
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-32-4
Heft 6/2016 enthält:
Georgi, André
Seestück, S. 725
Sand wie verdreckter Schnee, darüber ein Meer, das seine weißen Schaumkronen dem Strand entgegenspült, tiefblau, die Farbe des Todes, der Himmel (...)
Georgi, André
Seestück
Sand wie verdreckter Schnee, darüber ein Meer, das seine weißen Schaumkronen dem Strand entgegenspült, tiefblau, die Farbe des Todes, der Himmel wiederum eine pastellene Verheißung der Erlösung und zugleich eine Ankündigung des Nichts: Drei Flächen, ocker, schwarzblau, pastellblau – der Übergang vom Strand zum Meer eine scharfe Grenze, ausgefranst dagegen der Übergang vom Meer zum Himmel, ein loderndes Blau, wie ein hinter dem Horizont züngelnder Brand einer Stadt, in den falschen Farben gemalt. Vorne ein Mann in schwarzem Gewand, mit eigentümlich verdrehter Gestalt, Oberkörper und Gesicht dem Brand hinter dem Meer zugewandt, die Füße aber zur Seite zeigend, eine instabile Lage, kein Mensch könnte so stehen, der Kopf hat einen Entschluß gefaßt, den durchzuführen die Füße verweigern.
Uhden, der eine Woche vor ihm hier im Dresdner Atelier gewesen war, hatte Schleiermacher gewarnt: Das sei ein Bild, das kein oben und unten kenne, keine Tiefe, die Komposition sei flach und verleugne den Raum, der Betrachter wisse nicht, woran er sei, abgesehen von dem Mann im schwarzen Gewand sei der Strand völlig leer, keine Sträucher, keine Fischernetze, keine Hütten als Orientierungspunkte – ganz anders als beim Vorgängergemälde, das Friedrich drei Jahre früher gemalt und das Uhden auf seiner Rückreise von Italien nach Berlin beim Käufer des Bildes gesehen hatte. Auch auf dem Meer sei nichts, woran man die Tiefe ermessen könne, kein Schiff, und die wenigen, verschwindend kleinen Möwen am Himmel gäben einem auch keinen Halt. Außerdem stimme es, was man in Weimar über das Bild sage, man könne es genausogut verkehrtherum aufhängen, nichts ginge verloren. Im Grunde sei es auch einerlei, hatte Uhden vor einer Woche in Berlin zu Schleiermacher gesagt: Entweder würde der Mann am Strand von Meer und Himmel erdrückt oder er stürze – auf dem Kopf stehend – aus griesgrämigen Schmuddelwolken in den Abgrund einer mephistophelischdunklen Nacht. Uhden, preußischer Staatsrat mit archäologischen Interessen, der zwölf Jahre als Privatgelehrter in Rom gelebt hatte, bevor Humboldt ihn aus seiner finanziellen Dauermisere rettete, indem er ihn nach Berlin in den Staatsdienst rief, bevorzugte das Südlich-Schöne gegenüber dem Nordisch-Erhabenen, denn um seiner depressiven Natur zu entkommen, brauchte er leichte Küsse in homerischem Licht statt ossianischen Dauerregens. Aber trotz seiner latenten Abneigung gegen das ihn beunruhigende Bild sagte Uhden, der Friedrichs psychische und finanzielle Situation bei seinem Besuch sofort erkannt hatte, zu Schleiermacher, er würde seine Zustimmung nicht verweigern, sollte dieser es der Akademie zur Ausstellung empfehlen. Schleiermacher solle selbst nach Dresden fahren, sich einen Eindruck verschaffen und dann entscheiden.
Die Zeit drängte, die Nominierungen zur Akademieausstellung sollten längst bekanntgegeben sein. Schleiermacher nutzte eine Reise nach Leipzig, per Eilbrief ließ er sich bei Friedrich zum Atelierbesuch ankündigen. Eine knappe Woche später stand er ihm am frühen Nachmittag des 12. September 1810 gegenüber. Und erschrak über dessen Erscheinung. [...]
SINN UND FORM 6/2016, S. 725-731, hier S. 725-726
Schacht, Ulrich
Vom Licht über Skagen. Drei Balladen, S. 732
Grynberg, Henryk
Mahetschko. Marek Hłasko, Flüchtling von Polen nach Israel, S. 735
Ronen, Diti
Kleines Drossel, S. 745
Gal-Ed, Efrat
Das unbekannte Jiddischland. Ein Gespräch mit Ruth Renée Reif über Itzik Manger, S. 753
RUTH RENÉE REIF: Der »Prinz der jiddischen Ballade« wurde Itzik Manger genannt. Isaac Bashevis Singer sah in ihm einen »jiddischen Baudelaire«, (...)
Gal-Ed, Efrat
Das Unbekannte Jiddischland. Ein Gespräch mit Ruth Renée Reif über Itzik Manger
RUTH RENÉE REIF: Der »Prinz der jiddischen Ballade« wurde Itzik Manger genannt. Isaac Bashevis Singer sah in ihm einen »jiddischen Baudelaire«, einen der größten Dichter jiddischer Sprache. In Ihrer Biographie entwerfen Sie ein lebendiges Bild seines Schaffens und seiner jiddischen Lebenswelt. Wie bewerten Sie aus heutiger Perspektive die Bedeutung seines Werks?
EFRAT GAL-ED: Itzik Manger war ein überaus origineller Künstler. Er schaffte es, eine eigene Stimme zu entwickeln, indem er verschiedene Formen der europäischen Literatur mit dem Jiddischen verschmolz. In den zwanziger Jahren übernahm er zum Beispiel die Ballade und goß das traditionell Jiddische in sie hinein. Das war völlig neu. Manger war mit der Weltpoesie vertraut. In seiner Lyrik setzte er neben romantischen auch symbolistische und expressionistische Stilelemente ein. Er leistete, was auch andere bedeutende Lyriker seiner Zeit leisteten. Nur hatte er das Unglück, dies in einer Sprache zu tun, die heute nur noch wenige Menschen lesen und sprechen.
REIF: Wie verbreitet war das Jiddische damals?
GAL-ED: Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges wurde Jiddisch von etwa elf Millionen Menschen gesprochen. Über diese Sprachgemeinschaft hinaus war es aber nicht bekannt. Das hing vor allem mit dem Antisemitismus der dreißiger Jahre zusammen.
REIF: Wurden Mangers Texte zu seinen Lebzeiten in andere Sprachen übersetzt?
GAL-ED: Der Schriftsteller Alfred Margul-Sperber übersetzte bereits 1932 erste Balladen ins Deutsche, ebenso die Lyrikerin Rose Ausländer. Als Manger 1935 in Warschau unter dem Titel »Chumesch-lider« ("Fünfbuch-Lieder«) seine avantgardistischen Bibelgedichte herausgab, übertrug Mascha Kaléko einige Texte ins Deutsche, die neben ihrer Rezension in der »Jüdischen Rundschau« in Berlin erschienen. Nach Kriegsende kam es bis in die späten fünfziger Jahre zu keinen weiteren Übersetzungen. So blieb Manger die internationale Bekanntheit verwehrt.
REIF: »Niemandssprache« heißt Ihre Biographie. Sie greifen damit einen Ausdruck Itzik Mangers auf, der das Jiddische 1925 so bezeichnete. Warum schon damals?
GAL-ED: 1925 war Manger gerade vierundzwanzig. Er hatte seinen Militärdienst beendet und begann, für die jiddische Kulturföderation in Rumänien zu arbeiten, die aus einer Initiative des jiddischen Schriftstellers Elieser Steinbarg entstanden war. Manger reiste zwischen Bukarest, Jassy und Czernowitz hin und her, um Bildungsvorträge für die Jugend zu halten. Doch als junger Dichter wollte er auch veröffentlichen. Aus seinen Notizen hatte er jene Gedichte zusammengestellt, die er literarisch für gelungen hielt. Aber es mangelte an Verlegern, an literarischen Bühnen und vor allem an Geld. Angesichts dieser Schwierigkeiten griff Manger zu dem emphatischen Ausdruck »hefker«, was »herrenlos«, »vogel frei« oder »gesetzlos« bedeutet. »Jidisch is hefker« nannte er 1925 seinen Selbstverlag. Mit dieser Feststellung brachte er einerseits zum Ausdruck, daß Juden vogelfrei seien. Zum anderen war das eine Kritik an der jiddischen Gemeinschaft selbst, weil ihre Sprache weder Gesetze noch Traditionen habe und jeder mit ihr machen könne, was er wolle.
REIF: »Jiddisch, die wirkliche Volkssprache, wird gepflegt von den Arbeiterfreunden, den Sozialisten, Weltlichen«, zitieren Sie Alfred Döblin. War Mangers Entscheidung, Jiddisch als Dichtersprache zu wählen, ein politisches Bekenntnis zur Arbeiterschaft?
GAL-ED: Die Frage ist, ob er tatsächlich eine Wahl hatte. Er wuchs im multikulturellen Czernowitz auf. Jüdische Intellektuelle konnten zwischen Deutsch, Jiddisch und Rumänisch wählen. Sie identifizierten sich zumeist mit der deutschen Kultur und schrieben Deutsch. Das hätte auch für Manger nahegelegen. Er behauptete, anfangs deutsche Gedichte geschrieben zu haben. Ich habe aber bei meinen Recherchen kein einziges gefunden. Meine Vermutung ist, daß er seine frühen, stark von Germanismen geprägten jiddischen Gedichte als deutsche ansah. Denn ich bezweifle, daß er Deutsch so gut beherrschte, um Gedichte schreiben zu können. Das deutsche Gymnasium hat er ein knappes Jahr besucht, dann brach er die Schule ab und begann eine Schneiderlehre. Seine literarischen Kenntnisse erwarb er als Autodidakt. Rumänisch kam auch nicht in Frage. Das konnte er zwar sprechen, aber nicht schreiben. So blieb, als einzige Sprache, in der er sich wirklich ausdrücken konnte, seine Muttersprache, das Jiddische. In politischer Hinsicht war die Entscheidung für das Jiddische sicher ein Bekenntnis zur Arbeiterschaft. Manger kam aus dieser Schicht, wuchs in einem armen Schneiderhaushalt auf. Handwerker gehörten in der jiddischen osteuropäischen Gesellschaft zum Arbeitermilieu. Auch seine Haltung, vor allem in der Jugend, war antibürgerlich.
REIF: Fand Itzik Manger auch seine Leser unter den Arbeitern oder waren es doch eher die Intellektuellen, die sich für seine Gedichte und Balladen begeisterten?
GAL-ED: Die Arbeiter waren sein größtes Publikum. Nicht jeder konnte sich damals ein Buch kaufen; dazu waren Bücher zu teuer. Die Verbreitung der modernen jiddischen Literatur beruhte auf der Bekanntschaft mit den Autoren, die ihre Werke wie Handlungsreisende öffentlich vorstellten. Da gab es etwa in Belz die Kulturliga und in Warschau den Schriftstellerverband. Freitags kamen die Arbeiter aus den Provinzen und trafen im Verbandslokal mit den Schriftstellern zusammen. Die Delegierten aus der Provinz engagierten dann einen Autor, am kommenden Schabbat in ihre Stadt zu kommen, um über ein Thema zu sprechen und aus seinem Werk zu lesen. Vor diesem Hintergrund war ein Phänomen wie Itzik Manger möglich. Während seiner gesamten Jugend in Rumänien und auch später während der zehn Jahre, die er in Polen verbrachte, reiste er von Ort zu Ort, hielt Vorträge und rezitierte seine Gedichte. Die jiddische Intelligenz war ebenfalls von ihm begeistert, wie man in der jiddischen Presse nachlesen kann.
REIF: Itzik Manger betonte, ein säkularer Jude zu sein. Zugleich aber wurzeln viele seiner Stoffe in der religiösen Tradition. Wie ist dieser Widerspruch zu deuten?
GAL-ED: Diese Stoffe entstammen dem jüdischen Bücherschrank. Die hebräische Bibel und die Kommentarliteratur können als religiöse Texte betrachtet werden, doch für die damalige jiddische Intelligenz waren sie Kulturgut. Jiddische Dichter, die auf den Tanach, die hebräische Bibel, zurückgriffen, suchten damit nicht nur eine Anbindung an die eigene Volkstradition, sondern an etwas Universales. Denn die Schrift war auch Teil der abendländischen Kultur. Mit der Verarbeitung von Motiven, die jüdischen wie nichtjüdischen Kulturen gemeinsam waren, schlugen diese Dichter eine Brücke.
REIF: Tatsächlich verstand sich Itzik Manger als europäischer Dichter und betonte die Bindung des Jiddischen an Europa. Wie äußerte sich dieses Selbstverständnis?
GAL-ED: Die jiddischen Schriftsteller verstanden sich sowohl kulturell als auch politisch als Teil Europas. Jiddisch war das identitätsstiftende Medium der Minderheitskultur und zugleich die Voraussetzung ihrer europäischen Zugehörigkeit. Es entstand ›Jiddischland‹, eine ›Wortrepublik‹, die Jiddischsprechende weltweit vereinte. Gerade heute, da wir in der Kulturwissenschaft von Transkulturalität und Transnationalität sprechen, erscheint das kosmopolitische ›Jiddischland‹, wie es damals gelebt wurde, als großartiges europäisches Konzept. Manger gehörte der zweiten Generation moderner jiddischer Dichter an. Als Künstler fand er in den zwanziger Jahren zu seinem Stil. Da war die moderne jiddische Literatur gerade einmal sechzig Jahre alt. Manger hatte daher nur wenige Vorbilder. Mendele Moicher Sforim und Scholem Alejchem hatten keine Lyrik geschrieben, blieb also nur Jizchok Leib Peretz. Auf ihn konnte Manger sich beziehen. Hingegen waren expressionistische Dichter wie Melech Ravitch, Moische Broderson oder Uri Zvi Grinberg literarisch für ihn eher wie ältere Brüder. Manger orientierte sich bereits in den zwanziger Jahren an modernen jiddischen Dichtern in Amerika, darunter Impressionisten, Symbolisten und Mitglieder der avantgardistischen Gruppe »In sich«. Sie alle stammten aus Europa und arbeiteten in New York mit Konzepten der zeitgenössischen europäischen und amerikanischen Literatur.
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SINN UND FORM 6/2016, S. 753-761, hier S. 753-756
Manger, Itzik
Schoah und Literatur, S. 762
Manger, Itzik
Porträt einer Schneiderstube, S. 765
Broda, Marzena
Jetzt kann alles geschehen, S. 775
Stoessel, Marleen
Mythos Georgien?, S. 779
Dies sind nur tastende Worte der Annäherung an ein Land, eine Stadt, Tbilisi, die sich mir vor allem im Hitzeschleier zeigte, in einer Dunstglocke, (...)
Stoessel, Marleen
Mythos Georgien?
Dies sind nur tastende Worte der Annäherung an ein Land, eine Stadt, Tbilisi, die sich mir vor allem im Hitzeschleier zeigte, in einer Dunstglocke, die ihre Farben dämpfte und ihr etwas von einem »panischen Schlaf« verlieh. Einem ewigen Mittag, dessen Pulsschlag ich für ein paar Tage im Juni mitträumte und dessen Traumbild jetzt Erinnerung ist. Aus dieser erinnerten Ferne, Monate später, der Versuch einer Annäherung an dieses Bild, mein Tasten nach dem Ton, dem Wort, das ihm entspricht. Sagt sich all das doch so leicht: »Mythos Georgien«, die Elogen und Superlative, die Projektionen und Klischees, die uns jeder Reiseführer, jede Reisewerbung bietet. Mythos ist immer Erzählung, Legende, ihre besungene, gefilterte Wahrheit und ebenso ihre verzerrte, historisch vielfach entstellte Wahrheit, die Lüge. Von beiden Arten hat dieses uralte Land, dessen westlicher Saum am Schwarzen Meer einst Kolchis hieß – Sehnsuchtsort der Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies –, übergenug. Das Alter und die Sprache, die keiner der großen bekannten Sprachfamilien angehört, tragen dazu bei. Mehr konsonantisch als vokalisch, wirkt ihr Klang wie aus Holz und kaukasischem Mineral gemeißelt, dem Auge aber präsentiert sich ihre runde, ornamental geschwungene Schrift wie in Gold geprägt, oder wie das einstmals aus den Wassern »gevlieste« Gold.
Dort, in Batumi, direkt am Ufer des Schwarzen Meers, ragt heute ein neun Meter hohes Kunstwerk empor, eine kinetische Skulptur der Künstlerin Tamara Kvesitadze, »Man and Woman« genannt. Zwei aus vielen schmalen Aluminiumringen bestehende Figuren, männlich und weiblich, bewegen sich allabendlich aufeinander zu, verschmelzen miteinander und entfernen sich wieder. Allegorien all jener Differenzen, die unser Eigensein und Anderssein bezeichnen, ob geschlechtlich, ethnisch, kulturell. »Ali und Nino« werden sie im Volksmund genannt, nach dem berühmten Roman von Kurban Said, der die Geschichte einer Liebe zwischen der georgischen, europäisch-christlich erzogenen Nino und Ali, dem muslimischen Sohn aus vornehmem aserbaidschanischen Haus in Baku, erzählt. Eine Liebe, die alle kulturellen Kluften zu überbrücken scheint und doch an ihnen scheitert.
Ihr Verfasser stellt einen eigenen Mythos dar, dessen Webmuster aus seinen drei Namen gebildet ist: Zwei Pseudonyme, Kurban Said und Essad Bey, überblenden seinen eigentlichen Namen Lev Nussimbaum, als der er 1905 in Baku geboren wurde, als Sohn eines aus Tiflis stammenden jüdischen Ölbarons und einer russisch-jüdischen Revolutionärin und Stalin-Vertrauten, die Selbstmord beging, als Lev gerade sechs Jahre alt war. Revolution und russische Okkupation vertrieben Vater und Sohn aus dem Land, nach abenteuerlicher Flucht quer durch die benachbarten Länder landeten sie 1920 in Berlin. Dort konvertierte der Gymnasiast Lev zum Islam, nannte sich von da ab Essad Bey, später dann, als weitere Tarnung gegenüber den Nationalsozialisten, auch Kurban Said. Mehrere Dutzend Bücher hat der mit 36 Jahren schwerkrank und verarmt in Positano verstorbene Nussimbaum hinterlassen, darunter auch Biographien Mohammeds und Stalins. Eine Gedenktafel mit seinem Porträt erinnert gegenüber dem Berliner Literaturhaus an den heute weitgehend Vergessenen. Hundert Jahre später folgte der amerikanische Journalist Tom Reiss den Spuren, man könnte auch sagen: der einzigartigen Schelmengeschichte dieses Autors, der sich selbst zum Mythos stilisiert hatte, und es gelang Reiss in seinem höchst spannenden Buch »Der Orientalist«, Lev Nussimbaums Geheimnis weitgehend zu lüften.
Nicht zuletzt der Roman »Ali und Nino« war es, der vor über zwanzig Jahren meine Sehnsucht nach diesen Ländern jenseits des Schwarzen Meeres weckte, der mir Ansätze für mein Verstehen fremder, muslimischer Sitten und Ehrbegriffe vermittelte und mir desto schärfer die westliche Überheblichkeit gegenüber dem Osten, dem »Orient« vor Augen führte. In meinen Literaturlexika suche ich bis heute Roman und Namen des Autors vergebens, obgleich doch gerade in der Auseinandersetzung mit dem seinerzeit von Edward Said kritisch ins Feld geführten Begriff des »Orientalismus« Lev Nussimbaums ebenso ironische wie ernstgemeinte Maskerade erhellend ist. Dem Erstaunen über diese Leerstelle sekundiert die Tatsache, daß es erst Navid Kermani mit seiner Paulskirchenrede gelang, das mit westlich-aufklärerischer Arroganz verdrängte Bild der uralten islamischen und arabischen Kulturen wiederzuerwecken. Als gäbe es dort nur primitive, brutale Völker und Stämme und nicht Gelehrte wie Avicenna, Kultur- und Dichterheroen wie Hafis, Al Ghazali oder Rumi, letztere auch Angehörige der Sufis, die freilich bis heute, so wie früher alle unorthodoxen Strömungen in den monotheistischen Religionen, verfolgt werden.
Diese tief dem Mythos »Orient« eingelagerten Schätze, die es auch im Westen neu zu heben gilt – sie wären heute gleichsam das »Goldene Vlies«. Und förmlich wie ein Vlies am eurasischen Körper zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer erstreckt sich auch das kleine georgische Land, am nordwestlichen Ende beschnitten um das abtrünnige Abchasien und tief und wund eingerissen in der nördlichen Mitte durch das zwar autonome, aber de facto besetzte Südossetien, von den Russen scharf an seinen Grenzen bewacht.
*
Vliesähnlich – das Wurzelwerk der Metapher reicht weit – auch die im nächtlichen Anflug in warmen Lichtern blinkende, sich längs des Flusses Mtkwari dehnende Stadt, die bis heute als eine der schönsten des näheren Ostens gilt: Tiflis oder, in der Sprache ihrer Bewohner heute: Tbilisi. Von heißen Schwefelquellen, die in alten osmanischen, kuppelgedeckten Anlagen noch als Heil- und Wellnessquellen sprudeln, hat die Stadt ihren Namen.
Nun lag sie vor mir im Sonnendunst, in dem ich nach einer kurzen Ankunftsnacht erwachte. Geweckt wie jeden Morgen von der absteigenden Melodie eines Ausrufers, der, wenn ich ans Fenster stürzte, grad mit seinen Tüten um die Ecke bog. Erst kürzlich erschloß sich mir sein Ruf, den ich mir rein phonetisch notiert hatte: Mazoni malaco! "Mazoni« für Joghurt und »malaco« russisch für Milch, ebenso wie den letzten noch chiffrierten Rest »Zchneti«, der den Ruf rhythmisch skandierte: Joghurt und Milch, frisch aus den Bergen, wo auf holprigen Wegen Kühe und Schafe den Autos gelassen die Vorfahrt nehmen. Und aufwärts steigend, in gleißende Weite, dehnte sich vor mir das Panorama der Stadt: darin die zahlreichen Türme der orthodoxen Kirchen, manche funkelnd in der Sonne, und jenseits des Flusses der wulstige Bau der neu errichteten Sameba-Kathedrale und der dem Berliner Reichstag nachempfundene kuppelgekrönte Präsidentenpalast.
Tief unter meiner Terrasse aber die Altstadt. In ihr schlägt das Herz der Stadt, in ihr wachte ich auf, dort bin ich stundenlang durch die staubige Hitze zwischen den verfallenden, windschiefen, zerrütteten Häusern gelaufen, wo nur einzelne schmiedeeiserne Gitter und Balkone – jene typischen, mit ihren holzgeschnitzten, etwas venezianisch anmutenden Loggien – und die Reste von Ornamenten und Dekor an einstige Pracht erinnern. Ein schweres Erdbeben hat 2002 den Verfall weiter befördert, dessen »Poesie« angesichts der Verwüstung, die kaum eine schützende Maßnahme aufzuhalten scheint, nur noch stellenweise zu finden ist. Es ist wie bei den alten Fresken, die ich in den vielen uralten Kreuzbasiliken sah: Sind sie zu ramponiert, beschädigt, verblaßt, bleibt nur noch wenig von ihrer Aura – leichtere Beschädigungen freilich wecken im Betrachter jene Imagination einer Schönheit, die in solcher Vollkommenheit vielleicht nie bestand.
Ein Bild des Verfalls, verfallender Schönheit, das mein Traum-Erinnerungsbild auf eigentümliche Weise grundiert: Als stünde die Zeit wie in jener »panischen« Mittags-Hitzestunde still, als hielte sie den Atem an, erzeugte eine scheinhafte Leere, ein Vakuum, in dem die Zeichen jüngster und vergangener, ja auch uralter Geschichte ein Muster von Hoffnung und Bedrohung zugleich ergeben, ein Nachbild, in dem die Trümmer und Reste dieser Geschichte sich zu einer Konstellation der Möglichkeiten fügen, von denen – und wie sie ergriffen werden – mir das zukünftige Schicksal dieser Stadt, dieses Landes und seiner Menschen abzuhängen scheint.
[...]
SINN UND FORM 6/2016, S. 779-789, hier S. 779-782
Leetz, Michael
»Der erste, der wirklich alles verstanden hat«. Andrej Platonow, der Schriftsteller der Zukunft, S. 790
Im Dezember 1934 bereitet den Redakteuren des Almanachs »Zwei Fünfjahrpläne« ein Beitrag großes Kopfzerbrechen. Er umfaßt nur wenige Seiten, (...)
Leetz, Michael
»Der erste, der wirklich alles verstanden hat«. Andrej Platonow, der Schriftsteller der Zukunft
Im Dezember 1934 bereitet den Redakteuren des Almanachs »Zwei Fünfjahrpläne« ein Beitrag großes Kopfzerbrechen. Er umfaßt nur wenige Seiten, doch sein Inhalt ist von großer Sprengkraft. Allein der Titel läßt den Text gefährlich erscheinen: »Über die erste sozialistische Tragödie«. Die Sowjetunion befindet sich in ihrem dreizehnten Jahr. Es ist die Zeit des Zweiten Fünfjahrplans, der einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung herbeiführen soll. Die Errichtung der ökonomischen Basis des Sozialismus steht offenbar kurz vor ihrem erfolgreichen Abschluß. Wie kann man angesichts dieser lichten Zukunft von der »Ersten sozialistischen Tragödie« sprechen? Gefährlich ist der Text aber vor allem durch seinen Verfasser, den fünfunddreißigjährigen Schriftsteller Andrej Platonow, der wenige Jahre zuvor als »Klassenfeind« in Verruf geraten war. Er hatte einen Roman geschrieben, »Tschewengur«. Dieser handelt von einer Ortschaft gleichen Namens in der südrussischen Steppe, deren Bewohner ohne technische Hilfe, gleichsam aus der Natur heraus den Kommunismus errichten. Platonow schaffte es, den konterrevolutionären Charakter des Werks zu verschleiern und den Verlag zu täuschen. Fast wäre der Roman erschienen. Die Druckfahnen existierten bereits, doch im letzten Augenblick stoppte die Zensurbehörde die Veröffentlichung. Kurz darauf gelang es dem Autor, die Redakteure einer Literaturzeitschrift zu überlisten. Ihnen jubelte er eine Novelle unter, die er als Diskussions beitrag zur Kollektivierung der Landwirtschaft ausgab. In Wirklichkeit aber propagierte er die Ideologie der Kollektivierungsfeinde, der Kulaken. Die Novelle erschien und der Skandal war perfekt: Stalin tobte. Er beschuldigte nicht nur den Schriftsteller, sondern auch die ahnungslosen Redakteure, »Agenten unserer Feinde« zu sein. Und nun also »Über die erste sozialistische Tragödie« …
Solche Gedanken müssen den Redakteuren von »Zwei Fünfjahrpläne« durch den Kopf gegangen sein, als der Text auf ihrem Schreibtisch lag. Verbürgt ist, daß sie den beunruhigenden Essay in den ersten Januartagen 1935 an Maxim Gorki sandten. Im beigefügten Brief baten sie den obersten Schriftsteller im Staate, zu entscheiden, was mit dem »politisch fremden, philosophisch feindlichen und melancholischen« Text geschehen soll, und auch mit seinem Verfasser.
Heute gilt der damals Verfemte als einer der wichtigsten russischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Andrej Platonow (1899 –1951) war ein sowjetischer Schriftsteller, der sich dem in der Sowjetunion zur Norm erhobenen »sozialistischen Realismus« nie unterordnete. Künstlerisch ging er eigenständige, neue Wege. Er war ein Sozialist, der aufrichtig an den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft glaubte. Gerade deshalb erfaßte er die inneren Widersprüche des ersten sozialistischen Staates besonders tief. Seine Kritik war so grundsätzlich, daß die meisten seiner Bücher erst während der Perestroika oder nach dem Ende der Sowjetunion in seiner Heimat erscheinen konnten.
Hierzulande ist Platonow heute fast ein Unbekannter. Über zwanzig Jahre liegt die letzte deutsche Veröffentlichung zurück: das 1993 im Verlag Volk und Welt publizierte Romanfragment »Die glückliche Moskwa«. Im Dezember dieses Jahres erscheint bei Suhrkamp sein Roman »Die Baugrube« in einer Neuübersetzung. Es ist an der Zeit, Platonow dem Vergessen zu entreißen. Er ist nicht nur ein Klassiker der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts, der noch der Entdeckung harrt, von seinem Werk geht auch ein Impuls aus, der hier und jetzt für uns wichtig werden könnte.
»Die Baugrube« nahm bereits 1930 den Zusammenbruch des sowjetischen Systems visionär vorweg. Nach dem erstmaligen Erscheinen des Romans 1987 in der Moskauer Literaturzeitschrift »Nowy mir« (in Frankfurt am Main war er bereits 1969 im russischen Exilperiodikum »Grani« erschienen) sprach der Petersburger Schriftsteller Andrej Bitow von Platonows prophetischer Gabe: »Es ist Sache der Gegenwart, Platonows Texte wiederauferstehen zu lassen, weil er im eigentlichen Sinne ein Schriftsteller der Zukunft ist. Platonow wird sich als ein merkwürdig uneinfacher Schriftsteller erweisen, weil er der erste war, der wirklich alles verstanden hat.«
Dieses Alles-Verstehen weist weit über die sowjetische Epoche hinaus, denn Platonow war auch ein ökologischer Prophet. Bereits in den frühen zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts setzte er sich für die Nutzung erneuerbarer Energien ein, vor allem der Solarkraft. Er war von der Notwendigkeit einer neuen Wirtschaft überzeugt, die die natürlichen Ressourcen schont. Eine ökologische Katastrophe ließe sich nur verhindern, wenn fossile Brennstoffe durch regenerative Energien ersetzt würden und der Mensch ein neues Bewußtsein erlangte, das ihn dazu befähigt, im Einklang mit der Natur zu leben. Platonow hat die gewaltigen ökologischen Probleme, vor denen wir im 21. Jahrhundert stehen, genau vorhergesehen und erstaunlich aktuelle Ansätze zu ihrer Überwindung aufgezeigt.
Sein ökologisches Denken war durch seinen zweiten Beruf, den des Ingenieurs, geprägt: Anfang der zwanziger Jahre organisierte er in Zentralrußland als Elektrotechniker die Elektrifizierung der Landwirtschaft und kämpfte als Meliorator, d. h. als Bewässerungs-Ingenieur, gegen die katastrophale Dürre an, die zum Hungertod von Millionen führte. Er selbst nannte dies den »Kampf gegen die Wüste«. Unter Wüsten verstand Platonow keine natürlichen Landschaften; sie waren für ihn vielmehr das Resultat menschlicher Geschichte, Gräber einst blühender Kulturen, die untergingen, weil sie durch unvernünftiges Wirtschaften ihre Lebensgrundlagen zerstört hatten. Als Meliorator strebte er danach, die der Natur vom Menschen zugefügten Wunden zu heilen, als Leiter der Elektrifizierung suchte er nach neuen Wegen der Energiegewinnung, die den Raubbau an der Natur grundsätzlich beenden sollten. Diese Bestrebungen fielen bei Platonow mit der Verwirklichung des sozialistischen Ideals zusammen. Bereits 1922 schrieb er in seinem Aufsatz »Licht und Sozialismus« über die Nutzung der Sonnenenergie: »Denn das Licht soll die Grundlage der sozialistischen Wirtschaft sein – oder es wird niemals Sozialismus geben, sondern nur eine ›ewige Übergangsepoche'.«
Ein bedeutendes Zeugnis für Platonows ökologisches Denken ist jener hier erstmals in deutscher Übersetzung vorliegende Essay »Über die erste sozialistische Tragödie« (1934), ein Schlüsseltext nicht nur für Platonows literarisches Werk, sondern auch für das 20. Jahrhundert. Selten zuvor ist so vorausschauend das Problem der Begrenztheit der Ressourcen beschrieben, so deutlich vor der Gefahr einer durch den Menschen verursachten globalen ökologischen Katastrophe gewarnt worden. Platonow unterstreicht, daß die Menschen früherer Jahrhunderte nicht die technischen Möglichkeiten besessen hätten, die Natur bis in ihre tiefsten Tiefen auszubeuten: »Das ist auch gut so, ansonsten hätten die Menschen die gesamte Natur – in der historischen Zeit – längst ausgeplündert, verbraucht, sich an ihr berauscht, sie ausgesogen bis auf die Knochen: An Appetit hätte es nie gemangelt.« Nun aber sei der Mensch mit seiner Technik fähig, ins Innere der Welt einzudringen, ohne allerdings die seelische Reife zu besitzen, mit der Natur verantwortungsvoll umzugehen. »Doch der Mensch ändert sich langsamer, als er die Welt verändert. Genau darin besteht das Zentrum der Tragödie.«
Die »Grenzen des Wachstums«, die der Club of Rome 1972 benannte, hatte der Schriftsteller bereits vierzig Jahre zuvor erkannt.
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SINN UND FORM 6/2016, S. 790-799, hier S. 790-792
Platonow, Andrej
Über die erste sozialistische Tragödie, S. 800
Chişe, Ruxandra
Heute wird die Nacht in den Gräsern bleiben. Gedichte, S. 804
Hildesheimer, Wolfgang
Die schwindende Zukunft. Vierte verworfene Fassung. Mit einer Vorbemerkung von Franka Köpp, S. 808
de Piaz, Camillo
Nachruf auf Wolfgang Hildesheimer, S. 820
Hartung, Harald
Vaters Musik. Gedichte, S. 824
Strube, Rolf
Warum schweigen die Sirenen? Gedanken zum Musikalischen bei Kafka, S. 827
Meerapfel, Jeanine
Über Phantasie und Biographie. Die Erschaffung einer Filmfigur, S. 839
Mertes, Michael
Noch einmal: Donnes »Floh«, S. 844
Decker, Gunnar
Ein Romantiker auf Widerruf. Dankrede zum Heinrich-Mann-Preis 2016, S. 846