forschungen ein halbes Jahrhundert nach dem Selbstverlust von 1979 ergeben – ist überhaupt eine notorisch unzuverlässige Sache. Je genauer man sie betrachtet, desto geheimnisvoller schaut sie zurück. »Selbst« ist ein viel weniger erforschter Protagonist des menschlichen Seelentheaters als die von Sigmund Freud erfundenen und längst in die intellektuelle Folklore eingegangenen Helden oder Schurken namens »Es«, »Ich« und »Über-Ich«. Man könnte die innere Instanz »Selbst« im Gegensatz zu dieser bekannten freudianischen Dreifaltigkeit einerseits mit der Bühne vergleichen, auf der das Personal unserer inneren Commedia dell’arte seine Kapriolen schlägt und seine Schauerdramen aufführt. Und das von dem amerikanischen Narzißmustheoretiker Heinz Kohut als Therapieziel postulierte »funktionierende Selbst« könnte zugleich mit einem klug agierenden Theaterintendanten verglichen werden, der jene drei Charakterchargen zu motivieren, zu besänftigen, zu zügeln oder an der langen Leine zu führen versteht. »Ich« ist der wichtigste Ansprechpartner und Verbündete des Selbst in der Künstlergarderobe. Denn mit »Ich« läßt sich, manchmal jedenfalls, reden. Während »Es« sich wechselweise divenhaft und kindisch aufführt. Und »Über-Ich« einem starren alten Charakterschauspieler gleicht, dem seit ewigen Zeiten schon unkündbaren »one-trickpony« eines Stadttheaters in der Provinz. Zu irgendeiner Form läuft der eitle alte Herr nur noch auf, wenn man ihn als Musikus Miller oder Wotan besetzt – oder am besten gleich als Gottvater. Mein revolutionäres Selbst der siebziger Jahre hatte funktioniert, weil es sich im Einklang mit seiner Zeit wußte. Gottvater schien linksradikal geworden zu sein – auch Marx, Engels und Fidel Castro hatten schließlich lange Bärte. Mein »Ich« folgte dem revolutionären »Über-Ich« meiner Generation zuerst ungläubig staunend, dann immer feuriger auf seinen neuen Wegen. »Es« hatte derweil ganz eigene Vorstellungen, trieb sich tief in den fünfziger Jahren herum und konnte mit meinen Genossinnen der siebziger Jahre wenig anfangen. Und »Selbst« – der Impresario, der ein Jahrzehnt lang vollauf damit beschäftigt gewesen war, sein Theater in einen revolutionären Zirkusbetrieb umzubauen – fühlte sich völlig überfordert, als statt des marxistischen »Grand Guignol« jetzt plötzlich eine neue Bürgerlichkeit auf dem Programm stehen sollte.
Das alles ließ um 1980 einen sich immer weiter ausdehnenden Wirtschaftszweig in Mode kommen: die Psychotherapie. Vielleicht folgerichtigerweise betrat sie damals ebenfalls revolutionär die Bühne, als Lifestyle und in Form miteinander verfeindeter Sekten. Sie empfahlen die »Urschrei«-Therapie oder luden in den »Ashram« des »Bhagwan« Shree Rajneesh in Poona ein. Sie versprachen psychische Wiedergeburt durch »Rebirthing« oder das Übermenschentum als »Operierender Thetan« mit Hilfe von »Scientology«. Gurus und ihre Heilslehren gerieten allgemein in Umlauf. Seriöse Psychotherapie hatte es natürlich schon vor den neuerdings boomenden Wahnsinns- oder Beschleunigungsformen gegeben. An einem Wintertag in den späten Siebzigern hatte zum Beispiel mein bester Freund, ein ehemaliger Mitseminarist, Besuch von seinem Bruder, der in den USA eine Ausbildung zum »Gestalttherapeuten« absolvierte. Eine Ausbildung wozu? Dringlich befragten wir ihn darüber, was das denn eigentlich sei. Nach Gestalttherapeutenart bot er kurzerhand an, uns einfach mal eine Demonstration zu geben. Im WG-Zimmer meines Freundes stellte er mit Hilfe zweier Stühle die von den Psychoanalyse-mavericks Fritz und Laura Perls, Ralph Hefferline und Paul Goodman 1951 erfundene therapeutische Standardsituation her. Der Bruder aus Amerika entführte uns nacheinander binnen weniger Minuten in eine Arena von Gefühlen, Selbstbildern und Introjekten, die sich bisher nur am Rand unseres Bewußtseinsfelds herumgetrieben hatten, jetzt aber anschaulich Gestalt gewannen. Sie saßen als phantasierte Figuren vor uns auf dem leeren Stuhl. Dann wieder wurden sie von uns selbst verkörpert und während alldem gleichsam erkannt: »Ach, du bist das!« Es war die erste Berührung mit einer neuen und aufregenden Dimension des Selbsterlebens. Sie führte uns hinaus über den leibfeindlichen und gefühlsfernen protestantischen Bannkreis moralischen und pseudopolitischen Intellektualisierens, in dem das Evangelisch-Theologische Seminar uns erzogen hatte. Aus der Papierwelt ins Leben. Es war, als sei uns unsere innere Wirklichkeit auf einmal zum Greifen nahe. Heute noch ist mir gegenwärtig, wie real die verschneite Stadtlandschaft vor dem Fenster aussah, als ich – gleichsam erwacht und noch halb betäubt eine Zigarette rauchend – wieder aus dem Theater meiner Introjekte in die Wirklichkeit zurückfand. Die schneebedeckten Autos und Straßenlaternen da draußen, die sich fast unmerklich bewegenden Zweige der Bäume, die langsam fallende Dämmerung, das Gesicht meiner hinter mir stehenden Freundin, als ich mich wieder ins Zimmer hinein umdrehte. Alles hatte neue Konturen gewonnen. Als sei es jetzt erst in die volle Sichtbarkeit getreten. Und ich in mich selbst zurückgekehrt.
»Ich will, daß es draußen schneit und ich nur deine Stimme höre«, lautete die zu diesem Moment gehörende Zeile eines nie geschriebenen Gedichts. Für eine Zigarettenlänge war ich »Vollbürger der Realität« im Foyer des Hotels »Wirklichkeit « gewesen. Dieses Realitätsbewußtsein war ein neues, tatsächlich unbekanntes Gefühl. Es glich von allem, was ich kannte, am meisten den Minuten nach dem Orgasmus. Dann verschwand der Ausnahmezustand wieder in den Wellen des Alltags. Aber mein Freund und ich hatten an jenem Stuttgarter Winternachmittag ein für alle Mal verstanden, daß Psychotherapie zwar ins Reich der Unvernunft führt, aber paradoxerweise trotzdem eine vernünftige Sache ist und in diesem Spannungsfeld zwischen Vernunft und Unvernunft reale Wirkungen zeitigt. Die schon verwendete Theatermetapher führt bei der Beschreibung dieser eigentlich nicht beschreibbaren Wirksamkeit am weitesten. Psychotherapie berät und unterstützt das Selbst ihres Klienten bei dem Vorhaben, seine Intendantenfunktion zu erlernen oder wiederzugewinnen. Denn auf der Bühne der Gesellschaft und der eigenen Existenz, mit jenem dauernd in sich zerstrittenen und wenig einsichtigen Personal muß unser Selbst, ob es will oder nicht, eine Vorstellung zustande bringen, die es der Welt irgendwie präsentieren kann. Die Qualität dieser Aufführungen ist naturgemäß sehr unterschiedlich. Die Bandbreite reicht vom Schmierentheater bis zu großem Kino. Im einigermaßen gelungenen Fall aber bringt der Intendant »Selbst« ein theatrales Arbeitsumfeld zustande, das Heinz Kohut in seinem Buch »Die Heilung des Selbst« als einen »psychologischen Sektor« beschreibt, »in dem Strebungen, Fertigkeiten und Ideale ein ungebrochenes Kontinuum bilden, das von Freude erfüllte Tätigkeit ermöglicht«. Was jenes Selbst aber eigentlich ausmacht, das da im Interesse einer gelungenen Lebensaufführung mit Es, Ich und Über-Ich verhandelt, weiß man im Grunde nicht. Das Selbstgefühl ist die geheimnisvollste Instanz des inneren Apparats.
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SINN UND FORM 6/2021, S. 725-737, hier S. 725-730
Fiedorczuk, Julia
Psalmen. Gedichte, S. 738
Utlu, Deniz
Die Rückseite der Worte, S. 742
Dunajcsik, Mátyás
Verlorene Gedichte, S. 754
Drewitz, Ingeborg
»Die Schleimschrift des Schicksals ließ keine Kalligraphie zu«. Briefwechsel mit Hans Sahl 1976 / 77. Mit einer Vorbemerkung von Till Greite, S. 758
Krüger, Thomas
Anthropozän. Gedichte, S. 768
Stephan, Susanne
Theodor Storm und der Stoff aus dem Moor, S. 770
Locke, John
Weihnachten in Deutschland (1665). Mit einer Vorbemerkung von Jürgen Overhoff, S. 777
Vorbemerkung
Der englische Philosoph John Locke, der sein schriftstellerisches Hauptwerk innerhalb weniger Jahre an der Schwelle zum 18. (...)
Locke, John
Weihnachten in Deutschland
(1665)
Vorbemerkung
Der englische Philosoph John Locke, der sein schriftstellerisches Hauptwerk innerhalb weniger Jahre an der Schwelle zum 18. Jahrhundert veröffentlichte, war einer der wichtigsten Vordenker und Stichwortgeber der Aufklärung. Deren Zielsetzungen und politische Diskurse prägte er so nachhaltig wie kaum jemand sonst. Ausgangs- und Bezugspunkt seiner gesellschaftsverändernden Überlegungen war die »Glorreiche Revolution« von 1688 / 89, die er als Gefolgsmann des neuen Monarchen William III. nach Kräften unterstützte. Diese Befreiung von der absolutistischen Regierung des exilierten Stuart-Königs James II., die zu einem gewaltigen Modernisierungsschub führte, erhob Locke auch für andere Nationen zum Vorbild. Stets kreisten seine Schriften um die Frage, was einen liberalen Staat in seinem Innersten auszeichnet. In seinem »Sendschreiben von der Toleranz« (1689) forderte er radikale Glaubens- und Gewissensfreiheit, die er in den Mittelpunkt des Projekts der Aufklärung stellte; sein »Versuch über den menschlichen Verstand« (1690) avancierte zum Grundbuch einer sensualistisch-empirischen Philosophie, welche die Körperlichkeit und Sinnlichkeit des Menschen als unverzichtbare Voraussetzung für alles Nachdenken über seine intellektuellen Möglichkeiten und seelischen Bedürfnisse beschrieb; in den beiden »Abhandlungen über die Regierung« (1690) propagierte er den repräsentativen Parlamentarismus, den er als Lebenselixier eines freiheitlichen Gemeinwesens deutete; mit seinen »Reflexionen über die Folgen der Absenkung des Zinssatzes und die Zunahme des Geldwertes« (1691) verteidigte er die Regeln der freien Marktwirtschaft; und in seinen »Gedanken über Erziehung« (1693) formulierte er die pädagogischen Prinzipien des spielerischen Lernens und des mündigen Gebrauchs des eigenen Verstandes.
Nicht ohne Grund feierte der erste deutsche Pädagogikprofessor Ernst Christian Trapp aus Halle den Universalgelehrten Locke noch 1782 als »Urquelle« des modernen Denkens: »Man liest nichts neues mehr, wann man Locke gelesen hat. Entwickelter findet man wohl manche seiner Gedanken bei denen, die nach ihm gekommen sind: aber was Neues, von Locken nicht gedachtes, schwerlich. Locke, welch ein Mann!« Auch die Feministin Mary Wollstonecraft beschrieb ihren Landsmann Locke in ihrer 1792 erschienenen Schrift »Verteidigung der Rechte der Frau« als Vorkämpfer eines auf umfassende Gleichberechtigung zielenden Denkens, das Mädchen und Frauen ganz neue Chancen auf Entfaltung ihrer Talente eröffnete. Schließlich ist das in der amerikanischen Unabhängigkeitsverfassung von 1776 formulierte Recht auf ein ungehindertes »Streben nach Glück«, das am Anfang des heutigen Gesellschafts- und Staatsverständnisses steht, ohne Lockes literarische Vorarbeit nicht zu denken. Gelesen und rezipiert wurde er gleichermaßen intensiv in Europa und Nordamerika, zumal die meisten seiner Schriften schon frühzeitig in alle Weltsprachen übersetzt wurden. Als gebildeter Mensch kam man im Zeitalter der Aufklärung an Locke kaum vorbei, man mußte sich mit ihm und seinen Theorien auseinandersetzen und tat dies meist mit Gewinn. Die Zustimmung der aufklärerischen Avantgarde war dem Engländer dabei gewiß. Sogar der sonst so zivilisationskritisch auftretende Jean-Jacques Rousseau ließ in seinem Erziehungsroman »Emile« (1762) auf den kühnen Wegbereiter der modernen Gesellschaft nichts kommen: Als »exakter Denker« war der »weise Locke« für ihn unübertroffen.
In deutscher Übersetzung wurde Locke bereits in der ersten Dekade des 18. Jahrhunderts im gesamten Heiligen Römischen Reich gelesen, wobei es vor allem seine Reflexionen über eine zeitgemäße Erziehung waren, die durch Vermittlung des Hamburger Frühaufklärers Hermann Samuel Reimarus und dessen Schülers Johann Bernhard Basedow flächendeckende Verbreitung fanden. 1708 veröffentlichte der Leipziger Verlag von Thomas Fritsch »Herrn Johann Locks Unterricht von Erziehung der Kinder«. Dieser Ausgabe folgten dann viele weitere Übersetzungen des populären Werkes. Erst danach erschienen auch Lockes Toleranzschrift (1710) und sein Essay über den menschlichen Verstand (1757) in deutscher Sprache. Was das hiesige Lesepublikum an den Arbeiten des Autors so sehr schätzte, war neben dem Inhalt die Sprache, die an lakonischer Klarheit kaum zu überbieten war. Die logische Ordnung und glückliche Reihung seiner Argumente, sein immer faßlicher Stil und nicht zuletzt auch der besonnene Vortragston seiner Traktate, denen alles Gestelzte oder Gekünstelte vollkommen abging, luden zum ruhigen Nachdenken ein. Locke war das Musterbeispiel des hellen Denkens, das dem Geist aufhalf und zum guten Gebrauch der Vernunft erzog.
Verborgen blieb Lockes Anhängern allerdings eine Seite seines literarischen Schaffens, die der Philosoph der Öffentlichkeit bis zu seinem Tod nicht darbieten wollte: seine als junger Mann verfaßten Reisebriefe, in denen er sich – im Unterschied zu den Abhandlungen und Traktaten – als hinreißend talentierter Plauderer präsentierte, übrigens auch als sarkastischer Beobachter fremder Sitten und Gebräuche, die er mit viel Witz und im Gestus der grotesken Übertreibung zu seinem eigenen Vergnügen skizzierte. Da er sie wohl nur als Gelegenheitsarbeiten betrachtete, als bloße Kapricen, hielt er sie der späteren Veröffentlichung nicht für wert. Deshalb ließ ihn der Leipziger Dichter und Professor Christian Fürchtegott Gellert, der Locke in seinen 1770 erschienenen »Moralischen Vorlesungen « als prototypischen Aufklärer und Pädagogen unentwegt lobte, in seiner »Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen« (1751) unerwähnt, obwohl er den leichten und ironischen Briefstil der besten Engländer und Franzosen auch den Deutschen zur Nachahmung empfahl und dabei vorzugsweise auf Alexander Pope, Voltaire und Rousseau verwies. Seinen handschriftlichen Nachlaß vermachte Locke, der unverheiratet geblieben war, einem Sohn seiner Cousine Anne Locke, Sir Peter King, dessen gleichnamiger Enkel, Lord Peter King, einen Teil des in Abschrift erhaltenen Briefwechsels 1829 veröffentlichte. Erst 1947 gingen die Manuskripte aus den Händen der Familie King in den Besitz der Oxforder Bodleian Library über. Zwischen 1976 und 1989 wurde Lockes Briefwechsel von Esmond Samuel de Beer, einem neuseeländischen Publizisten und Philanthropen, der Zugang zum Nachlaß hatte, mit dem Anspruch auf lückenlose Vollständigkeit veröffentlicht – in einer historisch-kritischen Ausgabe der Clarendon Press. Eine deutsche Übersetzung der Briefe wurde nicht unternommen, nicht mal in einer kleinen Auswahl.
Tatsächlich gehören die Briefe, die Locke im Dezember 1665 im niederrheinischen Kleve verfaßte, zu den stilistisch brillantesten und kulturhistorisch interessantesten Dokumenten seiner Korrespondenz. Es handelte sich für den dreiunddreißigjährigen Locke, dessen Leben bis zu diesem Zeitpunkt in überschaubaren Kreisen verlaufen war, um die erste Auslandsreise. Der Sohn eines Gerichtsbeamten aus Somerset war als begabtes Kind auf die renommierte Westminster School in London gegeben worden, erlangte dort ein Stipendium und studierte am Christ Church College in Oxford Philologie, Philosophie und Medizin. Zwar erlangte er die Approbation als Arzt, doch betätigte er sich nach Abschluß seiner Studien zunächst als Dozent für Griechisch und Rhetorik. Ab 1663 hielt er auch Vorlesungen über Ethik. Die Oxforder Gelehrtenwelt war sein Bezugsrahmen, was in den Briefen aus Kleve wiederholt zum Ausdruck kommt, etwa wenn er einen dicken und gutmütigen Franziskanerprior, mit dem er tafelt und höfliche Konversation betreibt, als einen Mann beschreibt, der »dem Rektor eines College« jedenfalls »nicht unähnlich« sei. Noch war Locke – der erst 1667 in den Dienst der hochrangigen Adelsfamilie des Earl of Shaftesbury wechselte und zwischen 1683 und 1689 in Holland lebte – nicht jener weltläufige Gentleman, der im Zuge der »Glorreichen Revolution« zu einem der herausragenden Schriftsteller seines Landes werden sollte.
Locke verließ die Universitätsstadt, um den englischen Gesandten Sir Walter Vane zu Verhandlungen mit dem brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm nach Kleve zu begleiten. »Am Montag, den 13. November 1665, bestiegen wir in Oxford die Kutsche nach Deutschland«, notierte er am Tag der Abreise in einem Erinnerungsbuch, in dem er seine Reiseerlebnisse in knappen Notizen festhielt. Sir Walter Vane, dem Locke Schreibdienste zu leisten hatte, wurde nach Deutschland beordert, um im Krieg gegen die Niederlande, den der englische Monarch Charles II. bereits einige Monate zuvor im März erklärte hatte, einen neuen Bündnispartner zu gewinnen. Den Fürstbischof von Münster, Christoph Bernhard von Galen, hatten die Engländer schon als Alliierten auf ihre Seite ziehen können. Nun ging es darum, auch den Großen Kurfürsten, den Herrscher Brandenburgs, der als solcher auch Herzog von Kleve war, der Koalition gegen Holland zuzuführen. Die deutschniederländische Grenzstadt Kleve war im 17. Jahrhundert neben Berlin und Königsberg die dritte brandenburgische Residenz. Friedrich Wilhelm, der großartige Parks und Gärten anlegte, hielt sich dort besonders gern auf. Es ist heute nicht mehr zu ermitteln, warum ausgerechnet Locke, der in Auslandsangelegenheiten völlig unerfahrene Dozent für Moralphilosophie, ausgewählt wurde, den englischen Chefunterhändler nach Deutschland zu begleiten. Vielleicht hatte ihn der König selbst dazu ausgesucht, als er sich im Frühjahr auf der Flucht vor der Pest – die Daniel Defoe in seinem 1722 veröffentlichten »Journal of the Plague Year« später so eindrucksvoll aus der historischen Rückschau beschrieb – von London aus nach Oxford aufmachte, wo er im Christ Church College mit seinem Hof Quartier nahm. Dort könnte er Locke begegnet sein. Dieser wiederum erblickte in der diplomatischen Mission, zu der er im Auftrag des Königs eingeladen wurde, eine willkommene Gelegenheit, seinen Horizont zu erweitern. Das politische Ziel der Reise wurde zwar nicht erreicht, da die englische Regierung nach langwierigen Verhandlungen nicht bereit war, dem Kurfürsten die für seine Unterstützung verlangten hohen Subsidien zu gewähren, weshalb er letztlich den zahlungswilligeren Holländern zuneigte. Doch Locke verbrachte bis zum Abbruch der Mission im Februar 1666 immerhin mehr als zwei Monate im winterlichen Kleve, wo er auch das Weihnachtsfest feierte.
Die Briefe aus Kleve waren unterschiedlicher Natur. In der Hauptsache fertigte er auf Vanes Geheiß die offiziellen Schrei ben an die englische Regierung an. In diesen Berichten, in denen vom Fortgang des Krieges und den Verhandlungen mit dem Kurfürsten die Rede ist, agiert Locke ganz als Sekretär seines Auftraggebers. Daneben haben sich aber noch ein Dutzend privater Briefe erhalten. Auch in einigen von ihnen schildert er die Lage vor Ort aus Diplomatensicht. Diese Schreiben sind zumeist an William Godolphin gerichtet, den Sekretär des Lord Arlington, einen Mann von beträchtlichem Einfluß beim König. Hier erlaubt sich Locke in der Deutung der politischen Geschehnisse mehr Freiheiten als in den offiziellen Schrei ben, wobei er im wesentlichen Vanes Anschauungen teilt. Vier Briefe schrieb er zwischen Dezember 1665 und Januar 1666 dann noch an einen seiner besten Freunde, John Strachey. In ihnen kommen zuweilen zwar auch ganz kurz die neuesten Kriegshandlungen zwischen den Niederlanden und dem Hochstift Münster zur Sprache, doch läßt Locke hier vor allem seiner Erzählkunst in der Beschreibung von Land und Leuten freien Lauf. Zwei dieser Briefe schildern in einem leicht dahinplaudernden, immer amüsanten und in manchen Passagen auch hochkomischen Ton die diversen Weihnachtsbräuche in Kleve und gehören zum Witzigsten, was Locke der Nachwelt hinterlassen hat. Vor allem seine Darstellung des Festmahls beim brandenburgischen Kurfürsten, zu dem er eingeladen wird, erinnert in ihrer Drastik an die üppig gedeckten Tische, die Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen in seinem Schelmenroman »Der abenteuerliche Simplicissimus« (1668) beschreibt. Über die kalte Jahreszeit sagt dessen närrisch-naiver Held Simplicius: »da fängt bei uns Teutschen das Fressen und Saufen an«. Auch Locke staunt darüber, »daß die fröhlichen Deutschen selber so mannhaft tafelten«, als ginge es ums Überleben, während er selber eher kleinere Portionen bevorzugt. Die Sottisen und Spötteleien, die sich in Lockes Ausmalung der Kochkünste der Deutschen finden, brauchen den Vergleich zu ähnlichen Schilderungen des großen Satirikers Charles-Louis de Montesquieu, der auf seiner Europareise 1728 und 1729 ebenfalls das Herzogtum Kleve bereiste und den Menschen dort beim Speisen zuschaute, nicht zu scheuen.
Als Verfasser von Briefen orientierte sich Locke übrigens schon früh an einem bedeutenden französischen Vorbild. In einem im August 1659 verfaßten Schrei ben an Godolphin bekannte er einmal, daß er gerne über das Genie »von Balzac« verfügen oder zumindest dessen einschlägige Publikationen zur Hand haben würde, um selbst möglichst gut schreiben zu können. Damit spielte er auf Jean-Louis Guez, sieur de Balzac (1597–1654) an, dessen Briefe im 17. Jahrhundert in ganz Europa als modellhaft und nachahmenswert gepriesen wurden. Guez de Balzacs berühmter Briefsteller »Lettres« erschien erstmals 1624 (1636 dann in einer erweiterten Fassung als »Recueil de nouvelles lettres«), eine englische Übersetzung wurde 1634 veröffentlicht. Der Franzose empfahl seinen Lesern, Briefe stets in einer zwanglosen und klaren Sprache zu verfassen, die auch ungebildete Frauen und Kinder verstehen konnten. Locke hielt sich daran und schuf eine englische Prosa, wie man sie erst in den satirischen und humoristischen Stücken eines Jonathan Swift oder in der Reiseliteratur eines Joseph Addison wiederfindet. Dennoch fühlte sich Locke nicht bemüßigt, seine Briefe zu veröffentlichen. Es ist nicht einmal sicher, ob er sie an Strachey abschickte. Die Abschriften (möglicherweise sind es auch nur Entwürfe) im Nachlaß der Oxforder Bodleian Library geben darüber keine Auskunft. Vielleicht wollte er sie wirklich als alternatives Reisejournal bis zu seiner Rückkehr aufbewahren, um dann, wie er schrieb, mit Strachey am Kaminfeuer »darüber (zu) lachen, denn es wird mir vielleicht (…) Sachen in Erinnerung rufen«.
Trotz der humoristischen Tonlage enthalten die Briefe auch ernsthafte Reflexionen, die
Locke zum Nachdenken über Fragen der Religion und Gewissensfreiheit anregten. Denn in Kleve fand er, der selbst ein presbyterianischer Calvinist war, eine Stadt vor, in der sich Religionen und Konfessionen jener friedlichen Eintracht befleißigten, die er in seinem Sendschreiben über die Toleranz später überall verwirklicht sehen wollte. Brandenburg war ein Staat, der seinen Untertanen und Bürgern im 17. Jahrhundert bereits weitreichende religiöse Freiheiten gestattete. Die regierende Dynastie der Hohenzollern war calvinistischen Glaubens, während die meisten Brandenburger der lutherischen Konfession anhingen. Doch gab es dort, wie Locke hervorhob, auch Katholiken – die auf ihn einen überaus freundlichen Eindruck machten – sowie »Juden, Wiedertäufer und Quäker«. Besonders beeindruckte Locke, daß gerade die Quäker, die zu dieser Zeit in England erbarmungslos unterdrückt und verfolgt wurden, trotz eines auch in Brandenburg ergangenen Verbots unbehelligt leben konnten und sogar reich wurden: »sie achten des Verbots ihrer Versammlungen durch den Kurfürsten nicht«. Es waren dies dieselben standhaften Quäker, die dann auch William Penn auf seiner Missionsreise im September 1677 in der Umgebung von Duisburg und Düsseldorf antraf.
Jürgen Overhoff
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SINN UND FORM 6/2021, S. 777-790, hier S. 777-781
Spyra, Michael
Dahrenstedter Dramen. Gedichte, S. 791
Haring, Roswitha
Dreh dich nicht um, S. 795
Ulrich, Matthias
Die Professorin, S. 804
Maaß, Ekkehard
»Stoppt den tödlichen Text!« Über Giwi Margwelaschwili, S. 808
Margwelaschwili, Giwi
Der Polyp Polymat, S. 814
Buch, Hans Christoph
Vorgebirge der Nasen. Eine Abschweifung, S. 830
Rebing, Günter
»Aber so arbeitet nun einmal das Genie«. Wie der Ödipuskomplex erfunden wurde, S. 837
Berends, Wolfgang
Erinnerung an Ursula Haeusgen, S. 844
Götting, Michael
Das Archiv der Wörtlichnehmer, S. 845
Beck, Herta
Besuch bei Erich Fried, S. 848
»Wenn du schon nach London fährst, besuch Erich Fried. Gewinne ihn für unseren Beirat.« Mario gab mir die Adresse. 24, Dartmore Road.
Ich (...)
Beck, Herta
Besuch bei Erich Fried
»Wenn du schon nach London fährst, besuch Erich Fried. Gewinne ihn für unseren Beirat.« Mario gab mir die Adresse. 24, Dartmore Road.
Ich wollte in den Semesterferien nach London fahren und dort die Hausbesetzerszene kennenlernen. Wir hatten in Heidelberg mal eine Villa besetzt, die Frauengruppe, es sollte ein autonomes Frauenzentrum werden, statt Abriß. Ein Chaos, das nach wenigen Tagen mit der Räumung endete. Das ist nun fast ein halbes Jahrhundert her.
Fried gehörte zu einer Gruppe bekannter Linker, deren Namen man oft unter Resolutionen und Aufrufen las, wie Drewitz, Gollwitzer, Abendroth. Eine solche Gruppe sollte unser selbstverwaltetes revolutionäres Studentenwohnheim in Heidelberg nun vor der bevorstehenden Auflösung durch die Univerwaltung retten. Frieds Gedichte sprachen mich an, besonders die »Anweisungen zum Schlachten von Freunden«. Ich hatte aber nicht vor, bei ihm vorbeizugehen. Nur: Beim »Squatters Advisory Service« (es gab tatsächlich eine Beratungsstelle für Hausbesetzer in London) wußten sie nicht so recht etwas mit mir anzufangen. Ich irrte umher, mit Rucksack und Schlafsack.
Mit allem Mut, der mir zur Verfügung stand, fuhr ich in die Dartmore Road. Sie hieß aber Dartmouth, eine andere gab es im Straßenverzeichnis nicht. Und 22 statt 24. Aus der alten Villa (sie ist auf Fotos viel kleiner, als ich sie in Erinnerung habe) trat gerade eine alte Frau. Erich Frieds Mutter, aber das wußte ich noch nicht. Als sie weg war, klingelte ich – da stand tatsächlich »Fried« auf dem Klingelschild, und er erschien auch gleich in Person. Überzeugt, ich würde weggeschickt, spulte ich sehr viele Sätze in sehr kurzer Zeit ab. Bedrohtes linkes Projekt, Selbstverwaltung, Beirat, gerade in London. Er sagte einfach freundlich »Guten Tag«, nahm mir Rucksack und Parka ab. »Du brauchst sicher einen Schlafplatz. Meine Tochter ist übers Wochenende bei einer Freundin, solange kannst du ihr Zimmer haben. Möchtest du duschen?«
Frieds Arbeitszimmer: Wände aus Büchern, Mappen, Schachteln, heraushängenden Blättern, Ordnern, Bildern. In der Mitte ein Tisch von der Größe einer Tischtennisplatte. Papierstapel jeglicher Höhe, einzelne Blätter, noch mehr Ordner, Schachteln, Mappen, Bücher, eine Schreibmaschine, ein Telefon – beschämt dachte ich an die akribische Ordnung in meinem Heidelberger Zimmer. Vom Erker sah man in den Garten. Dem Beirat wollte Fried nicht beitreten, die Begründung habe ich vergessen.
Aber er erzählte. Über die Briten, eine Szene, die er nach seiner Ankunft in London 1938 beobachtet hatte: wie vor einem Kaufhaus Zeitungen verkauft wurden, rechts die der Kommunistischen Partei, links die der Faschisten. Da mußte der kommunistische Verkäufer pinkeln. Er fragte den faschistischen Kollegen, ob er solange seine Zeitungen mit verkaufen könne. Klar, machte er. Fried lachte. Die Episode gefiel ihm. Er sprach über die RAF: daß Ulrike Meinhof unmöglich Selbstmord begangen haben konnte, daß Rudi Dutschke ihr den bewaffneten Kampf ausgeredet hätte, wenn er wie sie der Meinung gewesen wäre, sie sei eine passendere Frau für ihn als Gretchen, und sie, so wie sie es sich vorgestellt hatte, ein Paar geworden wären.
Er sagte: »Man muß nicht denken, daß man ein besserer Mensch ist, wenn man links ist.« Meine Ehrfurcht für Fried geriet kurzzeitig ins Wanken – konnte das stimmen?
Ziemlich oft klingelte das Telefon. Fried sprach Wiener Englisch. Einmal drang Kindergeschrei durch die Tür, ein lauter Streit zwischen zwei Jungs, dann eine Frauenstimme. Er zögerte, ging dann raus, dirigierte die Jungs mit väterlicher Autorität, das Geschrei ebbte ab, er kam zurück. Kurz darauf schoß Catherine ins Zimmer, seine Frau, gut einen Kopf größer als er, sagte, jedes einzelne Wort betonend, auf englisch: wenn sie was mit den Jungs auszutragen habe – »Do not intervene«. Die Argumente flogen hin und her, sie rief: »Male chauvinist pig!« und knallte die Tür zu.
Ich durfte tatsächlich übers Wochenende bleiben, frühstückte mit der Familie. Auf dem Klo ein kleines Bücherregal, Bände auf deutsch, Gedichte, eine Bibel. Catherine blieb etwas reserviert, aber freundlich, man nahm nicht allzuviel Notiz von mir.
Zurück in Heidelberg erfuhr ich, daß ich beileibe nicht die einzige war, die Frieds einfach so bei sich aufgenommen hatten – allein in meinem Bekanntenkreis sagten binnen kurzem drei auf meinen stolzen Bericht hin: Ich war auch dort. Noch Jahre später hörte ich das gelegentlich. Nach der Lektüre von Catherine Frieds »Über kurz oder lang« wußte ich, was sie damals ertragen mußte: daß immerzu höfliche und unhöfliche, ordentliche und unordentliche, rücksichtsvolle und rücksichtslose deutsche Linke einzeln, in kleinen und in großen Gruppen vor der Tür standen, den Rucksack fallen ließen und Gastfreundschaft beanspruchten.
Bei der Lektüre von »Mitunter sogar Lachen« wurde mir dann klar, was ich schon hätte wissen können. Daß Fried ein Leben vor der Studentenbewegung gehabt hat. Daß er in der Emigration unzähligen Menschen geholfen hat, bei denen mehr auf dem Spiel stand als das Gelingen einer Ferienreise oder die Erhaltung eines selbstverwalteten Studentenwohnheims. Daß sein Vater von einem SS-Mann totgetreten und seine Großmutter in Auschwitz ermordet wurde. Daß Fried – auch das hatte er damals erzählt, als es um die Bedeutung von einzelnen für den Lauf der Dinge ging – 1938 um ein Haar verhaftet worden wäre: »Ich fragte den Polizisten: Muß das sein?« Der Polizist habe sich kurz besonnen, dann nein gesagt und ihn laufenlassen.
Mag Erich Fried über Linke und bessere Menschen gedacht haben, was er wollte: Er war ein besserer Mensch, das weiß ich genau.
SINN UND FORM 6/2021, S. 848-849
Geffken, Rolf
Die Duldung des Autors. Rainer Maria Rilke und Hans Mayer im Netz des Ausländerrechts, S. 850
Bürger, Christa
Rilkes Rodin, S. 854