
[€ 9.00] ISBN 978-3-943297-13-3
Heft 5/2013 enthält:
Hyvernaud, Georges
Anonymität, S. 629
Schoch, Julia
Literatur als Rache. Vom Auftauchen und Verschwinden des Georges Hyvernaud, S. 636
I Die Aufmerksamkeit, die einem Schriftsteller zuteil wird, ist nicht nur von seinem literarischen Können abhängig. In beträchtlichem Maße (...)
Schoch, Julia
LITERATUR ALS RACHE
Vom Auftauchen und Verschwinden des Georges Hyvernaud
I
Die Aufmerksamkeit, die einem Schriftsteller zuteil wird, ist nicht nur von seinem literarischen Können abhängig. In beträchtlichem Maße scheint es gerade auf außerliterarische Talente anzukommen. Kraft und Durchhaltevermögen, Dickhäutigkeit gegenüber Kritik, die Fähigkeit, sich vorzudrängeln und zugleich geschmeidig zu bleiben, sowie eine gewisse Selbstüberhebung sind allesamt gute Voraussetzungen, um sich im Literaturbetrieb gleich welcher Zeit zu etablieren und vor allem dauerhaft dort zu halten.
Im Fall Georges Hyvernauds (1902–1983) erscheint es besonders fatal, daß er keine dieser Eigenschaften besaß. Zumindest ist man geneigt, das Vergessen, dem seine Bücher jahrzehntelang anheimfielen, auf dieses außerliterarische Manko zu schieben. Welch himmelweiter Gegensatz zwischen dem Autor in Person und seinen Texten! Man stelle sich einen zurückhaltenden, beinahe linkischen Menschen vor, der in der Öffentlichkeit das Wort ergreifen will, dann aber, übermannt von Selbstzweifeln und spontaner Ernüchterung, von seinem Vorhaben absieht und still heimgeht. Zu Hause übermannt ihn Ärger über sein Versagen, und vor lauter Wut über diese ihm nur allzu bekannte Ohnmacht beginnt er wie rasend zu schreiben. (Der Furor, das Gewaltsame im Schreiben der Lebensmurmler, der Stammler, wäre eine eigene Analyse wert.) Nein, Georges Hyvernaud war sicherlich keine jener beeindruckenden Gestalten, die man in Intellektuellen gern verkörpert sieht. Aber wollte er das überhaupt sein, eine Instanz? Seine Hellsichtigkeit und sein Mißtrauen ließen ihn hinter solchen Rollen (hinter allen Rollen!) zeitlebens falsche Posen, selbstverpaßte Etiketten wittern. Diese angeklebte Würde war ihm nicht nur peinlich, sie wurde auch sein Thema. Stets hat Hyvernaud an der Entlarvung und Enttarnung des Menschen gearbeitet, um zu zeigen, was diesen wirklich ausmacht: das Mittelmaß. Eine Durchschnittlichkeit in Gestalt und Gehalt, die sich durch falsches Heldentum oder philosophische Programme immerfort aufzuwerten versucht. Und das in sämtlichen sozialen Schichten. Bei einer bleibt er allerdings besonders häufig hängen, den sogenannten kleinen Leuten mit ihrem vermeintlichen kleinen Glück. Als Sohn einer Näherin und eines Schlossers ist Hyvernaud mit der kleinbürgerlichen Welt vertraut, und das heißt ganz konkret: beengte Wohnungen, Belästigung durch Geräusche und Gerüche, Armseligkeit nicht nur in materiellen Dingen, sondern auch im Denken. Die Menschen, von denen er erzählt, haben keinen Durchblick, begehren nicht auf, fügen sich dem sogenannten Schicksal. Immer wieder tauchen in seinen Büchern die Erkennungszeichen solcher Leben auf, Bügelbrett und Vogelkäfig, Kaktus und Spülstein, der Gasmann und das gute Geschirr, Sonntagsanzüge und Sonntagsbraten, alles Elemente einer Welt, die keine Höhenflüge zuläßt. Sein Schreiben: auch eine Rache an diesen Verhältnissen. Für Hyvernaud halten sie einen auf ewig gefangen, gerade unter widrigen Umständen. Gerade unter Extrembedingungen, scheint er sagen zu wollen, wird der Mensch, was er immer schon war – und auf keinen Fall ein Held.
II
Extrembedingungen. Müßig darüber nachzudenken, was andere Erlebnisse und Erfahrungen aus ihm gemacht hätten. Für Georges Hyvernaud waren es fünf Jahre, die nicht nur sein Schreiben in Gang setzten, sondern auch seine Sicht auf den Menschen besiegelten: 1939 wird er, damals Lehrer in Rouen, zur Armee eingezogen, gerät im Mai 1940 bei Lille in deutsche Gefangenschaft und kommt in ein Lager in der Nähe von Arnswalde in Pommern (heute: Choszczno). Befreit wird er erst im April 1945, aus einem Lager im westfälischen Soest, wohin die vor den Russen und Amerikanern flüchtenden Deutschen die übriggebliebenen Gefangenen getrieben hatten. Mit acht engbeschriebenen Oktavheften und ein paar losen Blättern in der Jackentasche gelangt er nach Paris, wo er bis zu seinem Tod bleibt. »Später werden die Historiker drüber schreiben, über dieses unförmige Abenteuer, in dem wir versackt sind. In den Büchern werden kurze, klare Sätze stehen: ›Die Deutschen machten auf ihrem Feldzug gegen Frankreich zwei Millionen Gefangene …‹ Es wird Landkarten geben, mit Pfeilen und Kreisen, um zu erklären, wie das Ganze abgelaufen ist.« So knapp kommentiert der Erzähler in Hyvernauds erstem Buch »Haut und Knochen« (1949) das Erlebte.
Auch wenn sein erster veröffentlichter Roman unter dem Eindruck der Gefangenschaft entsteht, wäre es falsch zu glauben, Hyvernauds Menschenbild sei im Lager geprägt worden. Nein, Krieg und Lager haben es nur mehr bestätigt. Jean-Paul Sartre schrieb später über seine Zeit als Kriegsgefangener (die freilich sehr viel kürzer war), er sei im Lager glücklich gewesen: Nicht mehr individuell sein Heil suchen zu müssen, sondern als austauschbares Teilchen am Abenteuer Kollektiv teilzunehmen, gab seinem Leben eine völlig neue, wunderbare Wendung. Der Beginn seines Engagements war gesetzt. Hyvernauds Erfahrungen waren andere.
Ein Mann kommt nach fünf Jahren aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause. Er trifft auf die alte Welt: Verwandte, seine Ehefrau, ehemalige Freunde – sie haben eine Flasche Wein für ihn bereitgestellt, eine Torte gebacken. Man plaudert, lacht, bittet um Geschichten. Was er denn so erlebt, wie er sich so durchgeschlagen habe, kommt die Frage aus der Runde. Naiv, drollig und ignorant, und der Mann antwortet brav. Äußerlich scheint der Ich-Erzähler in »Haut und Knochen« problemlos an die Unschuld der Vorkriegszeit anzuknüpfen. In Wahrheit aber rückt er von allem ab. In Wahrheit, das heißt in seinem Innern, wo mit Furor eine Stimme zu sprechen beginnt. Eine Stimme, die alles, was der Mann jetzt, im Frieden, sieht und hört, aufs Unerbittlichste mit dem abgleicht, was er gerade erlebt hat. Bei seiner Mobilmachung 1940 war Hyvernaud kein ahnungslos in den Krieg taumelnder Gymnasiast mehr. Er gehörte einer Generation an, die zwischen zwei Weltkriegen ihr Leben entwerfen mußte: Beim ersten waren sie zu jung, beim zweiten schon zu erwachsen, um ihn noch in unschuldiger Verwirrung zu erleben. Auch die Mitgefangenen, die als Figuren in seinen Büchern wiederkehren, sind keine jungen Männer mehr. Wie Hyvernaud, der nach der École Normale Supérieure 1924 in die Lehrerausbildung geht, 1936 heiratet und ein Jahr später Vater einer Tochter wird, lassen sie alle ein Leben mit Familie und Beruf zurück. Diese »vom Krieg zusammengetrommelte Generation« ist Hyvernauds erstes Beobachtungsobjekt. Zum genauen, erbarmungslosen Hinsehen zwingt ihn auch das ständige Eingeschlossensein in der Menge. Vielleicht der größte Fluch für einen, der denkt und schreibt: nie allein sein. Das Bedrängtwerden durch die anderen pariert er in seinen Büchern mit schneidendem Urteil über sie. Aus ihren Unterhaltungen – sie kreisen meist um Zeitungsmeldungen, Schnulzenrefrains, Anekdoten Handlungsreisender – kann er nichts als »die Offenbarung ihrer inneren Armut« heraushören. Ob Krieg oder Frieden, der Mensch bleibt sich gleich. Es ist klar, daß aus dieser Sicht kein wohltemperierter, hübsch gefertigter Realismus erwachsen kann. Statt dessen ein Geflecht von Szenen und Bildern, so wiedergegeben, wie sie sich der Seele eingeprägt haben. Erinnerungen und Wahrnehmungen, die ungeschützt über- und nebeneinanderliegen. Die Freizeit – so nennt es Hyvernaud – der Gefangenen, das Absitzen des Krieges, das Warten, die Latrinen, die Toten im Russenlager nebenan, die Macken der Mitgefangenen, der Wahnsinn, der menschliche Verfall um ihn herum. Doch darf man sich nicht täuschen: Hyvernauds Bücher sind keine Zeitzeugenberichte, keine Erinnerungsliteratur. Die Erinnerung dient dazu, die Gegenwart zu beschreiben, nicht umgekehrt. Denn da ist die Wiederbegegnung mit all den Gespenstern in den Straßen von Paris, als der Krieg vorbei ist …
III
Im Dezember 1946 erscheint ein Kapitel aus »Haut und Knochen« in der von Sartre soeben gegründeten Zeitschrift »Les Temps Modernes«. Es heißt sogar, Sartre habe Hyvernaud die Mitarbeit angeboten. Der jedoch lehnt ab, vielleicht, um seine Unabhängigkeit zu wahren. Wußte er, der nie ein Parteibuch besaß, aber seit 1935 Mitglied des »Comité de Vigilance des intellectuels antifascistes« war, daß es in einer Zeit, in der einander widersprechende Ideologien jegliches Denken zu Parolen und Leitsätzen zusammenstauchten, kein freies Sprechen geben konnte? Daß er hätte Kompromisse schließen müssen? Wer eine solche Entscheidung trifft, geht das Risiko ein, nicht gehört zu werden. Oder erst viel später.
Fest steht: Als der Roman 1949 bei den Éditions du Scorpion herauskommt, findet er kaum Anerkennung. Immerhin, es werden 3000 Exemplare verkauft, es gibt hier und da Besprechungen, doch der Autor ist schnell wieder vergessen. Mag sein, daß der kleine Pariser Verlag nicht die glücklichste Wahl war, um eine breitere Leserschaft zu erreichen. In erster Linie aber stand das Buch im Widerspruch zu allem, was der politisch-literarische Betrieb der Nachkriegszeit in Frankreich erwartete. Von ehemaligen Kriegsgefangenen akzeptierte man erbauliche, realistisch erzählte Fluchtgeschichten, allenfalls noch Anekdoten aus dem harten Lagerleben. Hyvernauds Erzählung von Verfall und Zerrüttung aber wirkte gänzlich unheldisch. Sie widersprach dem Widerstandsund Befreiungsmythos der Franzosen. Keine Ideen, keine Vorschläge für Politik und Gesellschaft, über die man hätte diskutieren können.
[…]
SINN UND FORM 5/2013, S. 636-642
Herbert, Zbigniew
Ein Fels der im Meere wächst und nicht benannt werden will. Gedichte, S. 643
Tabucchi, Antonio
Meine Straßenbahnfahrt durch das 20. Jahrhundert, S. 647
González, Tomás
Reise an die Küste, S. 657
Für Don Gabriel
diese Geschichte, die aus dem wenigen entstand, das ich weiß oder erinnere, und dem unendlich vielen, das ich nicht weiß (...)
González, Tomás
Reise an die Küste
Für Don Gabriel
diese Geschichte, die aus dem wenigen entstand, das ich weiß oder erinnere, und dem unendlich vielen, das ich nicht weiß oder vergessen habe.
»Übermorgen ist der dritte«, sagte die Mutter.
»Schon wieder November«, erwiderte Emma. »Das Jahr ist wie im Flug vergangen.«
Am nächsten Tag räumten Mutter und Tochter das Bett und die anderen Möbel aus dem Zimmer, von dem man auf die Mangobäume und die Gartenmauer dahinter schaute, und stellten zwei Reihen Stühle auf – so wurde es zum Eisenbahnwagen. Aus dem Wohnzimmer entfernten sie allen Zierrat und hängten die Bilder ab – der Wartesaal. Den Schreibtisch rückten sie in den Gang; er sollte als Fahrkartenschalter, als Theke und außerdem als Ablage für die schwarzen Papptafeln dienen, auf denen mit weißer Kreide die einzelnen Stationen geschrieben standen. Die hatten sie nach ihrer Erfahrung mit der ersten Reise angefertigt und in der richtigen Reihenfolge bereitgelegt, um nicht wieder durcheinanderzukommen. In La Dorada mußte man in den Expreso del Sol umsteigen.
»Ich werde Käsestückchen in Bananenblättern verkaufen«, sagte Emma.
Sie war das jüngste der acht Kinder und wohnte als einzige noch bei den Eltern. Während der alljährlichen Reise ihres Vaters an die Küste mußte sie verschiedene Rollen spielen, und für jede hatte sie die passenden Kostüme und Requisiten zur Hand: Käseverkäuferin, Gebäckverkäuferin, Verkäufer von bunten, auf einen Pfahl gespießten Lutschern, auf einer Bahnhofsbank eingenickte Frau, Polizist mit Schlagstock und angeklebtem Schnurrbart, alleinreisender junger Mann, der Aguardiente aus der Flasche trinkt, und viele andere.
»Und Karamelkekse bitte«, sagte Jesusita.
Am Abend packte Don Rafael seine Sachen, und sie achtete darauf, daß alles komplett war. Das letzte Mal hatte er acht Unterhosen eingepackt, aber keine Socken. Er würde von allem zwei Paar brauchen für die zwei Tage, die sie bei seiner Familie in Barranquilla zu Besuch sein wollten.
Im vergangenen Jahr hatte Don Rafaels Mutter, die fünf Jahre zuvor mit 95 und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gestorben war – zu viele Kräfte und zu besitzergreifend, fanden manche ihrer Enkel –, ihren Sohn noch ungestümer als sonst zum Bleiben gedrängt, denn eine so lange Reise lohne sich nicht für einen so kurzen Besuch. Als sie ihn schon beinahe überredet, ja, fast genötigt hatte, war Jesusita gezwungen einzugreifen – obwohl es ihr unheimlich war und sie sich allein auf ihre Intuition verlassen mußte, denn sie konnte nicht wissen, was ihre Schwiegermutter sagte, sie hörte ja nur, was Don Rafael antwortete. Aber sie machte es sehr gut und erreichte schließlich, daß Don Rafael zurückkehren durfte.
Jesusita und Don Rafael waren zeitig am Bahnhof, kauften ihre Fahrkarten und setzten sich in den Wartesaal.
»Hoffentlich hat er nicht wieder Verspätung«, sagte sie und schaute auf die Bahnhofsuhr.
»Wir sind früh dran«, sagte Don Rafael.
»Ja, nicht wahr?« sagte Jesusita rasch, glücklich darüber, daß er zum ersten Mal seit Monaten wieder sprach.
Emma, in den Kleidern der Verkäuferin des Bahnhofskiosks, reichte ihrem Vater zwei Kaffee und vier Karamelkekse über den zur Theke gewordenen Schreibtisch. Trotz der Hitze ergriff Don Rafael die Tasse mit beiden Händen, als wolle er sich wärmen, und schlürfte geräuschlos. Jesusita hatte ihm einen Wollpullover eingepackt, denn nachts wurde ihm schnell kalt, sogar im warmen Klima von Honda.
»Man kann ihn schon hören«, sagte Don Rafael nach einer Weile.
Sie schaute auf die Uhr. Nur zwanzig Minuten Verspätung. Letztes Jahr war es fast eine Stunde gewesen, wegen eines Erdrutschs am Alto de la Mona, und um ein Haar hätten sie den Anschlußzug in La Dorada verpaßt. Jesusita liebte das Reisen, und besonders diese Reise, die 25 bis 35 Stunden dauern konnte und auf der man so viel erlebte. Sie genoß den Duft der Pflanzen, der durchs Waggonfenster hereinkam, den Wind und sogar den Dieselgeruch der Lokomotive. »Ja. Ich kann ihn auch hören.«
Die erste dieser Reisen lag vier Jahre zurück. Don Rafael hatte nach und nach das Gedächtnis und die Fähigkeit, die Dinge zusammenzuhalten, verloren und lebte schon seit langer Zeit in einem Zustand, in dem er nichts mehr tat und kaum noch redete. Eines Abends sah Jesusita, wie er seinen Koffer aus der obersten Ablage des Wandschranks holte und zu packen begann.
»Willst du verreisen?« fragte sie ihn, und er sagte, ja, und forderte sie auf, ebenfalls zu packen, denn sie müßten nach Barranquilla fahren. Seine Mutter habe Geburtstag, und die ganze Familie würde zur Feier kommen. Jesusita wußte sofort, woran sie war, und brauchte nicht erst zu fragen, wie er zu reisen gedachte, denn Don Rafael war seit seiner Zeit als Vertreter für Singer-Nähmaschinen – bevor er sich in Honda niederließ, Jesusita kennenlernte und die Eisenwarenhandlung aufmachte – ein großer Freund der Eisenbahn.
»Deine Mutter lebt nicht mehr, Rafael, und den Zug haben sie abgeschafft«, erinnerte sie ihn, doch er packte schweigend weiter.
Jesusita überlegte einen Moment, wie sie damit fertigwerden sollte.
»Alles klar«, sagte sie. »Fahren wir!«
Weil damals niemand vorbereitet war, gab es Probleme mit den Sitzplätzen, mit den Namen der Stationen, bei der Versorgung mit Reiseproviant, und obendrein machte ihnen die Hitze zu schaffen. Trotzdem war die Reise für Jesusita ein unvergeßliches Erlebnis. Danach lernten sie, die Dinge besser zu organisieren, und die Fahrt an die Küste wurde für alle zu einem Vergnügen, auch wenn sie so lange dauerte und es jedes Jahr am Ende ihres Besuchs unweigerlich zu einem häßlichen Zusammenstoß zwischen Jesusita und ihrer aufdringlichen Schwiegermutter kam.
Sie erreichten La Dorada. Emma rannte am einfahrenden Zug entlang und bot Weintrauben und Ananasscheiben feil. Sie machte ihre Sache so gut, daß der Eindruck entstand, sie würde nicht allein rennen, sondern mit einer ganzen Schar von Kindern und Jugendlichen, die etwas zu verkaufen hatten. Jesusita und Don Rafael verließen den Zug und bahnten sich durch das Chaos der Verkäufer einen Weg zu den Toiletten. Danach stiegen sie in den Expreso del Sol, der gerade eingetroffen war und den Verkäufern zufolge in zehn Minuten weiterfahren sollte.
Nachdem sie das Gepäck verstaut und ihre Plätze eingenommen hatten, reckte Jesusita, nach Luft schnappend, den Kopf aus dem Wagenfenster, um zu sehen, wo Emma blieb. Die Hitze war so groß geworden, daß der Fächer, mit dem sie sich Kühlung zuwedelte, nicht mehr ausreichte. Wie immer, wurden aus den zehn Minuten fünfzehn, dann zwanzig und schließlich dreißig, bis sich der Zug endlich in Bewegung setzte und die Ventilatoren für frische Luft sorgten. »Man kann den Fluß riechen«, sagte Don Rafael.
Vom leichten Schaukeln der Eisenbahn eingelullt, nickten sie nach La Dorada ein. Als sie aufwachten, fuhr der Zug gerade durch Caño Alegre, einen Ort, der keinen richtigen Bahnhof hatte, sondern nur einen Bahnsteig, an dem der Expreso del Sol nicht hielt. Jesusita hatte die Augen wegen des Fahrtwinds halb geschlossen und sog den Geruch der Pflanzen und des Gestrüpps entlang der Gleise ein. Die ersten fünf Stunden waren im Nu vergangen. Aus dem Proviantkorb nahm sie Sandwiches, die sie am Abend vorbereitet hatte, in Dreiecke geschnitten und ohne Rinde, belegt mit Ei, Wurst, Tomaten, Salatblättern und Mayonnaise. Aus einer Thermoskanne, die auch im Korb war, schenkte sie kalte Limonade ein.
er Tag erreichte seinen strahlenden Höhepunkt. Don Rafael sah, wie die Rinder auf den Weiden, über die die Eisenbahnstrecke führte, den Schatten der Ceibas suchten, während die Reiher ihnen die Zecken aus der Haut pickten oder einfach nur auf ihren Rücken standen, als gehöre ihnen die Welt. Das Geländer einer Eisenbrücke flog am Wagenfenster vorbei, und unten, am Ufer eines kleinen Flusses, kniete eine Frau, die Wäsche auf einen Stein schlug und zu ihnen aufsah. Weder Don Rafael noch Jesusita kamen dazu, Emma zuzuwinken, denn der Blick aus dem Wagenfenster wurde durch ein vorbeisausendes Gestrüpp verdeckt. Dann ging es wieder über ausgedehnte Weideflächen mit Viehherden.
Don Rafael beobachtete leicht amüsiert seine Frau, die sich seit einiger Zeit mit halbgeschlossenen Augenlidern dem Fahrtwind hingab. Er konnte einem solchen Vergnügen nichts abgewinnen, er fand eher an handfesten Dingen Gefallen, an einem stabilen Weidezaun etwa oder einer majestätischen Hochspannungsleitung. Bis zu der Zeit, als er sich nicht mehr zurechtfand, hatte Don Rafael in seiner Eisenwarenhandlung gearbeitet, und deshalb zog ihn alles an, was aus Metall war, kleine Dinge wie das Räderwerk einer Armbanduhr oder monumentale Werke wie Eisenbrücken und das Gleisgelände in La Dorada. Sein Bruder Jaime saß jetzt neben ihm und erzählte von früher, als sie zum Angeln an die Ciénaga Grande gefahren waren. Wo war er eigentlich zugestiegen?
»Jaime arbeitet in Nare«, sagte Don Rafael.
Jesusita fand es nicht nötig zu berichtigen – denn Don Rafael hätte es sofort wieder vergessen –, daß Jaime in der Tat viele Jahre in der Zementfabrik von Nare gearbeitet hatte, aber seit mehr als zehn Jahren pensioniert war und jetzt in Barranquilla lebte. Falls man das leben nennen konnte, denn er litt an einem schweren Emphysem.
»Ah, ist er wieder dort?« sagte sie. »Wo ihm die Stelle doch gar nicht zugesagt hat.«
Don Rafael schaute aus dem Zugfenster und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt.
»Da, die Kuppel der Kirche von Puerto Nare.«
»Kannst du sie sehen?«
»Auf der Kirchturmuhr ist es jetzt eins.«
Jesusita machte sich nicht die Mühe, auf ihre eigene Uhr zu schauen. Es war ein Uhr.
Dann schlief Don Rafael ein. Sein Kinn war auf die Brust gesunken, und eine schlaffe graue Haarsträhne hing ihm in die Stirn. Jesusita stand auf, um mit Emma zu reden, die mit aufgestützten Ellbogen am Küchentisch saß und Kaffee trank. Emma hatte mit Flor telefoniert, ihrer ältesten Schwester, die in Armero wohnte und am Abend kommen wollte, um ihr bei der Reise zu helfen. Mit den anderen Geschwistern konnte man nur ab und zu rechnen, oder in Notfällen, denn sie hatten ihre Arbeit und Familien mit kleinen Kindern. Aber alle verfolgten den Verlauf der Reise, und wenn sie kurz vorbeikamen, brachten sie Emma Sachen zum Verkaufen mit – Backwaren, Würstchen oder eiskalte Hafermilch – und warfen einen Blick in den Eisenbahnwagen.
Kurz vor Puerto Berrío fing es an, in Strömen zu regnen. Emma war auf dem Bahnhof und bot, in ein Regencape gehüllt, Ananasscheiben, Weintrauben und Mandarinen aus ihrem Obstkorb an. Der Regen hatte die meisten anderen Verkäufer vertrieben, sie waren zur Gartenmauer geflüchtet, unter die Mangobäume.
»Wann fahren wir endlich weiter?« fragte Jesusita und wedelte sich mit ihrem Jungmädchenfächer – rote Rosen auf weißem Grund – etwas Luft zu. Emma hatte die Ventilatoren ausgeschaltet.
»Ich geh aufs Klo und erkundige mich unterwegs«, sagte Don Rafael. Kurz darauf hörte Jesusita die Spülung im oberen Stockwerk und wie er die Treppe herunterkam und mit Leuten sprach, wahrscheinlich mit anderen Reisenden oder mit jemandem vom Zugpersonal. Dann kam er in den Waggon zurück. »Es ist nicht voll, aber es sind eine Menge Leute da«, berichtete er, als wenn er, um das herauszufinden, seinen Platz verlassen hätte.
Für die zweite Reise hatte Emma aus Pappe die lebensgroßen Umrisse von zehn Personen ausgeschnitten, die sie mal als Reisende, mal als Verkäufer oder Streckenarbeiter einsetzte. Sie bewahrte sie mit der Weihnachtsbeleuchtung in einer Abstellkammer auf und holte sie jedes Jahr Anfang November wieder heraus. Im Augenblick waren sie Verkäufer und Verkäuferinnen, denen der Regen die Hosenbeine und Röcke naßgespritzt hatte. Neben dem Reigen der Hosen und Röcke sah Don Rafael die Körbe mit Maismehlkrapfen und Tamales, mit Käse und Guavengelee, mit gekochten Hühnern, die gelb und fettglänzend – für seinen Geschmack alles andere als appetitlich – ihre Keulen zum Himmel streckten.
Don Rafael aß immer sehr wenig. Seine Frau und seine Kinder sorgten sich um seine Gesundheit und forderten ihn bei Tisch ständig auf, sich mehr zu nehmen. Er trug Tropenhemden, hellblaue oder hellgelbe, fast weiße, immer makellos gebügelt, und seine schlanke Gestalt und seine vornehme Art zu sprechen flößten jedermann Respekt ein. In diese Würde und Eleganz hatte sich Jesusita vor mehr als fünfzig Jahren verliebt, als sie in Honda in die Ober schule ging. Und das war Don Rafael noch immer: ein stattlicher karibischer Gentleman, auch wenn sein Gedächtnis zerrüttet war.
Eine Stunde hinter Puerto Berrío hielt der Zug erneut. Der Regen hatte aufge hört, und die Sonne brachte die nassen Weideflächen zum Glitzern. »Wahrscheinlich arbeiten sie an den Gleisen«, sagte Jesusita, die ihren Mann kannte. Denn Don Rafael sagte dann, was er bei dieser Gelegenheit auf jeder Reise sagte, nämlich, daß nur ein Schwarzer fähig sei, bei dieser Sonnenglut die Schienen geradezubiegen. Dem stimmte sie zu.
»Schau mal, diese Rücken«, sagte sie.
Der kleine Trupp arbeitete vor der Lokomotive. Nicht alle Arbeiter waren schwarz, zwei der vier Männer waren Weiße, mit gelblicher Haut, Bierbäuchen und kräftigen Armen, aber die beiden, die gerade die Gleishämmer schwangen, waren Schwarze. Jesusita sagte: »Was für Prachtkörper die Negerbürschchen haben!« Ein bemerkenswerter Ausdruck von jemandem wie ihr, einer kleinen, zierlichen, trotz ihrer Jahre anmutigen Person, für die beiden Kolosse, zu denen nichts weniger paßte als eine solche Verniedlichung. Entlang der Gleise erstreckte sich ein Weidezaun mit MatarratónBäumen. Das Gras duftete.
Sie dösten in der feuchten Hitze vor sich hin, während die Streckenarbeiter in der Sonne rhythmisch auf die Schienen schlugen. Als sie fertig waren, traten die vier zur Seite und standen mit schweißglänzenden Körpern da, während der Zug sich mit leise quietschenden Rädern langsam in Bewegung setzte. Der Fahrtwind brachte Jesusita Kühlung, und sie schloß wieder die Augen. Doch hinter der scheinbaren Behaglichkeit quälte sie der Gedanke an die unver meidliche Auseinandersetzung mit der Schwiegermutter und die Schwierig keiten, die sich der Rückreise entgegenstellen könnten. Jesusita wollte auf gar keinen Fall an die Möglichkeit denken, ihren Mann Gott zurückzugeben, selbst wenn Don Rafael völlig unansprechbar werden und zu Hause kein Wort mehr sagen würde.
Als Flor mit Tamales und einem Kasten Limonade ins Haus kam, hatte der Zug schon eine ganze Weile im Bahnhof von Barranca gestanden, dessen intensive schwüle Hitze sprichwörtlich ist. Flor und Emma boten ihnen Tamales an, die Jesusita bezahlte und durchs Fenster entgegennahm.
»Sind sie auch wirklich frisch, ihr beiden?«
»Wenn sie sauer sind, bekommen Sie Ihr Geld zurück«, sagten die Verkäufe rinnen und kicherten.
»Aha! Ihr wollt uns also verhungern lassen, was?« sagte Jesusita, und die beiden lachten wieder.
»Sehr gut, der Tamal«, sagte nach einer Weile Don Rafael, der ungewöhnlich gesprächig war. Das Reisen schien ihm ein Stück Jugend zurückzubringen. »Es ist nicht ganz so heiß wie sonst, aber die Schwüle ist erdrückend“, sagte Jesuita. „Willst du Chili-Soße?“
Er wollte. Jesusita streckte den Kopf aus dem Fenster, um die Verkäuferinnen zu rufen, die ihr ein schmales Fläschchen reichten, aus dem Don Rafael ein paar Spritzer der feurigroten Soße auf seinen Tamal schüttelte. Emma und Flor hüpften unter ein und demselben gelben Schirm quietschvergnügt den Bahnsteig auf und ab. »Als ob es zwei Leute bräuchte, um ein paar Tamales zu verkaufen!« dachte Jesusita und schüttelte den Kopf. »Die sind doch viel zu groß für solche Albernheiten. Flor hat Kinder, die auf die Universität gehen, kaum zu glauben, und mit ihrer Figur sollte sie sowieso nicht so herumspringen.« Don Rafael hingegen machte es Spaß, den beiden jungen Verkäuferinnen zuzuschauen, wie sie – die eine rund, die andere wie ein Strich – ihre Arbeit auf dem Bahnsteig in ein Spiel verwandelten.
Der Zug fuhr wieder an. Am Abend kam Gonzalo, der jüngste Sohn, mit Nachschub für die Verkäuferinnen – Fleischtaschen und Maisfladen mit Käse – und um seine Rolle im Zug zu übernehmen. Er zog die Schaffneruniform an und ging durch den Wagen, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Mit seinem einnehmenden Wesen, immer lächelnd, zuvorkommend und hilfsbereit, war er wie für diesen Job geschaffen. Als die Uniform geschneidert werden sollte, wußte keiner, wie die Schaffner früher gekleidet waren, denn es gab schon lange keine Eisenbahnen mehr. Am Ende entschieden sie sich für einen dun kelblauen Anzug, eine Mütze, auf die eine Tochter in weißen Buchstaben FCN stickte, und eine rote Krawatte. Rot war Gonzalos Lieblingsfarbe für Kra watten. Als Don Rafael ihn das erste Mal sah, schaute er seinen Sohn verdutzt an. Doch er sagte nichts und nahm es wohl hin, daß sich die Uniformen der Schaffner geändert hatten.
Inzwischen waren weitere Kinder und mehrere Enkel gekommen, und im Eßzimmer wurde es laut. Don Rafael hatte die Preise im Zugrestaurant immer als skandalös empfunden und darum auf seinen Geschäftsreisen fast nie dort gegessen. Kurz nach ihrer Hochzeit, als er noch bei Singer arbeitete und Jesu sita ihn zum ersten Mal auf einer Reise begleitete, hatte er sie, um sie zu beeindrucken, in den Speisewagen geführt. Sie war über die Preise entsetzt, und Don Rafael mußte sie darauf aufmerksam machen, daß ihr das Mittag essen nicht bekommen würde, wenn sie nur daran dachte, was es kostete.
Der Lärm im Speisewagen dauerte an, und Jesusita sagte, die dürften nicht geöffnet haben, wenn unsereins schlafen will. Trotzdem schliefen beide dann doch ein. Als sie erwachten, sahen sie das große Rund des Vollmonds, das sich feierlich über der Kordillere erhob, hinter der Gartenmauer, zwischen zwei Mangobäumen. »Die gute Emma!« sagte Jesusita zu sich selbst. »Ich dachte schon, sie würde es vor lauter Tratschen im Eßzimmer vergessen.« Der Mond war aus Aluminiumfolie, und Emma ließ ihn aufgehen, indem sie ihn mit einer Bambusstange hochhob und mit einer Taschenlampe anleuchtete. Auf einer der Reisen war der echte Mond über den Mangobäumen aufgegangen, und Jesusita war enttäuscht gewesen, weil sein Wunder dem Wunder des Taschenlampenmondes die Show stahl. Neben dem richtigen Mond sah die beleuchtete Scheibe wie ein Lampion aus.
»Jetzt kommt Chiriguaná, nicht wahr?«
»Jetzt kommt Gamarra«, sagte Don Rafael und zählte alle Stationen zwischen La Dorada und Ciénaga auf, und als Gamarra und Chiriguaná an die Reihe kamen, hob er die Stimme, wie um seine Frau zu ermahnen, sich ein für alle Mal die richtige Reihenfolge zu merken. Jesusita hatte natürlich genau gewußt, wie der nächste Bahnhof hieß, denn Emma stellte das Schild mit dem jeweiligen Ortsnamen immer so auf, daß es für ihre Mutter gut sichtbar war, aber sie wollte Don Rafael die Gelegenheit geben, mit seiner Antwort recht zu behalten.
In Gamarra hielt der Zug eine Stunde lang. »Was ist denn los, Señor?« fragte Jesusita den Schaffner, und Gonzalo sagte, die Lokomotive habe schon seit Villeta, also lange bevor die beiden eingestiegen waren, mit einer technischen Störung zu kämpfen, und man müsse eben Geduld haben auf einer so langen Reise. »Das Gute beim Reisen ist, daß man nie weiß, was einen alles erwartet«, sagte sie, entzückt von der Schönheit des Mondes über dem Kamm der Kordillere.
»Am besten, Sie schlafen eine Weile, dann wird Ihnen die Reise nicht zu lang, und Sie spüren die Hitze nicht«, sagte Gonzalo, »vor allem der ältere Herr.« Jesusita glaubte in seinen Worten einen leichten Vorwurf zu hören, als ob sie für diese Reisen verantwortlich wäre, die Don Rafael in den Augen der Familie aus seinem geruhsamen Lebensrhythmus rissen. »Bestimmt rede ich mir das nur ein«, dachte sie. Doch dann kam sie zu einem anderen Schluß: »Sie sind schon ungerecht, die Kinder.«
Von all den heißen Orten am Mittellauf des Magdalena ist Gamarra der heißeste, weil hier fast nie ein Wind weht. Jesusita fächelte sich Luft zu, und Don Rafael befeuchtete sein langes, schmales Gesicht mit einem Taschentuch, das so weiß war wie Emmas Mond über der Gartenmauer. »Eine Reise ohne Hitze ist keine Reise«, dachte Jesusita, als würde sie auf Gonzalos Bemerkung antworten. »Dann kann man ja gleich zu Hause bleiben.«
»Länger als eine halbe Stunde wird es bestimmt nicht mehr dauern«, sagte Don Rafael. In der rechten Hemdtasche hatte er ein weiteres Taschentuch, auch mit Kölnisch Wasser getränkt und genauso weiß wie das erste. Damit erfrischte er sein Gesicht, seine glattrasierten Wangen und die Stirn, und ab und zu hielt er es sich an die Nase und atmete den herben Duft ein, als wolle er auch seinen umnebelten Geist beleben. Jesusita schaute Emma an und gab ihr mit den Augen einen Wink, die Ventilatoren anzustellen.
Aus dem Transistorradio eines Fahrgasts im hinteren Teil des Waggons erklang das Lied »Los Sabanales«, gespielt von den Corraleros de Majagual, einer in dieser Gegend sehr bekannten Band. Don Rafael mochte die Vallenato-Musik nicht, sie war ihm zu primitiv, und wenn man ihn auf diese Gruppe angesprochen hätte, hätte er gesagt, natürlich kenne er Majagual, er sei ja oft dort gewesen, aber diesen plärrenden Viehhirten sei er nie begegnet. Jesusita hingegen, die trotz ihrer siebzig Jahre immer noch gern tanzte, bewegte kaum merklich ihre angewinkelten Arme und die Schultern zum Rhythmus der Musik.
Von Gamarra an, oder schon vor Gamarra, waren in einem fort Vallenato- Melodien zu hören, als wollten die fremden Klänge ihnen einhämmern, daß sie nun in einer anderen Welt waren.
Hier sitze ich
Und singe von meiner Savanne
Denn alles, woran ich mich erinnere,
Ist auf diesen Hügeln geblieben.
Das hätte man von Don Rafael auch sagen können, daß ihm nur die Erinnerungen an früher geblieben waren, an die Küste, dachte Jesusita. Alles andere hatte er verloren oder war dabei, es zu verlieren. Was für ein Jammer. Ein schönes Lied, wirklich schön, dachte sie. Don Rafael war eingeschlafen, und das bedeutete, daß die Reise länger dauern würde, als Jesusita und Emma vorgesehen hatten. Später in der Nacht öffnete er die Augen und fragte, wo sie seien. Da nahmen die Ventilatoren ihre Arbeit wieder auf, und die Reise ging weiter.
In Chiriguaná hatte es gerade geregnet, darum war es außergewöhnlich frisch für diesen sonst so heißen Ort. Der Zug hielt, und bevor Emma hinter die Gartenmauer ging, um die Position des Mondes ein wenig zu verändern, stellte sie die Ventilatoren auf die niedrigste Stufe. Es waren zwei hellblaue Geräte der Marke Sankey, die für die Eisenbahnfahrten immer in einem bestimmten Abstand zur Waggontür aufgestellt wurden.
»Es ist kühl geworden, Frau«, sagte Don Rafael, und sie half ihm, sich den Pullover überzuziehen.
In Chiriguaná stiegen zwei Männer zu, die er offenbar kannte, die Jesusita aber nicht zuordnen konnte. Nach der förmlichen Art zu urteilen, in der er mit ihnen sprach, standen sie ihm nicht sehr nahe, vielleicht waren es Bekannte der Familie, die er lange nicht gesehen hatte. Don Rafael war anzumerken, daß er die beiden rasch loswerden wollte, obwohl er immer höflich blieb. Als sie endlich gegangen waren, verkniff es sich Jesusita, ihn nach den Männern zu fragen, denn sie hatte gemerkt, daß ihm die Begegnung unangenehm gewesen war. Auf der ganzen Strecke nach Aracataca ging ihr die Sache nicht aus dem Kopf. Etwas sagte ihr, daß die beiden vielleicht mit Don Rafaels Mutter zu tun hatten, aber zuerst traute sie sich nicht zu fragen, und dann vergaß sie es.
Sie waren jetzt zwanzig Stunden unterwegs. Mit zunehmender Müdigkeit verloren die Bahnhöfe für Jesusita ihren Reiz: einer war wie der andere. Den Verkäufern sah man an, daß sie übernächtigt waren, und die Käsestückchen in den Bananenblättern wurden säuerlich. Nur der Mond schien weiter in voller Pracht. Jesusita kannte diese Müdigkeit, die sich tief in der Nacht einstellt und auf einer langen Reise jeden überwältigt.
Don Rafael war eingeschlafen und sprach im Schlaf, wie Jesusita vermutete, mit den beiden Männern, die ihn vor ein paar Stunden im Zug begrüßt hatten. »Ja, ja, hm. Gut, ja, gut, aber vorher muß ich sie fragen«, sagte er entschieden, als sei das sein letztes Wort, bevor er still weiterschlief.
Jesusita schaute weg, zur Decke hinauf, um sich zu beruhigen.
»Da ist noch was, Ángel, warte einen Moment!« rief Don Rafael plötzlich und öffnete die Augen, als die beiden Männer offenbar schon an der Tür zum nächsten Waggon waren. Da dämmerte es Jesusita, daß es sich bei dem einen vielleicht um Ángel Oñate handelte, einen Schulfreund von Don Rafael, den er oft erwähnt hatte, weil er als junger Mann gestorben war, an Kälte und an Heimweh, als er in Tunja Jura studierte.
»Und was, wenn sie nein sagt?«
Der Zug stoppte abrupt mitten auf der Strecke, und die Schaffnerin kam und sagte, eine Kuh blockiere mit ihrem Kalb die Gleise. Gonzalos Uniform war Emma etwas zu groß, und Jesusita dachte, daß sie mit den aufgekrempelten Hosenbeinen wie ein Kind aussah, das sich als Erwachsener verkleidet hat. Die Kuh wurde vom Bahndamm getrieben, und sobald sich der Zug in Bewegung setzte, sprangen die Ventilatoren wieder an.
Als auf beiden Seiten die Bananenpflanzungen begannen, weckten die zunehmende Geschwindigkeit und die Üppigkeit der Welt draußen Jesusitas Lebensgeister. Natürlich würde sie nein sagen! Was dachten sich diese Narren eigentlich? Weder Ángel Oñate noch irgendein anderer Engel oder sonst ein Wesen würde es mit ihr aufnehmen können!
Sie passierten den Bahnhof von Aracataca in jenem unbestimmten Moment, da es nicht mehr Nacht und noch nicht Tag ist, oder beides, in dem alles eins wird, Tag und Nacht, Leben und Tod, Wachen und Träumen. Der Zug hielt nicht, sondern drosselte nur die Geschwindigkeit, denn um diese Uhrzeit wollte niemand ankommen oder ließ die letzten Straßen des Ortes hinter sich, nahm wieder Fahrt auf, und allmählich erwachte der Tag, mit Reihern, Wolken und Schwalben.
Emma hatte im hinteren Teil des Wagens Platz genommen und war jetzt der alleinreisende junge Mann, der regelmäßig, aber in kleinen Schlucken Aguardiente trinkt, während die Welt am Fenster vorbeizieht. Ein anderer Reisender schaltete sein Transistorradio ein und begrüßte den Tag mit einem rhythmischen Vallenato.
Das Lied handelte davon, daß die vergangene Zeit nicht wiederkehrt und daß von dem, was man geliebt hat, nur die Erinnerung bleibt. Und nicht einmal die Erinnerung, dachte Jesusita. Alle Lieder hatten irgendwie mit Don Rafael zu tun. Doch dann empörte sich etwas in ihr. Wer sagt denn, daß er keine Erinnerungen hat, he? protestierte sie aufgebracht und fast in Panik, als hätte jemand ihre Gedanken gelesen und könnte aus diesem Moment der Schwäche und Unachtsamkeit seinen Vorteil ziehen. An das, was vor langer Zeit geschehen ist, erinnert er sich doch sehr genau! Und selbst wenn er keine Erinnerungen hätte, was sagt ihr dazu, daß er noch reist oder sich seine Fischsuppe schmecken läßt, auch wenn er nur wenig ißt, weil er einen Vogelmagen hat? Wer will behaupten, daß das nichts ist? Muß er sich vielleicht um eine Stelle bewerben? Nein. Er hat sein Arbeitsleben hinter sich und hat es gut gemacht und gutes Geld verdient. Wenn es sich einer leisten kann, das Gedächtnis zu verlieren, dann er. Dabei macht Don Rafa immer noch eine gute Figur, auch ohne Gedächtnis, dachte Jesusita, er ist nett und höflich zu den Menschen, auch wenn er sie nicht mehr erkennt.
Diese Auseinandersetzung mußte sie jedes Jahr am Ende ihres Besuchs mit ihrer Schwiegermutter führen, die in ihrer arroganten Art darauf beharrte, daß es sich nicht lohne, auf der Welt zu bleiben, wenn man sich nicht mehr erinnere. Die hat gut reden, nicht wahr? Sie, die nicht mehr auf der Welt ist, dachte Jesusita, und die nichts mehr zu verlieren hat. Aber Don Rafael war noch am Leben und für manche Dinge sehr empfänglich. Mit welchem Vergnügen er dem Gesang der Trupiale lauschte! Und ihre Schwiegermutter, wie kam die überhaupt dazu, sich in ihre Ehe einzumischen, bitte sehr! Aber so war sie immer gewesen. Eine tyrannische Frau.
»Kommt jetzt Fundación, Rafa?« fragte sie ihren Mann, der gerade aufgewacht war.
»An Fundación sind wir längst vorbei, Frau!«
Wenn sich jemand an all diese Orte erinnert, dann interessiert ihn die Welt doch noch, oder? ereiferte sich Jesusita. Warum sollte er sie denn verlassen, solange er sie genießt? Don Rafael zählte die Stationen zwischen Gamarra und Ciénaga auf und betonte die Ortsnamen, als er zu Fundación, Aracataca und Sevilla kam. Jesusita lächelte. Es machte sie verlegen, in ihrem Alter das Wort Liebe zu denken. »Wie stark einen das gefangenhält!« dachte sie vielmehr. »Und um wieviel Uhr waren wir eigentlich in Fundación? Ich hab’s gar nicht gemerkt.«
Es war schon hell, als sich vor Jesusita die Ciénaga Grande, die Große Lagune, in ihrer ganzen Schönheit auftat. Die auf Pfählen in den See gesetzten Häuser schwebten im Nebel, und die Ciénaga hatte sich in Dampf und grüne Schatten aufgelöst. Das Bild erinnerte Jesusita an das »Haus in der Luft«, von dem in einem dieser Vallenato-Lieder die Rede war, die seit einiger Zeit ohne Unterlaß aus dem Transistorradio schallten. Jesusita hätte Emma oder Gonzalo bitten können, es auszuschalten, besser gesagt: Sie hätte sich beim Zugpersonal über die Musik beschweren können, die sie nicht bestellt hatte – doch in Wirklichkeit hörte sie sie gern und hätte am liebsten mitgesungen oder im Gang dazu getanzt, und sei es nur ein paar Sekunden lang.
Am Bahnhof von Sevilla war Emma wieder auf dem Bahnsteig. Sie sahen, wie sie am Zug entlanglief und gekochte Eier, Brötchen und Costeño-Käse verkaufte, den Jesusita liebte. Manche dieser regionalen Spezialitäten genoß sie sogar mehr als Don Rafael. Die Kola Román, zum Beispiel, die süß wie Sirup ist – wenn sie die kalt trank, eiskalt, und dazu den sehr salzigen und trockenen Costeño-Käse und ein rundes, süßliches Brötchen aß, wie es sie nur an der Küste gibt, war das für sie das Höchste. Das Rubinrot des Getränks war wunderschön und leuchtete wie eine Neonreklame. Don Rafael dagegen verabscheute dieses Zuckerwasser, und früher, als er noch mehr redete, sagte er immer, dieses pappige Zeug, das sie Brötchen nennen, habe mit Brot überhaupt nichts zu tun. Und wenn Jesusita der Gesang der Mariamulata-Vögel bezauberte, antwortete er, wie immer nicht unhöflich, aber etwas mürrisch: »Ach, diese Flatterviecher.«
Mariamulata- und Guanabó-Vögel waren die ganze Zeit in den Palmen zu hören, solange der Zug im Bahnhof stand. Wenn Jesusita ein Glücksgefühl empfand, wehte es wie ein Luftzug heran, unverhofft und leicht. Zwei oder drei Dinge mußten zusammenkommen, Palmen, frische Luft und Vögel, so wie jetzt, und da war es schon, das Glück. Aber genauso leicht verschwand es wieder. Eine ganze Weile hatte sie schon nicht mehr an Ángel Oñate und ihre Schwiegermutter gedacht, aber als jetzt ein Rütteln durch die Waggons ging und dann der Zug mit einem Ruck anfuhr, waren sie in ihren Gedanken wieder da. Wenn sie ihn holen, müssen sie mich auch mitnehmen, die Elenden, dachte sie mit solcher Intensität, daß auf einmal die Vögel nicht mehr zu hören waren, als habe ein ehrfurchtgebietendes oder heiliges Ereignis sie zum Schweigen gebracht. Da spürte sie eine kalte Angst im Bauch, denn das Jahr würde kommen – nicht dieses, da sollten sie sich bloß keine Hoffnungen machen, dachte sie, aber es würde unausweichlich kommen –, in dem es mit Don Rafaels Rückreise schwierig würde.
»Wie schön die Ciénaga Grande war!« sagte Jesusita, um sich abzulenken. »Aber Mädchen, die Ciénaga kann man vom Zug doch gar nicht sehn!« »Dann hab ich wohl geträumt«, sagte Jesusita. »Aber schön war sie auf jeden Fall. Ganz in Nebel gehüllt.«
Als sie endlich im Bahnhof von Ciénaga ausstiegen, waren Don Rafael die Strapazen der Reise anzusehen. Jesusita verzichtete darauf, in Ruhe einen Kaffee zu trinken und sich im Bahnhof umzuschauen, dessen hohes Dach für Frische sorgte und der ihr wegen der Holzschnitzereien über den Fenstern besonders gut gefiel. Statt dessen gingen sie gleich zum Bus nach Barranquilla. Obwohl ihr alle Bahnhöfe gefielen, jeder auf seine Art, mochte sie den von Ciénaga am liebsten. Vor kurzem hatte sie irgendwo ein Foto des Gebäudes gesehen, doch wirkte es darauf etwas heruntergekommen und verlassen. Das hohe, mit Zinkblech gedeckte Dach war zwar zu sehen, aber das Gebäude sah nicht so aus, als habe es dort je Holzschnitzereien gegeben.
»Hier hast du sie jetzt, die Ciénaga Grande«, sagte Don Rafael auf der Fahrt im Bus, der sich mit Böen von Meeresluft füllte. Auf der einen Seite die Pracht der Mangroven der Lagune, auf der anderen die Herrlichkeit des Meeres. »Schön, nicht?« sagte Jesusita.
»Was? Ach ja«, sagte Don Rafael zerstreut, ganz ein Mann der Küste, der keine romantischen Gefühle mit dem Meer verbindet. Tatsächlich schien ihn die Ciénaga mehr zu interessieren, vielleicht weil mit ihr die Farben und Gerüche seiner Jugend zurückkamen, die Angelausflüge mit seinen Brüdern.
In Barranquilla wurden sie von Mercedes, Don Rafaels jüngster Schwester, mit einem Fischeintopf in ihrem hübschen Haus empfangen, das modern war, aber schattig mit seinen halbgeschlossenen Rollos und blühenden Tulpenbäumen im Garten. Mercedes war eine leidenschaftliche Köchin. Sie gehörte zu jenen, die nur für fünfzehn oder mehr Personen kochen können, und für so viele kochte sie, auch wenn nur zwei Gäste geladen waren. Zum Glück kamen fast immer mehr als zehn, denn die Familie war groß und hatte viele Freunde, die mit der Zeit auch Teil der Familie geworden waren. Mercedes war eine wohlbeleibte Frau mit einem schönen Gesicht und leuchtenden Augen und dirigierte von ihrem Stuhl im Wohnzimmer drei Köchinnen und einen jungen Mann, der als Küchengehilfe und Bote arbeitete.
Als Jesusita von Mercedes umarmt wurde, fühlte sie sich wie in Abrahams Schoß. Sie wurde von der Körperfülle ihrer Schwägerin – Gott hab’ sie selig – und der menschlichen Wärme, die sie ausstrahlte, fast erstickt und lebte auf im Bewußtsein, daß Mercedes sie genauso innig liebte, wie deren Mutter sie verachtete. Daß die mollige Mercedes und der schmale Don Rafael Geschwister waren und sich sogar ähnlich sahen, wunderte sie ebenso wie die große Ähnlichkeit zwischen der dicken Flor und ihrem hageren, schlaksigen Vater.
Die beiden Frauen schauten zu, wie er langsam die Treppe hinaufstieg, und tauschten mitleidsvolle Blicke, denn sie wußten, daß er in das Zimmer ging, das seine Mutter die letzten Jahre bewohnt hatte und das Emma mit großer Sorgfalt hergerichtet hatte, damit sie in Ruhe miteinander reden konnten. Danach würden die anderen Geschwister und viele Neffen und Nichten eintreffen, und bis spät in die Nacht würde Musik zu hören sein.
Später, im Bett, wurde Jesusita von jenem Schaukeln in den Schlaf gewiegt, das man nach einer langen Fahrt mit dem Zug oder dem Schiff noch eine gewisse Zeit zu spüren glaubt; sie hatte sogar, wenn auch nur noch schwach, den ätzenden Dieselgeruch in der Nase. Bevor sie einschlief, dachte sie, daß Flor Mercedes’ Rolle dieses Jahr wirklich glänzend gespielt hatte. So gut war sie gewesen, daß Jesusita fast vergessen hatte, daß Don Rafaels jüngste Schwester, die zeit ihres Lebens Übergewicht hatte, vor ein paar Jahren krank geworden und so stark abgemagert war, daß man sie kaum wiedererkannte, bis sie schließlich zu leicht fürs Leben wurde.
In Barranquilla waren sie an einem Freitag angekommen, und am Montag wollten sie nach Honda zurückfahren. Sie nahmen aber nicht den Zug, wie ursprünglich geplant, sondern machten die Rückreise mit dem Flugzeug, denn weder Emma noch Don Rafael hatten noch die Kraft für eine so lange Eisenbahnfahrt. Jesusita dagegen hätte, wäre es nur um sie gegangen, für die Rückreise gern wieder den Zug genommen.
Während sie unter sich, winzig klein, Hausdächer und Kühe vorbeiziehen sah und Wolken wie Wattebäusche, die zwischen dem Grün der Berge hingen, dachte Jesusita, wie schwierig es dieses Jahr gewesen war, Don Rafael von seiner Mutter loszueisen, die ihn unbedingt dabehalten wollte und noch unterstützt wurde von diesem Kerl, Ángel Oñate, der sich frech in die Diskussion eingemischt hatte und nicht müde wurde, auf Don Rafael einzureden, er solle bleiben.
Jesusita bewunderte den Schneegipfel, der am Flugzeugfenster vorbeizog. Eine schöne Überraschung, die Emma sich ausgedacht hatte! Großartig. Als das Glitzern des Schnees vorbei war, kehrten Jesusitas Gedanken zu der Auseinandersetzung mit ihrer herrischen Schwiegermutter zurück. Nicht daß der Streit sie niedergeschmettert hätte, nein, wütend war sie geworden, denn ihr war klar, daß seine Mutter sich letzten Endes durchsetzen würde und sie, Jesusita, nachgeben müßte. Und wenn sie daran dachte, daß sie ihn ihr diesmal beinahe weggenommen hätten, kochte sie vor Wut, denn sie taten das aus reiner Willkür, ohne überzeugende Argumente gegen die guten Gründe, die sie angeführt hatte.
Was bildeten sich die beiden eigentlich ein! Warum wollten sie nicht kapieren, daß sie nicht nach Belieben kriegen konnten, was sie wollten, nein, sondern erst wenn sie, Jesusita, den Moment für gekommen hielt. Während der Auseinandersetzung mit ihrer Schwiegermutter und diesem Kerl, Ángel Oñate, hatte sie geweint, das schon, aber sie hatte ihre Argumente mit Bestimmtheit und ohne die Stimme zu erheben vorgebracht. Nur aus dem, was Don Rafael sagte, hatte Jesusita heraushören können, was die beiden anderen verlangten, aber trotz allem machte sie ihnen unmißverständlich und ein für allemal klar, daß sie, seit über fünfzig Jahren seine Frau, es als erste merken würde, wenn Don Rafael sich nicht mehr an den Sonnenuntergängen freute, am Gesang der Trupiale, oder an seinen Tropenhemden aus feinem Leinen, oder an den zwei makellos geplätteten Taschentüchern und ihrem frischen Duft.
Dann, und erst dann, und nicht, wenn es zwei Dahergelaufenen einfiel, willkürlich zu entscheiden, daß die Stunde gekommen sei, würde sie – und wenn es ihr das Herz bräche – zulassen, daß Don Rafael die Reise mit dem Flugzeug, der Eisenbahn oder sonstwas absagte und nicht mehr zurückkehrte.
Aus dem Spanischen von Rainer Schultze-Kraft und Peter Schultze-Kraft
SINN UND FORM 5/2013, S. 657-671
Hübner, Anja S. und Schöttker, Detlev
Der brasilianische Korrespondent. Auf der Suche nach Otto Storch, S. 672
In einer der Aufzeichnungen über den Begriff der Geschichte, an denen Walter Benjamin bis kurz vor seinem Tod im September 1940 arbeitete, steht (...)
Hübner, Anja S.
DER BRASILIANISCHE KORRESPONDENT
Auf der Suche nach Otto Storch
In einer der Aufzeichnungen über den Begriff der Geschichte, an denen Walter Benjamin bis kurz vor seinem Tod im September 1940 arbeitete, steht ein aphoristischer Satz, den der israelische Bildhauer Dani Karavan in Benjamins spanischem Sterbeort Port Bou am Ende eines Stahltunnels vor dem freien Fall ins Meer auf eine Glasplatte gravieren ließ: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.« Dieser Gedanke wird zur konkreten Erfahrung, wenn man die Biographie des kommunistischen Pressefotografen Otto Storch nachzuzeichnen versucht, mit dem sich Ernst Jünger während einer Brasilien-Reise anfreundete.
Beide lernten sich auf dem Überseedampfer »Monte Rosa« kennen, der Mitte Oktober 1936 in Hamburg startete, über die Azoren und das Amazonasdelta zu mehreren brasilianischen Küstenstädten fuhr und Mitte Dezember über La Palma und Casablanca zurückkehrte. Storch allerdings verließ das Schiff auf halber Strecke Mitte November in Santos, der Hafenstadt nahe São Paulo. Anschließend begann eine mehrjährige Korrespondenz mit Jünger, die bald nach Kriegsbeginn abbrach.
Ohne Jüngers Briefarchiv wüßte man nichts über Storch und seine Emigration, da dieser seit Anfang der vierziger Jahre in Brasilien verschollen ist. Die Briefe aber erzählen die Geschichte eines bemerkenswerten Mannes, der nicht nur eine wechselvolle Lebensgeschichte hatte, sondern diese auch in ihren Höhen und Tiefen darstellen konnte, so daß Jünger in mehrfacher Hinsicht an ihm interessiert, wenn nicht gar von ihm fasziniert war.
I. Beurteilung eines Emigranten
Auffällig an dieser Korrespondenz ist zunächst, daß sie trotz der Entfernung meist ohne größere Verzögerungen oder Verluste vonstatten ging. Das lag nicht zuletzt am gut organisierten Postverkehr zwischen Deutschland und Brasilien, der seit Beginn der dreißiger Jahre durch Liniendampfer, Zeppeline und Katapultschiffe mit Wasserflugzeugen bewältigt wurde. Zwar sind Jüngers Briefe verlorengegangen, doch dürften die von Storch fast vollständig erhalten sein.
Gleich im ersten Brief brachte Storch seine Sympathie für Jünger zum Ausdruck, wenn er über die »interessanten Wochen auf der Monte Rosa« schreibt: »Wie meist im Leben hatte ich aus dem Sammelsurium von Spiessern verschiedenster Schattierung einige Menschen herausgefunden, die diese Bezeichnung noch verdienen.« Jünger dürfte ähnlich gedacht haben. In seinem brasilianischen Tagebuch, das 1947 unter dem Titel »Atlantische Fahrt« erschien, berichtet er über Storch (unter dem Kürzel »St.«) ausführlicher als über alle anderen Passagiere, mit denen er ins Gespräch gekommen war. Bereits zehn Tage nach Abreise heißt es: »Unter der gemischten Gesellschaft, die heutzutage nach Phäakenart die Meere durchquert, machte ich einige Bekanntschaften, darunter die von St., mit dem ich die Stunden des Sonnenbades im Liegestuhl verplaudere. Er würde in einen Roman von Joseph Conrad passen, war früh Waise, ging dann zur See und machte den Weltkrieg auf Schiffen mit. Im Frieden betrieb er seltsame Geschäfte, war Mitglied kommunistischer Orden und scheint noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt.«
Die Ausführungen machen neugierig, weil man einen Mann wie Storch weder auf einem Kreuzfahrtschiff noch unter den Vertrauten Jüngers vermutet hätte. Dieser aber lernte nicht nur die Lebensgeschichte seines Reisegefährten kennen; Storch offenbarte sich ihm auch, nachdem er das Schiff verlassen hatte, um in Brasilien zu bleiben. »Ich traf dann St. in einem kleinen Café«, so Jünger über ein Gespräch in São Paulo, »wo er mich von seiner Absicht, nicht mehr an Bord zurückzukehren, unterrichtete.« Zur Erläuterung heißt es: »Das ist eine Form der Auswanderung, die wohl zunehmen wird. Der Gewalt entspricht die Flucht.« Jünger weist also ausdrücklich auf die Verfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland hin, die auch auf dem Überseedampfer zu spüren waren, da weitere Passagiere und Besatzungsmitglieder in Brasilien blieben – und zwar »unter Zurücklassung ihrer Pässe«, wie Jünger in einem Brief an seinen Bruder Friedrich Georg vom 20. November 1936 aus Santos berichtet (abgedruckt in der Neuausgabe von »Atlantische Fahrt«, 2013).
Wie Exilanten ab Mitte der dreißiger Jahre in Brasilien gelebt haben, ist bis heute weitgehend unbekannt. Zwar ist über Stefan Zweig, der 1940 aus dem englischen Exil nach Brasilien ging und sich in Petropolis in der Nähe von Rio de Janeiro niederließ, nicht zuletzt durch den Freitod des Autors zwei Jahre später viel geschrieben worden, doch handelt es sich um eine Ausnahme, da hier einem berühmten Autor durch die brasilianische Regierung Asyl gewährt wurde. Dagegen verschärfte das Land 1934, nachdem es seit dem 19. Jahrhundert Hunderttausende von Auswanderern aus Deutschland aufgenommen hatte, die Einwanderungsgesetze, so daß nur noch Personen einreisen durften, die in der Landwirtschaft tätig waren, wie Patrick von zur Mühlen in der Einleitung des Ausstellungskatalogs »Exil in Brasilien« (1994) ausgeführt hat. Storch war über das neue Einwanderungsgesetz zweifellos informiert und ließ sich deshalb als Landwirt in Brasilien nieder, obwohl er über keinerlei Berufserfahrung verfügte und Deutschland aus politischen Gründen verlassen hatte. Es ist bemerkenswert, daß Jünger, der über Emigranten im Prinzip nichts Positives zu sagen wußte, den Typus Storch in »Atlantische Fahrt« mit Bezug auf dessen Kontaktmann als Vorbild würdigt. Dieser sei, so heißt es unter dem Datum vom 18. November 1936, »schon 1927 aus politischen Gründen emigriert «. Jünger nennt ihn Schwager, ein Name, den auch Storch im ersten Brief an Jünger verwendete, so daß beide Personen zu einer verschmelzen: »Schwager, inzwischen Besitzer einer kleinen Farm geworden, schien an unserer Unterhaltung Gefallen zu finden, denn er lud auch mich dorthin ein. Er schien sich zufrieden zu fühlen und pries das Land, in dem er seßhaft geworden war. Vor allem schien ihn ein offenes Gefühl für Menschenwürde anzusprechen, der Sinn für Freiheit und Unantastbarkeit in einem Lande, in dem innere Unruhen doch nicht selten sind.«
Jünger spricht sogar von einem »großamerikanischen Freiheitsbedürfnis mit romantischer Liberalität und Höflichkeit« – eine Haltung, die in den Briefen des Korrespondenzpartners spürbar zum Ausdruck kommt. Die Einschätzung wird durch Jüngers handschriftliche Tagebuch-Aufzeichnungen von 1936 bestätigt. Unter den »Bekannten«, so heißt es hier, gehöre Storch zu den »wichtigsten «. Beide blieben allerdings nicht allein, sondern waren Teil einer Gruppe von Männern, die sich an Bord kennengelernt hatten und über politisch brisante Themen sprachen, wie brieflichen Andeutungen zu entnehmen ist. Zu ihnen gehörten auch der Niederländer Wilhelm Busch und der Münsteraner Vermessungsdirektor Clemens Brand, nach denen Storch sich in den Schreiben mehrfach erkundigte. Während über Busch nichts bekannt ist, wechselten Brand und Jünger in den Jahren 1937 und 1947 einige Briefe (abgedruckt in »Atlantische Fahrt«, 2013).
Die späteren Schreiben zeigen, daß Brand jener »Tischnachbar« im Speisesaal war, den Jünger in »Atlantische Fahrt« als »flache, doch liebenswürdige Intelligenz « bezeichnete, auch wenn dieser glaubte, die Charakterisierung treffe eher auf den »jungen Holländer« Busch zu, da er als Westfale von Natur aus nicht »liebenswürdig« sei und Jünger gegenüber Distanz gewahrt habe. Dennoch bekundete er in einem Brief von 1947 die Hoffnung auf eine weitere »größere Reise« mit den alten Gefährten: »Und wenn es dann wieder im Verein mit Storch und E.J. sein dürfte – Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind aus Westfalen in der Mitte – wäre das gar nicht so übel.«
II. Zur Biographie eines Kommunisten
Brands Hinweis zielt nicht nur auf die Sitzordnung in der Liegestuhlreihe, sondern auch auf die politischen Auffassungen der Beteiligten. Jüngers Bemerkungen über Storchs Mitgliedschaft in »kommunistischen Orden« zeigen, daß er über Einzelheiten informiert war. Man kann vermuten, daß beide Diskretion vereinbart hatten, da Storch auf seine Einbürgerung in Brasilien hoffte und Jünger im Sommer 1936 von der Gestapo observiert worden war, so daß er Briefe von Gegnern des Regimes bereits verstecken oder vernichten mußte. Nachrichten eines emigrierten Kommunisten, der 1933 von der SA in Haft genommen worden war, wären in der Tat ein gefundenes Fressen für seine Feinde im Partei- und Staatsapparat gewesen.
Dennoch lassen sich den Briefen einige Fakten entnehmen, die auf das kommunistische Engagement Storchs hinweisen. So war er 1921 in Leningrad und Moskau, wo er angeblich führende russische Kommunisten traf (Brief vom 6. April 1937). Es ist zu vermuten, daß er am III.Weltkongreß der Kommunistischen Internationale teilnahm, der im Juli in Moskau stattfand. Ob er damals schon Mitglied der KPD oder einer ihrer Unterorganisationen war, ist unklar, da er zu dieser Zeit auch Kontakte zu anarchistischen und syndikalistischen Gruppen hatte. Das geht aus einer Akte des Oberreichsanwalts am Reichsgericht in Berlin hervor, der Storch 1926 wegen Aufforderung zum Hochverrat anklagen wollte und entsprechende Belege zusammentragen ließ (vorhanden im Bundesarchiv Berlin). Danach wurde Storch 1897 im niederschlesischen Trachtenberg geboren, wohnte 1926 in Berlin bei einem Professor Uhl, der »als Syndikalist bekannt« sei, und arbeitete »als Motorradfahrer« für die Zeitschrift »Freie Jugend«, die der Pazifist und Anarchist Ernst Friedrich, Gründer des Anti-Kriegsmuseums und Autor des zweibändigen Werkes »Krieg dem Kriege!«, herausgab.
Grund für die Ermittlungen gegen Storch waren Texte in der ersten, 1926 erschienenen Nummer der Zeitschrift »Rote Matrosen«, für die er laut Impressum als »Schriftleiter, Herausgeber und Verleger« verantwortlich zeichnete. Die Zeitschrift fungierte als Organ des »Bundes roter Matrosen«, in die Personen mit »proletarischer Lebens- und Denkungsart« aufgenommen wurden. Sie bestand aus zwei großformatigen Blättern mit vier Druckseiten und enthielt neben einer ganzseitigen Titelillustration von Max Dungert u.a. Texte von Theodor Plievier, der sich damals Plivier nannte, und Erich Mühsam, den Jünger Ende der zwanziger Jahre in Berlin kennenlernen sollte. Plievier wie Mühsam vertraten zu jener Zeit anarchistische Positionen. Die Auswahl der Texte und ihre sorgfältige typographische Gestaltung zeigen, daß der Herausgeber ästhetische und literarische Interessen hatte, die auch in seinem weiteren Leben eine Rolle spielten.
Storchs Aktivitäten für den »Bund roter Matrosen« erklären sich aus seinem Brief an Jünger vom 7. Juli 1938, in dem er Stationen seines Werdegangs und seiner beruflichen Tätigkeiten aufzählt. Demzufolge wuchs er im »Pfarrhaus eines niederschlesischen Dorfes« auf und kam 1912 mit vierzehn Jahren nach Flensburg, wo er »Schiffsjunge bei der kaiserlichen Marine« und zu Kriegsbeginn, knapp siebzehnjährig, Matrose wurde. Auf Schiffen kam er in Kontakt mit anderen Matrosen, die Anfang November 1918, also kurz vor Ende des Krieges, in Wilhelmshaven und Kiel am Aufstand gegen die Regierung beteiligt waren. Die später verstreuten Revolutionäre wollte Storch im »Bund roter Matrosen« zusammenführen, der in der Akte des Oberreichsanwalts allerdings als »Kaffeekränzchen« bezeichnet und 1926 aufgelöst wurde.
Warum Storch 1920 während des Kapp-Putsches, den Offiziere der Reichswehr gegen die sozialdemokratisch geführte Regierung der Weimarer Republik initiiert hatten, aus Kiel »flüchten« mußte, wie es im Brief vom 7. Juli 1938 heißt, bleibt unklar. Danach übte er eine Vielzahl von Tätigkeiten aus, die er im selben Brief aufzählt. Nachdem er zunächst als Lebensmittelschmuggler und -händler in den Niederlanden und in Gelsenkirchen sowie als Detektiv bei der Sicherheitspolizei in Essen gearbeitet hatte, ging er Anfang der zwanziger Jahre nach Berlin, wo er Leiter des Strandcafés am Kleinen Wannsee, dann Mitarbeiter eines Theaters und schließlich Vertriebsleiter einer Zeitung wurde.
Mit Plievier (1892–1955), der im »Bund roter Matrosen« laut Ermittlung des Oberreichsanwalts federführend war und in der Zeitschrift den Beitrag »Skizzen aus dem Seemannsleben« publiziert hatte, lebte Storch in den zwanziger Jahren in einem »wüsten, aber recht romantischen Keller«, wie er am 14. März 1937 an Jünger schreibt. Zu dieser Zeit arbeitete sein Mitbewohner an dem autobiographischen Roman »Des Kaisers Kulis«, in dem die auch Storch bekannten menschenunwürdigen Zustände bei der Marine mit Schwerstarbeit, Demütigungen und Willkür, aber auch die Solidarität und die revolutionären Aktivitäten der Matrosen dargestellt werden. Das Buch erschien 1929 im Malik Verlag, wurde durch Übersetzungen über Deutschland hinaus bekannt und von Erwin Piscator 1930 am Berliner Lessing-Theater in einer dramatischen Bearbeitung mit großem Erfolg inszeniert.
Während sich Plievier, der wie Storch durch die Matrosenaufstände politisiert wurde, später der KPD annäherte und 1933 in die Sowjetunion emigrierte, war Storch als Parteimitglied im Widerstand aktiv. Schon 1929 beteiligte er sich an der Produktion des Kurzfilms »Immer bereit!«, einer Dokumentation über ein Zeltlager des Berliner Jung-Spartakus-Bundes, das nach dem russischen Außenminister »Woroschilow« benannt wurde, wie die Kurzbeschreibung einer Kopie zeigt, die sich im Staatlichen Russischen Archiv für Film- und Fotodokumente in Krasnogorsk erhalten hat. Finanziert wurde die Produktion durch die »Weltfilm GmbH«, die 1928 von Funktionären der Internationalen Arbeiterhilfe gegründet worden war. Zu ihnen gehörte auch Willi Münzenberg (1889–1940), der ab Anfang der zwanziger Jahre für die KPD eines der größten Medienunternehmen der Weimarer Republik aufbaute und zusammen mit Storch als Produzent und Regisseur von »Immer bereit!« genannt wird.
1926 hatte Münzenberg bereits die Firma »Prometheus Film« ins Leben gerufen, die Revolutionsfilme aus der Sowjetunion wie Sergej Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« (1925) in Deutschland vertrieb und zugleich eigene proletarische Spielfilme produzierte, darunter so bekannte wie »Mutter Krausens Fahrt ins Glück« von Phil Jutzi (1929) und »Kuhle Wampe« von Bertolt Brecht und Slatan Dudow (1932). Die »Weltfilm GmbH« war dagegen auf propagandistische Dokumentarfilme spezialisiert und stütze sich dabei auf eine Gruppe interessierter Laien, für die Münzenberg die Zeitschrift »Der Arbeiterfotograf« (1926–32) herausgab. Es ist zu vermuten, daß Storch einer solchen Gruppe angehörte, da er seit 1930 in Berliner Adreßbüchern als »Pressephotograph« auftaucht, eine Berufsbezeichnung, die er auch in seinem Brief vom 14. März 1937 verwendete.
Jünger selbst kannte aus seinen Berliner Jahren zwischen 1928 und 1933 nicht nur die Aktivitäten revolutionärer Gruppen im rechten wie im linken Lager, sondern auch die Pressefotografie, da er für die beiden Sammelbände »Der gefährliche Augenblick« (1931) und »Die veränderte Welt« (1933), die aus Pressetexten und -fotos zusammengestellt waren, Einleitungen geschrieben hatte. Den Text für den zweiten Band veröffentlichte er bereits 1932 in der von Ernst Niekisch herausgegebenen Zeitschrift »Widerstand«, die 1934 von den Nationalsozialisten verboten wurde. Unter dem Titel »Das Lichtbild als Mittel im politischen Kampf« würdigt er hier nicht nur die Pressefotografie, sondern auch den sowjetischen Revolutionsfilm. Hier zeigt sich, wie sehr sich linke und rechte Auffassungen im Zeichen der Propaganda annähern konnten.
Ob Storch, wie man vermuten kann, für Zeitungen und Zeitschriften des Münzenberg-Konzerns arbeitete, ist unbekannt, da Fotografen hier nicht genannt wurden, obwohl die Organe auflagenstark und erfolgreich waren, darunter die wöchentlich erscheinende »Arbeiter-Illustrierte-Zeitung« (1921–38) und die Berliner Tageszeitung »Welt am Abend« (1922–33). Storch gehörte zwar nicht zu den bekanntesten Pressefotografen der Linken, doch haben Kurt Tucholsky und John Heartfield in ihrem Band »Deutschland, Deutschland über alles«, der 1929 in Münzenbergs Neuem Deutschen Verlag erschien, auch Fotos von Storch verwendet, wie einem Hinweis auf der letzten Seite des Buches zu entnehmen ist. Möglicherweise gab es eine Verbindung über Plievier, für dessen Matrosenroman Heartfield im selben Jahr den Schutzumschlag gestaltet hatte. Auch gesundheitlich wurde Storch von der KPD bzw. der Komintern versorgt. Zwischen Oktober und Dezember 1931 war er zehn Wochen in einem »Sanatorium im Kaukasus« und nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin im Januar 1932 nochmals zehn Wochen in einem »Sanatorium«, wie einem Brief an Jünger zu entnehmen ist (14. März 1937). Im ersten Fall handelt es sich um eines der Arbeitersanatorien, in denen auch Funktionäre der KPD untergebracht wurden, wie Ludwig Renn in der Kaukasus-Reportage seines Buches »Rußlandfahrten« (1932) berichtet hat.
Aus einer Kaderakte zu Otto Neitzel, die im Februar und April 1937 vermutlich in Moskau angelegt wurde und sich heute im Bundesarchiv Berlin befindet, geht hervor, daß Storch, mit dem Neitzel gut bekannt war, gleich nach Hitlers Machtantritt von der SA verhaftet und neun Wochen lang in »Schutzhaft« genommen wurde. Dabei seien sein persönliches Eigentum und »sein gesamtes Photoarchiv« beschlagnahmt worden. Seit dieser Zeit habe Storch mit anderen, ebenfalls illegal agierenden Parteimitgliedern in Verbindung gestanden, zugleich aber auch Abstand gehalten: »Seine Führung und Haltung während dieser ganzen Zeit war einwandfrei, nur wollte er mit der Partei seiner Sicherheit halber nicht zusammenkommen. Im Herbst oder Ende des Jahres 1936 fuhr er nach Amerika.«
Über die Reise nach Brasilien war also zumindest ein Genosse informiert. Zugleich war Storchs Emigration gut vorbereitet und finanziell abgesichert: Er konnte die Fahrt in der Touristenklasse machen, mußte demnach Hin- und Rückfahrt bezahlen, hatte Kontakt zu einem Partner in Brasilien und beherrschte die Landessprache, da er gleich nach Ankunft »portug. Lehrbücher« zur Landwirtschaft las (Brief vom 10. Februar 1937). All das deutet darauf hin, daß er im Auftrag der Komintern, deren wichtigste Basis außerhalb der Sowjetunion die KPD war, nach Brasilien geschickt wurde. Jüngers Bemerkung, sein Reisegefährte sei »noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt«, trifft die konspirative Konstellation.
SINN UND FORM 5/2013, S. 672-684
Storch, Otto
Briefe an Ernst Jünger 1936-1939. Mit Kommentaren von Detlev Schöttker und Anja S. Hübner, S. 685
Schock, Ralph
Ein Exil, das kein Ende nahm. Über David Luschnat, S. 707
Am 19. November 1934 schickte Joseph Roth einen verzweifelten Bittbrief in die Schweiz. Ein Kollege war in Not: »Lieber Herr Carl Seelig, (...)
Schock, Ralph
EIN EXIL, DAS KEIN ENDE NAHM
Über David Luschnat
Am 19. November 1934 schickte Joseph Roth einen verzweifelten Bittbrief in die Schweiz. Ein Kollege war in Not: »Lieber Herr Carl Seelig, entschuldigen Sie diesen Brief (und bestätigen Sie mir bitte, daß Sie ihn erhalten haben). Es handelt sich um eine wichtige Sache, nämlich um einen Menschen. Der deutsche Schriftsteller David Luschnat, kein Kommunist, nicht einmal ein Jude, ein ganz harmloser Mann mit einigen seltsamen Ideen, ist aus der Schweiz ausgewiesen. Er hat keinen ›Namen‹, kein Geld, er kann nicht einmal die Reise zur Grenze bezahlen. (…) Sie sind Schweizer, Journalist. Sie können Herrn Luschnat vielleicht beistehen. (…) Ich erröte bei dem Gedanken, daß ich ohnmächtig bin und auch bei dem, daß die Welt so böse, so vertrackt gemein ist. Herr David Luschnat hat nichts mehr getan, als Herr Thomas Mann: beide haben Deutschland verlassen. Beide sind Schriftsteller. Über ihren litterarischen Grad hat die Polizei nicht zu entscheiden. (…) Was ist das für eine Welt! Was ist das für ein Land, in dem so was möglich ist. Herr Luschnat hat keinen Nobelpreis! Deshalb wird er ausgewiesen! Spätestens am 4.XII. muß er das Land verlassen. Und er stirbt mit seiner Frau schon seit Hitler vor Hunger. (…) Er hat einen Rekurs gemacht, damit er bleiben kann, aber der wird abgewiesen, denn Herr Luschnat hat ja keinen ›Namen‹. Ich bin wütend, ich möchte Bomben schmeißen.« Doch auch Seelig, der Schriftsteller, Mäzen und Freund Robert Walsers, konnte die Ausweisung nicht verhindern.
Kennengelernt habe ich den damals Ausgewiesenen vier Jahrzehnte später, als ich über Gustav Regler zu arbeiten begann. Laut einer Notiz in der »Weltbühne « vom Januar 1933 plante die Berliner Ortsgruppe des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller (SDS) eine Anthologie zum Thema »Krieg«. Einige Beiträger waren genannt, darunter Regler. Weitere Manuskripte wurden erbeten an Herrn David Luschnat, Berlin-Schöneberg, Hauptstraße 37. Da die Anthologie nirgends nachweisbar war, wandte ich mich an den Herausgeber. An Regler könne er sich gut erinnern, schrieb er, wo die Beiträge für die Anthologie geblieben seien, wisse er aber nicht. Und er lud mich ein, ihn und seine Frau in Tourrettes-sur-Loup zu besuchen. Ich könnte in einem Cabanon auf ihrem Grundstück wohnen, auch einen großen Pool gebe es.
Nach ihrer Ausweisung aus der Schweiz waren David Luschnat und Lotte, seine mehrere Jahre jüngere Frau, in dem bei Vence in den Meeralpen gelegenen Bergdorf untergekommen. Etwas außerhalb des Ortes lebten sie, bald mit Sohn und Tochter, in einem nur zehn Quadratmeter großen ehemaligen Stall, später immerhin auf eigenem Grund; das Geld für den Erwerb des steinigen, sonnenverbrannten Landes hatten ihnen in den vierziger Jahren amerikanische Quäker gespendet. Ihre Wohnsituation änderte sich erst Anfang der sechziger Jahre, als Lotte, die im Februar 1933 mit einem offenen Brief an den preußischen Kultusminister Adolf Grimme ihre Stelle als Referendarin gekündigt hatte, von der Bundesrepublik eine Wiedergutmachung bekam: eine Pension, die dem entsprach, was sie nach Beendigung ihrer Laufbahn in der Position einer Studiendirektorin bekommen hätte. Damit bauten sie ein bescheidenes Häuschen, bestehend aus einem Schlafzimmer, in dem Lottes Bücher standen, einem Wohnraum, einem geräumigen Bad, einer Küche mit großem Gefrierschrank und Davids Arbeitszimmer mit Bibliothek, Manuskriptschrank und Schreibtisch.
Dem ersten Besuch 1975 folgten weitere, meist für mehrere Wochen, im Gepäck immer Dinge, die in Haushalt oder Garten gebraucht wurden. Ich führte kleinere Reparaturen aus, fällte einen krummen Baum und schnitt auf den oberen Terrassen des ein Hektar großen Geländes die Garigue zurück. Auf den unteren Terrassen bewirtschaftete Lotte ihren Garten, in dem sie jeden Morgen bei Sonnenaufgang zu arbeiten begann. Danach drehte sie ihre Runden im Pool. Die beiden, seit Jahrzehnten Vegetarier, waren weitgehend Selbstversorger.
Er: klein, untersetzt, schlurfender Gang, lethargisch, melancholisch bis zum Fatalismus, tagsüber oft im abgewetzten Bademantel. Stundenlang in seiner Bibliothek vergraben. Das herunterhängende linke Augenlid schob er beim Lesen nach oben. Umständlich und abenteuerlich ungeschickt für jede handwerkliche Arbeit. Eines Abends bot er meiner Frau und mir auf Lottes Vorschlag hin das Du an. Alle vier Wochen telefonierte sie nach einem Taxi, das ihn zum Frisör brachte. Als er bei einer solchen Gelegenheit aus dem Dorf Marmelade mitzubringen wagte, brach ein Gewitter über ihn herein. Zwei Tage lang, bis das Glas leer war, gab es morgens, mittags und abends nichts anderes für ihn. Gleichwohl sagte er: »Ohne meine Frau wäre ich längst tot.«
Sie: schlank, groß und agil. Pfiffig, schlagfertig, unsentimental, zupackend, keck. Gelegentlich geradezu charmant. Typ Berliner Göre. Kurzes weißes Haar, hellblaue Augen, klarer Blick, das Gesicht voller Runzeln. Irritierend unprüde. Politisch bestens informiert, mit dezidierten Meinungen und bisweilen recht eigenwilligen Thesen über deutsche und französische Politiker oder den Nahostkonflikt. Ehe sie zu früher Stunde schlafen ging, löste sie das Kreuzworträtsel aus dem »Nice Matin«. Einmal hatte sie sich aus irgendeinem Grund über mich geärgert, deshalb gab es abends für mich nichts zu essen. Als sie wegen einer Archivrecherche über den Stauferkaiser Friedrich II. nach Italien reiste, richtete sie zu Hause für zwei Wochen alles her. Doch sie mußte bald zurück: David hatte sich, als er Scheite zu spalten versuchte, mit der Axt schwer verletzt. Dabei hatte sie ausreichend Brennholz zurückgelassen, doch er war der Meinung, es reiche vielleicht nicht. Mit einer Erziehungsfrage wandte sie sich einmal an Sigmund Freud in London, seinen Antwortbrief zeigte sie mir eines Abends. Auch sie schrieb, veröffentlicht ist kaum etwas. Ihre Autobiographie, an der sie gelegentlich arbeitete, trug – vielleicht mit einem Hauch von Selbstkritik – den Titel »Mit dem Kopf durch die Wand«. Sie stellte Horoskope, jedes Jahr orderte sie die Ephemeriden. Im Spätsommer reisten sie per Taxi nach Überlingen, um in der Buchinger-Klinik zu fasten, er drei Wochen, sie eine Woche länger.
Nachmittags trafen wir uns unter dem knorrigen Olivenbaum zum Gespräch. Einmal brachte ich ein Tonbandgerät mit, das Porträt Luschnats sendete der Saarländische Rundfunk am 14. Oktober 1978. Er erzählte aus seinem Leben: von der Geburtsstadt Insterburg, über die er eine Novelle schrieb. Vom Vater, einem Pfarrer, der eine freie Gemeinde gegründet hatte. Von der Mutter, die die Familie mit Nähen durchbrachte. Vom Gymnasium ("Marteranstalt«), von seiner Tätigkeit als Hilfsmonteur bei Siemens & Halske ("28 Pfennig die Stunde«). Am 3. Juli 1915 wurde er eingezogen, im September 1918 erlitt er eine Schußverletzung. Es sei zu gefährlich gewesen, die Kugel herauszuoperieren; später verkapselte sie sich, die rote Narbe am Hals blieb. Gelegenheitsarbeiten: Transportbegleiter, Frachtenkontrolleur, Korrekturleser, Seifenhändler, Aufkäufer leerer Ölfässer. »Aufkäufer leerer Ölfässer?« »Ja«, sagte er, »das war der Hunger.«
1918 wurde er Mitglied des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, ab 1925 lebte er, »mehr schlecht als recht«, als freier Autor. In den folgenden drei Jahren erschienen drei schmale Hefte mit Lyrik: »Kristall der Ewigkeit«, »Die Sonette der Ewigkeit«, »Abenteuer um Gott«. Er selbst bezeichnete sich als religiösen Sozialisten und Pazifisten. Nachdrucke brachten u.a. die »Frankfurter Zeitung«, die »Sozialistischen Monatshefte« und die »Weltbühne«. Ein Band wurde im »Völkischen Beobachter« besprochen, den Beleg hatte er aufgehoben: Unverständnis, Spott, Verachtung. Die beiden 1927 erschienenen Sammlungen »Stimmen der Jüngsten« und »Anthologie jüngster Lyrik«, letztere mit einem Vorwort von Stefan Zweig und herausgegeben von Willi R. Fehse und Klaus Mann, enthalten Gedichte von ihm.
»Inzwischen begannen Militarismus, Antisemitismus und verwandte Strömungen immer weitere Volksschichten zu infizieren«, erzählte er. Auch den Schutzverband: »Der Hauptvorstand war gerne bereit, sich dem heraufdämmernden Hitler-Zeitalter irgendwie anzupassen.« Doch die große Mehrheit der Berliner Ortsgruppe, mit 900 Autoren ein Drittel aller SDS-Mitglieder, opponierte. Ab 1931 gehörte er neben Georg Lukács, Andor Gábor, Franz C. Weiskopf und Hermann Budzislawski deren Vorstand an. Wegen einer Kampagne zur Befreiung des wegen »literarischen Hochverrats« verhafteten Ludwig Renn und einer vom Hauptvorstand untersagten Goethe-Feier mit Erich Mühsam, Ernst Bloch und Lukács – beide hatte er mitorganisiert – warf man ihn aus dem Verband.
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SINN UND FORM 5/2013, S. 707-714
Luschnat, David
Die Nacht schmilzt wie Wachs. Gedichte, S. 715
Bulla, Hans Georg
Die meergrauen Seiten. Gedichte, S. 718
Augé, Marc
Alter, Zeit und Gedächtnis, S. 721
Feßmann, Meike
Vom Aufbewahren der Erinnerungen. Über Marica Bodrozic, S. 731
Nadolny, Sten
»Das Schweigen gehört dazu«. Ein Gespräch über das Gespräch mit Florian Welle, S. 739
Klein, Georg
Die Melodika, S. 751
Hartwig, Ina
Mit dem Kitsch gegen den Kitsch. Über den Vermeidungsartisten Georg Klein, S. 757
Pietraß, Richard
Dichter offener Wunden. Grabrede für Rolf Haufs, S. 762