
[€ 9.00] ISBN 978-3-943297-16-4
Heft 2/2014 enthält:
Strittmatter, Erwin
»Ich denke, es war so.« Aus den Tagebüchern 1974 - 1994, S. 149
Schacht, Ulrich
Dem Geheimnis der Glaubwürdigkeit auf die Spur kommen. Begegnungen mit Erwin Strittmatter, S. 170
I Warum einer Bäcker werden will? In meinem Fall erinnere ich mich an den Grund genau. Ich war gerade mal vierzehn, die Lust am Spielen war immer (...)
Schacht, Ulrich
DEM GEHEIMNIS DER GLAUBWÜRDIGKEIT AUF DIE SPUR KOMMEN
Begegnungen mit Erwin Strittmatter
I
Warum einer Bäcker werden will? In meinem Fall erinnere ich mich an den Grund genau. Ich war gerade mal vierzehn, die Lust am Spielen war immer noch groß, und die Spiele bestanden darin, sich bis spät in die Abendstunden herumzutreiben, so daß jeder Schulbeginn morgens zur Qual wurde. Man wollte im Bett bleiben, bis das Licht der Mittagssonne den Raum erfüllte und auch die Wachträume ausgeträumt waren.
Warum dann um fünf Uhr in der Frühe, wenn alles noch schläft und die Stadt gerade erst zu leben beginnt, eine vor Hitze flirrende Backstube betreten? In Pepitahose, weißem Turnhemd und Jackett, mit weißer Schürze um die Hüfte und einem weißen Schiffchen auf dem Kopf, das nach einer Woche Arbeit genauso waschmaschinenreif ist wie die ganze schöne Uniform. Am Wochenanfang von strahlender Reinheit, am Wochenende ein fett-, mehl und teigstarrendes Schmutzwäschebündel. Warum ich mir das alles antat? Die Antwort ist einfach: Ich haßte die Schule.
Der Preis für die Flucht ins Arbeitsleben war hoch: sie kostete das Kostbarste, nämlich den Schlaf. Denn ich hörte nicht auf zu träumen, sondern trieb diese Leidenschaft nun auf die Spitze: in Form von Lektüreabenteuern, unternommen am liebsten spät in der Nacht. Das Erwachen nach den beseligenden Räuschen und dem viel zu kurzen Schlaf war grausam.
So manche erste Berufsschulstunde ließ ich eigenmächtig ausfallen, was natürlich Ärger einbrachte. Nach drei Jahren Lehrzeit und dem Erhalt des Gesellenbriefs war es endlich vorbei: Ich betrat nie wieder eine Bäckerei, jedenfalls nicht, um darin zu arbeiten. Dennoch mochte ich die Zeit nicht missen, erlebte ich sie doch an manchen Tagen wie einen Roman. Einen Roman, den wir kannten – ob Lehrlinge, Gesellen oder Meister – und der den schönen, aber irgendwie auch merkwürdigen Titel »Der Wundertäter« trug. Er war von jenem Schriftsteller, den ich bereits aus der Grundschule kannte. Wie hieß doch noch das Buch, das wir damals behandelten? War es »Tinko"? Oder war es »Ole Bienkopp"? Offenbar war nichts davon hängengeblieben außer dem Namen des Autors. Es war derselbe wie der auf dem dicken Taschenbuch, das mir eines Tages der Chef unserer Bäckerei, eines Privatbetriebs mit acht Angestellten, nach Feierabend in seinem Büro zwischen Laden und Backstube überreichte. »Hier«, sagte er, und sein böhmischer Akzent war deutlich herauszuhören, »›Der Wundertäter‹ von Strittmatter, den mußt du lesen! Das ist der Roman unserer Innung, in unserer Bäckerei gehört er wie die Kümmelstangen mit zur Ausbildung!« Kümmelstangen, in Mecklenburg nie Tradition, waren in meiner Heimatstadt Wismar die Mitgift des Chefs aus seiner böhmischen Heimat, die er nach dem Krieg, wie so viele andere auch, erzwungenermaßen hatte verlassen müssen. Der Chef schien nicht zu ahnen, was er sich mit diesem Auftrag antat, war ich doch in den nächsten Wochen, wenn ich morgens die Bäckerei betrat, noch müder als sonst, und schuld daran war einzig und allein das empfohlene Buch. Stanislaus Büdner, sein jugendlicher Held, machte mich, wenn ich wie immer erst spät nachts zu Bett ging, rasch wieder wach, und ich las und las, lachend und lüstern, bis mir die Augen zufielen und ich nicht einmal mehr merkte, ob die Kerze neben der Couch, auf der ich schlief, noch brannte oder nicht. Ich glaube nicht, daß man Bäcker sein muß, um sich von diesem Roman verzaubern zu lassen; aber natürlich war es ein spezielles Vergnügen ihn zu lesen, wenn man Bäcker war oder werden wollte: es brachte einem Stolz auf das Handwerk bei, das man erlernte. Man war nun etwas Besonderes, ein Held, der aus der Welt der Bücher kam und das eigene Leben in ein Buch verwandelte, das alle lesen konnten, wenn sie nur wollten. Ich fühlte mich nach der Lektüre des Romans regelrecht geadelt, und ich glaube, meinem Chef und den Gesellen, allen, die ihn gelesen hatten, ging es ebenso. Strittmatters Buch machte uns, gleich den jährlichen Bäckerbällen der Innung, zu Mitgliedern einer verschworenen Gemeinschaft, und kein noch so großer Krach während der Arbeitszeit, weil wieder einmal irgend etwas angebrannt oder sonstwie schiefgegangen war, konnte etwas daran ändern. An jedem Wochenende erzählte einer von uns eine Anekdote aus dem »Wundertäter«, als würde sie aus dem eigenen Leben stammen, so sehr waren wir Teil des Romangeschehens geworden. Und ich? Was war mit mir? Ich war genauso schwer zu erziehen wie der Bäckerbursche Stanislaus; nur traf das Buch in einem Punkt doch nicht ganz zu: Mein Meister behielt mich, und er bootete mich nicht, wie Stanislaus’ erster Lehrherr ihn, vor versammelter Innung mit den Worten aus: »Wer übernimmt einen schwererziehbaren Lehrling zum Auslernen?« Nicht daß ich renitent gewesen wäre, das nicht, ich war nur müde, immer nur müde, und deshalb manchmal einfach nicht da. Oder kam zu spät. Oder schlief ein, bei der Arbeit, beim Hörnchenaufrollen, Semmelkneten, Brot mit Wasser bestreichen, beim Sauberkratzen der Kuchenbleche, Ausspülen der Sahnekessel oder Bestreuen der Kümmelstangen. Hin und wieder weckte mich ein Tritt des Meisters in den Hintern oder das Guten-Morgen-Gebrüll eines Gesellen direkt in mein Ohr. Aber das alles änderte nichts an der Tatsache, daß ich ein müder Lehrling war und bis ans Ende meiner Lehrzeit blieb. Und das vertrug sich eben nicht mit diesem Beruf, der ansonsten auch bei mir so aussah wie bei Stanislaus Büdner: »Mehl wurde Teig, Teig wurde Gebäck. Das Gebäck verschlangen die Menschen. Am Abend waren Backstube und Laden leer. Neues Mehl mußte zu Teig, neuer Teig zu Gebäck geformt werden. Die Freude des Gärtners über Blumen und Sträucher währt ein Jahr und länger; die Freude des Bäckers über das Gebackene währte einen Tag, nur Stunden.« Stanislaus rettete sich aus dem allzu flüchtigen Glück durch ein einziges Buch, es hieß »Die Kunst der Hypnose«; ich ließ mich von ganzen Bücherwelten hypnotisieren und verabschiedete mich schließlich im Mißklang – wegen eines ertrotzten Urlaubs ins politisch brodelnde Prag 1968 – für immer von meinem Chef und seiner Bäckerei. Strittmatters »Wundertäter« Band I aber blieb mir erhalten. Bis heute. Seinen zweiten Teil allerdings, der 1973 erschien, las ich ganz woanders, an einem Ort, an dem ich zwar auch eine Uniform trug, aber nicht mehr die eines Bäckers. Es war die Uniform eines Strafgefangenen, und ich las das Buch im Gefängnis, als politischer Häftling der DDR und ihrer führenden Partei, der Stanislaus’ geistiger Schöpfer wie selbstverständlich jahrzehntelang angehörte. Aber eigenartigerweise machte diese Tatsache das Leben und die Abenteuer seines Helden nicht unglaubwürdig, und vielleicht war das schon eine Erklärung dafür, was später in diesem Zusammenhang noch kommen sollte.
[...]
SINN UND FORM 2/2014, S. 170-181, hier S. 170-172
Vesper, Guntram
Wandertag, S. 182
Hartwig, Julia
»Es gibt eine Poesie der Ordnung und eine Poesie des Wahns«. Aus dem Tagebuch 2008, S. 189
Hartwig, Julia
Wohin gehöre ich. Amerikanische Gedichte, S. 196
DIESER SONNENUNTERGANG
Dieser unvergleichliche Sonnenuntergang, dargebracht im täglichen Opfer.
Ite missa est. Der Tag ist vorüber. Der (...)
Hartwig, Julia
Wohin gehöre ich
Amerikanische Gedichte
DIESER SONNENUNTERGANG
Dieser unvergleichliche Sonnenuntergang, dargebracht im täglichen Opfer.
Ite missa est. Der Tag ist vorüber. Der dunkelnde Ozean empfängt die Hostie.
Vögel, kluge Vögel, sagt, wo ich bin.
Im Fegefeuer des Nichtseins. Am Steilufer der Hoffnung.
(1971–74)
WACHEN AN DER BUCHT
Sie schlief ein aber selbst im Schlaf spülte der Ozean Sand an und rauschte
von allen Farben entblößt so wie sie ihn meist bei Tagesanbruch sah
Der Wind rüttelte an der Tür und schlug an die Fensterläden
Auf dem Stuhl ein hingeworfener Band mit Schauergeschichten
und die Zeitung mit dem aufmerksam studierten Polizeibericht
Die Furcht wohnte in ihr
wie ein Stein den noch immer Wasserrauschen umspült
Eine Frau mit offenem Haar
und im fußlangen Arbeitsrock
verbrennt Laub vom letzten Jahr das sie achtsam zur Mitte des Feuers kehrt
In ihrem Rücken der Ozean
Er versucht sie bei jeder Ebbe mit sich zu reißen
als wäre sie die Geisel eines geheimen
in der Vergangenheit geschlossenen Pakts
Mit dem Ozean leben heißt leben zwischen der täglichen Angst
und der Angst die wie ein unter den Wellen verborgener Fels
die Ablagerungen der seit Jahrtausenden von Ozean
Wind riesigen Fischen und Vögeln herangetragenen Ängste erkennen läßt
Aber jeder muß sich irgendwann einem Element hingeben
ihm Treue schwören
Warum nur wußte ich nicht daß der Ozean schon dort war
vor dem Fenster meines alten Hauses
Muß man deshalb bis ans andere Ende der Welt fahren
ans gegenüberliegende Ufer
(1970–74)
WIE DEN ORT EHREN
Ein Schriftzug markiert die hier verlaufende Wasserscheide
zwischen Pazifik und Atlantik
Ein Fluß der in dieser Gegend entspringt
muß sich gut überlegen
welchem der beiden Ozeane er angehören will
zu welcher Mutter er sich bekennt
in wessen Schlund er für immer verschwinden
und seinen Namen verlieren will
Wie diesen einzigartigen Ort ehren
mit einem Schrei mit Stille
Ich stehe auf der Wasserscheide
wie auf dem Rücken eines breitbeinigen Bisons
den die Sonne blendet Die Fluten des Regens
fließen an seinen zwei glänzenden Seiten hinab
Ich aber
wohin gehöre ich
(1979)
STÄDTISCHES WIEGENLIED
Abend in der Stadt Die Bahnsteige glänzen
die Subway ist randvoll beladen
mit Müdigkeit und Schlaf
auf die Sichtschutzzäune malt jemand nachts
kämpfend ineinander verschlungene Lettern
Hinter dir Schritte in der dunklen Straße
nachmittags eine Schießerei in der Bar
das leuchtende Chrom der Auslagen und Glassplitter
der Rettungswagen verschluckt ächzend die Trage
unter der graubraunen Decke eine reglose weiße Gestalt
Von oben schauen spottende Wolkenkratzer auf uns herab
ihnen vertrauen wir uns zur Nachtruhe an
in den Schlaf wiegt uns das Brummen des Ventilators
der mit den Flügeln schlagende metallene Vogel
Frühmorgens wecken uns von der Straße Sirenen
und die Kräne stecken ihre Köpfe ins Fenster
die weißglühende Sonne blendet wie Quecksilber
aber du findest keinen Schutz unter dem Baum
der abgenagt ist wie das Skelett eines Fisches
Gehe vorwärts spute dich einsamer Passant
hinter dir der spöttische Schatten
in dir die blutende Zeit
(1983)
SCHWARZER COMIC
Shine ist ein kleiner schwarzer Junge aus einem Comic
Seine besondere Eigenschaft ist die Unsterblichkeit
Wenn Shine unsterblich ist
muß sein Vater dann sterben
Ja alle anderen sterben
nur Shine ist unsterblich
Jetzt fliegt er einen Düsenjäger
und seine Geschwindigkeit
übertrifft alle bisherigen Rekorde
Neben mir sitzt ein junger Schwarzer
er hört eine Vorlesung über schwarze Literatur
Auf dem Pult vor ihm die zerknitterte Cellophan-Hülle
eines Stücks Rocky-Road-Schokolade aus dem Automaten
eine zerrissene Kekspackung
und ein zerknüllter Cola-Pappbecher
Er lauscht so gebannt daß sein Mund die Wörter nachformt
die der Dozent spricht
man kann den Blick kaum von seinem lebhaften Gesicht abwenden
Der Dozent liest jetzt das Gedicht einer schwarzen Dichterin vor
es handelt von einem samstäglichen Fest in ihrem Elternhaus im Süden
Die Mutter hat Brot gebacken ein alter Phonograph spielt
die Kinder tanzen und springen festlich gekleidet umher
die Großmutter steht lächelnd mit dem Braten in der Tür
der kranke Großvater stützt sich in seinem Holzbett auf die Ellbogen
und bewegt den Kopf im Takt der Musik
Den Studenten gefällt das Gedicht sie klatschen Beifall
Aber jetzt ist wieder die Rede von Shine
dem mythischen Comichelden
Der junge Student in der Aula weiß er ist Shine
und alles woran er denkt ist möglich
(1970–1974)
GLÜCK
Ein Sonntag nachmittag
Über dem East River das graue Netz des Himmels
und kreisende Möwen
Eine alte Frau setzt sich auf eine Bank
und stemmt die Fersen der starr ausgestreckten Beine in den Boden
Wonne Der Sonntag gleitet dahin wie ein Motorboot
und versprüht silbernes Licht
Ein Schwarzer mit Hut regt sich auf
Liza läßt immer alles fallen
und jetzt muß man Schlüssel Notizbuch Schminke
aus dem Laub sammeln
Die alte Frau döst mit offenen Augen
Der Anblick des Flusses und der Passanten
fällt in sie hinein wie in einen vergessenen Briefkasten
Ach welche Wonne
Nichts ängstigt sie sie muß nirgends hineilen
der Wind zaust sanft das graue Haar über der Stirn
(1986)
GEDANKEN ÜBER DEM BUCH EINES JUNGEN DICHTERS
Das Zimmermädchen wird sich am Morgen wundern
wenn es neben dem Hotelbett dieses Buch findet
denn ich werde es wohl hierlassen
weil meine Koffer schon randvoll gepackt sind
Ich wäge aber trotzdem noch einmal die Last des Bandes
gegen das Gewicht der darin enthaltenen Gedichte
Er ist ja in seinen Versuchen wahrhaftig
wenn ich trotz der Julihitze
an den Schneeregen im November glaubte
der ihn nach dem Verlust seines Mädchens in die Bar trieb
und an den Morgen an dem er plötzlich begriff
wie wenig ihm sein Elternhaus noch bedeutete
also packte er seine Sachen und verließ es für immer
Später lebte er von Gelegenheitsjobs
lebte schnell und erwachte am Boden der Gleichgültigkeit
mit dem Wunsch einzuschlafen und nie mehr zu erwachen
all das hat er bestimmt nicht aus einem fremden Leben gestohlen
auch nicht die Gedichte aus fremden Gedichten
Ist das nicht Grund genug das Buch zu behalten?
Loslassen war noch nie meine Stärke
alles was mir begegnet trage ich in mir
wie etwas Hinterlegtes das auf den verspäteten Besitzer wartet
Vielleicht haben ja diejenigen recht
die sich leicht von allem Überflüssigen befreien
und direkt auf ihr Ziel zusteuern
Sie lachen bestimmt über mein Abwägen
(1979)
EMILY DICKINSON
Zwei kurze Strophen Beide lassen sich notieren
zwischen dem Aufschlagen der Eier fürs Omelett und dem Erhitzen der Pfanne
Die Inspiration kam von Sonntagspredigten
vom Duft des Klees und von Grabinschriften
Ich bin Niemand – schrieb sie morgens am Fenster
vor dem wie ein Vorhang der Nebel Neuenglands sich senkte
von den rostroten Eichen des Herbstes
Diejenigen die deine Notizen fanden
wußten nicht was sie damit anfangen sollten so viele waren es
Man nahm die Meisterwerke heraus
wie Kastanien aus dem Feuer
(1990)
ZUM ENTSATZ
Allein, allein! Ich bin glücklich allein!
– ruft der Dichter William Carlos Williams während er nackt vor dem Spiegel tanzt
Glücklich allein! Aber oben im Hinterzimmer
schlafen seine Frau Kathleen das Kind und das junge Kindermädchen
alle bereit herbeizueilen
wenn er nur nach ihnen riefe
(1997)
BEIM ÜBERSETZEN DER WERKE AMERIKANISCHER DICHTER
Umzüge wie diese gefallen ihnen bestimmt nicht
aus Long Island Santa Barbara oder dem Buchladen Lightning House in
San Francisco
aus der Trapperhütte am klaren Fluß in Pate Valley
aus den Betten in denen sie noch halb schlafend liegen
aus verrauchten Tavernen und Klubs
aus Motels wo sie nach einem Tagesmarsch durch ein sumpfiges Tal müde
die Stiefel abstreifen
von der abgelegenen Farm in Missouri aus dem wohlhabenden Haus inWashington
aus der Nachtbar in New York
und sie rebellieren jetzt gegen die unerbetene Umsiedelung
nach Osteuropa von dem sie so wenig wissen
obwohl ja nicht ihr selbst zu uns kamt sondern nur eure Gedichte
und ihr wißt nicht welch warmer Empfang ihnen zuteil wurde
aus Gründen die ich nur raten kann ohne ganz sicher zu sein:
weil ihr in ihnen eure Sorgen und eure Eitelkeiten respektiert
eure Krankheiten und eure Lächerlichkeiten eure Autos und eure Blumen
eure Reisen und die unterwegs gesammelten Landschaften
euren Haß auf die großen Städte und das Berauschtsein von ihnen
Chicago New York New Orleans Golden Gate und Brooklyn Bridge
Namen von denen europäische Schuljungen seit Jahren träumten
verbunden mit der Hoffnung auf große Veränderungen und Ruhm
und genau das ist die Mitgift die ihr beisteuert
in Gedichten die nicht auf Größe zielen sondern den Alltag zeigen
mit den Augen eines Farmers Neurasthenikers und Hypochonders
einer vom Leben trunkenen Nymphomanin und Landstreicherin
oder eines von einer Gang von Fehlschlägen und Unglücken Verfolgten
eines auf seine Demokratie Stolzen der ihren Mißbrauch verdammt
Wie großartig wenn man frei ist sein Land zu betrachten
wie einen Menschen dessen Vorzüge und Schwächen man ohne Furcht
erörtern kann
(1998)
BEGEGNUNG
Der Brooklyn Park ist erfüllt
von Seidenkaftanen und schwarzen Hüten
Unter den blühenden Bäumen
ziehen sie im Kreis ihrer Familien ruhig und gesammelt vorbei
wie in einem geträumten langsamen Film
Es sind gerade die Feiertage
Passover
Festlich gekleidete Kinder
junge Männer und kleine Buben mit Kippas
auf hellem und dunklem Haar
Mädchen in festlichen Kleidern
in denen sie aussehen wie englische Königskinder
Meine schönen Juden! Ich betrachte euch durch die Folie meines eigenen Lebens
in dem auch eure Geschichte enthalten war
Ich sah euch ganz anders
getrieben durch die Straßen von Lublin und Warschau
in der schlimmsten Zeit der Vernichtung
Euch hier zu sehen
wie ihr sicher zwischen Blüten und Grün spaziert
ist für einen Zeugen jener Tage ein tröstlicher Anblick
(1998)
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 2/2014, S. 196-202
Modiano, Patrick
Die zum Untergang verurteilte Welt. Über Joseph Roth, S. 203
Wajsbrot, Cécile
»Osnabrück ist das verlorene Paradies, nur nicht für mich.« Gespräch mit Hélène Cixous, S. 214
Vorbemerkung Ich hatte in den siebziger Jahren einiges von Hélène Cixous gelesen, vor allem »Angst«, aber auch ihre Essays, ich wußte von (...)
Wajsbrot, Cécile
»OSNABRÜCK IST DAS VERLORENE PARADIES, NUR NICHT FÜR MICH»
Gespräch mit Hélène Cixous
Vorbemerkung
Ich hatte in den siebziger Jahren einiges von Hélène Cixous gelesen, vor allem »Angst«, aber auch ihre Essays, ich wußte von ihrer Rolle bei der Gründung der alternativen Universität Vincennes (jetzt Saint-Denis), an der man auch ohne Abitur studieren konnte, ich wußte von der Strahlkraft ihrer Seminare und auch von ihrer Freundschaft mit Derrida, die sich in mehreren Büchern niederschlug. Dennoch lernte ich Hélène erst viel später, 2006, durch den gemeinsamen Freund Frédéric-Yves Jeannet kennen. Inzwischen hatte ich mit dem 1999 erschienenen Buch »Osnabrück« meine Cixous-Lektüre wiederaufgenommen und begab mich alljährlich treu zum Stelldichein der Herbstneuerscheinungen, wo die unendliche Erzählung ihres Werks Buch für Buch fortgesponnen wurde – eine Art mythisches Epos, aus transfigurierten Alltagselementen gewoben und von literarischen Hausgöttern wie Stendhal, Montaigne und Kafka behütet.
Als Hélène Cixous die Wohnungstür öffnete, kam mir Nofretete in den Sinn, deren ebenmäßiges und doch rätselhaftes Gesicht die Zeiten überdauert hat. Beim Anblick des Panoramas von Paris, das sich vor den Fenstern darbot, sprachen wir über Deutschland, über Berlin, wo ich damals schon lebte. Im Laufe der Jahre wurden mir diese Treffen mit Hélène zur Gewohnheit – schwebend gleichsam im Raum (hoch droben in einem Neubau) und in der Zeit, seltene, doch regelmäßige Besuche – manchmal wirbelte eine Katze herein –, geprägt von der mal sichtbaren, mal unsichtbaren Gegenwart ihrer Mutter Ève, die im Sommer 2013 dahinging. Mit der Zeit entwickelten sich eine Freundschaft, glaube ich, und ein Austausch.
Wie kam es zur Idee eines Gesprächs über Deutschland? Die Wichtigkeit des Themas für unsere Unterhaltungen, die Bedeutung der deutschen Sprache und Literatur für Hélène Cixous’ Leben und Werk, auch wenn sie von der Kritik kaum wahrgenommen wurde – es gab viele Gründe, die dabei zusammenkamen. Hélène sagte sofort zu. Das Gespräch sollte fortlaufend stattfinden, in jenen Freiräumen, die uns unsere vielfältigen Aktivitäten ließen – in Hélènes Fall das monatliche Seminar im Pariser Heine-Haus, das Stück, das sie für Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil schrieb und das anschließend geprobt wurde, die mit der Arbeit an ihrem nächsten Buch erfüllten Sommermonate in Arcachon und natürlich Ève, die sich in ihrer Obhut befand. Was also konnte zweckmäßiger als die Schriftform sein, zumal wenn man mit der Hand schrieb und nicht am Computer?
Es handelt sich hier also um ein geschriebenes Gespräch, geführt zwischen Mai und November 2012.
Cécile Wajsbrot
CÉCILE WAJSBROT: Es kommt mir vor, als beträten wir einen neuen Kontinent, ein aus den Wassern auferstandenes Atlantis. Das deutsche Wort Angst und der Städtename Osnabrück sind die ersten Hinweise auf Deutschland, denen man in Ihren Buchtiteln begegnet. Was ist Deutschland für Sie in erster Linie: ein Land, eine Stadt, eine Sprache? Wenn die Frage zu weit führt, sagen Sie es mir.
HÉLÈNE CIXOUS: Mir fällt an Ihrer Frage das bezeichnende »erst« auf, das zweimal vorkommt und die Hypothese Deutschland als Raum, Oberfläche, Gelände oder geographisches Gebiet markiert. Habe ich je mit Deutschland Fühlung aufgenommen? Hat es je mit mir Fühlung aufgenommen? Habe ich es je betreten, habe ich es je verlassen? Meinem Gefühl nach bin ich seit jeher von ihm umgeben, meine wichtigste Erinnerung besteht darin, eine treibende Alge inmitten dieses Meers gewesen zu sein. In Algerien wurde ich geboren, von Deutschland stamme ich ab, es hat mich von Geburt an umschlossen. Denken, Sätze bilden und die Welt lesen, all das habe ich in einer in algerische Gefilde versetzten deutschen Welt gelernt. Während ich als pflanzlich-tierisches Menschenwesen im trockenen und duftigen Klima von Oran aufwuchs, sog ich aus zwei Böden Kraft und Bedeutung, ich war durch das in Algerien enthaltene Deutschland mit der Zeit verbunden. Umgekehrt lag meine Geburtsstadt Oran in Osnabrück, der Stadt meiner Mutter.
Daß die Frage zu weit führen könnte, ist ein guter Indikator: Sie zeigt die unberechenbare Gegenwart all dessen an, was unter dem Namen Deutschland um mich versammelt ist. Am Ende (meines Lebens) würde ich ein Traktat, ein Epos, eine deutsche Autobiographie (eine meiner Autobiographien) geschrieben haben können oder sollen.
Ich sage Deutschland, und die Sache erscheint mir genauso unendlich, unerbittlich, von mir selbst unablöslich wie, sagen wir, für Derrida der Name Abraham, den er zum Vornamen des Rätsels Judesein bestimmen wollte. Ich sage Deutschland, und der Name klingt für mich seit meiner frühen Kindheit, als wäre er ein Synonym für Omi, meine Großmutter, meine Mutter für Deutschland. Omi kommt 1938 zu uns nach Oran, ich bin anderthalb und habe zwei ganz verschiedene und doch spiegelbildliche und stets miteinander verbündete Ammen, Deutschland und Algerien. Meine geistigen Großmütter, meine Schicksalsverwandten, die mein Ohr mit der gleichen Anfangssilbe umschmeicheln (Allemagne/Algérie). Sobald ich Allemagne sage, erhebt sich Algerien und folgt ihm wie ein Schatten.
Ich merke, daß ich Deutschland auf französisch sage, denn es war die französische Sprache, in die meine Mütter (meine Mutter meine Großmutter), als sie es während des Kriegs für nötig hielten, ihr Haus und ihre aus Deutschland stammenden Leiber verwoben und hüllten, in der sie sie vielleicht sogar verbargen, also ihre erste Wahrheit unter dem Tischtuch des Französischen verschwinden ließen. In unserer Behausung in Oran sagte Omi stets »chez nous«, wenn sie eine besonders verbindliche Regel oder Sitte formulierte, und dieses »bei uns« war in Deutschland. Sicherlich kam es auch einmal vor, daß sie es auf deutsch sagte, doch in ihrer gebieterischen Art und Weise, unseren Gehirnen deutsche Ordnung beizubringen, zog sie es vor, »auf französisch deutsch zu sprechen«. Noch heute schmeckt das Wort Allemagne für mich nach Dom und Schlagsahne oder Schuberts klangvollem Dahinströmen. Ich glaube, in meiner zweisprachigen Kindheit ging französisch oft als deutsch durch, und das Deutsche floß zu meiner größten Zufriedenheit ins Französische ein. Diese Weiterungen, Ergänzungen, Pfropfungen, Einladungen machten mir große Freude, ich hatte eine Freude am Spiel, die mir heute als Urszene jeder Form von Genuß erscheint: zu zweit sein, zwei sein, zugleich der andere sein, stets zu etwas anderem seine Zuflucht nehmen können, nicht in der Zelle des Eigenen, des Nationalen eingeschlossen sein, über alle Transportmöglichkeiten verfügen, nach Lust und Laune über die Ufer treten. Die Wonne, sich mühelos zu einer Fremden zu machen.
Ein Land, eine Stadt, eine Sprache? Wie könnte man das auseinanderhalten oder in eine Rangfolge bringen? Mir fällt ein Kompositum ein: Sprach-Stadt-Land. Eine Sprache, in der ich wie in einer Stadt wohne und reise und die mein ganzes Weltland wäre. Und die alle meine Stimmungen in sich aufnähme. So wird »Angst« und »Osnabrück« der gleiche Platz zugewiesen, nämlich der eines Titels. Zwei »deutsche« Titel, zwei Bestimmungen, gleichsam zwei Namen geistiger Orte, zu deren Archäologin ich geworden bin. Tatsächlich widme ich mich der Erforschung der Tiefen, den Bergwerken, Stollen, Irrgängen, Grabungs- oder Auferstehungsstätten, ich horche die Brust der Schöpfung ab. Es drängt mich dazu, die Herkunft zu untersuchen – die Ursprünge, die Passionen. Und oft geben sich mir diese urwüchsigen Zonen in Gestalt archaischer, also deutscher Gottheiten zu erkennen. Ich habe so viel in »Angst« gelebt, diesem Land seltsamer Irrlichter. Und es stellt sich heraus, daß die prähistorischen »Städte« der Triebe und Passionen in meinem inneren Deutschland liegen. Das Bild, das ich von Osnabrück habe! Ein Klangbild, ein Scheppern, ein Gerassel von Phonemen, etwas geradezu Mythologisches! Während »Angst« den Tod im Leben bezeichnet, beschwört »Osnabrück« ein Pompeji vor dem Jahr 79 herauf, eine jugendliche, europäische, genießerische Stadt, eine Schatulle voller lebenskluger Menschen, man schwimmt, geht ins Theater, treibt Sport, und eines Morgens überrascht einen der Krieg. Streckt einen nieder. Os-na-brück. Erich Maria Remarques Schule, Straßen für Felix Nußbaum, »Osnabrück«.
WAJSBROT: Dann hätte Deutschland also keinen Anfang, es wäre selbst der Ursprung. Aber gab es denn kein erstes Mal? Wann zum Beispiel fand die erste Reise ins reale Deutschland statt und wohin führte sie?
CIXOUS: Köln. Bad Nauheim. 1951. Schlagsahne. Ich sehe mich mit Omi in den Straßen Kölns. In der großen hellen Wohnung von Eri und Bertold Barmé. Eri, Omis zweite Tochter, meine Tante. Im Kurhaus in Bad Nauheim langweile ich mich bloß, nichts als alte und kranke Leute, echte Kranke und auch eingebildete, wie Omi.
Ich glaube, ich bin voller Vorfreude mit Omi in Algier aufgebrochen. Ich habe Lust auf Deutschland. Ich bin vierzehn. Die Umstände brauen sich zusammen: Zum einen – und das ist die geheime Motivation – wohnt meine Tante Eri jetzt in Köln mit meinem Onkel Bertold, ihrem Mann, einem Zahnarzt. Zum anderen hat Omi ihr Recht auf Wiedergutmachung in natura geltend gemacht: Sie muß ihre Gesundheit in den Bädern wiederherstellen! Man verordnet oder verschreibt ihr Bad Nauheim – aber das ist ein Vorwand: Niemand in der Familie glaubt an die Heilwirkung der Bäder. Für mich ist das ein Motiv der Literatur, man findet über Dostojewski und Thomas Mann dorthin, allenfalls noch über Kafka und Thomas Bernhard. Mir erscheint das alles als Farce. Manche Pensionsgäste sind herzkrank. Man kann nichts tun, als mit Omi, die schlecht zu Fuß ist, im Wald spazierenzugehen. Ich verstehe mich gut mit Herrn Ober und stelle fest, daß meine schwarzen Augen in diesem Land, wo alle Welt Omis blaue Augen hat, Aufsehen erregen. Ein armer mißgestalteter jüdisch-polnischer Händler, auch er mit einem Anspruch auf Wiedergutmachung, macht mir einen Heiratsantrag. Letztlich wird das Hotel zum Schauplatz einer kleinen Einführung in den Roman des 19. Jahrhunderts, die »Psychologie«: Man stecke Vertreter unterschiedlicher Spezies in eine Arche ohne Zukunft. Eine Versuchsanstalt. In Köln lerne ich die deutsche Großstadt kennen. Für mich sind wir dort in einen »fremden« Leim getaucht. Omi fühlt sich wohl, es ist schlichtweg ihr Land und beinahe ihre Gegend. Das Stück Deutschland, in dem die Familie verwurzelt ist: Hamburg, Dresden, Gießen, Hannover, Osnabrück, Köln, Frankfurt. Die Städte, wo die Onkel, Tanten, Cousins gedeihen, Kaufleute, Bankiers, Unternehmer. Man spricht viel von Hamburg in der Welt. In Köln bemerke ich die Grenzposten: Ich werde »gesehen«, schief angesehen. Auf der Domtreppe hält mich ein gereizter Priester auf und weist mich, weist meine nackten Arme ab, es ist ein strahlender und heißer Sommer. Da kam mir ein Verdacht. Ansonsten begegnet mir 1951 keine Spur von Antisemitismus. Es gibt auch keine Juden mehr in Deutschland. Bis auf meinen Onkel Bertold, der den Zwängen Israels entflohen ist, wo er 1937 oder 1938 ankam, als es noch Palästina und ein Schutzraum war. Zehn Jahre haben ihm gereicht.
Als guter freimaurerischer Stadtbewohner, Bürger von Köln, kehrt er »heim« und bringt seine Familie mit. Es läuft gut für ihn, den angesehenen Zahnarzt, den umgänglichen und charmanten Mann. Ein Roman, der noch zu schreiben wäre. 1951 blüht Köln, es gedeiht – doch, doch, ich komme aus Algier. Und aus London, wo es Hunger gibt und Lebensmittel rationiert sind. Während ich in Köln endlich der riesigen Sahnetorten ansichtig werde, von denen mich Omi den ganzen Krieg über träumen ließ. Köstlich. Sie sind bis heute unübertroffen.
Bleibt noch der Mythos Osnabrück: Bin ich mit Omi hingefahren? Oder habe ich das nur geträumt? Ich sehe uns dort in den engen Straßen, ich sehe uns am Nikolaiort, wie im Traum.
Leider habe ich es versäumt, Omi zu fragen, ob wir wirklich dort gewesen sind. Osnabrück war stets so strahlend gegenwärtig in meinen »Erinnerungen«, die von den Berichten meiner drei Erzählerinnen getönt waren – den feenhaften Zeuginnen, meiner Mutter Ève, meiner Tante Eri und Omi.
Mein erstes, zwiespältig reizvolles Deutschland, ich habe dich geliebt. Und gewiß wollte ich von dir geliebt werden.
[...]
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 2/2014, S. 214-222, hier S. 214-218
Coulmas, Danae
Der kavafische Augenblick der Geschichte. Eine Prosopographie, S. 223
Dabrowska, Krystyna
Das Bett von Kavafis. Gedichte, S. 237
Fioretos, Aris
Termiten. Aus dem Leben eines ehemaligen Diplomaten, S. 239
Iuga, Nora
Eine Reise ans Ende der Welt. Gedichte, S. 244
Różycki, Tomasz
Gedichte als Lebenschronik. Über Joachim Du Bellay, S. 247
Ich weiß nicht, warum ich diese Gedichte gefunden habe, die Frage ist sogar etwas absurd. Von allen möglichen Gründen, potentiellen und realen (...)
Różycki, Tomasz
GEDICHTE ALS LEBENSCHRONIK
Über Joachim Du Bellay
Ich weiß nicht, warum ich diese Gedichte gefunden habe, die Frage ist sogar etwas absurd. Von allen möglichen Gründen, potentiellen und realen Verkettungen von Ereignissen scheint die einzig wahre und – bei aller Paradoxalität – einzig sinnvolle Antwort zu lauten: Die Gedichte haben mich gefunden. So ist es wohl mit allen Lektüren – unser Unterbewußtsein wartet nur darauf, sich im Licht der weißen Blätter zu enthüllen, die schwarzen Buchstaben dienen ihm als Weckruf. Und weil ich nichts über mein Unterbewußtsein weiß, denke ich lieber, die Gedichte hätten mich gefunden. Sie haben mich gefunden – aus einem fragwürdigen Grund, über den ich mir nicht ganz im klaren bin, den ich aber herausfinden möchte, weil es eine so ernste Sache ist. Meine Intuition in bezug auf Dichter (auch tote, insbesondere tote) und Dichtkunst sagt mir, daß es kein ganz unschuldiger Grund sein wird, daß es zu Berührungen kommen wird, zu Ausbeutung, nächtlicher Stickluft oder gar nächtlichem Ersticken, womöglich wird auch Blut getrunken. Bestimmt wird Blut getrunken. Auf jeden Fall geschieht etwas Fragwürdiges. Und genau das will ich beobachten.
Die Gedichte haben mich gefunden, aber natürlich habe ich auch auf sie gewartet. Das heißt, etwas in mir hat gewartet, etwas, das eben durch sie geweckt wurde und von dem ich bis dahin nichts wußte. Jetzt kann ich nur noch versuchen, dem nachzuspüren, den Spürhund zu spielen, der in der Dunkelheit lauert und beobachtet, wie zwei Gestalten im blassen Licht des Mondes ihre Streiche beginnen. Zwei Gestalten, eine aus dem Nichts aufgetaucht, die andere im Dunkeln auf sie wartend. Beide gleich blaß und merkwürdig.
Man weiß nicht viel über das Leben ihres Autors, Joachim Du Bellay. Nicht, daß seine Biographie gänzlich unbekannt wäre. Wir kennen einige der wichtigsten Ereignisse, aber jedes Mal, wenn ich etwas darüber lese, kommt es mir vor, als bleibe die Hauptperson gänzlich »unberührt« in ihrem Geheimnis, als hätten die Biographen keinen Zugang zu ihrem wahrem Leben, als passe ihre, wie Sartre sagen würde, Existenz nicht zu der in ein paar Dutzend Sätze gefaßten Essenz, die ihm andere zuschreiben. Sitzt Du Bellay also in Sartres Hölle, irrt seine Seele noch immer umher und fleht um Befreiung?
Er kam 1522 zur Welt, wie Pierre de Ronsard als Sohn einer reichen Familie: Seine Onkel und Vettern machten Karriere, und einer seiner Verwandten spielte in Du Bellays Leben später eine wichtige Rolle. Der Junge war von Geburt an kränklich, aber das ist in Dichterbiographien nichts Besonderes. Ehe er zehn wurde, verlor er Vater und Mutter. Von da an stand er unter der Vormundschaft seines älteren Bruders und hatte, wie die Biographen schreiben, »eine traurige Kindheit«, der Bruder vernachlässigte zunächst seine Bildung, erst später studierte Du Bellay in Poitiers Jura, was ihm die Aussicht auf eine Anstellung als Sekretär beim Cousin seines Vaters, einem Kardinal, eröffnete.
Geboren wurde er im Schloß La Turmelière, unweit von Liré im Anjou. Liré liegt an der Südseite der Loire – der Fluß ist nah, nur eine Viertelstunde entfernt. Ich war einmal in der Gegend, damals wußte ich noch nichts von Du Bellay; die Loire strömt breit dahin, sie ist flach und heiter, auf den Sandinseln im Fluß wachsen Bäume und Sträucher, entlang des Wegs Pappeln, ihre flauschigen Flugsamen legen sich in so dicken Schichten auf die Steinbrücke, daß man hindurchwaten muß. Zwischen sanften grünen Hügeln die Ruinen eines Schlosses aus dem fünfzehnten Jahrhundert: Hier lebte Du Bellay. Zwanzig Jahre zwischen diesen Hügeln. Die Franzosen nennen diesen Landschaftstyp bocage – gemeint sind durch Baumreihen abgeteilte Felder. Man findet sie in ganz Nordeuropa, von der Bretagne bis nach Masowien.
Angeblich nahm sein Leben eine Wende, als er an einem Sommertag in einem Wirtshaus an der Loire Ronsard kennenlernte: Beide waren zwanzig, beide schrieben Gedichte, beide hatten Soldaten werden wollen und diesen Plan wegen früher, schnell voranschreitender Taubheit aufgeben müssen – solche Zufälle gibt es nur einmal, wollen wir also die Sache näher betrachten. Zwei fast taube junge Dichter, zwei der größten Dichter aller Zeiten. Derselbe Ort und dieselbe Zeit. War Taubheit etwas Normales in dieser Zeit, diesem Milieu, dieser Gegend? Befiel sie vielleicht insbesondere Personen, die ihr Leben der Arbeit mit Rhythmus, Reim und Melodie widmeten? Oder bewirkte umgekehrt die fortschreitende Taubheit, die Beeinträchtigung des Gehörs von früher Kindheit an, daß die betroffene Person um so mehr nach Klängen, nach Musik forschte und sie auch schuf? So wie Beethoven? Ronsard wollte von Anfang ein großer Dichter werden – deshalb schrieb er. Du Bellay wurde von ihm angesteckt. Beide gingen nach Paris, am Collège Coqueret unterrichtete sie der Hellenist Dorat, dort lernten sie die Antike und Petrarca kennen. Mit Freunden gründeten sie eine Dichtergruppe. Erst nannten sie sich La Brigade, später La Pléiade.
Du Bellay wurde recht schnell bekannt – erst durch sein berühmtes Manifest über die französische Sprache und die neue Dichtkunst ("Défense et illustration de la langue française«), dann durch seine lateinischen Gedichte und seine Sonette; er wurde zum französischen Ovid und zum französischen Petrarca, wurde anfangs sogar mehr gepriesen und geschätzt als Ronsard. Aber das Wichtigste stand erst noch bevor. Die Sonette und anderen Gedichte, die Du Bellay in Paris schrieb, waren eigentlich nur Fingerübungen, ein wenig langweilig und gekünstelt (war er wirklich verliebt oder pflegte er bloß die Tradition des Petrarca-Sonetts?), Fingerübungen für das, was später kommen sollte. Die Besonderheit dieser Gedichte war, daß sie in Französisch geschrieben waren; sie führten neue Gattungen in die Lyrik ein und ahmten alte, antike Autoren nach. Dazu kamen Konvention und Abstraktes, Mythologie und Courtoisie, Pose und Manier. Wahrscheinlich bin ich furchtbar ungerecht; ich werde es bis zum Ende dieses Textes bleiben. Der Band mit Sonetten wurde für eine gewisse Olive geschrieben, worin manche ein Anagramm des Namens der Mademoiselle de Viole sahen. Doch Olive wie auch Viole bleiben geheimnisvoll und literarisch. Über keine von beiden wissen wir etwas Genaues – sowenig wie über Petrarcas Laura. Olive kann ein Name sein oder die Frucht, ein Verweis auf den Süden, auf die Provence oder eben auf Petrarca. Viole ist ein mehrdeutiger Name: Er bezeichnet ein Instrument (damals die Viola da Gamba), klingt aber auch nach Gewalt.
Just als Du Bellay berühmt und am Königshof gelesen wurde, begannen seine finanziellen und gesundheitlichen Probleme (der Ausbruch der Schwindsucht, die Verschlechterung des Gehörs). Es eröffnete sich aber auch eine außergewöhnliche Chance: eine Reise nach Rom als Sekretär seines Verwandten, des Kardinals, in geheimer politischer Mission. Eine wahrlich formidable Chance für jemanden, der die italienische und lateinische Literatur liebte. Er konnte zur Quelle seiner Inspiration vordringen, die Wiege der Antike und der Renaissance sehen, in der Hauptstadt der Welt leben. Dieser Moment, der Moment, in dem er Frankreich verließ, war – glaubt man den Biographen, aber insbesondere auch seinen späteren Gedichten – das größte Unglück seines Lebens.
Die Enttäuschung kam schnell. Sicher, anfangs war Rom schön und faszinierend, aber schon bald begann ihn die Arbeit zu ermüden – er verbrachte sinnlose Stunden damit, sich um die Angelegenheiten und Ausgaben des Kardinals zu kümmern, die Höflinge des Kirchenstaats waren noch weitaus schlimmer als ihre Pariser Pendants, die Priesterschaft, die ganze kirchliche Hierarchie war (glaubt man den Gedichten) eine Bande gemeiner, neidischer und bis ins Mark verdorbener Leute, Italienisch und Latein gingen ihm auf die Nerven. Aus Frankreich kam die Kunde von Prozessen und vom Verlust des Vermögens, vor allem aber von den Erfolgen der Pléiade-Kollegen. In Rom kannte niemand den Dichter Du Bellay, hier hielt man ihn für ein Nichts. Also schrieb er Nacht für Nacht, zunehmend krank vor Sehnsucht, Melancholie, Groll und Langeweile, Sonette nach dem Vorbild von Ovids »Tristia«, die er später »Regrets« (Klagen) nannte. Welch ein Paradox: Rom wurde für Du Bellay zum Verbannungsort. Rom, die Hauptstadt der Kultur, wurde ihm zur Wüste, zu einem Gefängnis wie Ovids Tomis. Und wie Ovid Rom nachweinte, weinte Du Bellay Frankreich nach und flehte um die Erlaubnis, die Ewige Stadt zu verlassen.
[...]
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 2/2014, S. 247-255, hier S. 247-250
Kleinschmidt, Sebastian
Der Pfeil des Lebens und der Pfeil der Werke. Laudatio zum Günter-Eich-Preis auf Jürgen Becker, S. 256
Der polnische Dichter Adam Zagajewski hat vor vielen Jahren ein langes, wehmütiges Gedicht mit dem Titel »Elektrische Elegie« geschrieben. Es (...)
Kleinschmidt, Sebastian
DER PFEIL DES LEBENS UND DER PFEIL DER WERKE
Laudatio zum Günter-Eich-Preis auf Jürgen Becker
Der polnische Dichter Adam Zagajewski hat vor vielen Jahren ein langes, wehmütiges Gedicht mit dem Titel »Elektrische Elegie« geschrieben. Es beginnt so:
___Leb wohl, deutsches Radio mit dem grünen Auge,
___du schwere Kiste, zusammengesetzt – fast –
___aus Körper und Seele (deine Lampen glühten
___lachsfarben, rosig, wie das tiefe Ich
___bei Bergson).
______Durch den dicken Stoffbezug über dem
___Lautsprecher (mein Ohr preßte sich an dich wie ans
___Gitter des Beichtstuhls) hatte einst Mussolini
______________________________geflüstert,
___Hitler geschrien, Stalin etwas ruhig erklärt,
___Bierut gezischt, Gomulka ohne Ende geredet.
___Dennoch wirft dir niemand Verrat vor, Radio,
___nein, deine einzige Sünde war der unbedingte
___Gehorsam, die zärtliche Treue zu den Megaherzen:
___Wer kam, wurde gehört, wer sendete –
___empfangen.
Zagajewskis Großvater war Germanist, er besaß einen Rundfunkapparat. Von diesem deutschen Erbstück erzählen die Verse.
Auch Jürgen Becker könnte vom Radiohören erzählen, ebenso elegisch, ebenso erinnerungstreu. Und er hat 2003 in »Schnee in den Ardennen« davon erzählt: »Jetzt sind es vier Jahrzehnte her, daß ich die beiden Kammern bezog, die früher der Heuboden waren. Manchmal drehte ich abends am Radio, ein kleiner cremefarbener Philips, eines der ersten Nachkriegsgeräte. Einmal blieb ich im Bereich der Langwelle, wo sonst keine Sender zu empfangen waren, an einer weiblichen Stimme hängen, die Zahlen aufsagte, in unregelmäßiger Reihenfolge, vorwärts und rückwärts, zwischen eins und zehn. Es war eine merkwürdig tonlose Stimme, die mechanisch, fast maschinenhaft in einem gleichbleibenden Rhythmus sprach. Auffallend war, daß sie die Zahl fünf mit einem eingefügten e artikulierte: fünnef. Irgendwann brach die Stimme ab, und man hörte nur noch das kaum merkliche Rauschen des Nichts, das am Ende der Skala beginnt. Mehrere Abende lang, in der Stunde vor Mitternacht, wartete ich auf die geheimnishafte Stimme, die sich nicht regelmäßig meldete; dann wohnte ich wieder woanders und dachte nicht mehr daran.«
Ist das nicht auch eine elektrische Elegie? Nur diesmal in erzählender Prosa, doch nicht weniger poetisch.
Der Rundfunk, gab Jürgen Becker einmal zu Protokoll, habe ihn seit Kindertagen begleitet, zuerst als Problem in der Ehe seiner Eltern. Seine Mutter war lebensfroh, hörte gern Musik und wünschte sich immer ein Radio. Sein Vater, ein unmusikalischer Mensch, konnte damit nicht viel anfangen. Er erzählte ihm eine Anekdote aus den zwanziger Jahren: Im Haus der Schwiegereltern, in dem seine Eltern wohnten, war es üblich, daß man abends zusammensaß und plauderte. Als der Schwiegervater sich ein Radiogerät zulegte, hörten die Gespräche auf. Plötzlich saß alles um den Apparat herum, die Sendungen waren damals noch schwer zu verstehen. Keiner durfte in der Kaffeetasse rühren, weil das Krach machte. Für seinen Vater sei diese Erfahrung ein Schock gewesen: das Ende der Gespräche.
Das hätte auch eine Urszene in Jürgen Beckers Biographie sein können. In seinem Buch »Im Radio das Meer« steht der Satz: »Seine Kindheit war eine Schule des Schweigens. Vielleicht, sagt er, ist das der Grund, warum er nie habe richtig erzählen können.« Aber könnte man nicht in der Schule des Schweigens auch eine Schule des Hörens sehen? Was wir aus Beckers Werk kennen, das Klangkino der Sprache, die akustische Landschaft, den Hall und Schall der Geschehnisse, Facetten aus der Geschichte der Geräusche, Stille und Sprechen, die Vielstimmigkeit, in uns und außer uns, Stimmen aus der Ferne, Stimmen, die sich widersprechen, den schönen Vers »die Richtung des Windes entscheidet, / welchen Geräuschfilm die Nacht durchs Zimmer zieht«, all das war, ehe es durch die Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre eine Bestätigung fand, bereits den Erlebnissen des Kindes inskribiert, es war, bevor es Einzug hielt in Jürgen Beckers Schreiben, zu einer sein Bewußtsein prägenden Selbsterfahrung geworden.
Und das nicht nur auf die Familie bezogen. Im Interview erzählte er, daß er als kleiner Junge intensiv das Kriegsgeschehen verfolgte. Es kamen ständig Sondermeldungen mit den Siegen der Wehrmacht. Das Radio lieferte ihm die Kriegsberichterstattung. Da gab es Berichte von der Front mit Kampfgeräuschen, heulenden Stukas, die er fasziniert hörte. Zugleich hatten sie den »Drahtfunk«, der über den Telefonanschluß lief. Der für Thüringen zuständige Sender informierte dort über die Luftlage; sie erfuhren also, wo ein feindlicher Bomberverband im Anflug war. Der Drahtfunk, erinnert er sich, »war geisterhaftes Radio. Man hörte erst ein merkwürdiges tickendes Geräusch und dann die monotone Stimme der Sprecherin. Natürlich habe ich auch die sogenannten Feindsender entdeckt. Als ich eines Abends am Radio spielte, fand ich sogar zwei dieser Sender: BBC London und Radio Luxemburg. Da bekam man Meldungen mit, die man im großdeutschen Rundfunk nicht hören konnte. Ich konnte diese Sender nur heimlich hören, mein Vater durfte es nicht erfahren. Mein Vater hörte aber auch heimlich, was ich wiederum nicht wissen durfte […] Mein Verhältnis zum Radio ist früh durch Geheimnisse und Verbotenes bestimmt worden.«
Die Welt des Hörspiels tat sich damals für den Heranwachsenden noch nicht auf. Das geschah erst nach dem Krieg, Anfang der fünfziger Jahre, als er wieder in Köln war. Jetzt kam es auch zur Begegnung mit den Hörspielen von Günter Eich. Zu einem Gedenkbuch für ihn hat Jürgen Becker 1973 ein Gedächtnisgedicht beigesteuert. Es vergegenwärtigt eine Frühstücksszene in der Westberliner Akademie der Künste. Zeilen aus Eichs Versen und Satzfragmente aus dem Gespräch mit ihm durchziehen den Text. Das Gedicht offenbart Respekt und Distanz und auch etwas von dem, was Sibylle Cramer später ein Gegenprogramm genannt hat.
Vom Hörspiel war in dem Gedicht nicht die Rede. An anderer Stelle aber hat sich Becker auch zum Radioautor Eich geäußert: »Wenn ich von Günter Eich gelernt habe, welche Kraft der Imagination dem Hörspiel eigen sein kann, dann habe ich zugleich gelernt, daß es nicht unbedingt nötig ist, dem Hörspiel eine Szene, eine unsichtbare Bühne einzurichten, sondern es allein im sprachlichen Vorgang entstehen zu lassen.« Auch hier Respekt und Distanz, auch hier ein Stück Gegenprogramm.
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SINN UND FORM 2/2014, S. 256-264, hier S. 256-258
Dieckmann, Friedrich
»Insel in sehr unterschiedlichen Meeren.« Sebastian Kleinschmidt und Sinn und Form, S. 265
Hartmann, Bernhard
Ob Sprachbildner, ob Fuhrmann – ich bin Übersetzer. Dankrede zum Karl-Dedecius-Preis, S. 273
Schinkel, André
Topographie eines verregneten Sommers. Dankrede zum Walter-Bauer-Preis, S. 275
Brückner, Jutta
»Autobiographisch« Filme machen, S. 278