
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-57-7
Heft 1/2021 enthält:
Wackwitz, Stephan
Minsk. Widersprüche der Utopie, S. 5
Wer ehemalige Sowjetrepubliken, die jetzt ihren eigenen politischen Weg gehen, besucht oder für einige Zeit dort lebt, denkt unwillkürlich darüber (...)
Wackwitz, Stephan
Minsk. Widersprüche der Utopie
Wer ehemalige Sowjetrepubliken, die jetzt ihren eigenen politischen Weg gehen, besucht oder für einige Zeit dort lebt, denkt unwillkürlich darüber nach, wie jene Städte, Landschaften, Atmosphären und Mentalitäten heute aussähen, wenn sich die kommunistische Union 1991 nicht aufgelöst hätte. Hätte das sozialistische Staatswesen, das noch vor dreißig Jahren eine globale Supermacht war, möglicherweise eine Chance gehabt, in veränderter Gestalt weiterzubestehen? Hätte es sich der Weltwirtschaft und den Einflüssen der konsumistischen Kultur vorsichtig öffnen, seinen Bürgern ein im privaten Rahmen selbstbestimmtes Leben ermöglichen, den quasireligiösen Geltungsanspruch des Marxismus-Leninismus sublimierend auflösen und so auf einem »Dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Kommunismus in die Zukunft reisen können? Vergleichbare Vorstellungen waren in der linken Intelligenzija weit verbreitet, als in Deutschland über die Zukunft der gescheiterten DDR nachgedacht (phantasiert) wurde. Die Wirklichkeit ist andere Wege gegangen. Aber tatsächlich gibt es östlich von Polen eine ehemalige Sowjetrepublik, die seit 1990 einen Weg zwischen völliger Aufgabe der realsozialistischen Verhältnisse und bedingungsloser Integration in die kapitalistische Weltgesellschaft versucht hat – bis nach den gefälschten Wahlen im letzten August der Widerspruch zwischen der wirtschaftlich erfolgreichen jungen Mittelschicht und dem despotischen Regierungsapparat revolutionär explodierte. Diese Republik, in der sich inzwischen eine Doppelherrschaft zwischen Volksaufstand und staatlicher Gewalttätigkeit entwickelt hat, war vierzig Jahre lang nicht ohne Grund der unbekannteste Staat Europas.
Belarus war eigentlich immer unbekannt. Fast seine gesamte Geschichte hindurch hatte dieses Land weder Grenzen noch eine Armee oder eine eigene Regierung. Es galt eher als (relativ unbestimmte) Ortsbezeichnung, als Landschaft, als geographischer Begriff. Erst 1918, nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs, ist von einem Staat dieses Namens die Rede. Aber die Unabhängigkeit währte nur einige Monate, dann wurde Belarus der Sowjetunion eingegliedert. Auch zuvor war das Staatsgebiet der heutigen Republik immer Teil anderer politischer Gebilde gewesen. Zuerst gehörten seine Städte und Landstriche zur Kiewer Rus. Nach der tatarischen Eroberung Kiews 1240 bürgerte sich die Bezeichnung »Belarus« für die westlichen, den Mongolenkhanen nicht tributpflichtigen russischen Fürstentümer ein. Im Spätmittelalter und während der frühen Neuzeit waren sie Bestandteil des polnisch-litauischen Doppelstaats. Nach der zweiten polnischen Teilung kam das spätere Belarus zum Zarenreich, nach der erwähnten kurzen und erfolglosen Eigenstaatlichkeit dann als Republik zur UdSSR – erst damit hatten sich die fließenden Grenzen dieses halb geträumten Landes einigermaßen verfestigt. Das heutige, postsowjetische Belarus ist nach 1990 dadurch entstanden, daß die führenden Kader des weitgehend unveränderten belarussischen Staatsapparats die Macht an nicht mehr (oder nicht mehr explizit) kommunistische Politiker abgaben – welche freilich zum größten Teil (wie der heutige Staatspräsident Lukaschenka) zuvor durchaus loyale Kommunisten gewesen waren. Im ährenumkränzten Staatswappen der einstigen Sowjetrepublik wurden Hammer und Sichel durch eine Silhouette des Landes ersetzt. Die heraldisch unvermeidliche Sonne geht jetzt hinter den Landesgrenzen auf, nicht mehr hinter dem Symbol der proletarischen Internationale. Der zentrale Leninboulevard in der belarussischen Hauptstadt Minsk wurde umbenannt und feiert inzwischen die Unabhängigkeit. So gut wie alle anderen wichtigen Straßen – wo sich heute avantgardistisch eingerichtete Restaurants und Bars aneinanderreihen, elegante Frauen und bärtige Hipster flanieren – heißen jedoch weiterhin nach den Klassikern der marxistisch-leninistischen Theorie, nach sowjetischen Partisanenführerinnen und kommunistischen Politikern wie Kirow, Swerdlow, Dscherschinski und Kalinin. Der überwiegende Teil der belarussischen Wirtschaft befindet sich immer noch in Staatseigentum und wird nach wie vor durch Fünfjahrespläne gesteuert.
Ich bin im tiefen Winter zum ersten Mal nach Minsk gekommen, im Januar 2015. Schon Tage zuvor war ich voll düsterer Vorahnungen und Befürchtungen. Um ehrlich zu sein: Ich hatte Angst vor meiner Reise nach Belarus. Es war spät in der Nacht bei meiner Ankunft und ich lief in dem weitgehend menschenleeren, blitzsauberen und bis in den letzten Winkel neonhell ausgeleuchteten Minsker Flughafen todmüde von Pontius zu Pilatus, um Geld zu wechseln und bei einer schlechtgelaunten Schalterbeamtin für Pfennigbeträge eine Krankenversicherung abzuschließen. Dann wurde mein Visum von einer Zollbeamtin in ihrem Glaskabuff am Ausgang ins Land minutenlang – unter anderem mit einer Lupe – geprüft. Daß sich das Schloß meines schicken neuen Aluminiumkoffers, der am längst ruhenden Gepäckförderband vereinsamt im Neonglast stand, als kaputt erwies, arbeitete ich sofort zu einer politischen Gruselgeschichte um: der KGB (wie der belarussische Geheimdienst heute noch heißt) habe ihn geöffnet und nach ideologischer Konterbande durchsucht. Als ich vier Wochen später den reparierten Koffer bei der Ankunft in München in genau demselben Zustand vom Förderband zerrte, verstand ich, daß das nicht versenkte Bügelschloß des guten Stücks eine flugreisenuntaugliche Fehlkonstruktion war. Bis dahin war ich überzeugt, ins Fadenkreuz finsterer politischer Mächte geraten zu sein.
Es folgte die Fahrt durch das nächtliche Minsk. Und damit meine erste, noch flüchtige Bezauberung durch die Architekturen dieser Stadt. Der erste coup de foudre von vielen, die noch folgen sollten. Denn selbst dem verängstigten, wütenden und übernächtigten Reisenden mußte auffallen, daß die von unzähligen Scheinwerfern angestrahlte Folge historistischer Paläste, die sich theaterkulissenhaft in immer phantasmagorischerer Prächtigkeit zu beiden Seiten des champs-élysées-breiten Zentralboulevards entfaltete, geradezu bestürzend schön war. Obwohl sich die sanften Hügel der flachen belarussischen Landschaft bis in die Innenstadt fortsetzen, waren die Traufhöhen der champagnerfarbenen, von weißen Portikos, Säulen, Pilastern und Freitreppen gegliederten Ministerien, Wohnpaläste, Universitätsgebäude, Fabriken und Museen so genau aufeinander abgestimmt, daß sich ein geschmeidehaft einheitlicher Eindruck ergab – Resultat einer (wie ich später erfuhr) ausgeklügelten staatlichen Planungsästhetik, die in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren keine Straßenecke, keine Dachform, keine Fensteranordnung unbedacht gelassen hat. Es war ein gelungenes Paradox: Höchst individuell durchgestaltete Baukörper (deren formale Matrizes der italienischen Renaissance und dem russischen Klassizismus entstammten) ergaben ein schlagend prägnantes Gesamtbild. Angeleuchtete Balustraden hoben sich auf neobarocken Fassaden gegen den Nachthimmel ab. Unter dem Straßenniveau gelegene Parks taten sich hinter Begrenzungsmauern auf, wo in regelmäßigen Abständen eisschrankgroße Vasen und Urnen standen. Der Wagen überquerte eine von gußeisernen Geländern eingerahmte Brücke. Man sah auf eine weite nachtschwarze Wasserfläche hinab, deren geschwungene Ufer von einem weiß schimmernden Monopteros bewacht wurden. Zwischen mannshohen Marmorkugeln führten breite Treppen von dunklen Parkbäumen zu dem seebreit aufgestauten Fluß. Hinter durchsichtigen Winterwipfeln standen auf einem Hügel die Säulen eines neoklassizistischen Schlosses im Scheinwerferlicht: das Dienstgebäude der Generalität der belarussischen Sowjetrepublik, wie ich am folgenden Tag im Reiseführer las. Ein neogotisch aufstrebender Turm rechts davon trug den Sowjetstern.
In der barocken Altstadt war die Straße hügelaufwärts durch einen Schlagbaum gesperrt. Hier begann die Fußgängerzone. Ich schleppte meinen kaputten Koffer durch den tiefen Schnee zu meiner Herberge. Der Hotelkomplex Monastyrski ist ein umgebautes Barockkloster, breit hingelagert auf halber Höhe des Altstadthügels. Weiße Kirchen – zwei katholische in der flamboyanten Formenüberfülltheit des osteuropäischen Barock und der goldstrahlende Türmchenwald eines orthodoxen Gotteshauses – sehen in einen Innenhof von der Größe eines halben Fußballfeldes, über dem sich dreistöckig die geräumigen ehemaligen Mönchszellen türmen. Eine würde jetzt ein paar Tage lang mein Zimmer sein. Ein schweres Eichenbett. Ein ausladender dunkler Schrank. Die runden, irgendwie jagdschloßartigen Leuchter, die in den langen, nächtlich leeren Gängen unter den Korbgewölben hingen. Einerseits hatte das Klostergebäude, besonders von außen, etwas Tibetisches (ein frühbarockes Shangri-La). Andererseits schien mir, wenn ich durch diese Korridore zum Frühstücksraum und wieder zurück zu meinem Zimmer wanderte (und mich dabei mehr als einmal verirrte), ich sei in den Schauplatz eines noch nicht gedrehten Films von Wes Anderson geraten.
Zurück in meinem Dienstort in Georgien verblaßte die Erinnerung an Minsk wieder. Mir blieben die Bilder fröstelnder Wanderungen durch Nebel und Schnee zwischen den Palästen des Unabhängigkeitsboulevards, des heruntergekommenen, ehemals altdamenhaft gediegenen Interieurs im Restaurant Oliva, ein Selbstporträt Jurij Pens vom Anfang des letzten Jahrhunderts (es zeigt den Zeichenlehrer Marc Chagalls und El Lissitzkys in einer atelierartigen Witebsker Mansarde, wo er Pellkartoffeln frühstückt) oder die Erinnerung an die kosmischen Phantasien des dämonisch genialen Spinners und Malers Jasep Drasdowitsch, der in den zwanziger Jahren das Leben der Marsmenschen malte – unvergeßlich, weil man das Gefühl hat, daß er in Wirklichkeit unsere Zeit kommentiert. Ich machte mich in den nächsten Monaten und Jahren zugleich lächerlich und verdächtig, indem ich überall herumerzählte, die Hauptstadt der »letzten europäischen Diktatur«, wie Belarus im Bewußtsein des bescheidwissenden Westmenschen einzig und allein vorkommen zu dürfen schien, sei eine der schönsten und interessantesten, die ich je gesehen hätte. Ich bereitete mich damals innerlich schon darauf vor, meine Ruhestandswohnung in Berlin zu beziehen, als ein Anruf der Personalabteilung kam. Man finde momentan niemanden, der das Goethe-Institut in Minsk leiten wolle, und ob ich mir nicht vielleicht vorstellen könne, das kommissarisch ein Jahr lang zu machen, bis man eine endgültige Besetzung gefunden habe.
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SINN UND FORM 1/2021, S. 5-20, hier S. 5-8
Madzirov, Nikola
Das Gewicht des Staubs auf den Augen. Gedichte, S. 21
Zagajewski, Adam
Über Joseph Brodsky, chaotisch, S. 25
Iro, Wolf
Bulgakow revisited. Gedichte, S. 39
Szymborska, Wisława
Keine Pflichtlektüre. Feuilletons, S. 42
Ranga, Dana
Stop. Gedichte, S. 52
Schlaffer, Hannelore
Schreiben. Eine Gymnastik, S. 59
Estis, Alexander
Keinen Roman schreiben. Miniaturen, S. 66
Keinen Roman schreiben Die erste Voraussetzung, um keinen Roman zu schreiben, ist eine rege Phantasie. Ein Mensch mit schwacher Vorstellungskraft (...)
Estis, Alexander
Keinen Roman schreiben
Keinen Roman schreiben
Die erste Voraussetzung, um keinen Roman zu schreiben, ist eine rege Phantasie. Ein Mensch mit schwacher Vorstellungskraft verfällt leicht auf die Idee, sich einen Roman ausdenken zu müssen. Das ist verständlich; so viele schreiben Romane. Unzählbar sind die Anleitungen, wie man einen Roman schreibt, keine einzige rät, wie man sich dessen enthält. Denn es gibt hierzu keinen Königsweg, keine sichere Methode. Man ist auf sich gestellt, an den Schreibtisch geworfen, vor das leere Blatt, das zum Roman verführt. Jetzt hilft es nicht, sich unterm Tisch zu verstecken; man muß die Sache mit Geist angehen. Denken muß man. Es sind schon vielbändige Monographien verfaßt, ganze Philosophien erschaffen worden aus dem Wunsch heraus, am Romanschreiben vorbeizukommen. Interessen und Berufe wurden erfunden von Menschen, die keine Romanciers sein wollten. Daß eine vielfältigere Vernunft zur Unterlassung der Romanschriftstellerei notwendig ist als zu deren Ausübung, sieht man schon daran, was alles von Menschen erdacht wurde, die keine Romane im Sinn hatten, während jene, die sich anschickten, einen Roman zu liefern, im Ergebnis eben nur immer Romane vorbrachten, und manchmal nicht einmal das.
Sodann: Wie miserabel, wie langweilig, langatmig und gleichartig sind die meisten normalen Romane; dagegen wieviel Varianten hervorragend unverfaßter Romane!
Auch an der Frist erkenne man, welches Werk das größere sei: Es mag noch so viele Jahre dauern, einen Roman abzuschließen – keinen Roman zu schreiben nimmt ein ganzes Menschenleben in Anspruch. Hier bedarf es größtmöglicher Ausdauer und Strenge des Entschlusses. Mithin: Harte Arbeit und bisweilen kräfteaufreibender Widerstand sind unabdingbar. Manch einer scheint noch zum äußersten bereit, durchwandert die Wüsten des Orients oder streift durch antarktische Eisfelder, nur der Vermeidung halber, erforscht die Grate kaukasischer Berge, setzt sich Gefahren aus, zieht in Kriege oder, noch ärger, schreibt Verse; amphibrachische, sapphische, hexametrische, alexandrinisch-heroische; schreibt poetische Prosa, Palindrome, Parabeln und Priameln – aber schreibt beileibe keine Romane! Dazu gehört ein großer Wille. Dazu gehören auch Glück und Talent; und es gibt sogar Tage und Stunden, an denen man ganz besonders dazu aufgelegt ist, als ein Genie der Enthaltung, nicht einmal daran zu denken.
SINN UND FORM 1/2021, S. 66-72, hier S. 67-68
Poschmann, Marion
Unterscheidungskunst. Ein Gespräch mit Yvonne Pauly über poetische Taxonomien, S. 73
YVONNE PAULY: Seit Ihrem Debüt 2002 sind Sie als Romanautorin und Lyrikerin hervorgetreten und für Ihr Werk vielfach ausgezeichnet worden. Ich (...)
Poschmann, Marion
Unterscheidungskunst. Ein Gespräch mit Yvonne Pauly über poetische Taxonomien
YVONNE PAULY: Seit Ihrem Debüt 2002 sind Sie als Romanautorin und Lyrikerin hervorgetreten und für Ihr Werk vielfach ausgezeichnet worden. Ich erwähne hier nur die Thomas-Kling-Poetik-Dozentur, für die Sie 2016 an Ihre Alma mater, die Universität Bonn, zurückkehrten. Die Antrittsvorlesung wurde unter dem Titel »Kunst der Unterscheidung« publiziert. Da ich 1989 / 90 ebenfalls in Bonn studierte, habe ich schon die ersten Sätze mit besonderem Interesse und nicht ohne Sentimentalität gelesen. Sie beschreiben Ihre beiden Bonner Jahre als ein Leben »mit gesenktem Kopf« und erinnern hauptsächlich »Pflastersteine und Randsteine, (…) das Licht in Unterführungen und (…) den Schotterweg der Poppelsdorfer Allee und die Wirtschaftswege zwischen den Kopfsalatfeldern in Lessenich, (…) die Waldwege im Kottenforst und wie sich all das unter den Fahrradreifen ausnahm«. Der Abschnitt mit der prosaischen Zwischenüberschrift »Straßenbelag« mündet in die Schilderung Ihrer Erweckung zur Dichterin. An besagtem Abend war es bereits dunkel, im Licht der Straßenlaternen schimmerte der Asphalt wie eine Wasserspiegelung. Sie brachten mitten auf der Straße Ihr Rad zum Stehen – und Ihr erstes Gedicht zu Papier. Dieses Gedicht, so schreiben Sie, »glich nichts anderem, was ich je gelesen hatte«. Ich würde gerne mehr über dieses erste Gedicht erfahren: Was zeichnete es aus? Wurde es veröffentlicht?
MARION POSCHMANN: Dieses erste Gedicht hat viel Interesse geweckt, seit ich es in meiner Vorlesung erwähnt habe, aber ich habe es nicht veröffentlicht und möchte das auch weiterhin nicht tun. Es war für mich inmitten der Texte, die ich bis dahin geschrieben hatte, etwas Besonderes, weil von ihm eine eigenständige Kraft ausging. Es gibt beim Schrei ben ja oft so etwas wie eine Keimzelle, einen Kristallisationspunkt, dieser bleibt im fertigen Text aber nicht immer im Vordergrund, manchmal verschwindet er auch wieder oder verwandelt sich so, daß man ihn als Schreibansatz nicht mehr erkennen kann. In dieser untergründigen Position möchte ich jenes erste Gedicht belassen. Friederike Mayröcker hat die Angewohnheit, an manchen ihrer Materialkisten einen Zettel mit dem Wort Tabu zu befestigen, das heißt, Unbefugte haben keinen Zugang. Und vielleicht hat selbst die Dichterin nicht immer das Recht, darauf zuzugreifen. Ich bin seit langem von Freuds Aufsatz »Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen« fasziniert, in dem es um diese Kraft geht, die einem Objekt zugeschrieben wird: Sie kann überwältigend sein, deshalb ist sie gefährlich, aber man möchte auf jeden Fall an ihr partizipieren. Kurz und gut, dieses sogenannte erste Gedicht möchte ich auf gar keinen Fall preisgeben.
PAULY: In der Folge geht es in der Bonner Poetik-Vorlesung um die Geschichte naturkundlicher Wissensordnungen. In der Biologie versteht man unter Taxonomie die Lehre von der Einordnung der Lebewesen in ein Schema hierarchischer Klassifikation. Die wissenschaftliche Nomenklatur als Grundlage dieses Ordnungssystems geht auf Carl von Linné zurück. Er versah Mineralien, Pflanzen und Tiere mit binären lateinischen Bezeichnungen, in denen ein Substantiv die Gattung und ein Adjektiv die Art angibt. Die Linnésche Taxonomie wurde nach und nach auf andere Wissensbereiche angewandt, so von Luke Howard, einem Zeitgenossen Goethes, auf die Wolken.
POSCHMANN: Das besondere Verdienst von Howard bestand darin, daß es ihm gelang, sich vom illustrativen Erscheinungsbild der Wolken zu lösen und das Augenmerk auch auf die Bedingungen ihrer Entstehung zu richten. Er sah nicht länger Schafe, Elefantenwolken oder Schwertfischwolken am Himmel, sondern er begriff, daß es sich bei Wolken um ein fluides System handelt, das nicht in Analogie zu festen Körpern zu denken ist, sondern aus Übergängen besteht. In einem Geniestreich übertrug er das Linnésche Taxonomiesystem auf die Wolkennamen. Es gibt einen Hauptnamen für die Grundform, also Cumulus (Haufenwolke), Stratus (Schichtwolke), Cirrus (Federwolke), Nimbus (Regenwolke), sowie Zwischenformen wie Cumulonimbus, die Gewitterwolke. Neben der Gattung kann die Art differenziert werden, etwa castellanus, floccus, nebulosus. Dieses System macht Ähnlichkeiten kenntlich, bezieht aber auch die Möglichkeit von Veränderung und deren Richtung mit ein. Wolkennamen sind temporär, dieselbe Wolke kann nach ein paar Stunden anders heißen. Ihr neuer Name ist aus dem ersten nicht ableitbar, aber es gibt Regeln ihrer Verwandlung, weil es nicht beliebig viele Veränderungsmöglichkeiten von einer Wolkenart zur anderen gibt.
PAULY: Eben jenes Bemühen um die Klassifikation von Übergängen, die Bannung des Fluiden, die Bestimmung des Unbestimmten macht das Geschäft des Naturforschers anschlußfähig für die Dichtung. Auf Grundlage der biologischen entwerfen Sie im Schlußteil der Vorlesung das Konzept einer poetischen Unterscheidungskunst.
POSCHMANN: Es handelt sich dabei um das Paradox, daß eine poetische Taxonomie klassifiziert, was sich nicht klassifizieren läßt. Worte ähneln insofern den Wolken, als ihre Bedeutung schwanken kann, sich verwandeln, sich auflösen. Auch die Gegenstände der Dichtung sind wolkenhaft, es sind immaterielle Größen wie Wahrnehmungseffekte, Gedanken und Gefühle, so daß der Dichter letztlich vor der Aufgabe steht, Wolken mit den Mitteln der Wolken zu bestimmen. Und wenn wir über Dichtung sprechen, verhält es sich ähnlich, man redet über einen ungreifbaren Text, der etwas Ungreifbares zur Grundlage hat. Jeder Dichter verfolgt dabei ein anderes Verfahren, beschreibend, konstruierend, montierend, assoziierend, evozierend, und daraus entsteht jeweils eine private Taxonomie, eine eigene Ordnung aus persönlichem Wortgebrauch, subjektivem Blick auf die Welt.
PAULY: Es liegt nahe, an dieser Stelle nach der Ordnung Ihres lyrischen Werks zu fragen: Wo differenzieren Sie besonders fein, wo weniger? Welches Netz werfen Sie über die Wirklichkeit, welche Sicht der Dinge wird in Ihren Gedichten offenbar? Vielleicht ist es sinnvoll, mit dem Leitkonzept der Taxonomie insofern Ernst zu machen, als wir uns an das hierarchische Schema halten und bei der Betrachtung Ihres Werks vom Großen zum Kleinen gehen, also bei der Makrostruktur ansetzen. Harald Hartung hat in der Besprechung Ihres zweiten Gedichtbands »Grund zu Schafen« 2004 darauf hingewiesen, »daß wir es mit einer Autorin zu tun haben, die methodisch arbeitet und in Serien denkt«. Das ist ein Grundzug Ihres lyrischen Werks, der Sie von anderen zeitgenössischen Dichtern unterscheidet.
POSCHMANN: Bei meinen Gedichtzyklen bzw. Gedichtgruppen, denn Zyklus impliziert für mich etwas Abgeschlossenes, das sich gerundet hat, während eine Gruppe offener ist und gegebenenfalls noch ergänzt werden kann, bei diesen Zyklen oder Gruppen also gibt es zunächst meist eine formale Ähnlichkeit. Ich arbeite mit ganz unterschiedlichen Formen, klassischen Metren, Oden, Sonetten, freien Versen, in einer Gedichtgruppe konzentriere ich mich in der Regel auf eine formale Herangehensweise. Bei den Madonnen im Zyklus »Barocke Serie« aus meinem Debütband »Verschlossene Kammern« sind das freie Verse, die indirekte Rede wird als Stilmittel eingesetzt und die Titel der einzelnen Gedichte nehmen ikonographische Bezeichnungen für bestimmte Bildtypen auf, die im Zusammenhang mit der Madonnendarstellung kanonisiert sind. Also etwas die Madonna im Rosenhag, mit dem Einhorn, die Mater Dolorosa oder die Schutzmantelmadonna. Ich fand das damals unter taxonomischen Gesichtspunkten interessant. Man stellt die Madonna dar, aber immer mit bestimmten Attributen, und zeigt damit eine Gestalt unter verschiedenen Aspekten, mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften oder Zuschreibungen, was ja sofort die Frage aufwirft: Wo ist der gemeinsame Nenner? Ist das die Madonna in jeweils anderem Gewand, oder sind das doch verschiedene Figuren? Die Jungfrau, der Meerstern, die Gottesmutter. Was ist zum Beispiel eine Gottesmutter ohne Kind? In den Verkündigungsbildern ist gerade dieses Noch-Fehlen, die Leerstelle, die Offenheit entscheidend. Tatsächlich gibt es in der ikonographischen Tradition auffallend viele Bildtypen, die die Madonna ohne Kind zeigen. Etwa die »Madonna auf der Mondsichel«. Das wäre ein Titel zu einem Gedicht, das ich gern noch schreiben und das gut in diese Serie passen würde. Im nachhinein habe ich mich manchmal selbst gefragt, warum ich das nicht längst getan habe, aber wenn man eine Kategorie aufmacht, muß man sie mit etwas füllen, und mir kam es, wenn ich mich richtig erinnere, so vor, als sei mit dieser Überschrift alles gesagt. Dafür habe ich, und damit kommen wir zu den ersten Querverbindungen, in einem anderen Band das Gedicht »Königin der Nacht«. Aber für das Konzept der Serie sind die Titel entscheidend. Das habe ich auch in andern Fällen so gehandhabt, etwa im Band »Geliehene Landschaften«. Dort gibt es ein Kapitel mit der Überschrift »Bernsteinpark Kaliningrad«, und alle Gedichte tragen die Namen von Bernsteinvarietäten. Zum Beispiel »Knochen«, »Bunt«, »Flom«, »Antik«, »Schwarzfirnis«, »Kumst«, sehr evokative Titel, bei denen aber vermutlich die wenigsten wissen, welche Art Bernstein man sich darunter vorzustellen hat. Das gibt mir dann eine gewisse Füllungsfreiheit, während die Reihe der Titel schon fast ein eigenes Gedicht ergibt.
SINN UND FORM 1/2021, S. 73-85; hier S. 73-76
Das Gespräch wurde am 23. Juni 2020 im Rahmen einer Kooperation des Literaturhauses Berlin mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ursprünglich online, als "Audio-Korrespondenz", publiziert und ist in dieser Form nach wie vor über die Mediatheken beider Einrichtungen zugänglich. Integraler Bestandteil dieser Fassung waren 13 Abbildungen taxonomischer Arrangements, die Yvonne Pauly nach dem Modell naturkundlicher Sammlungen zum lyrischen Œuvre Marions Poschmanns entworfen hatte; fünf dieser Bilder zeigen wir hier:
Chişe, Ruxandra
Ausbruch aus dem großen Festsaal. Gedichte, S. 86
Vesper, Guntram
Oberhessen, S. 90
Seit vergangenem September, seit ich im Wald am Winterstein, hinter Ockstadt, jenseits der A5, auf der Suche nach Heidruns und meiner versteckten (...)
Vesper, Guntram
Oberhessen
Seit vergangenem September, seit ich im Wald am Winterstein, hinter Ockstadt, jenseits der A5, auf der Suche nach Heidruns und meiner versteckten Stelle vom Sommer 1961 einen auf dem Rücken sich abstrampelnden Hirschkäfer beobachtet habe und nicht wieder aus der Hocke hochgekommen, sondern nach hinten gefallen bin und minutenlang, genau wie der Käfer, hilflos und verlassen im alten Laub gelegen habe, meine Rufe überdeckt, geschluckt vom Lärm der Autobahn, komme ich höchstens noch einmal in der Woche in die Stadt. Ich nehme, kurzatmig, mit Kreuzschmerzen, immer den Bus, Einstieg Dahlmannstraße, und beschränke mich, wenn ich nicht auch noch zu Calvör, Wiederholdt oder zum Friseur Müller am Nabel will, auf den Besuch des Antiquariats Pretzsch in der Gotmarstraße, die sich nur durch ihre drei Gedenktafeln für Lichtenberg, Eckermann und Cecilie Tychsen, es fehlt Bürger, von den anderen Nebenstraßen abhebt, denen der Leerstand, der Abstieg drohte und droht. Von Pretzsch kaufte ich am 28. Februar am späten Vormittag neben Büchern von Karl May, Koeppen und Edschmid die Erinnerungen mit dem Titel »Unruhestifter« von Fritz J. Raddatz in der Originalausgabe für vier Euro. Das Buch hatte schon zwei Wochen auf dem Auslagetisch vor dem Laden gelegen, dem Regen ausgesetzt, wenn Pretzsch die transparente Plane nicht rechtzeitig über seine Straßenangebote breitete. Raddatz erwähnt auf Seite 470 der Erinnerungen auch mich, gealtert sei ich, wie Grass, Rühmkorf und Wunderlich, alle drei ebenso tot inzwischen wie der Unruhestifter selbst, nur ich lebe noch, Raddatz zufolge als etwas beleibter Bürger, der Kaffee und Kuchen reicht. Der scharfzüngige Erzähler konnte, weil ich dichthielt, auf keinen Fall sollten die laufenden Projekte totgeredet werden, nicht wissen, daß ich damals, in den Jahren seiner Besuche in Göttingen, wie ein Wilder schrieb, »Auftakt mit Arnold Z.«, »Tieflandsbucht« in Entwürfen und früher Fassung und sogar Anläufe, schüchterne Vorstufen von »Frohburg«. Die Ahnungslosigkeit konnte ich ihm nicht vorwerfen, sehr wohl aber die Plauderhaftigkeit, mit der er in einem seiner veröffentlichten Tagebücher Dinge unter die Leute brachte, die ich ihm bei einem unserer Zweierabende im Diwan in der Roten Straße halblaut und unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte und die mich, Heidrun und W. betrafen. Er nickte damals, seinen Oberkörper in meine Richtung über die Tischplatte schiebend und in meinen Blick eintauchend, ja klar, vertraulich, hielt sich aber um der Farbigkeit seines Tagebuchs willen nicht daran. Ich stelle mir vor, daß er damals nach Mitternacht in die menschenleere Goethe-Allee zurückgegangen ist, vorbei an Caroline Schlegel-Schellings Elternhaus und Goethes Unterkunft vom Sommer 1801, und in seinem Zimmer in Gebhards Hotel, dieser wohltuenden Insel gestriger Bürgerlichkeit, der einzigen in ganz Göttingen, und wie lange noch, ein paar Notizen auf den Telefonblock gekritzelt hat, die sich später nutzen ließen. Als Folge des Abdrucks dieser Kurznotizen machte ich von da an seine Briefe, fünf, sechs, sieben, nicht mehr auf, ungeöffnet legte ich sie in die Briefablage, und jeweils am Jahresende wanderten sie mit dem ganzen Konvolut aus zwölf Monaten in den Keller, dort steht der wacklige Schrank von Karstadt mit den 31 Archivkartons voll Post ab November 1957, zuunterst die Briefe meiner Geithainer Mitschüler Elke Voigt, Irmgard Wittstock, Josef Miszler und Günter Bernecker, die den Republikflüchtling auf dem laufenden hielten, was Frohburg und Geithain anging. Ungeöffnet sind im kleinen bescheidenen Archiv auch noch fünf bis sieben weitere Briefe bekannter, unbekannter und verheimlichter Absender mit vermutlich strapaziösem, mich belastendem Inhalt zu finden, wobei ich allerdings sagen muß, daß mein Vorwarnsystem und meine Filter auch nicht immer funktioniert haben, oft genug bin ich in der Vorfreude auf eine angenehme Nachricht, Honorar, Einladung, Anerkennung, blindlings mit dem Brieföffner umgegangen und fiel dann auf Frechheiten, Gemeinheiten, Giftpfeile herein, so wie ich ja auch vor anonymen Karten nie die Augen schließen konnte, immer mußte ich dann doch, obwohl die Klugheit anderes riet, die Karte umdrehen und nachsehen, was da stand, erstmals im Winter 1959 in Reiskirchen, von einem der Mädchen vom Tanzboden in der Gastwirtschaft Gontrum, vielleicht von der Lehrerstochter, wegen der halben Stunde an unserem Gartenzaun, nach Mitternacht, unter der Trauerweide. Und wenn ich genau nachdenke, habe ich sogar schon in Frohburg eine dieser Karten ohne Absender bekommen. Die Sache fing damit an, daß ich zu Beginn der elften Klasse in der Oberschule in Geithain nach der zweiten großen Pause auf meinem Platz einen winzigen Zettel fand, der sich zwar leicht übersehen ließ, der aber gerade deshalb für einen Elftkläßler von hohem Interesse war. Drei Wörter nur, mikroskopisch klein, mit gespitztem Bleistift: Frohburg postlagernd Diana. Ich wußte nicht, wer da sprach, aber ich wußte gleich, welche Art Jagd da gemeint war, die Tanzstunde mit dem Zwischenball und dem Abschlußball und jeder Wochenendtanz auf den Gasthöfen in Frohburg und Umgebung und überhaupt auch jeder Vormittag in der Klasse und nicht zuletzt die Klassenfahrten an die Talsperre Kriebstein, auf die Rochsburg, nach Sebnitz, Augustusburg, Stralsund und Nonnevitz zeigten einem, wie man das Anschleichen oder die frontale Überrumpelung oder die schneckenlangsame Schleimtour einüben und einsetzen konnte. Mit gemischten Gefühlen nahm ich das Zettelchen mit nach Hause. Wir wohnten im Thälmannstraßenflügel der Post, das Amt mit dem Briefschalter befand sich im Marktflügel. Ich ging also schon am Nachmittag aus unserer Haustür raus, umrundete die Ecke mit dem Eingang zum Restaurant, die genau unter unserem Erker lag, und stieg die vier oder fünf Stufen hoch, die heute zum Café Schokoengel führen und über die man seinerzeit das Postamt erreichte. Ich kam rein, rechts war die Abfertigung für die Päckchen und Pakete, lange Schlange Bepackter dort, links das Fenster für die Briefangelegenheiten, hochgeschoben, der alte Naß hatte Dienst, natürlich kannten mich alle, Frohburg war ja ein Nest, und nicht einmal ein großes, Ham Sie was postlagernd Diana, schmetterte ich den alten Naß an, lieber gleich Augen zu und durch, als daß ich mir ein gehemmtes Murmeln, eine unterdrückte halb abgewürgte Frage nachsagen lasse. Und richtig, ich bekam Dianas Karte und habe sie heute noch. Unklar, wie es weiterging. Man war noch halbes Kind und hatte doch schon Augen für alle Abstufungen von Weiblichkeit. Schwamm drüber, das Kärtchen geht wie alles Papier von mir nach Marbach. Wenn die Moneten stimmen. Mit den Raddatzschen »Unruhestifter«-Erinnerungen und den anderen Büchern in Plastiktüten, darunter einem Band der sechsbändigen Weltbild-Ausgabe von »Der verlorene Sohn«, die ich bis auf den 4. Band von Pretzsch für zwanzig Euro übernommen, aber wegen des Gewichts nicht geschlossen mitgenommen hatte, kam ich die paar Stufen runter aus dem Antiquariat. Ich schleppte schwer, wobei ich wußte, daß eine weitere kleine Neuerwerbung, die ich im Beutel hatte, nicht ins Gewicht fiel, ein Heft, das dem oberhessischen Maler und Kinderbuchautor Ernst Eimer gewidmet war, zehn Minuten vorher entdeckt beim Umsetzen eines der vielen Bücherstapel vor dem überfüllten Regal mit Ortsgeschichte und Heimatkunde. Auf dem Stapel wie immer ein Zettel: Hier bitte nicht stöbern. Wo man so etwas liest, zuckt es einem doch erst recht in den Fingern. Die Schrift mitgenommen, weil wir seit der Räumung von Ulrichs Bücherhaus in Klein Linden zwei der sehr seltenen Veröffentlichungen Eimers in den Regalen im Dachgeschoß haben, nämlich »Christian der Dorfjunge« und »Konrads Ferientage«. Das eine im ganzen Internethandel nur zweimal, das andere einmal zu finden. Mit der Ausbeute des Tages an der frischen Luft angekommen, warf ich einen letzten schnellen Blick auf Pretzschs Tisch am Gehwegrand. Ein Buch über Geheimschriften, Verschlüsselungskunst und Entzifferungskniffe fiel mir ins Auge. Ich setzte die Tüten ab, blätterte in dem Band, sah Tabellen und Aufstellungen, ich war angestoßen, durchaus, auf eine flüchtige Art fasziniert, konnte mich jedoch nicht entscheiden kehrtzumachen, in den Laden zurückzugehen und Pretzsch die drei Euro in die Hand zu drücken. Aber schon am Nachmittag rief ich ihn an und bat, mir das Verschlüsselungsbuch aufzuheben. Ich hatte schon vor dem Anruf überlegt, ob wir einen Jungen von elf, zwölf Jahren kennen, für den das Thema Geheimschriften von Interesse sein könnte. Mir fiel niemand ein, bis mir dämmerte, daß ich selbst der Junge war, den ich suchte.
SINN UND FORM 1/2021, S. 90-101, hier S. 90-93
Nikolić, Jovan
Zirkus. Gedichte, S. 102
Penn, William
Ein Bericht von meiner Reise in Deutschland (1677). Mit einer Vorbemerkung von Jürgen Overhoff , S. 108
Kempker, Kerstin
Ohne Form sind wir Staub. Aus einem Berliner Nachtstück, S. 118
Kessel, Martin
Notiz über Berlin / Von Schauplätzen überhaupt, S. 125
Camus, Albert
Albert Camus, Maria Casarès, »Und doch habe ich gewaltige Pläne«. Drei Briefe, S. 127
Schöttker, Detlev
Zeugenschaft statt Selbstdarstellung. Albert Camus’ »Pest« als literarische Chronik, S. 132
Deckert, Renatus
Alle meine Toten – samt einigen Krokodilen. Schreibanfänge, Lebensenden: Wie aus Krümeln vom Schreibtisch Goldstaub wird, S. 136