
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-29-4
Heft 3/2016 enthält:
Kadivar, Pedro
Orte der Muttersprache. Aus dem Kleinen Buch der Migrationen, S. 293
Nouveau, Germain
Sonette vom Libanon und andere Gedichte. Mit einer Vorbemerkung von Frank Stückemann, S. 302
Dieckmann, Friedrich
Kulturnation und Nationalkultur. Von alten und neuen Herausforderungen, S. 312
Pitschmann, Siegfried
Aufzeichnungen eines Lehrlings. Mit einer Vorbemerkung von Kristina Stella, S. 323
Vorbemerkung Siegfried Daniel Pitschmann, ein kaum bekannter ostdeutscher Meister der Short story, wurde am 12. Januar 1930 im niederschlesischen (...)
Pitschmann, Siegfried
Aufzeichnungen eines Lehrlings
Vorbemerkung
Siegfried Daniel Pitschmann, ein kaum bekannter ostdeutscher Meister der Short story, wurde am 12. Januar 1930 im niederschlesischen Grünberg (heute Zielona Góra) geboren und war das zweitälteste von sechs Kindern des Tischlermeisters Daniel Pitschmann und seiner Frau Lucie, die einer alteingesessenen schlesischen Handwerker- und Lehrerfamilie entstammte. Anfang 1945 wurde die Familie mit einem der letzten Flüchtlingszüge, die unversehrt aus Grünberg herauskamen, evakuiert. Zwei Kinder lebten schon nicht mehr: Siegfrieds kleine Schwester Dorothea starb mit zehn Monaten, der ältere Bruder Gottfried war, noch nicht achtzehnjährig, in den letzten Kriegsmonaten gefallen. Die Familie landete nach mehr als vierzehntägiger Fahrt in Mühlhausen in Thüringen. Pitschmanns Kindheit war, wie er später sagte, »für immer verloren«.
In zahlreichen literarischen Texten, die ab 1946 entstanden, verarbeitete er seine Erlebnisse. Auslöser war ein Preisausschreiben des Volksbildungsministeriums, bei dem das beste Jugendbuch Thüringens prämiert werden sollte. Pitschmann las in der Zeitung davon und begann spontan zu schreiben. Wegen seines »beachtlichen Erzähltalents« erhielt der Sechzehnjährige für die Erzählung »Monika und Friederchen« einen Anerkennungspreis. Er entdeckte Rilke, dem er sich seelenverwandt fühlte. 1948 begann er mit den »Aufzeichnungen eines Lehrlings« – eines Lehrlings, der eigentlich Modelltischler oder Musiker sein wollte, bis ihn die Liebe zu den Uhren packte. Die handwerkliche Präzision des Uhrmachers wurde zum Markenzeichen von Pitschmanns Texten; doch die Perfektion, die er sich abverlangte, hatte ihren Preis. Das Leben schien ihm voll unüberwindlicher Hürden und kaum verkraftbarer Verluste. Schreibend versuchte der sensible junge Mann mit der ungewöhnlichen Beobachtungsgabe seine Gefühle zu kanalisieren. In immer neuen Variationen bearbeitete er seine Themen, wechselte die Protagonisten, kombinierte Szenen. Er schrieb und schrieb.
Um 1950 entstand ein unbetitelter Prosatext. Das Typoskript umfaßt 49 Seiten. Die assoziativ aneinandergereihten Episoden können als Summe seines literarischen Frühwerks gelten. Pitschmann stand damals an der Schwelle eines neuen Lebensabschnitts und versuchte die traumatischen Erlebnisse hinter sich zu lassen. »Es soll keiner sich überreden lassen, das Nachstehende etwa als Biographie eines Bestimmten aufzufassen, es kann jeder gemeint sein. Du, ich, tausend. Es sollen nur in einer scheinbar lockeren Aneinanderreihung von Geschehen die Kräfte sichtbar gemacht werden, die in einem jungen Menschen und um ihn herum streiten und wirken und ihn formen«, heißt es im »Vorspruch« zum Text. Gleichwohl werden die autobiographischen Bezüge deutlich, es geht um die Erfahrungen der um 1930 Geborenen, die als Kinder vom Krieg geprägt wurden und dann den Aufbau des Sozialismus miterlebten. Die folgenden drei Episoden aus dem Typoskript werden hier erstmals veröffentlicht.
Das Werk Siegfried Pitschmanns ist trotz seiner vielversprechenden Anfänge schmal geblieben. Der Grund dafür war die Auseinandersetzung um sein Romanmanuskript »Erziehung eines Helden«, anhand dessen der Schriftstellerverband der DDR ein Exempel gegen die sogenannte »harte Schreibweise« statuierte. Aus der Berliner Zeitung vom 26. Juni 1959 mußte Siegfried Pitschmann erfahren, was seit Wochen hinter seinem Rücken lief : »Stilistisch äußert sich die ›harte Schreibweise‹ vor allem in Elementen wie Wiederholungen, stereotypen Redewendungen, aufgelösten Sätzen, vor allem aber im häufigen Gebrauch von Vokabeln aus dem Verbrecher- oder Kommiß-Jargon. Vorbild für unsere Autoren waren die Amerikaner Hemingway, Mailer, Jones und andere. Der ›hard boiled style‹ hat seine Wurzeln in einer zutiefst pessimistischen und nihilistischen Weltauffassung. Sie sehen ihre Umwelt als schlecht an (was größtenteils berechtigt ist), aber sie halten sie für unabänderlich. Einer unserer jungen Autoren arbeitet an einem Werk, das den Aufbau der ›Schwarzen Pumpe‹ zum Inhalt hat. Die Menschen, die hier arbeiten, werden als ständig betrunken, geldgierig und ohne moralischen Halt geschildert.« Der neunundzwanzigjährige Pitschmann wurde als Autor wie als Person gedemütigt und demoralisiert und unternahm sogar einen Selbstmordversuch. Sein Romanmanuskript konnte nicht erscheinen.
Vor dem Hintergrund seiner frühen Texte und ihres autobiographischen Gehalts erschließt sich erst die Tragweite des Geschehens. In dem 2005 posthum erschienenen Erinnerungsband »Verlustanzeige« schrieb er: »Es war ein entsetzliches Abschlachten, ein Strafgericht. Für mich war in dieser einen Stunde alles aus. Etwas in mir zerbrach.« Pitschmann war damals in zweiter Ehe mit seiner Schriftstellerkollegin Brigitte Reimann verheiratet. Es gelang ihm zwar, wieder auf die Beine zu kommen, doch sein Selbstvertrauen blieb beschädigt. Mit Reimann schrieb er die Hörspiele »Ein Mann steht vor der Tür« und »Sieben Scheffel Salz«. Ein gemeinsamer Neuanfang in Hoyerswerda und im Kombinat Schwarze Pumpe schuf zusätzlichen Abstand. Zu eigenen Arbeiten fehlte ihm vorerst der Mut; zu groß war die erlittene Ungerechtigkeit. Ähnliches widerfuhr einige Jahre später seinem Kollegen Werner Bräunig mit dem Roman »Rummelplatz«.
Trotz der vernichtenden Kritik war im Aufbau-Verlag ein Erzählband Pitschmanns geplant. Brigitte Reimann ermutigte ihren Mann dazu, seine fertigen Texte durchzusehen und für den Band bloß noch zu bearbeiten. Das gelang, und so konnte »Wunderliche Verlobung eines Karrenmanns« 1961 erscheinen. Beim Variieren, Bearbeiten und Kombinieren blieb es, Pitschmann verband neue Erzählungen mit »allerlei Themen«, die er »noch auf Lager« hatte, zu »gemischten short stories«. So beschrieb er seinem Verleger Günter Caspar seinen Arbeitsstil, mit dem er die Schreibhemmungen zu kompensieren suchte. Dennoch blieben viele der frühen Texte unveröffentlicht. Mit Wehmut dachte er an deren Entstehungszeit zurück: »Warum nicht einfach heruntererzählen ohne Rücksicht auf Ballast? Warum schon das Lektorat vor dem Lektorat? Ein Teufelskreis aus Pedanterie, Vorsicht und Verkürzungssucht, den es nur selten zu durchbrechen gelingt. Ich denke voll Neid und Eifersucht an das dicke Manuskript, das ich unbekümmert, ohne Hemmungen in vierzehn Tagen schrieb; freilich war ich damals achtzehn Jahre alt, und natürlich konnte die Arbeit nicht gedruckt werden.« Pitschmann lebte nach seinem Weggang aus Hoyerswerda fünfundzwanzig Jahre in Rostock, war dort Vorsitzender des Bezirks-Schriftstellerverbandes und bei Hanns Anselm Perten am Volkstheater künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dramaturg, bevor er 1990 nach ThürinPischmanngen zurückkehrte, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 2002 in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung in Suhl lebte. Seine vier Ehen, aus denen drei Kinder hervorgingen, brachten ihm kein langfristiges privates Glück. In seinen letzten Lebensjahren engagierte er sich in der »Literarischen Gesellschaft Thüringen« und setzte sich für junge Autoren ein. 1976 erhielt Pitschmann den »Heinrich-Mann-Preis« der Akademie der Künste der DDR, 1978 den »Louis-Fürnberg-Preis«. Die Erzählbände »Kontrapunkte« (1968), »Männer mit Frauen» (1974), »Auszug des verlorenen Sohns« (1982), »Elvis feiert Geburtstag« (2000) und das Szenarium zu Lothar Warnekes Spielfilm »Leben mit Uwe« (1974) sowie das erfolgreiche Theaterstück »Er und Sie« (1976) sind seine wichtigsten Werke. Pitschmanns einziger Roman »Erziehung eines Helden« wurde jüngst aus dem Nachlaß herausgegeben; seine unveröffentlichten Erzählungen und Hörspiele sind noch zu entdecken.
Kristina Stella
SINN UND FORM 3/2016, S. 323-331, hier S. 323-325
Cole, Isabel Fargo
Die Übersetzbarkeit der Überwachung. Zu Wolfgang Hilbigs Roman »Ich«, S. 332
Jens, Inge
Die Ergänzung der eigenen Erfahrungen. Ein Gespräch über Schriftsteller und Editionen mit Matthias Bormuth und Matthias Weichelt, S. 341
MATTHIAS WEICHELT: Frau Jens, Sie haben sich vor allem als Herausgeberin einen Namen gemacht, seit Sie in den frühen sechziger Jahren die Briefe (...)
Jens, Inge
Die Ergänzung der eigenen Erfahrungen.
Ein Gespräch mit Matthias Bormuth und Matthias Weichelt über Schriftsteller und Editionen
MATTHIAS WEICHELT: Frau Jens, Sie haben sich vor allem als Herausgeberin einen Namen gemacht, seit Sie in den frühen sechziger Jahren die Briefe Thomas Manns an den Philologen Ernst Bertram veröffentlichten. In den nächsten Jahrzehnten folgten dann weitere Editionen, die Werke des Literaturhistorikers und Schriftstellers Max Kommerell, die Briefe und Aufzeichnungen der Geschwister Scholl und ihres Freundes Willi Graf, die Tagebücher des Komponisten Ralph Benatzky und immer wieder die Familie Mann. Wie kamen Sie – ohne von einer Institution getragen zu sein – zu diesen ganz unterschiedlichen Autoren?
INGE JENS: Ich habe immer auf eigene Faust gearbeitet, aber meine Stoffe habe ich mir nie selbst ausgesucht. So kam im Fall von Max Kommerell seine Witwe auf mich zu. Bei den Geschwistern Scholl fragten mich Inge Aicher-Scholl und Otl Aicher. Großes Glück hatte ich mit den Tagebüchern von Thomas Mann, die mein Leben doch ziemlich verändert haben. Mein Mann Walter Jens war nicht ganz unschuldig daran, daß ich den Auftrag erhielt. Als jemand vom S. Fischer Verlag bei uns anrief und fragte, ob ich für einen Band der Werkausgabe ein Nachwort schreiben könne, lehnte er ab. Ohne Rücksprache mit mir behauptete er, ich sei nur an den Tagebüchern interessiert. Und so wurde mir nach dem Tod des Herausgebers Peter de Mendelssohn diese große Aufgabe übertragen.
MATTHIAS BORMUTH: Vielleicht können wir mit Hans und Sophie Scholl beginnen, die mit ihren Freunden aus der »Weißen Rose«, darunter Willi Graf, als Märtyrer des Widerstands gegen den Nationalsozialismus bekannt sind. Ich habe Sie, Frau Jens, kennengelernt, als ich mit Medizinstudenten Ihre Editionen gelesen habe, um der Gedankenwelt dieser mutigen jungen Menschen näherzukommen.
JENS: Es ist trotz der beeindruckenden Zeugnisse leider eine miserable Edition, bei der mir von seiten der Familie ständig hineingeredet wurde, was ich bringen dürfe und was nicht. Die Hinterbliebenen, vor allem Inge und ihr Mann Otl, wußten genau, wie es gewesen war, und ließen keine historische Forschung gelten, die ihre Sicht auf Widerstand und Tod der Geschwister in Frage stellte. So sollte nicht herauskommen, daß zwischen Sophie Scholl und ihrem Freund Fritz Hartnagel, der später die Schwester Elisabeth heiratete, mehr als ein platonisches Verhältnis bestand. Inge, die konvertiert und gut katholisch war, paßte es nicht, daß Sophie vor der Ehe mit einem Mann geschlafen hatte. Dabei kann man doch nur hoffen, daß die beiden vor Sophies Tod wirklich etwas Schönes erlebt haben, wenn sie sich im Park trafen oder eine Nacht miteinander verbrachten. Inge Aicher-Scholl beanspruchte aber, nachdem sie ihr Buch über die »Weiße Rose« veröffentlicht hatte, die Deutungshoheit über das Bild ihrer Geschwister in der Öffentlichkeit.
BORMUTH: Sie bekamen es als Herausgeberin von Briefen und Tagebuchaufzeichnungen hier mit einer Form von Legendenbildung zu tun, die einer kritischen Sichtung der Materialien zuwiderlief.
JENS: Die Dokumente sagten etwas anderes, als man wahrhaben wollte. So sprach sich die Familie auch gegen meine Einleitung aus, in der ich erwähnte, daß Hans und Sophie nicht nur in der Jugendbewegung, sondern bis 1935 auch in der Hitler-Jugend aktiv gewesen waren. Das durfte es nicht geben: Helden, die zunächst mitmachten bei dem, was sie später bekämpften. Mir waren und sind historisch »gewordene« Helden jedoch lieber als solche, die gewissermaßen vom Himmel fallen. Dennoch durfte ich meine Sicht der Dinge nicht innerhalb der Edition publizieren; der S. Fischer Verlag veröffentlichte sie separat in der »Neuen Rundschau«. Ich habe mich damals auf diese Form von Zensur eingelassen, da ich nicht wollte, daß die erste Edition von Zeugnissen des studentischen Widerstands durch öffentliche Streitigkeiten entwertet würde. Auch war die Situation insofern nicht einfach, als mein Mann und ich uns gemeinsam mit Inge und Otl Aicher gegen die Stationierung von US-Atomraketen in Mutlangen engagierten.
BORMUTH: War Ihnen so etwas schon bei früheren Editionen passiert? Bei Autoren wie Ernst Bertram und Max Kommerell, die zeitweilig zum George-Kreis gehörten und als durchaus konservativ galten, könnte man sich doch viel eher vorstellen, daß die Beschäftigung mit dem Nachlaß heikel war, daß es Versuche der Einflußnahme gab.
JENS: Nein. Thomas Manns Briefe an Ernst Bertram lagen in Marbach, und auch Frau Kommerell machte mir keine Vorschriften. Sie war außerordentlich großzügig und gab mir ihren Segen: Wenn Sie nach Marbach ins Literaturarchiv fahren, können Sie alles einsehen und alles benutzen, was Sie möchten. Gerade durch die Beschäftigung mit Max Kommerell erweiterte sich meine zunächst recht undifferenzierte Sicht auf den George-Kreis und seine Adepten. Ich verstand plötzlich die mich so befremdende Hörigkeit der Jünger und begriff, was Kommerell durch seinen Bruch mit »dem Meister« wagte. Ich sah aber auch die ungeheure Anstrengung, die ihn, den einstigen Lieblingsjünger, dieser Schritt kostete. Kaum jemand sonst hat es geschafft, eine solche anhaltende Distanz zu gewinnen. Frau Kommerell erzählte mir allerdings, George habe ihren Mann bis zum Ende seines Lebens – er starb 1944 – in Alpträumen verfolgt. Zugleich wurden mir die Kompromisse deutlicher, die er in seinem Leben einging, die Schlupflöcher, die er, der das neue Regime zunächst begrüßt hatte und Mitglied der Reiter-SA war, sich später suchte.
WEICHELT: Was mich an Ihren Arbeiten immer sehr beeindruckt hat, war die Fairneß und Unvoreingenommenheit, mit der Sie auch über Menschen schrieben, mit denen Sie ganz offensichtlich nicht übereinstimmten. Fiel es Ihnen manchmal schwer, solche fremden Weltbilder zu akzeptieren, zumal Sie im Politischen immer klare Positionen vertreten haben?
JENS: Ich habe andere Sichtweisen immer als Ergänzung meiner eigenen Erfahrungen wahrgenommen. Wie schon gesagt: Mir sind Menschen, die gegen Mißstände und Bedingtheiten ihrer Zeit handeln, aber natürlich auch in sie verstrickt sind, lieber als solche, an denen es nichts auszusetzen gibt.
WEICHELT: Wie bringen Sie die Quellen zum Sprechen, wenn Sie das Material für eine Edition zusammenstellen? Liegt diesem ersten Schritt, der Auswahl und Anordnung, nicht auch schon eine Art Interpretation zugrunde?
JENS: Meines Erachtens muß man die Fakten so präsentieren, daß jeder, unabhängig von seiner Einstellung, einen Zugang zu ihnen finden kann. Wenn Sie es schaffen, die geistigen Einflüsse und historischen Hintergründe in den Kommentaren ausgewogen und anschaulich darzustellen, ist schon viel gewonnen. Sie dürfen nichts verfälschen und müssen sich vor Spekulationen hüten. Denn wenn Sie, wie ich in meiner Scholl-Ausgabe, Unliebsames ausblenden und auf bestimmte historische Belege verzichten müssen, hat der Leser keine Chance, sich so objektiv wie möglich zu informieren und möglichst viele Seiten einer Person oder eines Vorgangs zu verstehen.
WEICHELT: Wenn man Ihre Veröffentlichungen liest, merkt man schnell, wie wichtig es Ihnen ist, durch das Arrangement der Texte und die Art ihrer Kommentierung eine erzählerische Gesamtkomposition entstehen zu lassen. Sie haben im Gespräch einmal erwähnt, daß man Ihnen riet, auf der Grundlage Ihrer Anmerkungen zu den Tagebuch-Eintragungen Thomas Manns eine Katia-Mann-Biographie zu schreiben. Wäre das eine Methode, durch chronologisch stimmige Anordnung der Dokumente zu einer biographischen Erzählung zu kommen? Als Herausgeberin hatten Sie ja ein geschärftes Bewußtsein für den redlichen Umgang mit dem historischen Material und seinen Widersprüchen.
JENS: Das Editorische kann eine Vorstufe des Erzählerischen sein, muß es aber nicht. Während es hier nötig ist, die Fakten möglichst umfassend und möglichst vorurteilsfrei zu betrachten und darzustellen, darf eine biographische Arbeit, wie die über Katia Mann, auch schon mal einer subjektiver gewichteten Linie folgen. Die Haltung des Herausgebers hat vor allem kritisch zu sein.
WEICHELT: Worin besteht die Kunst des Edierens?
JENS: Sie müssen versuchen, alle oder jedenfalls möglichst viele Implikationen etwa eines Tagebucheintrags zu berücksichtigen. Wenn Sie sich lange mit einem Autor und seiner Handschrift beschäftigen, lernen Sie ihn ganz anders kennen. Sie erhalten interessante Einblicke in seine Arbeits- und Denkweise. So ging es mir mit den fünf Bänden der Tagebücher Thomas Manns, die ich herausgegeben habe, obwohl ich im Unterschied zu meinem Ehemann kein wirklicher Kenner und Verehrer seines Werkes war.
BORMUTH: Kann es sein, daß Thomas Mann, der sich zu Lebzeiten als Repräsentant des deutschen Kulturbürgers gesehen und stilisiert hat, späteren Generationen mit den Tagebüchern auch einen kritischen Zugang zu seiner Person und seinem Werk eröffnen wollte?
JENS: Ganz sicher. Thomas Mann fühlte sich als Repräsentant eines Kulturbürgertums, dessen Normen er in starkem Maße verinnerlicht hatte. Wie erleichtert war er, als er den 1933 in München zurückgelassenen Koffer mit den alten Tagebüchern wieder in seinen Händen hielt! Er hat aus Angst, seine homoerotischen Neigungen könnten öffentlich werden, sogar später im kalifornischen Exil noch einige Bände verbrannt. Aber die meisten bewahrte er auf. In ihnen drückt er aus, wie ihm zumute war und was es ihn kostete, die ihm so wichtige glanzvolle Fassade der Bürgerlichkeit aufrechtzuerhalten, die ihm Sicherheit garantierte und natürlich auch viel Freude bereitete.
BORMUTH: Als Sie in den achtziger Jahren mit der Edition begannen, kam es auch zu näherem Kontakt mit Golo Mann, der selbst Historiker und Erzähler war.
JENS: Golo Mann befürchtete zunächst, ich würde an Peter de Mendelssohns eher literarische Form des Kommentierens anknüpfen, während es ihm, als Historiker, doch in erster Linie um die zeitgeschichtliche Erhellung der Epoche ging, in welche die Tagebücher eingebettet waren. Mir auch, deshalb haben wir uns so gut verstanden. Ich hätte nie so kommentieren können wie de Mendelssohn, weil mir dafür alle Insider-Kenntnisse fehlten. Für mich waren die Tagebücher vor allem eine große Chronik ihrer Zeit.
WEICHELT: Wie verliefen Ihre Treffen mit Golo Mann?
JENS: Am Anfang war es schwierig. Ich habe ihn immer besucht, wenn ich in Zürich im Thomas-Mann-Archiv zu tun hatte. Er wohnte damals im elterlichen Haus in Kilchberg. Nach und nach bürgerte es sich ein, daß wir meinen Fragenkatalog der Reihe nach abarbeiteten, er also antwortete, soweit er konnte. Später bat er mich, ihn öfter zu besuchen. Weil ihn meine Recherchen zunehmend interessierten, ist er sogar auf den Dachboden gestiegen, um nach alten Briefen zu schauen. Die gab er mir dann mit den Worten: Lesen Sie das zu Hause. Sie können es mir nächstens wiedergeben.
BORMUTH: Entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Ihnen?
JENS: Ja, eines Tages erhielt ich einen Brief mit dem Anfang: »Liebe Inge, wie wäre es, wenn wir die Curialien fortlassen würden?« Das fand ich sehr schön. Und bei »liebe Inge«, »lieber Golo« sind wir dann geblieben.
WEICHELT: Golo Mann gehörte wie seine Eltern zu den deutschen Emigranten. Welche Erfahrungen haben Sie selbst mit jenen gemacht, die Deutschland nach 1933 verlassen haben?
JENS: Ich lernte während meiner Arbeit im Deutschen Literaturarchiv in Marbach viele Emigranten kennen. Bernhard Zeller, der damalige Direktor, stellte mich ihnen vor, vielleicht auch um zu zeigen, daß man sich in Deutschland mit der Vergangenheit auseinandersetzte und versuchte, Ursachenforschung zu betreiben. Aber es waren nur wenige, die sich in den sechziger und siebziger Jahren überhaupt mit Emigration und Remigration beschäftigten.
BORMUTH: Sie haben Katia Mann besucht und geschildert, wie sie auf die Erwähnung der Emigration reagiert hat.
JENS: Ich habe Katia Mann zwei- oder dreimal besucht, und sie hat mir großen Eindruck gemacht, vor allem mit der Szene, auf die Sie anspielen, diesem Ausbruch: »Hinausgeworfen hat man uns! Und das nach einem ehrenwerten Leben!« Das werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen. Daß man eine Emigration aus Deutschland als bürgerliche Schande empfinden konnte, war eine neue Erkenntnis für mich und hat mich sehr bewegt.
WEICHELT: Sie haben in Tübingen enge Beziehungen zu Hans Mayer und Ernst Bloch gepflegt, zwei anderen ehemaligen Emigranten, die nach ihrer Rückkehr nach Deutschland erst im Osten lebten und dann in den Westen gingen.
JENS: Hans Mayer ist wahrscheinlich der Mensch, der meine geistige Biographie am meisten beeinflußt hat. Er hat mich gefördert und gefordert. Für ihn war es selbstverständlich, daß ich das, was er von mir verlangte, konnte und also auch machte. Das setzte er einfach voraus. So etwas kann ungeheuer hilfreich und anregend sein, denn die Kenntnisse, die ich noch nicht hatte, habe ich mir schleunigst angeeignet. Ich wollte mir vor ihm ja keine Blöße geben.
(…)
SINN UND FORM 3/2016, S. 341-352, hier S. 341-345
Niemiec, Maciej
Skizze der Flut. Gedichte. Mit einer Vorbemerkung von Renate Schmidgall, S. 353
Rohr, Angela
Begegnung. Mit einer Nachbemerkung von Gesine Bey, S. 359
Meckel, Christoph
Eine Frau allein, S. 372
Hinsey, Ellen
Über den Kampf mit dem Engel. Gedichte, S. 391
Buselmeier, Michael
Heidelberg - Stadt der Dichter?, S. 399
Das Thema erlaubt, ja verlangt es, wie jedes andere hinterfragt zu werden. »Heidelberg – Stadt der Dichter«, ohne Fragezeichen hingesetzt – (...)
Buselmeier, Michael
Heidelberg - Stadt der Dichter?
Das Thema erlaubt, ja verlangt es, wie jedes andere hinterfragt zu werden. »Heidelberg – Stadt der Dichter«, ohne Fragezeichen hingesetzt – kann man das ernsthaft behaupten? Gibt es tatsächlich vor Ort eine durch die Jahrhunderte sich fortzeugende literarische Tradition, die etwa von Goethe bis Hilde Domin reichen könnte und so lebendig, produktiv und untereinander bindend ist, daß sie das Attribut rechtfertigt? Wem aber »Stadt der Dichter« doch etwas hochstapelnd vorkommt, der könnte ja immer noch auf »Stadt der Poesie« ausweichen, das klingt allgemeiner, die Landschaft spielt mit herein sowie das Große und Ganze der Kunst, Burgruine und Brücke: Heidelberg als »Symbol der Poesie« und »geweihte Stätte«, als »Wallfahrtsort unserer Dichtung«. Mit solchen heute leicht verstiegen klingenden Formeln feiert Philipp Witkop, einst Heidelberger Student, ab 1910 Germanistik-Professor in Freiburg, in seinem grundlegenden Buch »Heidelberg und die deutsche Dichtung« von 1916 eine imaginierte, eine spät- oder neuromantisch erträumte Stadt, die schon damals nicht in die ernüchterte (Kriegs-)Zeit paßte und in die heutige erst recht nicht, wo man Begriffe wie Transzendenz, Schöpfertum, Genieglaube ja längst höhnisch verabschiedet hat und emsig auf Vermarktung, Vernetzung und Verwurstung baut.
Und wen gäbe es unter den Lobrednern Heidelbergs vor Goethe zu beachten? Oswald von Wolkenstein und seine spätmittelalterlichen Strophen, die lateinisch schreibenden Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts, den vergessenen Barockdichter Julius Wilhelm Zincgref (ein Einheimischer immerhin, was selten vorkommt) und seinen Freund, den Poetologen Martin Opitz, als »Vater der deutschen Dichtkunst« schon im 17. Jahrhundert viel gerühmt – doch all diese formelhaften, grob gereimten und geschmiedeten Verse sind, man muß es zugeben, von begrenztem Reiz. Dann aber tauchen plötzlich die hochpoetischen Texte der sogenannten Stürmer und Dränger über das zerstörte Heidelberger Schloß auf, die als erste einen persönlichen Ton anschlugen, als Individuen den Blick auch über die Stadt hinaus in die Ebene schweifen ließen und dabei so etwas wie landschaftliche Schönheit erkannten. Mit ihnen würde ich heute ein Heidelberg gewidmetes Lesebuch eröffnen und mich nicht – wie 1986 – aus Unsicherheit und partieller Unwissenheit hinter der klassisch-souveränen Stadtbeschreibung Goethes von 1797 verstecken. Und natürlich würde ich Autoren, die damals noch nicht in meinen Heidelberg-Kanon gehörten, mit aufnehmen, etwa den Freiherrn Adolph von Knigge, Ludwig Börne oder Friedrich Rückert, den Dichter und späteren Orientalisten, der im Sommersemester 1808 in der Mittelbadgasse wohnte und bei Friedrich Creuzer Philologie studierte. Er soll 44 Sprachen beherrscht haben.
Ist die 1909 geborene Hilde Domin als zeitlicher Gegenpol zu Goethe und als zumindest vorläufiger Endpunkt dieser Poetenreihe vorstellbar? Wurde und wird sie als Dichterin nicht überschätzt? So viele jüngere Künstler drängen sich vor, sind keineswegs erfolglos und wollen auch dazugehören, nicht zuletzt der experimentelle Filmemacher und Opernregisseur Werner Schroeter, der 2010 an Krebs gestorben ist und den ich im Leben nicht kannte, obwohl er zur gleichen Zeit wie ich als Außenseiter in Heidelberger Schulen gelitten hat und seine ersten Aufnahmen für den Film »Eika Katappa« just 1968 auf dem Schloß und auf der Thingstätte stilistisch streng in Szene gesetzt hat. Oder Bernhard Schlink, der ebenfalls in Heidelberg aufgewachsen ist. Seine Romane »Der Vorleser« und »Die Heimkehr«, in denen er spezifische Erfahrungen seiner, unserer Generation in der Nachkriegszeit aufgeschrieben und reflektiert hat, lassen sich topographisch exakt in der Weststadt zwischen Wilhelmsplatz, Blumenstraße und Bahnhofstraße festmachen.
»Meine Freunde, die Poeten« (so der Titel eines Buches von Hermann Kesten, das ich in meiner Jugend las), also die Dichter meiner Zeit, sofern ich sie im Lauf der Jahre durch Heidelbergs Gassen und Antiquariate führen durfte, melden sich zu Wort; einige haben über Aspekte der Stadt geschrieben. Ich nenne nur Charles Bukowski, Uwe Kolbe, Guntram Vesper, Volker Braun, Wulf Kirsten, Martin Walser, Ulla Hahn, Wilhelm Genazino, Dieter Kühn, Peter Handke und selbst der vermutlich berühmteste von allen, John le Carré, der seinen zur Hälfte im revolutionär gestimmten Heidelberg spielenden Roman »Absolute Freunde« (2004) bis in die Dialoge hinein so gut wie fertig hatte und von mir nur noch die dafür geeigneten Schauplätze gezeigt bekommen wollte – ein mich irritierendes Vorgehen. Nicht vergessen seien der Underground-Poet Jörg Burkhard, der in Heidelberg ausgeharrt hat, und Jürgen Theobaldy aus Mannheim, der als Heidelberger Student in den siebziger Jahren mit alltagsnahen Gedichten weithin Anklang fand. Oder ältere, mit der Stadt seit den fünfziger Jahren eng verbundene Autoren, die ich anfangs von fern bewunderte: Fritz Nötzoldt, Hans Bender, Walter Helmut Fritz, Gert Kalow, Herbert Heckmann, Andreas Rasp, Arnfrid Astel. Und heute? Ralph Dutli, Hans Thill, Johann Lippet, Martin Grzimek, Hella Eckert …
Ein Leben lang arbeite ich nun an meiner Geschichte, die zugleich winziger Teil einer Geschichte der Stadt und ihrer Menschen und einer Geschichte Deutschlands ist, zumindest seiner Kulturgeschichte. Denn ich war ja eigentlich, an meine Mutter gebunden, immer hier, sah und hörte vieles, nahm manches unbewußt wahr. Haßte und liebte die »Mutterstadt«. Wir sollten noch einmal an die Wurzeln des Phänomens gehen und nachforschen, wie bedeutend, wie weltbewegend die mit Heidelberg verbundene Literatur, Kunst und Architektur tatsächlich sind. Wir sollten den »Mythos« hinterfragen, den vor allem der Neuromantiker Richard Benz so betörend ausgemalt hat, mich als jungen, nach Orientierung suchenden Eleven durch alle weltanschaulichen Umbrüche begleitend und begeisternd. Dabei denke ich zuerst an seine Autobiographie mit dem hochfahrenden Bindestrich-Titel »Lebens-Mächte und Bildungs-Welten meiner Jugend« (1950), sodann an seine großangelegte Kulturgeschichte der romantischen Bewegung (»Die deutsche Romantik«, 1937) und nicht zuletzt an sein Spätwerk »Heidelberg, Schicksal und Geist« (1961), das ein verklärendes, die Moderne fast gänzlich aussparendes Bild unserer Stadt entwirft und gestaltet. Diese Donnerworte, Schicksal und Geist, haben mich fast benommen gemacht und wohlig eingelullt, als zählte ich, selbst einer der »Geistigen«, schon dazu (wobei anzumerken wäre, daß Benz mit solch dröhnendem Vokabular nicht allein dastand; ein Großteil der damaligen Geisteswissenschaftler, die Benz’ Arbeiten als »unwissenschaftlich« ablehnten, hat sie genauso unkritisch gebraucht). Wir alle konnten uns hinter solchen Begriffen eine Zeitlang verbergen, uns an ihnen festklammern in unserer Unsicherheit, bevor uns die nächste Serie von Kategorien, diesmal soziologische, die nach Fortschritt klangen und auch nicht haltbarer waren, überkam.
Eine nicht gerade große, eine überschaubare Stadt also in ihrer frühsommerlichen Schönheit. Der Blick über ihren mittelalterlich-barocken Kern, den Neckar mit der Brücke und die ihn begleitenden Berge in die Rheinebene hinaus hat etwas Beruhigendes, Schützendes, aber auch Befreiendes, Leuchtendes, auf jeden Fall etwas ganz Besonders; eine Art Aufbruch. »Der Jüngling, der Strom« zieht bekanntlich davon bis zum fernen Ozean und noch darüber hinaus ins Metaphysische. Der junge Hölderlin wollte oder mußte ihm folgen und nach ihm so mancher Student, der sich, Hölderlins Oden-Ton nachahmend, als Dichter verstand – während ich als Jüngling lieber hierblieb im Deutschen Haus am Marsiliusplatz, wo sich um 1960 noch das Germanistische Seminar befand, in dessen Grimmsaal ich auf der knarrenden Empore saß und die Werke der Romantiker Tieck und Wackenroder (»Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« – was für ein Titel!) studierte, Zeile um Zeile, Wort um Wort, um sie mir einzuprägen. Manchmal warf ich ein Stöckchen oder ein Blatt Papier in den Fluß und sah ihm nach, wie es in die Ebene hinausschwamm. Oder ich ging auf stillen Waldwegen, im Mühltal, am Schloßberg, im Schwetzinger Park spazieren, Goethes »Werther« oder Mörikes »Maler Nolten« memorierend – eine inzwischen weithin untergegangene Lebensform.
Nein, Heidelberg ist nicht Weimar, aber als ehemalige Residenzstadt mit diesem vergleichbar, selbst wenn Weimar immer kleiner und wohl auch provinzieller war. Doch wirklich große Literatur (oder das, was man dafür ansieht) ist in Heidelberg, anders als in Weimar, kaum entstanden. »Stadt der Literatur« – wir sollten die Ansprüche vielleicht etwas bescheidener formulieren, neigen die hier Hängengebliebenen doch dazu, den eher harmlosen, freilich reizvollen Ort auch um ihrer selbst willen zum Mittelpunkt der geistigen Welt zu erheben. Wo sie auszuharren gezwungen waren, mußte es paradiesisch zugehen. Autoren wie Richard Benz, Rudolf K. Goldschmit-Jentner, Edwin Kuntz, Emil Belzner hielten die Vorstellung nicht aus, abseits der Metropolen in einer kleinteilig bebauten Stadt mit einer den Vogelflug nachahmenden Bogenbrücke und einem zerstörten Renaissance-Schloß zu leben. Alles mußte bedeutend und hauptstädtisch sein: das pfalzgräfliche Mittelalter, die kurfürstlich-katholische Barockzeit, die Lieder gleich Schmetterlingen sammelnde Romantik, die 1803 unter badischer Herrschaft neu begründete Universität, das Stadttheater natürlich, das Museum. Sogar die linksradikale Jugendrevolte von 1968 und die verspielte Sponti-Ära der siebziger Jahre sind inzwischen hoffähig geworden; man schmückt sich mit jenen, die mit Literatur wenig im Sinn hatten. Für den nicht gerade bescheidenen Benz, der das zweibändige Werk »Die Stunde der deutschen Musik« verfaßte, war die Musikgeschichte mit Schuberts Liedkompositionen im Grunde abgeschlossen. Dem 20. Jahrhundert widmete er kaum eine Zeile; es konnte ja nichts Gutes mehr kommen.
Wäre dieser unbescheidene Blick auf die vermeintliche oder wirkliche Größe der hier entstandenen Literatur, Malerei, Musik nicht auch produktiv nutzbar zu machen, zumal in unserer Zeit, wo all dies nichts mehr oder nur wenig zu gelten scheint, etwa als Gegenbild zur bedenkenlosen Vermischung von E- und U-Kunst, deren Zeugen wir seit längerem sind? Ich verkenne nicht, daß wir selbst, die sogenannten 68er, es waren, die zum Angriff auf die bürgerliche Hochkultur bliesen und die Klassiker, auch Gedichte, zugunsten von kritischer Illustrierten-Betrachtung oder TV-Krimis oder Schlagern aus den Lehrplänen verbannten. Wäre es nicht an der Zeit, am Singulären und Utopischen unserer Literatur festzuhalten, am Ernst der Sprache, an der Tiefe der Bilder, und damit ein Zeichen zu setzen gegen den Müllhaufen aus Trivialliteratur, Fernsehunterhaltung, Internet-Vernetzung?
In dem Fall sollte man es aber anders anpacken als der konservative Benz, der die wesentlichen Herausforderungen seiner Epoche, Expressionismus und Surrealismus, schon als Student der Kunstgeschichte bei Henry Thode nicht an sich heranließ, das Wilde und Schrille verabscheute und mied, während ich in meinen schüchternen Anfängen die älteren Werke »mit heißem Bemühn« (wie Faust das nennt) studierte und zugleich für alles Neue aufgeschlossen war, also Richard Benz verehrte und seinen Generationsgefährten Georg Trakl, Georg Heym und Ernst Blass nachstrebte, die er gar nicht zu kennen schien.
Vermutlich geht es den meisten, wenn von Heidelberg, seiner Landschaft und seiner Literatur die Rede ist, weniger um hermeneutische »Sinnfelder«, »Sinnfiguren « und ähnliche Abstraktionen als um die besondere »Atmosphäre«, um die »Aura«, die dieser Stadt seit mindestens zwei Jahrhunderten zugeschrieben wird, eine poetische »Stimmung«, etwas schwer zu Bestimmendes und gerade deshalb so Anziehendes – anziehend wie die im rötlichen Abendschein aufleuchtende Sandsteinbrücke, die Marianne und Max Weber 1914 in »einer Stunde höchster Feierlichkeit« an »das Blut von Tausenden« denken ließ, das bald ehrenvoll fließen werde.
Den steilen, mit duftendem Efeu dicht bewachsenen Schloßberg stieg ich als Schüler Mitte der fünfziger Jahre hinauf, um bei den Schloßfestspielen mitzuwirken (»Die Räuber«, »Die Freier«, »Ein Sommernachtstraum«), und vernahm dort zum ersten Mal ganz deutlich, hochpathetisch und aus nächster Nähe die Sprache der Poesie, die ich nie mehr vergaß. Etwas später, als Student, kehrte ich auf meinen Streifzügen im Haus Schloßberg 49 ein, vordem »Künstler-Pension Neuer«, und saß den für mich damals uralten Neuer-Töchtern gegenüber, die unverheiratet inmitten ihrer Bücher und Erinnerungen lebten, mit Werken von Goethe, George, Gundolf, von Jacob Burckhardt, Max Kommerell und Norbert von Hellingrath, darunter Widmungsexemplare; der Blick ging von der Terrasse zum Schloß hinüber und zum Neckar hinab. An diesem Ort, so scheint es mir im nachhinein, dürfte ich dem »Geist der Literatur«, falls es ihn geben sollte, wiederholt begegnet sein, ich Spätentwickler und miserabler Schüler, der mühelos in die Welt der Bücher eintauchen konnte. Meine »Literarischen Führungen«, die den Adressen und Worten der Dichter folgen, doch erst viel später, 1988 begonnen wurden, haben am Schloßberg ihren idealen Ursprung. Hier, in den hohen Räumen, fühlte ich mich fast zu Hause. Im Rauschen der Bücher, die zu mir sprachen, wähnte ich mich selbst den vielwissenden, aber extrem eitlen Professoren gewachsen, wahre Katheder-Fürsten, die sich kaum eine Blöße gaben und immer so taten, als wären sie die an der Härte der Verhältnisse leidenden Dichter, während ich der Überzeugung war, recht eigentlich einer zu sein.
Ich möchte nicht noch einmal die Literaturgeschichte Heidelbergs durchbuchstabieren und von Wolkenstein ausgehend die entsprechenden Titel aneinanderfügen, sondern anhand ausgewählter Texte nach dem Heidelberg-Bild (oder auch nur dem meinen) fragen, wie ich es schon in meinem 1986 bei Insel erschienenen Lesebuch sowie in meinem Beitrag zu dem von Elmar Mittler 1996 herausgegebenen Band »Heidelberg. Geschichte und Gestalt« versucht habe. Jaspers’ Gefühl, hier an bestimmten Tagen »einige Meter über dem Boden« zu schweben – hält es bis heute vor? Lebt dieser »lebendige Geist«, von einzelnen getragen, fort, trotz der immer dreisteren Vermarktungsstrategien in der Periode der »Kulturwirtschaft«? Worin besteht das Besondere und Faszinierende dieser Stadt? Mobilisiert sie noch immer die Dichter? Wir meinen ihre Bilder zu kennen, die sich im günstigen Fall mit unseren eigenen Urbildern treffen; doch in ihren stärksten Momenten verweisen sie auf eine andere Welt.
(…)
SINN UND FORM 3/2016, S. 399-414, hier S. 399-404
Frisch, Max
Das Hirn. Eine Notiz. Mit einer Vorbemerkung von Margit Unser, S. 415
Killert, Gabriele Helen
Die wahren Abenteuer des Lebens. Über Victor Brombert, S. 418
Dieckmann, Christoph
Der Wirklichkeitsverlag. Laudatio zur Verleihung des Kurt-Wolff-Preises an den Ch. Links Verlag, S. 421