
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-22-5
Heft 2/2015 enthält:
Roblès, Emmanuel
Die kabylische Nachtigall, S. 149
Paterson, Don
Der Schauder in der linken Hand. Gedichte, S. 156
Brombert, Victor
Entering Germany. Die Schlacht im Hürtgenwald 1944, S. 159
Hyvernaud, Georges
Karl, S. 168
Grzebalski, Mariusz
Der grüne Schnee. Gedichte, S. 173
Jirgl, Reinhard
Es mußte sein, S. 175
Beyer, Marcel
Der Schnitt am Hals der Heiligen Cäcilie, S. 185
Schlaffer, Heinz
Die Vorzüge der »Leiden des jungen
Werthers«, S. 195
Leicht ist es, Goethes »Werther« ein vorzügliches Buch zu nennen, schwer jedoch, diese Vorzüge zu bestimmen. ›Vorzüge‹ soll wörtlich (...)
Schlaffer, Heinz
DIE VORZÜGE DER »LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS»
Leicht ist es, Goethes »Werther« ein vorzügliches Buch zu nennen, schwer jedoch, diese Vorzüge zu bestimmen. ›Vorzüge‹ soll wörtlich heißen, daß dieses Werk vergleichbaren Werken, in diesem Fall anderen Liebesromanen, vorzuziehen sei. Immerhin wird, was zunächst als subjektives Geschmacksurteil erscheint, durch die Geschichte der Gattung selbst bestätigt: Nachdem »Die Leiden des jungen Werthers« veröffentlicht waren, haben sämtliche früheren Liebesromane, von Heliodors »Schöner Charikleia« bis zu Rousseaus »Neuer Heloise«, bei Schriftstellern wie bei Lesern, an Interesse und Ansehen verloren. Seitdem hat sich eine neue Art von Liebesroman gebildet, der Wertherische, und dies – zum Erstaunen des deutschen Literaturhistorikers – vor allem bei französischen Autoren. Sie berufen sich auf ein Vorbild, das in der deutschen Literatur, von kurzlebigen Reaktionen und Imitationen abgesehen, keine Nachfolge fand. Nichts Geringeres als die Autorität Goethes unterband in Deutschland eine Fortführung des Modells, das sein »Werther« geschaffen hatte. Sein zweiter Roman, »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, ist dem ersten entgegengesetzt. Der tödliche Wahn Werthers, der allein aus der Liebe sein Glück ziehen wollte, weicht, bei den Interpreten der »Lehrjahre« mehr noch als bei seinem Autor, einem pädagogisch verwertbaren Konzept von Kunst und Bildung. Die herausgehobene Stellung »Wilhelm Meisters« in der deutschen Literatur- und Bildungsgeschichte konnte auch durch Goethes Rückkehr zu einer tödlich verlaufenden Liebesgeschichte in seinem dritten Roman, den »Wahlverwandtschaften«, nicht erschüttert werden. Der Bildungsroman, nicht der tragische Liebesroman, wurde vom deutschen Bürgertum als einer seiner Grundtexte anerkannt. Die Genealogie dieser spezifisch deutschen Gattung ließ man mit Wielands »Agathon« und Moritz’ »Anton Reiser« beginnen und bis zu Thomas Manns »Zauberberg« oder Hesses »Glasperlenspiel« reichen. Bildung aber ist der Liebesleidenschaft nicht förderlich. Deshalb wurde »Werther« ein folgenreiches Ereignis in der Geschichte des französischen, nicht jedoch des deutschen Romans.
In den »Fragmenten einer Sprache der Liebe« hat Roland Barthes seine leidvollen Erfahrungen der Liebe unter achtzig Stichworten rubriziert. Die Mehrzahl der kurzen Kapitel zitiert Sätze oder reflektiert Geschehnisse aus den »Leiden des jungen Werthers«. Diese »Fragmente« ergeben einen auf das Leben angewandten Kommentar zu Goethes Roman, den Barthes gar nicht als Roman behandelt, sondern als glaubwürdiges Dokument eines jungen Mannes, als »Stimme des Unheilbar-Liebenden«. Den Briefen Werthers entnimmt ihr betroffener Interpret Einsichten in Entstehung und Verlauf einer meist einseitigen, selten erwiderten Liebe. Sie kann so beginnen: »Aus dem Wagen steigend, erblickt Werther zum ersten Mal Lotte (in die er sich verliebt) im Türrahmen ihres Hauses (sie schneidet den Kindern Brot: eine berühmte, oft kommentierte Szene): wir lieben zunächst ein Bild. Denn an der Liebe auf den ersten Blick muß gerade das Zeichen ihrer Plötzlichkeit haften (das mich unverantwortlich macht, dem Schicksal unterworfen, schwärmerisch, hingerissen): und von allen Objektzusammenstellungen ist es das Bild, das sich offenbar am besten dazu eignet, ›zum ersten Mal‹ wahrgenommen zu werden: (…) das Bild heiligt das Objekt, das ich lieben werde.« Barthes verzichtet darauf, die Namen Wetzlar, Buff, Kestner zu erwähnen, damit die unmittelbare Wirkung und fortdauernde Wahrheit des »Werther« nicht durch den Rekurs auf historisch-biographische Umstände beeinträchtigt werde. Ausgelöscht sind die zweihundert Jahre, die zwischen Werthers Briefen und Barthes’ Fragmenten liegen. Ausgelöscht sind auch alle Liebesromane vor »Werther«. Als dieser erschien, beherrschten Richardsons »Clarissa« und Rousseaus »Neue Heloise« die Vorstellung der Leser von dem, was Liebe sei. Zweihundert Jahre später zitiert Barthes den Roman Richardsons gar nicht, den Rousseaus ein einziges Mal, »Werther« jedoch mehr als fünfzigmal. Eine solche Bevorzugung beruht nicht auf einer privaten Vorliebe; vielmehr bestätigt sie die anhaltende Verehrung des berühmtesten deutschen Romans in der französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Goethes Buch von 1774 hat eine Epoche des Liebesromans beendet und eine neue eröffnet.
Selbst politische Gegner wie Napoleon und Madame de Staël waren sich in der Verehrung dieses Romans einig, der »Die neue Heloise« in den Schatten stellte. Im Kapitel »Werther und Don Juan« seiner Aufzeichnungen »Über die Liebe« nennt Stendhal bereits ungescheut Saint-Preux eine »platte Person«, die, anders als der phantasievolle Werther, gar nicht zum Liebhaber in einem Roman tauge. Der Erzähler von Nervals »Sylvie« erkennt sich am Ende seiner Erinnerung an eine versäumte Liebe als »Werther, doch ohne Pistolen«. In Flauberts »Lehrjahren des Herzens« verweist die Hauptfigur auf ihren berühmten Vorgänger: »Ich verstehe die Werther« – offensichtlich gab es mittlerweile mehrere –, »die nicht ernüchtert sind, wenn Lotte Butterbrote streicht.« (Im deutschen Original fehlt die Butter auf dem Brot.) Zum Lieben braucht man keine Heroine, und man muß auch selbst kein Held sein. Diese Einsicht der französischen »Werther"-Leser fand in Deutschland keinen Anklang: Werthers empfindsamer, unmännlicher Charakter hat hier manchen Männern mißfallen. Sie hörten bereits aus Werthers Vorspruch zur zweiten Auflage die passende Losung für deutsche Jünglinge heraus: »Sei ein Mann und folge mir nicht nach.« Goethe meinte: nicht in den Tod; die Pädagogen weiteten den Ratschlag aus: auch nicht zur Liebe. Friedrich Engels nannte Werther einen »schwärmerischen Tränensack«. Roland Barthes hingegen berichtet freimütig, daß ihn, nicht anders als Werther, ein unglückliches Liebesverhältnis zum Weinen bringen könne.
In Werther entdeckten die französischen Schriftsteller den Prototyp des modernen Subjekts, das den Ansichten der anderen, den gesellschaftlichen Umgangsformen, dem göttlichen oder gottlosen Weltplan nicht zustimmt und sich eine eigene Welt erträumt. Goethes skeptischer Blick auf die Gesellschaft wie auf den einzelnen hatte die soziale, psychische und intellektuelle Genese von Werthers Illusion freigelegt. Dieser Analyse folgt der französische Desillusionsroman; dabei deckt er weitere Fehlgriffe der Liebesphantasie auf, auch bei weiblichen Protagonisten. Weniger ihre Liebe zu Männern als Langeweile und die Lektüre trivialer Romane treiben Emma Bovary zum Ehebruch und in den Tod. Frédéric Moreau hält sein Dasein für verfehlt, weil er Madame Arnoux nicht zum Ehebruch bewegen kann und sich mit Monsieur Arnoux’ Mätresse begnügen muß. Ältere Liebesromane hatten immer nur die Frage gestellt, wie man eine Frau erobert; Constants »Adolphe « jedoch stellt die nicht weniger lebensnahe Frage, wie man eine Geliebte wieder loswird. Von Goethes Roman lernten seine Nachfolger die Methode, durch Beobachtung des eigenen Verhaltens und Bewußtseins die monströse Wahrheit aufzuspüren, die sich unter dem glückverheißenden Wort ›Liebe‹ verbirgt.
SINN UND FORM 2/2015, S.195- 204, hier S.195-197
Büttner, Peter O.
Federschreiben in Zeiten der Aufklärung. Hypochondrie, Onanie, Tinte, S. 205
Krause, Thilo
Nur ein paar Vögel. Gedichte, S. 211
Schock, Ralph
»Eine andere Wahrnehmung der Welt«.
Ein Gespräch über Gedichte mit Jan Wagner, S. 214
RALPH SCHOCK: Ihr neuer Gedichtband »Regentonnenvariationen« ist vor einigen Monaten erschienen. Ich habe Sie in Frankfurt während der Buchmesse (...)
Schock, Ralph
»EINE ANDERE WAHRNEHMUNG DER WELT«
Ein Gespräch über Gedichte mit Jan Wagner
RALPH SCHOCK: Ihr neuer Gedichtband »Regentonnenvariationen« ist vor einigen Monaten erschienen. Ich habe Sie in Frankfurt während der Buchmesse daraus lesen hören und gedacht, das ist ein Autor, mit dem ich gern über Dichtung sprechen würde. Ihre literarische Karriere hat aber gar nicht mit einem Lyrikband begonnen.
JAN WAGNER: Bevor mein erstes eigenes Buch herauskam, habe ich unter anderem Charles Simic übersetzt, einen amerikanischen Dichter mit Belgrader Wurzeln, und wie so viele junge Lyriker eine Zeitschrift herausgegeben, besser gesagt, ein Objekt zwischen Zeitschrift, Buch und Kunstgegenstand – eine Literaturschachtel.
SCHOCK: Können Sie diese Literaturschachtel beschreiben?
WAGNER: Von 1994 bis 2003 haben wir elf Ausgaben gemacht. Der Titel »Die Außenseite des Elementes« ist im Grunde eine Art sprachliches Ready-made, nämlich der Aufkleber, mit dem Glaser die Außenseite einer Fensterscheibe bekleben, also die Wetterseite. In der DIN-A4-Pappschachtel befindet sich eine gedruckte Loseblatt-Sammlung mit Lyrik aus aller Welt, im Original und in Übersetzung, aber auch Prosa, Zeichnungen, Radierungen und so weiter. Durch den Verzicht auf Heftung und Seitennumerierung waren die Leser eingeladen, selbst die Reihenfolge zu bestimmen: das Lieblingsgedicht nach oben zu legen, vielleicht sogar eine Zeichnung, die sie besonders mochten, herauszunehmen, zu rahmen und an die Wand zu hängen. Mit anderen Worten: Es war eine nichthierarchische Publikation, bei der die Käufer in den Gestaltungsprozeß eingebunden werden sollten. Das Ganze zum Selbstkostenpreis und gewissermaßen als literarische Hommage an Marcel Duchamp und seine Schachtelkunst.
SCHOCK: Sie haben auch Arbeiten von Lyriker-Kollegen herausgegeben. Beachtung fanden zum Beispiel die 2003 erschienene Anthologie »Lyrik von Jetzt« und der einige Jahre später veröffentlichte Nachfolgeband.
WAGNER: Beide Bücher habe ich mit Björn Kuhligk herausgegeben. Es war der Versuch, die Lyrik unserer Generation zu sammeln. Wir wußten ja, wie aufregend das war, was in der deutschsprachigen Poesie geschah. Nicht zu Unrecht ist gesagt worden, daß der Reichtum an großartiger Lyrik seit Mitte der neunziger und erst recht in den letzten zehn Jahren seinesgleichen sucht, daß es vielleicht seit dem Frühexpressionismus keine solche Vielfalt individueller Stimmen mehr gegeben hat. Wenn man das selbst erlebt und sieht, wer in den Cafés und Kneipen liest, wer in den kleinen Zeitschriften, von denen es ja wimmelt, publiziert, hat man den Wunsch, es einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, die in der Regel gar nichts davon ahnt.
SCHOCK: Sie wurden 1971 in Hamburg geboren und haben dort und in Dublin und Berlin Anglistik studiert. Sind Sie in einem literarischen Elternhaus aufgewachsen?
WAGNER: Ich bin in einem Haus mit einer großen Bibliothek aufgewachsen, und meine Eltern haben mich schon in frühester Kindheit zum Lesen ermuntert. Zuerst waren das vor allem Romane, die Lyrik kam dazu, als ich vierzehn, fünfzehn war, und hat mich regelrecht zum Glühen gebracht. Emily Dickinson hat einmal geschrieben: »Wenn es sich anfühlt, als würde Deine Schädeldecke abgehoben, dann weißt Du, es ist Poesie.« Und das geschah mir zum Beispiel mit den Frühexpressionisten Georg Heym, Georg Trakl, besonders aber mit englischsprachigen Dichtern. Der erste, der mich so begeistert hat, daß ich dachte: So würde ich die Sprache auch gern beherrschen, als eine Magie zweiter Ordnung, war Dylan Thomas, der berühmte walisische Dichter, der auch eine wunderbare Stimme hat. Eine Freundin beschrieb sie einmal als »a rich old fruity portwine of voice«, als volle, fruchtige Portweinstimme, was es sehr gut trifft. Ich habe seine Stimme, seine Gedichte und auch sein Hörspiel »Unter dem Milchwald« gehört und war hin und weg.
SCHOCK: Sie sind mit Ihren Veröffentlichungen außerordentlich erfolgreich, sind Mitglied mehrerer Akademien, wahrscheinlich fast überall eines der jüngsten, Ihre Gedichte wurden in allen wichtigen Anthologien gedruckt, die Liste der Ehrungen und Preise bei Wikipedia ist beinahe länger als Ihr biographischer Eintrag. Können Sie als Lyriker auskömmlich leben?
WAGNER: Ich bin in jedem Fall beglückt und wurde reich beschenkt, gar keine Frage. Das ändert aber nichts an der Faustregel, daß man von Lyrik nicht leben kann. Niemand, der ein geregeltes Auskommen haben möchte, sollte darauf hoffen, das mit dem Schreiben von Gedichten erreichen zu können. Das ist, anders als bei Romanen, im Grunde unmöglich, und viele befreundete Dichterentscheiden sich deshalb ganz bewußt für einen Brotberuf. Sie sind zum Beispiel Buchhändler, arbeiten beim Rundfunk oder an einer Universität. Es ist möglich, als freier Lyriker zu leben, wenn man verschiedene Einkünfte hat, in meinem Fall etwa durch eigene Bücher, durch Lesungen in Buchhandlungen oder Literaturhäusern, durch Übersetzungen und Rezensionen. Doch selbst dann ist man darauf angewiesen, ab und zu ein Stipendium zu bekommen, das einem ein halbes Jahr oder länger Sicherheit und Unabhängigkeit schenkt.
SCHOCK: Haben Sie angesichts all der Ehrungen und Preise eine bestimmte Strategie, um nicht abzuheben, um auf dem Teppich zu bleiben?
WAGNER: Mein Teppich ist so gut verlegt, daß ich die gar nicht brauche, und es ist auch kein fliegender Teppich. Es mag banal klingen, aber für mich ist das Gedicht das Entscheidende. Ich bin erstaunt und beglückt, daß meine Texte so positiv aufgenommen werden, aber was mich wirklich glücklich macht, ist das Gelingen eines Gedichts. Ich glaube, so geht es allen, die Gedichte schreiben. Das liegt an der Wichtigkeit, die man der Sprache beimißt, dem Wunsch, all ihre widerstrebenden Elemente – das Musikalische, die Semantik, die Metaphern, die Paradoxien – auf engstem Raum zu vereinen, zum Klingen zu bringen und etwas zu schaffen, das dem Diktum von Emily Dickinson entspricht, das zu einer anderen Wahrnehmung der Welt führt, zu einer Explosion im Kopf. Der Wunsch, das zustande zu bringen, ist so groß, daß er das Hauptaugenmerk beansprucht.
SCHOCK: Diesen Anspruch haben Sie in dem wunderbaren Gedicht »giersch« exemplarisch eingelöst. Können Sie erzählen, wie so ein Text zustande kommt? Giersch ist ja eigentlich ein Unkraut. Manche Leute essen ihn auch als Gemüse. Haben Sie das mal probiert?
WAGNER: Nein, ich bin auch kein Gartenbesitzer, aber ich habe mir sagen lassen, daß er gut schmeckt. Man kann Suppe daraus machen, Salat, auch Quiche, was mir gut gefällt, weil Quiche und Giersch – als Giersch-Quiche – eine wunderbare Wortkombination ergibt. Jeder Gärtner liebt und haßt den Giersch, aber man kann unmöglich so viel davon essen, daß der Garten gierschfrei wird. Ich saß einmal als einziger Balkonbesitzer unter lauter Kleingärtnern, die sich über ihre Gierscherfahrungen austauschten und jammerten und stöhnten. Als Unbeteiligter konnte ich mich ganz auf das Wort Giersch konzentrieren, in dem wunderbarerweise schon die Gier enthalten ist, die ihn ausmacht. Ich ließ mich von dem Gespräch wegtreiben und begann über die Laute dieses Wortes nachzudenken. So kam es zu dem Gedicht. Wenn man es zum ersten Mal hört, wird man vielleicht nicht merken, daß es eine klassische Form bedient. Es ist ein Sonett, allerdings ein unterwandertes oder, wie es sich für den Giersch gehört, ein überwuchertes. Die Klangstruktur des Wortes sprengt mit ihrem sprachlichen Wurzelwerk die Form, bricht sie auf und überwuchert das ganze Gedicht.
SINN UND FORM 2/2015, S. 214-228, hier S. 214-216
Neumann, Peter Horst
In Muzot bei Rilke. Gedichte, S. 229
Bürger, Peter
Die Wirklichkeit des Werks. Zur Ästhetik Rainer Maria Rilkes und Lou Andreas-Salomés, S. 232
Buch, Hans Christoph
Als werde ein Buch erwartet. Erinnerungen an den Literaturbetrieb (I), S. 242
1 »Ein Schriftsteller ist eine Person, die sich der Illusion hingibt, es werde ein weiteres Buch von ihr erwartet.« Diese Definition der (...)
Buch, Hans Christoph
ALS WERDE EIN BUCH ERWARTET
Erinnerungen an den Literaturbetrieb (I)
1
»Ein Schriftsteller ist eine Person, die sich der Illusion hingibt, es werde ein weiteres Buch von ihr erwartet.« Diese Definition der literarischen Tätigkeit stammt von Reinhard Lettau, der seine »creative writing"-Seminare in Kalifornien mit den Sätzen zu eröffnen pflegte: »Wer von ihnen interessiert sich für Kriminalromane oder für Science Fiction? Alle, die sich gemeldet haben, verlassen sofort den Saal, denn ich unterrichte nur Literatur!« Damit waren Kleist und Kafka gemeint, sowie drei oder vier Werke der Weltliteratur: Von »Werthers Leiden« über »Heinrich von Ofterdingen« bis zu »Peter Schlemihls wundersamer Geschichte«. Qualität war Reinhard Lettau wichtiger als Quantität, und seine eingangs zitierte Formel ist nicht nur witziger, sondern auch zutreffender als viele akademische Definitionen, weil sie den neuralgischen Punkt benennt, an dem sich spontanes Schreiben vom Beruf des Schriftstellers scheidet. Bekanntlich ist das zweite Buch das schwierigste, weil der angehende Autor seine Unschuld verloren hat – so wie der Jüngling in Kleists Marionettentheater, der beim Blick in den Spiegel die eigene Grazie entdeckt. Eine bestürzende Einsicht, die das Weiterschreiben erschwert oder unmöglich macht.
»Ein Schriftsteller ist eine Person, die sich der Illusion hingibt, es werde ein weiteres Buch von ihr erwartet«: In dieser Formulierung ist auch die Möglichkeit enthalten, daß mit dem Schreiben Schluß sein könnte, weil dem Autor nichts mehr einfällt, weil das Publikum sich von ihm abwendet oder weil der Tod ihm einen Strich durch die Rechnung macht. Aber ich will die Geschichte nicht vom Ende her erzählen, sondern von Anfang an. Der Einfachheit halber beginne ich bei mir selbst.
2
Im Herbst 1963 erhielt ich von einem mir unbekannten Absender einen Brief mit folgendem Wortlaut:
München, den 29. Sept. 1963
Sehr geehrter Herr Buch,
falls Sie auf der diesjährigen Tagung der Gruppe 47 sich an den Lesungen beteiligen wollen, sind Sie zu dieser Tagung herzlichst eingeladen. Die Tagung beginnt am 24. Oktober (Anreisetag) und ist bis zum 28. Oktober. Die Lesungen beginnen am Freitagfrüh um 10 Uhr.
Ort: Saulgau (Württemberg) im Hotel Kleber-Post. Sie können sich ein Zimmer direkt im Hotel bestellen. Bitte geben Sie mir aber Bescheid, ob Sie kommen oder nicht. Mit den besten Grüßen bin ich unbekannterweise
Ihr
Hans Werner Richter
Dieser Brief sollte mein Leben verändern, aber das ahnte ich damals noch nicht. Ich war neunzehn Jahre alt und hatte kurz zuvor am Bonner Beethoven-Gymnasium Abitur gemacht. Zwar wußte ich, was die Gruppe 47 und wer ihr Vorsitzender war, aber von Hans Werner Richter hatte ich keine Zeile gelesen, und die mit seinem Namen verbundene Nachkriegsliteratur ließ mich kalt – das Wort »Kahlschlag « beschrieb die Sache nur allzu genau. Von meinem ersten selbstverdienten Geld hatte ich mir die bei Schocken Books und S. Fischer erschienene Gesamtausgabe der Werke Franz Kafkas gekauft und von der ersten bis zur letzten Seite durchgelesen – nein, durchgeackert. Auch die beiläufigste Bemerkung in Kafkas Briefen und Tagebüchern war mir wichtiger als Koryphäen der Gegenwartsliteratur wie etwa Martin Walser und Günter Grass, dessen »Blechtrommel« ich abgeschmackt fand. Ich weiß nicht, was mir damals mehr mißfiel: der barock verschnörkelte Stil des Romans oder sein Programm der Vergangenheitsbewältigung, das mir wie die Negativfolie der Kriegserlebnisse erschien, mit denen unser Deutschlehrer uns in der letzten Stunde vor den Ferien langweilte. Erst Jahre später wurde mir bewußt, wie einseitig und ungerecht mein apodiktisches Urteil gewesen war – Ausdruck des Absolutheitsanspruchs einer Jugend, die sich nicht an der vorigen Generation orientiert, sondern an der vorvorigen: Bekanntlich verläuft die Traditionslinie nicht gerade, sondern im Zickzack, und die literarische Erbfolge geht nicht vom Vater auf den Sohn, sondern vom Großvater auf den Enkel oder vom Onkel auf den Neffen über.
Neben der Heiligen Dreifaltigkeit Franz Kafka, Robert Walser und Robert Musil duldete ich keine anderen Götter in meinem Bücherregal – mit einer Ausnahme: Peter Weiss, selbst Kafka-Epigone, dessen autobiographische Romane ich heimlich unter der Schulbank las. In den Osterferien 1963 trampte ich nach Stockholm, um dem Autor von »Fluchtpunkt« und »Abschied von den Eltern« meine Aufwartung zu machen. Seine experimentelle Prosa »Der Schatten des Körpers des Kutschers« erschien mir damals unüberbietbar. Das war kein bloßes Geschmacksurteil, sondern eine bewußte Vorentscheidung, weil das Wie des Schreibens mir wichtiger war als das Was: Thema, Sujet, Handlung, Fabel, Stoff oder wie immer man es nennt. Selbst im Zeichen der Politisierung, als platter
Inhaltismus an die Stelle des Formalismus der sechziger Jahre trat, hielt ich an dieser ursprünglichen Erkenntnis fest, die ich in der Folgezeit zwar partiell revidieren, aber nie zurücknehmen mußte – sie hat mich dauerhaft immunisiert gegen jede Art von Agitprop und vordergründigem Engagement.
Die Begegnung mit Peter Weiss verlief so, wie Henry James in seinen »Stories of Writers and Artists« Pilgerfahrten junger Talente zu berühmten Kollegen schildert: Den Erwartungen ihrer ungebetenen Besucher werden sie zwar nie gerecht, doch zuweilen lassen sie mit einer eher beiläufigen Bemerkung eine reiche Saat aufgehen. Peter Weiss empfahl mir Rolf Hochhuths »Stellvertreter « und »Schwierigkeiten beim Häuserbauen« von Reinhard Lettau, den ich sofort in mein literarisches Pantheon aufnahm, während ich mit Hochhuths Stück nicht viel anfangen konnte: Erst später begriff ich, daß sein »Stellvertreter « bei Peter Weiss’ »Ermittlung« Pate gestanden hatte und indirekt auch beim Marat-Sade-Buch, aus dem Weiss vorlas, als ich ihn im Herbst 1963 bei der Tagung der Gruppe 47 wiedersah. Aber ich bin dabei, den Ereignissen vorzugreifen.
Im Frühjahr 1963 hatte ich meine ersten Schreibversuche an den Suhrkamp Verlag geschickt: Epigonale Kurzgeschichten im Orbit von Kafka und Peter Weiss, die ich im Schulunterricht oder in den großen Ferien, während ich bei der Bonner Post Nachtdienst schob, ersonnen, auf holzfreies Papier getippt und ohne große Hoffnung in einen Din-A-4-Umschlag gesteckt hatte. Zu meiner Überraschung erschienen einige meiner Texte in einer Anthologie junger Autoren, und bald darauf erhielt ich den eingangs zitierten Brief von Hans Werner Richter, den der Herausgeber Martin Walser – vielleicht war es auch der Verleger Siegfried Unseld – auf mich aufmerksam gemacht hatte.
Ich war der jüngste Teilnehmer der Tagung und wußte selbst nicht, wie mir geschah. Damals, im Herbst 1963, machte ich mir noch keine Aufzeichnungen; erst Jahre später brachte ich meine Erlebnisse in Saulgau zu Papier, in einer Erzählung, die ich im Frühjahr 1966 in Princeton vorlas, wo Peter Handke das Sterbeglöckchen für die Gruppe 47 läutete. Hier ein Ausschnitt aus dem als Fortschreibung von Flauberts »Erziehung der Gefühle« konzipierten Text:
»Einzeln oder in kleinen Gruppen kamen sie durch die Tür: Verleger und Mäzene, Journalisten und Kritiker, Schriftsteller aller Altersgruppen und Couleurs; Veteranen, die Dutzende von Literaturen überdauert hatten, neben Rekruten, denen der erste Bart ums Kinn stand; der Verkannte Seite an Seite mit dem Überschätzten; das Wunderkind im Gespräch mit dem Geheimtip; die verkrachte Existenz Arm in Arm mit der nationalen Institution. Die Anzüge, von weitem, bildeten eine einzige dunkle Masse, unterbrochen hie und da durch das Weiß eines Kragens, den Farbtupfer einer Krawatte; die grauen Haare, die Brillen waren zahlreich; dazwischen leuchtete ein blanker Schädel, und die Gesichter, gerötet oder sehr blaß, trugen Spuren einer unausrottbaren Müdigkeit. Ich habe zehntausend Mark Schulden und rauche Opium, sagte eine junge Dichterin, eine Sphinx mit schwarzlackierten Fingernägeln und totenblassem Gesicht: Lesen Sie?«
Der Name der Sphinx war Gisela Elsner, und ihre Frage ergab nur im Kontext der Gruppe 47 einen Sinn, denn das Verb »lesen« ist transitiv und wird normalerweise nur mit Akkusativobjekt gebraucht. Ich trug eine Kurzgeschichte über eine archäologische Ausgrabung vor, die buchstäblich im Sande verläuft. Während ich las, sah ich aus den Augenwinkeln, wie der in der ersten Reihe sitzende Marcel Reich-Ranicki die Stirn in bedenkliche Falten legte und sein Nebenmann Walter Jens sich die Haare raufte, was nichts Gutes verhieß. Dabei war ich mir sicher gewesen, daß mein Text preiswürdig war – nicht aus Überheblichkeit, sondern aus jugendlicher Unkenntnis. Der kurz zuvor von Leipzig nach Tübingen übergesiedelte Ernst Bloch deutete das Vorgelesene als Produkt spätbürgerlicher Dekadenz, die mit eisernem Besen ausgefegt werden müsse, und beförderte mich mitsamt meinem Manuskript auf den Müllhaufen der Geschichte. Hans Mayer hielt ein extemporiertes Kolleg, in dem er meinen Text literarhistorisch einordnete, und Reich-Ranicki – vielleicht war es auch Walter Jens – dekretierte, die Geschichte tauge nichts und sei für denkende Menschen eine Zumutung, während Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass von gewolltem Leerlauf sprachen, der sie an Slapstick-Komödien und absurdes Theater erinnere. Aber anstatt Ankläger und Verteidiger Revue passieren zu lassen, zitiere ich lieber noch einmal aus der unter dem Eindruck des Gruppentreffens entstandenen Erzählung:
»Der Kritiker A. empfand ein gewisses Unbehagen. Der Kritiker B. verstand nur zu gut das Unbehagen des Kritikers A. Welche Unwahrscheinlichkeiten, Verrenkungen und schreienden Übertreibungen! Ganz im Gegenteil, rief ein anderer: Ich finde das alles viel zu platt und prosaisch; wenn wir noch mehr solcher Texte bekommen, wird die Literatur zum bloßen Abklatsch der Wirklichkeit! Der Kritiker C. faßte die Äußerungen der Kritiker A. und B. mit denen ihres Kontrahenten zusammen und deutete sie als Symptome möglichen Verhaltens gegenüber dem Vorgelesenen. Man dürfe jedoch nicht vergessen, daß der Text mit verschiedenen Ebenen arbeite; auch seien Autor und Erzähler scharf voneinander zu trennen; die Frage sei nur, ob die Ebenen zu einer künstlerischen Einheit verschmolzen seien; andererseits enthalte der Text konstruktive Möglichkeiten, die der Autor nicht voll ausgeschöpft habe. Der Kritiker A. verwahrte sich dagegen, als Symptom betrachtet zu werden; man habe seine Ausführungen falsch referiert; und er wiederholte alles, was er schon einmal gesagt hatte …
Ein Verlagschef hatte eine ganz andere Geschichte gehört als seine Vorredner; er wollte sich erklären, da begann zwischen den Stühlen ein Hund zu bellen, und seine Worte gingen unter in allgemeinem Gelächter.«
So ähnlich, in Rede und Gegenrede, lief die Tagung ab, bis der Herbergsvater Hans Werner Richter die Diskussion mit einem Machtwort beendete: »Ich denke, damit ist alles gesagt!«
SINN UND FORM 2/2015, S.242- 252, hier S.242-246
Wajsbrot, Cécile
Echos eines Spaziergangs in der Künstlerkolonie, S. 253
Krämer, Gernot
Literatur als geteilte Erfahrung. Laudatio auf Cécile Wajsbrot, S. 267
Wysocki, Gisela von
Einer, dem der Kragen zu eng wurde. Über Christoph Willibald Gluck, S. 270
Kudielka, Robert
Sternbilder, Atem und Stimme. Über Eugen und Nora Gomringer, S. 275
Cziesla, Wolfgang
Die Geburt des Firwitzes, S. 278