
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-56-0
Heft 6/2020 enthält:
Stoffels, Hans
»Die vielen ungelebten Leben«. Briefwechsel mit Christa Wolf 1971–74. Mit einer Vorbemerkung von Hans Stoffels, S. 725
Vorbemerkung
Im Wintersemester 1967 / 68 begann ich mein Medizinstudium an der Universität Heidelberg. Bald beneidete ich die Studenten der (...)
Stoffels, Hans
Aus dem Archiv der Akademie der Künste
»Die vielen ungelebten Leben«
Briefwechsel mit Christa Wolf 1971–74
Vorbemerkung
Im Wintersemester 1967 / 68 begann ich mein Medizinstudium an der Universität Heidelberg. Bald beneidete ich die Studenten der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, weil diese offensichtlich lernten, ein »kritisches Bewußtsein« zu entwickeln und Mensch und Welt neu zu entdecken. Im buchstäblichen Sinne gingen sie auf die Barrikaden und intonierten bei ihren Protestzügen mit Ironie und Selbstbewußtsein den Spruch: »Wir sind eine radikale Minderheit«.
Mir schien, das Studium der Medizin bot keine Anknüpfungspunkte für die jugendliche Sehnsucht nach Veränderung, Neuorientierung, nach tiefgreifenden Umwälzungen. Ein älterer Kommilitone wies mich auf eine Vorlesung in der Neurologischen Universitätsklinik zum Thema »Integration von somatischer und psychologischer Medizin« hin. Der Vortragende war Wilhelm Kütemeyer (1904 – 1972), ein Schüler des Mitbegründers der psychosomatischen Medizin in Deutschland Viktor von Weizsäcker. Die kasuistisch gehaltenen Vorlesungen elektrisierten mich, und Kütemeyer selbst war ein Faszinosum. Seine Thesen waren radikal: Jede Krankheit, auch die schweren körperlichen Krankheiten, sind psychosomatisch; die Organkrankheit ist Stellvertreter eines ungelösten Konflikts; der therapeutische Umgang von Arzt und Patient muß eine gemeinsame Widerstandsbewegung sein. Ich erfuhr, daß Kütemeyer zunächst Übersetzer und Schriftsteller gewesen war und schon vor 1933 aktiv gegen die Nazis gekämpft hatte. Den Beginn seines Medizinstudiums 1939 bezeichnete er als eine Form innerer Emigration. Nach 1945 gehörte er zur »Gesellschaft Imshausen«, einer Gruppe von Publizisten, Professoren und Politikern, die aus dem Geist der Widerstandsbewegung eine Erneuerung Deutschlands anstrebten.
Anstatt das geregelte Studium Semester für Semester fortzusetzen, stürzte ich mich in das Studium der psychosomatischen Medizin, ihrer Geschichte, ihrer Theorien und Kontroversen. Gleichzeitig engagierte ich mich in Seminaren der von Studenten gegründeten »Kritischen Universität«, wo sich eine Fülle von Stoff bot für radikale Thesen und Theorien, für Empörung und Aufbegehren, für die Forderung nach einer neuen Medizin. In dieser Zeit konsultierte ich immer häufiger Kütemeyer in seiner Praxis, um das Gleichgewicht zwischen öffentlicher Aktion und innerseelischer Stabilität zu wahren.
Zunehmend kam bei mir die Sorge auf, ich könne in eine Außenseiterposition geraten und mich immer weiter von der anerkannten Wissenschaft entfernen. Seinerzeit kämpfte die universitäre Psychosomatik um ihre wissenschaftliche Anerkennung. Die Weizsäcker-Schule galt als spekulativ, manch einer hätte sie lieber bei den Geisteswissenschaften angesiedelt. War ich in Gefahr, einem Irrglauben anzuhängen oder gar in eine sektiererische Verengung zu geraten? In dieser Bedrängnis las ich Christa Wolfs »Nachdenken über Christa T.«. Ich las das Buch mit ganz anderen Augen als die damaligen Rezensenten in Ost und West. Ich las den Roman als Darstellung einer psychosomatischen Krankengeschichte und erlebte die Lektüre gleichsam als Befreiung, denn mir schien, daß sich hier das neue psychosomatische Krankheitsverständnis Bahn brach.
»Nachdenken über Christa T.« erschien 1969 und begründete Christa Wolfs Weltruhm. Der Roman wurde in viele Sprachen übersetzt und führte lange die Bestsellerlisten an. Aber das bereits 1967 fertiggestellte Manuskript konnte in der DDR zunächst nicht erscheinen. Christa Wolf wurde der Vorwurf gemacht, mit ihrem Buch dem politischen Gegner in die Hände zu arbeiten. Sie übe Verrat an ihren eigenen Idealen und hämische West-Rezensenten lägen bereits auf der Lauer, um nachzuweisen, daß Christa T. nicht an einer Leukämie, sondern an der DDR-Gesellschaft gestorben sei. Das Buch war zu einem Politikum geworden, die Debatten gingen noch jahrelang weiter.
Im Rückblick auf die Zeit vor der Publikation sprach Christa Wolf von einem »Wirbel von Beschuldigungen, Selbstverteidigung, Abwehr, Beteuerung, Verschleierung, Gewissenserforschung, Selbstverleugnung, Lüge und Verschweigen«. Sie sei, schrieb sie an Brigitte Reimann, inzwischen bereit, von einem »Unglücksbuch« zu sprechen. Reimann hatte ihre Freundin in einem Brief vom 29. Januar 1969 mit den Worten gewarnt: »Halt Dein Herz fest; Du weißt ja, was Dich erwartet. Man hört schon allerlei von gewetzten Messern …«, worauf diese am 5. Februar antwortete: »Das Erlebnis ›Die Hände weggeschlagen‹ ist eines meiner Grunderlebnisse der letzten Jahre, sozusagen das Letzte, was ich je als Erfahrung erwartet hätte.«
Inzwischen gab es in der DDR erste Rezensionen (unter anderem in Sinn und Form 1 / 1969), aber das Buch war immer noch nicht erschienen. Zunächst wurde der Verleger genötigt, sich öffentlich zu entschuldigen, Selbstkritik zu üben und der Autorin zu bescheinigen, daß sie in einer pessimistischen Grundstimmung verharre und keine Distanz zu ihrer Protagonistin finde. Schließlich wurde »Nachdenken über Christa T.« in einer Erstauflage von wenigen tausend Exemplaren ausgeliefert. Nach zwei Jahren wurden weitere Auflagen genehmigt, und bis 1989 wurde der Roman mit 250 000 verkauften Exemplaren zum erfolgreichsten Buch der DDR.
Als ich 1971 – damals vierundzwanzig Jahre alt, das medizinische Staatsexamen lag noch in weiter Ferne – Christa Wolf einen Leserbrief schrieb, spielte die politische Auseinandersetzung um diesen Roman keine Rolle. Ich wollte ihr berichten, daß ich das Buch als Krankengeschichte gelesen hatte, als Bestätigung des neuen psychosomatischen Krankheitsverständnisses. Zu meiner größten Überraschung erhielt ich eine Antwort. Kein Zweifel, Christa Wolf war an medizinisch-psychosomatischen Fragestellungen und Forschungen außerordentlich interessiert, auch an der Schule Viktor von Weizsäckers. Später erfuhr ich, daß sie sich auch mit anderen Wissenschaftsgebieten wie der Genetik beschäftigte und von der Literatur erwartete, sich mit den Entdeckungen der Wissenschaft auseinanderzusetzen. Bücher sollen, schrieb sie später, den Mut zu radikalen Fragestellungen fördern und zu einer differenzierten Darstellung eigener Erfahrungen anregen. Ich schickte Christa Wolf Manuskripte, Textentwürfe und Publikationen aus dem Umkreis der psychosomatisch-anthropologischen Medizin, auch die Reflexionen eines Carcinomkranken, der sich bei Kütemeyer in psychotherapeutische Behandlung begeben hatte.
Als Christa Wolf im Herbst 1974 mit ihrem Mann Gerhard zur Buchmesse nach Frankfurt kam, unternahm sie auch einen Abstecher nach Heidelberg, um den leserbriefschreibenden Medizinstudenten in Augenschein zu nehmen und ihn in seiner Studentenwohnung zu befragen. Es entwickelte sich eine lebenslange Beziehung. In den folgenden Jahrzehnten kam es wiederholt zu persönlichen Begegnungen, wenngleich der Briefwechsel allmählich spärlicher wurde.
Das Thema des verborgenen Zusammenhangs von Krankheit und Selbstverwirklichung hat Christa Wolf nicht mehr losgelassen. 1991 sprach sie auf der Jahresversammlung der Deutschen Krebsgesellschaft über »Krebs und Gesellschaft« und erinnerte sich ihrer Romanfigur Christa T. Elf Jahre später publizierte sie die Erzählung »Leibhaftig«. Darin geht es um die Erinnerungen einer Frau, die wegen einer schweren Sepsis tagelang auf einer Intensivstation behandelt werden muß. Die Kranke spricht von sich in der ersten und in der dritten Person und fragt: »Warum ist ihr Immunsystem zusammengebrochen? Vielleicht, Herr Professor, weil es ersatzweise den Zusammenbruch übernommen hat, den die Person sich nicht gestattete.«
Zuletzt begegnete ich Christa Wolf am 28. Oktober 2010 – ein Jahr vor ihrem Tod. Ich hatte sie anläßlich der 16. Jahrestagung der »Viktor von Weizsäcker Gesellschaft« zu einer Lesung nach Berlin-Charlottenburg eingeladen. Das Thema der Tagung lautete »Ereignis und Erlebnis«. Der Vortragsraum vermochte die Zuhörer kaum zu fassen, und Christa Wolf las aus ihrem gerade erschienenen Roman »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«. Alle lauschten gebannt, wanderten mit der Autorin durch die Stadt der Engel, begegneten Thomas Mann und Bertolt Brecht und betrachteten von allen Seiten den »Overcoat of Dr. Freud«.
Nach der Lesung schickte ich Christa Wolf einige Fotos zu, wofür sie sich sogleich bedankte: Die Fotos gefielen ihr, »weil sie lebendig sind«.
Hans Stoffels
SINN UND FORM 6/2020, S. 725-750, hier S. 725-727
Krüger, Michael
Der letzte Abdruck der Stille. Prosagedichte, S. 751
Horn, Eva
Was vom Tag übrigbleibt. Über Selfies, Tagebücher und andere Dokumentationszwänge, S. 758
Ich war immer ziemlich unfähig, Selfies zu machen. Von unten aufgenommen sieht man ein Doppelkinn, das ich sonst nicht habe, frontal die (...)
Horn, Eva
Was vom Tag übrigbleibt.
Über Selfies, Tagebücher und andere Dokumentationszwänge
Ich war immer ziemlich unfähig, Selfies zu machen. Von unten aufgenommen sieht man ein Doppelkinn, das ich sonst nicht habe, frontal die Stirnfalten, und ich glänze ungut. Von leicht oben sehe ich etwas mitleiderregend aus, schutzbedürftig, großäugig, nicht besonders schlau. Also, das habe ich schnell gelernt: am besten im diffusen Licht und freundlich gucken. Am Fehlen jenes Narzißmus, der Selfiemachern von allen Seiten vorgeworfen wird, kann es nicht liegen; eher an der technischen und visuellen Unbegabtheit meiner Generation, die ihr erstes Smartphone erst mit vierzig in der Hand hielt. Obwohl mich Freunde und Familie immer wieder auffordern, ihnen Selfies von meinen Reisen oder von Begegnungen mit Leuten zu schicken, die berühmter sind als ich, frage ich mich, warum man überhaupt solche Bilder schießen soll. Die Selfie-Culture, ohne die Facebook aussähe wie eine Seite aus »Sinn und Form« und ohne die es Instagram und Pinterest nicht gäbe, wird in letzter Zeit arg kritisiert. Wer sich ständig ablichtet, sei von sich selbst besessen, führe eine visuell optimierte Individualität vor, bei der es nur darum gehe, das eigene Leben perfekt in Szene zu setzen. Permanent ausgelebter Narzißmus, den man der ohnehin als verzogen und unreif geltenden Generation der Millennials nun auch noch anhängt. »Selfie – How the West became Self-Obsessed« reimt sich griffig die These des britischen Journalisten Will Storr in seinem Buch über Selfie-Culture. Mit Blick auf Kim Kardashians Youtube-Anleitungen, wie man das »perfekte Selfie« schießt, scheint das oberflächlich zu stimmen. Es geht um Selbstinszenierung, das Vorführen eines perfekten Lebens. Kardashian steht stark geschminkt in einem figurbetonten Abendkleid inmitten ihres zimmergroßen, begehbaren Kleiderschranks und gibt gar keine Tips, außer dem, daß jede selbst herausfinden solle, von welcher Seite sie am besten aussehe.
Aber vielleicht ist das nur die halbe Wahrheit. Das Selfie ist ja gar nicht das perfekte Porträt – das würde ein Photograph zweifellos besser machen als der eigene Arm. Es ist ein Dokument. Eine Momentaufnahme: »Das bin ich hier«, »So sehe ich jetzt gerade aus«, »Diese Person habe ich getroffen«. Der Beleg dafür, daß etwas wirklich passiert ist. Pics or it didn’t happen ist das heimliche Motto all der unzähligen, nicht immer schmeichelhaften Schnappschüsse, die jeden Tag millionenfach gepostet werden. Beweisstücke, Dokumente, Belege einer Wirklichkeit, die sonst – unphotographiert – eigentlich nicht stattgefunden hat. Sie sind der Versuch, etwas festzuhalten – für sich und für andere –, was sonst einfach flüchtig vorbeigezogen wäre, existent lediglich in der ungreifbaren und unbeweisbaren subjektiven Erinnerung. »Die Sache ist dagewesen«, hat Roland Barthes einmal die Essenz der Photographie auf den Punkt gebracht. Eine Licht-Spur der Wirklichkeit. Aber was heißt es, wenn eine Medientechnik der Dokumentation und Spurensicherung plötzlich überall und jederzeit zur Verfügung steht? Was tun wir damit?
Ganz offensichtlich geht es weniger um eine lustvolle Selbstinszenierung, eher um ein Festhalten der Gegenwart. »Was man von der Minute ausgeschlagen, / Gibt keine Ewigkeit zurück«, schreibt Schiller. Heute heißt das, diese Minute zuallererst einmal medial festzuhalten. Man feiert eine Party und verbringt die Hälfte der Zeit damit, Photos von sich und anderen Gästen zu schießen. Man verreist und vergißt nicht, vor jeder pittoresken Landschaft erst einmal sich selbst aufzunehmen. Man sieht einen Unfall oder eine Schlägerei und hält sofort mit dem Handy drauf. Früher schoß man sorgfältig inszenierte Urlaubsfotos, die dann meist in Schubladen herumlagen. Mit den allgegenwärtigen Smartphones ist nun in jedem Moment unseres wachen, wenngleich nicht immer nüchternen Lebens das Dokumentationsgerät dabei. Besoffene Reden, peinliche Mißgeschicke und stocklangweilige Vorträge werden gefilmt und ins Netz gestellt.
Symptomatisch ist das Photographieren von Essen. Schon vor zehn Jahren gab es gelegentlich einsame Esser in hochpreisigen, gern als experimentell beschriebenen Restaurants, die jeden Gang sorgfältig ablichteten. Damals dachte ich, das seien Leute von irgendeinem Foodblog, die dem Gault Millau Konkurrenz machen. Heute sieht man das auch in kulinarisch unambitionierten Bierkneipen, wo fröhliche Trinker ihren Stapel Spareribs mit Fritten knipsen. Ganz offensichtlich geht es dabei nicht um eine Ästhetik des Essens. Es geht darum, das Allervergänglichste im Bild festzuhalten: »Diese exotische, phantasievolle, fettige oder auch nur bizarre Speise habe ich gegessen.« Eine Bekannte hat eine Zeitlang Hundefutter gepostet – selten bekam sie so viele Likes und freundliche Kommentare. Angeblich veröffentlichen 63 % der Leute zwischen dreizehn und dreißig ihr Essen in verschiedenen sozialen Medien. Dokumentieren und Zurschaustellen sind untrennbar verkoppelt. Wer diese Inszenierungen verächtlich als »Foodporn« beschreibt, versteht – wie im Fall des Narzißmusvorwurfs gegen die Selfie-Culture – bestenfalls die Hälfte. Es geht um das Festhalten des Flüchtigsten, Fragilsten und zugleich des Üppigsten, Luxuriösesten – des Genusses selbst. Die Obst- oder Fisch-Stilleben des 17. Jahrhunderts waren nichts anderes: Sie feierten Fülle, Genuß, Schönheit, aber immer im Moment ihres Schwindens. Genau darum sind Lebensmomente mit Seltenheitswert, wie Feste oder Reisen, klassische Sujets des Dokumentationszwangs, aber längt nicht die einzigen. Neu ist, daß das Dokumentieren mittlerweile auf die gewöhnlichsten Alltagsvollzüge ausgedehnt wird: Kochen und Essen, Schminken und Haareföhnen, der Gesang noch unentdeckter Nachwuchsstars im heimischen Schlafzimmer, das lustige Treiben der Haustiere, die tägliche Yoga-Praxis. Nichts bleibt ungefilmt, nichts ungepostet. Pics or it didn’t happen.
Natürlich ist es alles andere als neu, festzuhalten, was vom Tag übrigbleibt. Früher schrieb man Tagebuch oder lange Briefe, gelegentlich auch Tätigkeitsberichte, die, nie gelesen, Aktenordner füllten. Interessant in diesem Zusammenhang ist vor allem das Tagebuch, gerade weil es (zumeist) keinen Adressaten und keine offizielle Funktion hat. Es geht einzig darum, in der Notiz die Zeit, das gelebte Leben, vielleicht auch Gedachtes zu einzelnen Sätzen zu kristallisieren, zu Beobachtungen, kleinen Berichten, Herzensergüssen, Bonmots, Geständnissen, endlosen Lamentos. Den Geschmack der Tage festhalten. Manche haben dabei fast mehr dokumentiert als gelebt. Der Schweizer Ästhetik-Professor Henri-Frédéric Amiel hat im späten 19. Jahrhundert 17 000 Seiten Tagebuch geschrieben, nebst sechzehn Büchern. Der Orientalist und Dichter Friedrich Rückert schrieb ständig kleine Gedichte, gerade auch in Situationen tiefster Verzweiflung. Seine »Kindertodtenlieder«, über vierhundert Gedichte, die er nach dem Tod seiner zwei jüngsten Kinder schrieb, entstanden in wenigen Wochen, in denen der Dichter sich ruhelos und nie ohne Schreibzeug durchs Haus bewegte und praktisch permanent schrieb. Ähnlich Ernst Jünger, der neben seinem ausufernden literarischen Werk noch über ein Dutzend Tagebuch-Bände herausgebracht hat. Nichts, was ihm durch den Kopf fliege, bleibe unaufgeschrieben und unpubliziert, höhnte sein Bekannter Carl Schmitt 1949, natürlich in seinem eigenen Tagebuch »Glossarium«: »Entsetzliche Sparsamkeit der ihre Einfälle restlos verwertenden Vollmonade.« Jünger verwurstete den Ersten und Zweiten Weltkrieg, Gespräche mit berühmten Zeitgenossen, Spaziergänge, Reisen, Lesefrüchte und seine Gedanken über die Zeitläufte. Kaum gedacht, ging es zu Klett-Cotta.
Der englische Marine-Staatssekretär Samuel Pepys schrieb im 17. Jahrhundert alles auf, was ihn umtrieb: seine Arbeit, politische Ereignisse, das Pestjahr 1665 in London, den Brand im folgenden Jahr, seine Ehestreitigkeiten, Gesundheitsprobleme und kleinen Affären. Anders als Jünger, der in jeder seiner kalkulierten Gesten nicht nur für eine Öffentlichkeit schrieb, sondern wohl auch für sie lebte, ist Pepys’ Tagebuch für niemanden als ihn selbst verfaßt. Ein Notat gelebten Lebens, aber wohl auch eine Art, sich der Ereignisse, Gefühle, Unsicherheiten und Zweifel zu entledigen, die es begleiteten. Ein Logbuch vielleicht nicht der Innerlichkeit, aber der Privatheit. Und anders als Jünger, der sich stets als wichtigen Zeugen und Kommentator des Jahrhunderts verstand, überließ Pepys die Entdeckung seiner in einer Kurzschrift verfaßten Notizen auch der Nachwelt. Er ließ die Aufzeichnungen binden und reihte sie einfach unter die anderen dreitausend Bücher seiner Bibliothek, die er seinem Neffen vermachte.
Tagebücher, schreibt Arno Dusini, sind materialisierte Zeit. Seine Studie »Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung« schmückt ein Bild aufgespießter toter Fliegen. Sind die Notate der Tagebuchschreiber die toten Fliegen ihres Lebens? Eingefangen, aufgespießt, getötet – aber immerhin zum Werk geronnen? Dann wäre Tagebuchschreiben nur eine Vorübung zur Autobiographie, zur großen Selbstinszenierung des Autors à la Jünger. Die aufgespießten Fliegen des eigenen Lebens als Ornament, als großes Narrativ der eigenen Unvergleichlichkeit. Dieser Monumentalismus trifft natürlich nicht das, was heute passiert. Das heutige Dokumentieren ist eher ein Stoffwechselprodukt, ein »Abfall für alle« – wie es ein anderer großer Selbstdokumentierer, Rainald Goetz, nannte. Hipster, der er war, schrieb er diesen »Abfall« des Jahres 1998 in Form eines Blogs – damals nannte man das noch »Netztagebuch«. Der Blog ist längst aus dem Internet verschwunden, das Buch, 850 Seiten dick, gibt es noch bei Suhrkamp. Goetz ging es um das »JETZT«, den festgehaltenen Alltag, die Telefonate, Partygespräche, Arbeit, To-do-Listen, Fernsehabende, Lektüren und viele längere, meist verachtungsvolle Auslassungen über diesen und jene – ein unredigierter Textstrom, der gedruckt oft wie Lyrik aussieht, aber weiß Gott keine ist. Als Buch ist das ungenießbar, außer vielleicht für Zeithistoriker. Als Blog, damals, als man noch mühsam mit fiependem Modem ins Netz ging, war es ein unabdingbarer Teil meines Frühstücks. Stoffwechsel eben. Es floß aus dem Netz wie aus dem Wasserhahn, das wunderbare, aufregende Nachwende-Berlin in Echtzeit. Eine Geschichte des flüchtigen Jetzt, der gehetzte, von Zeitangaben im Militärformat (1708 für acht Minuten nach fünf) durchsetzte Monolog eines Schnellsprechers.
»Abfall für alle. Mein tägliches Textgebet. Tagebuch, Reflexions-Baustelle, Existenz-Experiment. Geschichte des Augenblicks, der Zeit, Roman des Umbruch-Jahres 1998.
Schließlich war, ein Traum, der wahr geworden ist, das Buch entstanden, das ich bin. Das ich immer schreiben wollte, von dem ich immer dachte, wie könnte es gelingen, das einfach festzuhalten, wie ich denke, lebe, schreibe. Von seiten des Todes her gesehen. – Was mir also gefällt, am Buch Abfall:
der Realismus, der Ideen-Vorrang, die Banalität der Dämonie des Alltags, das Schreiberleben, die Stille, der mediale Lärm, die Fiktionalität der auftretenden Personen, die argumentative Pedanterie, das Tasten, das urteilsmäßige Rumholzen, die Gleichwertigkeit aller Dinge, die Poetologie, die ästhetische Theorie, strukturell fragmentarisch, fragmentiert von Zeit, die Zeitmaschine, das Jahr, die Minutendinger und ihre Plausibilität, die Sekundengedanken: der Wahn, Tag für Tag, die Erzählung, Zahlen und Ziffern, Alles ist Text, und über und unter und in allem: Melancholie.
Keiner weiß, was als nächstes passiert. Davon erzählt ›Abfall für alle‹. Wie es war, als man noch nicht tot war und nicht daran dachte, wie es weiter geht. Augenblick. Moment. Und jetzt?«
Im Buch ist das der Klappentext. Ich habe es mir nicht gekauft, sondern nur kurz das Bibliotheksexemplar angeguckt. Die Seiten fallen heraus, billige Bindung, auch egal, sogar passend. Bemerkenswert ist aber der Bezug auf den Tod. Goetz dokumentiert sich im Vorgriff auf jenen Moment, wo man schon tot ist, aber noch einmal zurückschaut, »wie es war, als man noch nicht tot war und nicht daran dachte, wie es weiter geht«. Um das zu schreiben, muß man natürlich daran denken, wie es weitergeht und wie es ist, wenn man tot ist.
Die Ironie an der Sache ist, daß dies eine alles andere als neue Pose ist. Sie stammt direkt aus der Romantik, den »Erinnerungen von jenseits des Grabes« eines anderen Hipsters und Kultautors, aber nicht des »Umbruchjahres 1998«, sondern der Französischen Revolution: François-René de Chateaubriand. Zum Schreiben seiner Lebenserinnerungen bedient er sich der pathetischen Fiktion, er schaue aufs eigene Leben zurück, wie es war, als man noch nicht tot war. Als auch die anderen noch nicht tot waren, die Freunde, die Familie und die Geliebten, die Opfer der Revolution, der Kriege, der Schwindsucht, des Alters geworden sind. In jedem erinnerten Jetzt seiner Jugend, das der alte Chateaubriand heraufbeschwört, sieht er nichts als Tod und Vergänglichkeit. »Dort«, heißt es über eine Bekannte, die er als junger Mann am Hof traf, »begegnete mir die Baronin von Montmorency, jung und schön. Jetzt gerade liegt sie im Sterben.« Alles verweist immer auf ein künftiges Ende – eins, das er (im Gegensatz zu Goetz) aber schon kennt. Goetz schaut aus der Gegenwart auf die Gegenwart, aber mit einer Reflexion auf eine Zukunft, in der man tot sein wird. Chateaubriand dagegen, ganz Romantiker, schreibt jeder Gegenwart, aus der Zukunft auf sie zurückblickend, ihre Endlichkeit ein. Veröffentlicht werden sollte das Ganze darum erst nach seinem Tod, ursprünglich sogar erst fünfzig Jahre danach. Eine heute kaum nachvollziehbare Vorstellung von Geschichte. Wer interessiert sich fünfzig Jahre später für die Helden der Großeltern? Chateaubriand denkt Gegenwart noch sub specie aeternitatis. Genau das können wir heute nicht mehr. Gegenwart ist ein reißender Fluß, ein festes Ufer gibt es nicht. Darum fühlt sich Goetz’ fetter Suhrkamp-Band nun, über zwanzig Jahre später, wo wir wissen, wie es weiterging, wirklich wie »Abfall« an, nicht etwas, das nebenher ab- und anfällt, sondern wie etwas, das man wegwirft, weil es alt geworden ist. Die Relikte eines gehetzten Anschreibens gegen die verfließende Zeit in einem manisch-lebendigen Berlin, das es heute nicht mehr gibt. Abfall, versteinert oder zu toxisch, um zu zerfallen. Ein mumifiziertes Jetzt.
[…]
SINN UND FORM 6/2020, S. 758-767, hier S. 758-763
Hensel, Kerstin
Gruß aus Bitterfeld. Gedichte, S. 768
Lorenz, Carolin
Die Hintergrundsperson. Christine Wolters Poetik des Reisens, S. 771
Rosselli, Amelia
Wenn die Seele ihr Gepäck verkauft. Gedichte. Mit einer Vorbemerkung von Luisa Maria Schulz, S. 779
Krechel, Ursula
Aufzeichnungen aus der Dunkelheit. Vom Träumen in Diktaturen, S. 787
Wir träumen oder wir träumen nicht. Und nehmen an, daß Erinnerungen und Tagesreste eine Folie bilden, auf der Träume aufscheinen. Und (...)
Krechel, Ursula
Aufzeichnungen aus der Dunkelheit.
Vom Träumen in Diktaturen
Wir träumen oder wir träumen nicht. Und nehmen an, daß Erinnerungen und Tagesreste eine Folie bilden, auf der Träume aufscheinen. Und gleichzeitig wundern wir uns nicht, daß Menschen, die einer persönlichen und objektiven Katastrophe entronnen sind, schlecht träumen oder aus Alpträumen aufschrecken. Wie wurde in Sarajevo, im Kosovo, in Bagdad geträumt, wie wird in Aleppo, in Damaskus, in Idlib, wie in Pjöngjang, wie in den fortgeschrittenen Überwachungsstaaten geträumt? Ein Traumforscher müßte sich auf den Weg machen und die Träume der Traumatisierten, der aufgeschreckten Schläfer sammeln. Doch es wäre ein problematischer Ansatz, verängstigten und eingeschüchterten Menschen ihr nächtliches Material zu entwinden und ins Licht der Beobachtung zu stellen. Traumatisierte verschließen sich gewöhnlich. Sie leiden an einem fragmentierten Gedächtnis. Im Schweigen verkapselt sich das Trauma und widersetzt sich der Bearbeitung. Von neuem fühlten sich die Opfer bedrängt, vielleicht würden sie dem Forscher zuliebe etwas erfinden oder Träume so verändern, daß diese ihren Sinn verlören.
Der Traum, der erinnert wird, hat schon eine Sperre passiert, ist durch die Maschen der Traumzensur geschlüpft. Der politische Traum unterläuft eine innere und eine äußere Zensur. Traum und Trauma, obwohl sie gänzlich verschiedenen Wortstämmen entspringen, rücken in Diktaturen nahe zusammen und sind ineinander verwoben. Es ist durchaus nicht immer so, daß Traumatisierte die Übergriffe auf die persönlichste Sphäre, die Beschädigung, die Folter, den politischen Mord in Alpträumen von neuem erleben. Eher dissoziieren sie.
»Ich bin dann oben auf dem Schrank gesessen und habe das nur noch von oben herab beobachtet.«
Oder: »Ich steige aus meinem Körper aus, ich nehme gar nicht mehr wahr, was mit ihm geschieht.«
Oder: »Ich bin dann gar nicht da, ich schalte ab.«
Während wir bei einer alltagstauglichen Persönlichkeit ein kohärentes Ich voraussetzen, das eine leibliche und psychische Einheit in Raum und Zeit bildet, kommt es hier zur Anpassung des psychischen Apparats an die Anforderungen der Realität durch ein Abschotten vor der Überflutung, durch »Zumachen«. Das Trauma wählt Strategien des Verschweigens, während im Inneren eine lärmende Stille herrscht. Einem drohenden Schmerz wird mit einem affektiven Ausnahmezustand begegnet, so wird einer erneuten Erniedrigung vorgebeugt. Oder salopp ausgedrückt: Der Teufel wird mit dem Beelzebub ausgetrieben. Für Traumatisierte, im Wortsinn heißt das: seelisch Überlastete, kann eine solche Dissoziation heilsam sein. Die Traumata ganzer Bevölkerungsgruppen entziehen sich der Bearbeitung, einmal wegen der nicht ausreichenden Zahl therapeutisch ausgebildeter Helfer und andererseits, weil kollektive Unterdrückungserfahrungen individuelle Folgen haben.
»Ich bin dann oben auf dem Schrank gesessen und habe das nur noch von oben herab beobachtet.«
Wie hätte jemand Auschwitz überleben können ohne die Kraft zu einer solchen schützenden Dissoziation? Hier die Nummer beim Appell, dort die frühere Person, die einen eigenen Namen hatte, ein Bett, einen Tisch, eine Familie, ein Vorleben und eine Zukunft. All das versinkt, ist versunken, damit der Schmerz des Verlustes nicht übermächtig, überwältigend wird.
Die Arbeit mit Traumatisierten gebietet es, die Hermeneutik der angewandten Therapiemethoden und den Verhaltenskodex des eigenen Kulturkreises ständig zu reflektieren, auch die enge Bindung an das Medium Sprache muß auf den Prüfstand gestellt werden. Ob dann Atemübungen, malen, töpfern, tanzen helfen? Vielleicht, vielleicht auch nicht. In ihren Intentionen klaffen Forschung und akute Opferhilfe auseinander. Beide müßten eigentlich resignieren, denn in bestimmten Regionen der Welt sind alle Mitglieder der Gesellschaft, auch die Helfer und Therapeuten, traumatisiert. Im Grunde genommen sind ganze Staatsgebilde und ihre Bürger von solchen Dissoziationen betroffen. Doch die Traumatisierung der Opfer der Pinochet-Diktatur ist eine andere als die des Apartheidregimes, und bei vielen Bürgern der sozialistischen Staaten, den Opfern der Ceauşescu-Diktatur gibt es wieder andere Auswirkungen. Eben dies ist das Dilemma der Arbeit mit Opfern von Diktaturen. Methoden, die für die Behandlung von seelischen Krankheiten entwickelt wurden, sind nicht unmittelbar auf die Kränkung durch Freiheitsberaubung, Einschränkung der Meinungsfreiheit, der Freiheit der Berufsausübung zu übertragen. Die Hilfestellung ist konkret und individuell, der Ursprung der Traumata ist überindividuell, politisch.
»Das ist die Diktatur: unwillkürliche Bedrohung und unwillkürliches Bangen, B+B, Bedrohung und Bangen, das ist die Diktatur, aber nicht etwa so, daß die eine Hälfte des Landes die andere bedroht, oder die sogenannten Machthaber alle anderen bedrohen, sondern zu alldem gehört auch noch eine himmelschreiende, fürchterliche Ungewißheit, wer droht, hat auch Angst, wer bedroht wird, droht seinerseits ebenso, die streng abgesteckten Rollen sind bis zum äußersten unsicher, alle bedrohen und alle bangen, wobei es Henker und Opfer gibt und diese beiden voneinander unterscheidbar sind.«
So analysiert Péter Esterházy die psychischen Verformungen. Daß die Literatur, auch dort, wo sie weitgehend auf autobiographische Aussagen verzichtet, ein sensibel reagierender Seismograph ist, um das Demütigende und Krankmachende anzuzeigen, muß nicht ausdrücklich betont werden. Was Literatur ausmacht, ist keine Unterfütterung gesellschaftlicher Prozesse, es ist eher das Ungebändigte, Verstörende, das sich der Angst entgegenstellt. Eben das macht sie in Diktaturen so verdächtig. Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind Subjekt und Objekt ihres Schreibens, auch wenn sie auf autobiographische Aussagen verzichten. Herta Müllers literarisches Interesse gilt gerade der Kluft zwischen dem Außen und dem Innen der Gesellschaft, nicht eigentlich der Reibungsfläche zwischen Staat und Individuum, wie in der klassischen Literatur.
»Und in der Nacht muß ich wie Schlaf das mitgebrachte Land in dichten und genauen Bildern durch den Körper treiben.«
Das Trauma einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder entmündigt, erniedrigt, mit Strafen bedroht, wenn sie sich nicht einordnen, macht sich an äußeren Ereignissen fest. Täter und Opfer sind meist zu identifizieren, haben Namen und Adresse, auch wenn es sich häufig um Deck- und Spitzelnamen wie die der Informellen Mitarbeiter der Staatssicherheit handelt, und sie haben ein Gesicht, das wiedererkennbar ist – auch unter gänzlich anderen Bedingungen, auch im Traum.
Es ist eine bittere Ironie der Wissenschaftsgeschichte, daß Freuds Bemerkungen zur Kriegsneurose im Ersten Weltkrieg, sein Gutachten zur unmenschlichen und gleichzeitig fruchtlosen Behandlung der »Zitterer« durch Elektroschocks fast unbeachtet geblieben sind und daß das Nachdenken über Traumatisierung und ihre Folgen in den späten sechziger Jahren eine Folge von Krieg und Völkermord war.
Träume produzieren keine photographischen Abbilder früher erlebter, vielleicht verdrängter Szenen. Eher ver-rücken sie Erfahrungen, kleiden sie anders aus, verdichten sie zu neuen Bildern. Insofern sind sie dem Kunstwerk verwandt, das den Künstler auch nicht von einer bestimmten Erfahrung befreit, sondern in dem er eine andere Zugangsebene erarbeitet: eine Umschreibung, Überschreibung. Angstträume, Träume von der Vernichtung des Selbst, einer Weltzertrümmerung vor den eigenen Augen gibt es auch ohne Gewaltherrschaft. Sie sind dann Ausdruck eines depressiven Krankheitsbildes. Träumer in Diktaturen sind wache Zeitgenossen, sie sind wie Linsen, durch die das Tageslicht hineinströmt und dann gebrochen wird. Herta Müller erklärte in einer Rede: »Auch das begriff ich erst später, daß der Traum für jeden die unfreiwillige Arbeit an der Existenz war, der bis zur letzten Konsequenz geführte Diskurs des Alleinseins. Eingeschränkt nur vom Licht des Tages, oder vom Läuten des Weckers.
Ohne die Dimension des Traumes wäre ich nicht ausgekommen. Er gehörte zu den Personen, die ich erfunden hab. Er half mir zu zeigen, wie sich das Leben überschlägt, auch das derer, die sich im Wachsein am Tag von einem Zwang in den anderen begeben, bewußt oder verinnerlicht, um nicht aus dem Rahmen zu fallen. Und es blieb kein Geheimnis, es blieb auch mir selbst kein Geheimnis, daß sich der Schlaf mit seinen Träumen um so mehr zumutet, um so weniger sich der Tag mit seinem großen Auge über allen zugesteht. Je größer die Zwänge waren, je dichter, je wilder und dichter waren die Träume. Auch meine eigenen.«
Auf ähnliche Weise bleibt der russischen Schriftstellerin Lydia Tschukowskaja die Ebene des Traums in der Tagesrealität des wütenden stalinistischen Terrors erhalten, in dem ihr Mann getötet wurde: »Meine Einträge über den Terror waren – zufällig – nur dort vollständig, wo es um Träume ging. Für die Realität reichte meine Kraft des Beschreibens nicht aus. Ich habe es nicht einmal versucht. « Sie – die lebenslang Dissidentin blieb – schrieb unter Lebensgefahr und war gleichzeitig so mutig, Gedichte von Anna Achmatowa aufzuzeichnen, die diese nur mündlich vortrug und dann vernichtete.
Eine klug vorausschauende Frau, Charlotte Beradt, hatte zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft begonnen, ihre eigenen Träume zu notieren. Später, bevor sie 1939 Deutschland verlassen konnte, kamen Träume anderer hinzu, politische Träume, die in einzigartiger Weise die durch die Diktatur der Nationalsozialisten verursachten Gefühlsambivalenzen, Ängste und Anpassungsbestrebungen zum Ausdruck brachten. Sie befragte etwa dreihundert Träumer. Beradt hatte vorher für Zeitungen geschrieben und war Mitarbeiterin der »Weltbühne« gewesen. Mit ihrem Mann, dem Juristen und Schriftsteller Martin Beradt, der aus der Anwaltskammer ausgeschlossen worden war, flüchtete sie nach London und von dort nach New York. Als ihr Mann erblindete, verdiente sie den Lebensunterhalt als hairdresser. Sie übersetzte Texte der mit ihr befreundeten Hannah Arendt und arbeitete nach dem Krieg wieder für deutsche Zeitungen und Rundfunkanstalten. Erst 1966 wurde ihre Traumsammlung »Das Dritte Reich des Traums«, von ihr kommentiert, veröffentlicht und erregte großes Aufsehen; »eine Quelle ersten Ranges«, um die psychischen Auswirkungen des Nationalsozialismus zu studieren, schrieb der Historiker Reinhart Koselleck. Viele der Träume, die Beradt mitteilt, handeln vom Überwachen und Überwachtwerden, der Verengung des Erfahrungsraums, dem schleichenden Terror, der in den Alltag sickert. So der Traum eines jungen Mädchens: »Ich träumte, daß ich mitten in der Nacht aufwache und sehe, wie die beiden Engelchen, die über meinem Bett hängen, nicht mehr nach oben sehen, sondern nach unten und mich scharf beobachten. Ich erschrecke so, daß ich mich unter meinem Bett verkrieche.«
Hier ist die feine Grenze zwischen dem Beschützen des Schlafs – vermutlich durch die Putten, die die Sixtinische Madonna begleiten – und dem Überwachen auf symbolische Weise überschritten. Wachen wird Überwachen, die Vorsichtsmaßnahmen des Tages machen sich selbständig. Viele Träumer bei Beradt erleben, daß ihre Wohnungen, ihre Gedanken durchsichtig sind, daß die beobachtende Behörde allwissend, ja gottähnlich ist. Einmal ist es ein Kopfkissen, einmal ein Ei, dann ein Mistelzweig, der zum Objekt des Verrats wird. Zu Agenten der Macht sind die vertrauten Dinge geworden, sie hören die Träumer ab, um sie leichter ausliefern zu können. Die Anpassungsleistungen, um der Kontrolle zu entgehen, sind enorm. Der Terror wird nicht nur geträumt, sondern die Träume selbst sind Bestandteil des Terrors. Eine Putzmacherin berichtet im Sommer 1933, daß sie im Traum vorsichtshalber Russisch spreche: »damit ich mich selbst nicht verstehe und damit mich niemand versteht, falls ich etwas vom Staat sage, denn das ist doch verboten und muß gemeldet werden«.
Vorsichtsmaßnahmen, Verdrehungen des Sinnvollen, die Diktatur schleicht in die Träume, macht sich die Menschen gefügig. Ein Witz wird erzählt, aber aus Vorsicht so falsch, daß er keinen Sinn mehr ergibt. Die Träume verkleiden nicht die Angst, sie drücken die Angst vor der Überwachung unmittelbar aus, latenter und manifester Trauminhalt fallen ineinander. Das Sperrfeuer der Propaganda ist allgegenwärtig, dem Traum bleibt nur der winzige Phantasieraum, den die totalitäre Gesellschaft noch nicht vollkommen besetzt hat. Im Traum kämpfen die Elemente der Anpassung und des Widerstands miteinander. Doch nicht das, was dem Individuum angetan wird, gilt als ver-rückt, als jenseits des Erträglichen, sondern gerade das Bedürfnis nach Freiheit, nach Auflehnung, die Gegenkraft der Revolte soll es sein. Es ist dies eine elementare Kraft, die sich durch Träume in der Diktatur ausdrückt, sie stemmt sich der Erfahrung der Totalität entgegen, eine produktive Energie erwächst aus ihr. Der Alptraum ist das normale Leben.
[…]
SINN UND FORM 6/2020, S. 787-797, hier S. 787-791
Sagnol, Marc
Celan, die Wasser des Bug, S. 798
Rychlo, Petro
»Jede Silbe wiegt schwer«. Ein Gespräch mit Renate Nimtz-Köster über das Übersetzen von Paul Celan, S. 810
Płaza, Maciej
Die eingemauerten Bilder, S. 818
Barnes, Julian
Robespierres Nachttopf. Huysmans als Kunstkritiker, S. 833
Huysmans, Joris-Karl
Das Berliner Aquarium, S. 845
Braun, Michael
»Eine Tiefenimprägnierung des Katholischen«. Gespräch mit Bernd Wacker über Hugo Ball, S. 851
Wilkins, Eithne
Der ganze Mensch. Viktor von Weizsäckers anthropologische Medizin (1953), S. 853