
[€ 9.00] ISBN 978-3-943297-02-7
Heft 6/2011 enthält:
Zagajewski, Adam
Ich kann keine Erinnerung an Czeslaw Milosz schreiben, S. 725
Barnes, Julian
Dachskrallen. Jules Renards »Natur-Geschichten«, S. 732
Kinsky, Esther
Unter Raben, S. 739
Krauß, Angela
Das im Leben verborgene Gedicht, S. 743
Im Frühling 2005 war es, als mich Paul Michael Lützeler im Rahmen des Max-Kade-Programms an die Washington University nach St. Louis einlud, mit (...)
Krauß, Angela
Das im Leben verborgene Gedicht
Im Frühling 2005 war es, als mich Paul Michael Lützeler im Rahmen des Max-Kade-Programms an die Washington University nach St. Louis einlud, mit seinen Studenten zu arbeiten.
Im Jahr vorher hatte ich die Frankfurter Poetikvorlesungen gehalten, in St. Louis ging es um Seminare, also um Austausch, zudem auf der anderen Seite der Welt, das war etwas anderes. So wollte ich es auch machen: anders.
Ich stellte mir meine Seminare vor wie ein ins Leben eingespieltes Prosastück.
Es wurde ein Drama.
Es hatten sich acht Studenten eingeschrieben, vier Amerikaner, vier Deutsche. Im Jahr ihres Masterabschlusses, sie hatten eine literaturwissenschaftliche akademische Laufbahn im Blick. Zweifellos von ihrem Jahrgang die jeweils vier intelligentesten deutschen und amerikanischen jungen Menschen, begierig darauf zu forschen, zu lehren, Kritiken zu schreiben.
Es war Frühjahr, sie brauchten nur noch ein paar Prüfungen.
Zur Überraschung aller, auch zu meiner eigenen, war ich das erste lebende Exemplar der Gattung, deren Hervorbringungen sie mit ihrem frischen Wissen und einem bestrickend freimütigen Zugriff zu analysieren verstanden.
Beinahe wären sie damit in ihr Leben gestartet, ohne Verdacht zu schöpfen.
Aber nur beinahe.
Kurz vor dem Ziel war jemand aufgetaucht, der in so lebendiger Präsenz nicht im Bild vorgesehen war. Dessen bloße Anwesenheit die Versuchsanordnung änderte: eine lebende Schriftstellerin.
Ich warf, nachdem wir uns alle dieser Situation bewußt geworden waren, meine Seminarvorbereitungen über den Haufen.
Denn ich dachte bis jetzt, sie wüßten … (von unsereinem).
Vielleicht ist der Gedanke, die Wissenschaft weiß nicht, doch schwer denkbar.
Nein, meine Erfahrungen mit Kritikern sind nicht etwa frustrierend, nicht mal enttäuschend. Ich halte lediglich meine Erwartungen in Schach. Mein Verhältnis zu dieser Seite meines sogenannten Berufslebens ist eines der Suche. Nach Erkenntnis natürlich. Der Literaturwissenschaftler als solcher ist für mich eine noch immer unergründete Spezies. Zwar solide eingeordnet ins Literaturleben, ja, es nicht selten sogar ausmachend, dennoch – für mich hat er sein Wundersames nicht verloren.
Als etwas Unentdecktes müssen mich meine acht Hochintelligenten wohl ihrerseits angesehen haben. Und das ausgerechnet kurz vor den Prüfungen.
Bisher war eigentlich alles klar. Sie verfügten über Methoden der Analyse und setzten bei der Schriftstellerin Methoden der Konstruktion voraus.
So hatten sie es gelernt: Wie hat sie es gemacht?
Das war ihre Frage, das wollten sie von mir wissen.
St. Louis ist unbedingt eine Reise wert.
Aber eine einzige Fahrt auf dem menschenleeren Martin Luther King Boulevard, auf dem ein einzelner schwarzer Mann ziellos vor sich hinjagt, reicht aus, um sicher zu sein: Man fliegt nicht um die halbe Welt, um acht Hochbegabten zu erklären, der Dichter habe eine Methode, die der Literaturwissenschaftler entschlüsselt.
Falls eine solche Vereinbarung besteht, und es kann einem gelegentlich so vorkommen, so beruht sie von seiten der Wissenschaft auf Überzeugung aus reinem Herzen. Von seiten des Dichters auf einem Seufzer.
Hatte ich so weit reisen dürfen, um meine Chance zu bekommen?
Ich ergriff sie spontan – um diese Vereinbarung einmal und für immer (kurz bevor es zu spät ist) in Frage zu stellen. Ich verwarf also meine Seminarvorbereitungen und nutzte das große Appartement, um mir auf dem weißen, fünf Zentimeter tiefen amerikanischen Flauschteppich neue Dramaturgien auszudenken. Die Fensterwand schenkte einen unvergeßlichen Blick auf den Park, der einst auf dem Areal der Weltausstellung 1904 entstanden ist, jener Weltausstellung, die nach einem Jahr triumphal endete mit der Präsentation der neuesten Erfindung: dem gleichzeitigen Erglühen von viertausend Glühbirnen.
Erleuchtung! So sollte es sein.
Ich setze auf Anverwandlung als Erkenntnisweg. Als Poetin halte ich ihn für den verläßlichsten. Meine lieben, mir anvertrauten zukünftigen Literaturforscher sollten auf die andere Seite kommen. Auf unbekanntes Gebiet. Ich mußte sie also auf meine Seite locken. Wie könnte das gelingen?
Mir schien, durch eine Erinnerung an etwas so Vertrautes wie Unverdächtiges: an das Aufsatzschreiben. Ich beschloß, ihnen den Einstieg mit dem ersten Satz zu erleichtern, indem ich ihn vorgab.
Erster Satz: Am Tag, als die Mauer fiel, war ich … Jahre … Tage alt.
(Ich verschwieg, was ich ihnen mit dem vorgegebenen ersten Satz ersparte bzw. schenkte. Von all dem wußten sie nichts, gar nichts wußten sie.)
Kommentar, prompt und durchaus scharf, meiner Primus-Kandidatin: Ich bin Wissenschaftlerin, ich sage nicht ich.
Ich atmete durch.
Ich erinnerte sie, wohl um die jähe Polarisierung abzuschwächen, an den Vortrag einer Linguistin über die Wirkung von Fachsprache in der Öffentlichkeit. Der entschiedene Impuls des geschädigten Subjekts »Ich zeige Sie an« – erscheint in der Fachsprache als »Sie werden zur Anzeige gebracht«. Was geschieht hier? Das Subjekt hat die Verantwortung abgegeben an eine Instanz, die dem Gebot der Objektivität folgt. Das Subjekt wird unsichtbar. Es ist verschwunden.
Genau, bemerkte meine Prima ungerührt.
Wie war das, dachte ich: Wozu reist man um die halbe Welt? Offenbar um es auf der anderen Seite zu erfahren, wozu. Ich schwieg. Sollte ich jetzt etwas erklären, sollte ich jetzt so tun, als wüßte ich etwas, das sich erklären läßt? Nur weil ich zehn Stunden geflogen war, eingeflogen wurde auf Kosten einer der angesehensten amerikanischen Privatuniversitäten, und jetzt vorne stand und weiterwissen mußte?
Dichtung sagt: Ich. Hier bin ich.
Dichtung sagt: Ich meine dich!
Ich dachte, ich sollte meine acht Blitzgescheiten dazu bringen, sich selbst in diesen Zustand zu begeben. Damit sie, und sei es nur einmal, erfahren, aus welcher Haltung heraus Literatur entsteht.
Die Gruppendynamik war, wie sich zeigte, bestens dazu geeignet. Es reichte ein Gegenüber von sieben Kommilitonen, mit denen jeder um souveräne Objektivität konkurrierte, um den Rückfall ins Gegenteil als Zumutung, ja als Desaster zu empfinden.
Meinen ersten Satz las ich eine Woche später achtmal in etwa folgender Vervollständigung: Am Tag, als die Mauer fiel, war ich sieben Jahre und einundsechzig Tage alt. Am Tag, als die Mauer fiel, war ich acht Jahre und zweihundertdreiunddreißig Tage alt. Am Tag, als die Mauer fiel, war ich fast sieben Jahre alt, zwei Tage fehlten noch.
(Ich ließ mir meine Erschütterung nicht anmerken. Ich hatte gehofft, sie wären wenigstens in der Pubertät gewesen, als die Mauer fiel. Schließlich waren sie jetzt erwachsen. So wie ich. Irgendwie. Offenbar hatten sie mich nicht weniger verwirrt als ich sie.)
Betrachtet euch nicht im Alter von sieben Jahren, seid es! rief ich.
Seid sieben Jahre!
Planen Sie ein öffentliches Vorlesen der Arbeiten?
Damit sei zu rechnen, gab ich bekannt.
Schweigen.
Ich werde meinen Master mit eins machen.
Es war nur geflüstert.
Schweigen.
Was wollen Sie von uns?
Und was wollen Sie von mir? konterte ich.
Wir wollen wissen, wie Sie es machen. Müssen wir dafür gequält werden?
Ja! rief ich. Aber nur einmal.
Truman Capote war, während er an seinem letzten Roman schrieb, sechsmal in der Nervenklinik. Rilke wurde von manisch depressiven Schüben heimgesucht, erst nach den Duineser Elegien wagte er zu sagen: Ich bin.
Virginia Woolfs Tagebuch ist voll von Fragen wie: Wohin gehen denn die Leute immer nur so zielstrebig?
Meine lieben, klugen, bewunderten acht, die ihr der schönen Literatur so anhängt, daß ihr in ihrer Nähe leben und von ihr erzählen wollt, erfühlt nur einmal, woher sie kommt, wie sie entsteht und – großer Gott – warum.
WOHER?
[...]
SINN UND FORM 6/2011, S. 743-757
Mertes, Michael
Geometrie, Himmelsmechanik und Kosmologie der Liebe. Über John Donne, S. 758
Donne, John
Liebesgedichte. Übertragen von Michael Mertes, S. 762
Pomeranzew, Igor
Gespräch mit Joseph Brodsky über John Donne, S. 782
Brodsky, Joseph
Große Elegie an John Donne, S. 787
Deckert, Renatus
»Das ist eine untergegangene Welt.« Gespräch mit Richard Wagner, S. 793
RENATUS DECKERT: Ihre Eltern haben Sie Richard Wagner genannt. Das kann ja kaum Zufall sein. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Eltern (...)
Deckert, Renatus
»Das ist eine untergegangene Welt«.
Gespräch mit Richard Wagner
RENATUS DECKERT: Ihre Eltern haben Sie Richard Wagner genannt. Das kann ja kaum Zufall sein. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Eltern leidenschaftliche Wagnerianer waren?
RICHARD WAGNER: Mein Vater war tatsächlich Wagnerianer. Hinzu kommt, daß er in seiner Jugend ein eher ungewöhnliches Instrument spielte, nämlich Waldhorn. Das war nicht sehr verbreitet. Er war in einem Laienorchester, das Ouvertüren und dergleichen mehr spielte, und da hatte er einmal einen Einsatz mit seinem Waldhorn. Das ist ihm in Erinnerung geblieben. Seitdem hat er sich immer wieder mit Wagner befaßt, so gut er eben konnte. Und 1952, als ich geboren wurde, das war im tiefsten Stalinismus, für die deutsche Minderheit in Rumänien war das eine schlimme Zeit, da haben die Leute ihren Kindern germanische Vornamen gegeben, um zu verhindern, daß sie ins Rumänische übersetzt werden. Meine Landsleute waren ja katholisch, und deshalb hießen sie Franz oder Joseph oder Nikolaus, Katharina oder Elisabeth. Wenn man aber einen solchen Vornamen wählte, wurde der rumänisiert in die Geburtsurkunde eingetragen. Um das zu verhindern, entschied man sich für einen germanischen Namen – und natürlich wollte man damit auch ausdrücken: Wir sind Deutsche. In meinem Fall war das doppelt begründet: Man wählte mit Richard einen germanischen Namen, zugleich war es für meinen Vater die Gelegenheit, seinen Sohn Richard Wagner zu nennen und mir das aufzubürden.
DECKERT: Wo war das denn, wo Ihr Vater im Orchester gespielt hat?
WAGNER: Das war in Perjamosch, wo meine Familie gelebt hat, zehn Kilometer von Lovrin entfernt, wo ich geboren wurde. Das war ein größeres Dorf mit 6000 Einwohnern, ein wenig kleinstädtisch schon. Und da leistete man sich in den Sommerferien einen Kapellmeister. Der kam aus Temesvar, der Regionalhauptstadt, um mit den jungen Leuten zu proben. Das war in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
DECKERT: Besaß Ihr Vater denn einen Plattenspieler, um Wagner zu hören?
WAGNER: Mein Vater ist früh von zu Hause weg. Er hat eine Lehre gemacht auf einer Wassermühle und ist 1939 zur rumänischen Armee eingezogen worden. Als der Krieg kam, blieb er bei der Armee. Er war bei der Flußmarine, und da fuhr er den Krieg über die Donau auf und ab; sie hatten die Aufgabe, den Fluß zu kontrollieren. Und da kam er viel herum, auch in die großen Städte. Ich nehme an, daß er dort Schallplatten gehört hat. Denn bei uns zu Hause gab es nach dem Krieg überhaupt nichts mehr. Als sich im September 1944 die Front näherte, sind die Leute geflohen, meine Familie bis nach Österreich. Und als sie 1945 zurückkamen, war das Haus völlig ausgeplündert, da standen bloß noch die Mauern. Ja, und später, in den fünfziger Jahren, als ich geboren wurde, da galt Wagner in Rumänien als Wegbereiter des Nationalsozialismus. Er wurde nicht aufgeführt, und auch Schallplatten konnte man keine kaufen.
DECKERT: Ihr Vater, sagten Sie, war von Beruf Müller. Welchem Milieu entstammte Ihre Familie?
WAGNER: Diese Dörfer sind ja im 18. Jahrhundert buchstäblich auf dem Reißbrett angelegt worden, und zwar von den Wiener Beamten, die die Kolonisation des Banats organisierten. Die Habsburger waren vorbildlich in ihrer Siedlungspolitik, sie haben das genau geplant. Und es hat ja dann auch wirklich funktioniert; das moderne Banat war in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts einer der großen Lieferanten landwirtschaftlicher Produkte; das weiß man heute gar nicht mehr. Damals, als man daranging, diese neuen habsburgischen Gebiete zu kolonisieren, wurden zielgerichtet Leute angeworben, die Banater Schwaben, wie sie später hießen, die ihrem Selbstverständnis nach übrigens nicht einfach Auswanderer waren, sondern Kolonisten, Siedler. Nichts überließ man dem Zufall. Jedem Dorf ordnete man eine bestimmte Anzahl von Bewohnern zu, abhängig vom Beruf. Die größte Zahl waren Bauern, und dann rechnete man, wie viele Handwerker und welche Berufe man sonst noch braucht in einem Dorf. Ich selbst komme väterlicherseits aus einer Handwerkerfamilie, das waren alles Müller, über Generationen hinweg. Bis zu mir hießen die alle Nikolaus Wagner, das kann man zurückverfolgen bis ins 18. Jahrhundert. Und zwar haben sie Flußmühlen betrieben. Die standen auf zwei fest verankerten Kähnen im Fluß, dazwischen befand sich das Mühlrad, das von der Strömung angetrieben wurde; und so wurde gemahlen. Das ging so bis in die zwanziger Jahre, als die ersten Motormühlen aufkamen. Dann starben die Flußmühlen aus, die Müller verloren ihre Selbständigkeit. Auch mein Großvater mußte aufgeben, er wurde dann Angestellter in einer dieser neuen Motormühlen. Das war ein ziemlicher Bruch in der Lebensweise dieser Leute.
DECKERT: Wie hatten sie vorher gelebt?
WAGNER: Sie hatten eine gewisse Souveränität, nicht nur in ihrem Selbstverständnis; sie lebten in einer eigenen Siedlung am Fluß, an der Marosch. Das Dorf war ja ein paar Kilometer vom Fluß entfernt, wegen der Überschwemmungsgefahr lag es auf einem Hügel. Man hatte auch einen Damm gebaut, Anfang des 19. Jahrhunderts. Und in der Au, zwischen dem Fluß und dem Damm, befand sich die Siedlung der Wassermüller; die hatten dort ihre Mühlen. Und im Winter, wenn der Fluß vereiste, das waren ja harte Winter dort, mußten diese Mühlen an Land gebracht werden; im Frühjahr ließ man
sie dann wieder zu Wasser. Deshalb wohnten die Müller am Fluß in der Au. Ihre Häuser waren nicht aus Stein, sondern sie bestanden traditionell aus Holzbalken und einem Weidengeflecht, das man mit Lehm verkleidete, wegen der Überschwemmungen. Wenn im Frühjahr das Eis schmolz, stellten sie ihre Sachen auf den Dachboden, und das Hochwasser schwemmte zwar den Lehm weg, aber das Weidengeflecht und die Holzstützen blieben erhalten; den Häusern passierte im Grunde nichts. Wenn das Wasser wieder weg war, hatten die Leute Arbeit; dann wurde das alles zugekleistert, bis es wieder in Ordnung war. Die arbeiteten auch nicht das ganze Jahr über, sie hatten ja nur zu tun, wenn etwas zu mahlen war. Im Winter trafen sie sich in ihrem Wirtshaus zum Kartenspielen, und dabei wurde viel erzählt. Sie hatten eine sehr ausgeprägte Erzähltradition, und zumindest die blieb erhalten. Ich habe das alles ja nicht mehr erlebt, aber das wurde dann weitergetragen in den Gesprächen der Familie, und deshalb weiß ich heute einiges über die Lebenswelt dieser Müller.
DECKERT: Und was machte die Familie Ihrer Mutter?
WAGNER: Mein anderer Großvater, der Vater meiner Mutter, war Wagnermeister. Er baute Leiterwagen für die Bauern, richtige Pferdewagen. Räder schnitzen, Felgen legen – das machte er alles, und wenn etwas kaputtging, dann reparierte er es. Noch in den fünfziger Jahren hatte er seine Werkstatt. Als Kind fühlte ich mich zu der Drehbank hingezogen, aber damit durfte ich nicht spielen, denn dort ging es ja zur Sache. Da lagen die Messer, mit denen gedrechselt wurde. Zu der Zeit hat er schon schwarz gearbeitet. Die Kommunisten wollten diese Gewerbe in Genossenschaften zusammenfassen, aber er hat sich geweigert, und da haben sie die Steuern so lange erhöht, bis er sie nicht mehr bezahlen konnte. Meine Mutter war in der gleichen Lage, sie war Schneiderin und sollte auch so hohe Steuern zahlen. Da haben sie beide aufgegeben und ihre Gewerbe abgemeldet. Und dann haben sie schwarz gearbeitet. Ich kann mich gut an diese Atmosphäre erinnern, im Haus und im Hof, da lag immer etwas wie Gefahr in der Luft. Das Tor war stets abgesperrt, und mir wurde gesagt, ich soll es nicht aufmachen. Der Hund war im Hof und bellte, wenn jemand am Tor erschien. Es sollte ja keiner wissen, daß da schwarz gearbeitet wird. Aber natürlich wußte das das ganze Dorf, schließlich hat das ganze Dorf schwarz gearbeitet. Und das blieb auch den Behörden nicht verborgen. Daß die Leute Schnaps brannten, das roch man ja. Aber das war illegal, weil der Staat das Schnapsmonopol hatte. Man hätte eine Genehmigung gebraucht, aber so etwas hatte keiner. Die haben aus Pflaumen Schnaps gebrannt. Dazu haben sie sich Schnellkochtöpfe angeschafft, die sie zu Destillieranlagen umbauten; die Kupferrohre haben sie in irgendwelchen Betrieben geklaut. Am Ende dieses Prozesses tropfte da der Schnaps heraus. Und der wurde dann zweimal, also doppelt gebrannt, damit er auch die richtige Balkanstärke hatte.
DECKERT: Und das machten alle im Dorf?
WAGNER: Ja, und das wußten die Behörden auch. Die Sache war die: Sie versuchten gar nicht erst, das zu unterbinden; das wäre auch schwierig gewesen. Aber wenn sie etwas gegen jemanden hatten oder wenn einer politisch aufgefallen war oder ihnen nicht paßte, dann benutzten sie das als Vorwand, um gegen den Betreffenden vorzugehen.
DECKERT: Wie hat Sie das als Kind geprägt, wenn immer das Hoftor geschlossen war? Sie waren ja ganz auf sich gestellt.
WAGNER: Ich war im Grunde gerne allein; ich war ein Einzelkind und kam gut damit zurecht. Ich habe sehr viel gelesen. Aber es gab auch in der Nachbarschaft zwei Jungen, mit denen ich oft zusammen war. Das war eine gemischte Familie, wie das im Banat häufig der Fall war, weil dort ja mehrere Bevölkerungsgruppen aufeinanderstießen. Außer den Banater Schwaben, also Deutschen, lebten dort Ungarn, Rumänen, Serben und Zigeuner. Die Mutter, die eigentlich Deutsche war, sprach Ungarisch mit ihren Kindern und mit ihrem Mann, der Serbe war. Aber die Jungen gingen auf die deutsche Schule, und damit sie Deutsch lernten, sollte ich mit ihnen spielen. Deshalb war ich häufig bei denen im Hof, wenn ich nicht gerade in meine Lektüren vertieft war.
DECKERT: War denn Ihr Großvater, der Wagnermeister, ein wichtiger Ansprechpartner für Sie?
WAGNER: Als ich elf oder zwölf war, da fing das an, daß ich mit meinem Großvater Gespräche geführt habe, politische Gespräche, denn mein Großvater war sehr politisch. Und in seiner illegalen Werkstatt gab es immer so eine Runde von Rentnern, die sich dort trafen, seine Freunde, die alle im Ersten Weltkrieg gewesen waren, das war ihr Grunderlebnis. Sie sprachen immer vom Ersten Weltkrieg; der Zweite interessierte sie nicht, weil sie da nicht direkt dabei waren. Wenn es um den Zweiten Weltkrieg ging, redeten sie immer nur von den Folgen. Beim Ersten Weltkrieg wußten sie alles bis ins Detail. Ich durfte bei diesen Gesprächen dabeisein, und da habe ich sehr viel gelernt über Geschichte und Herkunft. Als Angehöriger einer Minderheit muß man sich ja immer darüber definieren. Man lebt in einem Land, in dem eine andere Sprache die Amtssprache ist, die eigene Muttersprache wird nur von einer Minderheit gesprochen. Danach fragen einen immer die Leute, und da muß man erklären, warum das so ist. Also stellt man sich schon sehr früh solche Fragen: wer man ist und warum. Von diesen Dingen habe ich in dieser Werkstatt sehr viel mitgekriegt. Und ich fing auch an, Zeitung zu lesen. Mein Großvater hatte ein Abonnement der zentralen deutschsprachigen Zeitung, die unter dem schönen Titel »Neuer Weg« in Bukarest erschien; das war zwar auch eine gleichgeschaltete Presse, aber sie war auf Deutsch. Und dann sprachen wir eben über das, was wir in der Zeitung gelesen hatten.
DECKERT: Zu Hause sprachen Sie Deutsch. Wo hat man Rumänisch gelernt?
WAGNER: Das war ganz unterschiedlich, je nachdem, wo man aufwuchs. Manche Dörfer waren von den Ethnien her gemischt, da hat man es von den Nachbarn gelernt. In unserem Dorf lebten bis 1945 kaum Rumänen. Einige Leute aus der Verwaltung, die der Staat dahin geschickt hatte, und ein paar Tagelöhner, die als Saisonarbeiter auf den Gütern der deutschen Bauern arbeiteten. Nach der Flucht der Deutschen bei Kriegsende hat sich das geändert. Von ehemals 6000 Leuten ist nur die Hälfte zurückgekehrt, und so wurde das Dorf aufgefüllt, mit Flüchtlingen aus den ehemaligen rumänischen Ostgebieten, aus Bessarabien und der Bukowina. Das hat sich Stalin 1945 ja zurückgeholt. Und eine solche Flüchtlingsfamilie wohnte auch bei uns in der Nachbarschaft. Von den Kindern habe ich Rumänisch gelernt, auf der Straße, beim Spielen. Und dann hatten wir ja auch auf der deutschen Schule ein Fach Rumänisch und rumänische Literatur. Da habe ich das ergänzt. Meinem Rumänisch merkt man bis heute das Ländliche an, weil ich es damals von Bauern gelernt habe.
DECKERT: Welche Rolle war denn der deutschen Minderheit zugedacht?
WAGNER: Zunächst einmal wäre zu sagen, daß dieses Rumänien in seiner heutigen Gestalt ja ein Land ist, das nicht zu Ende gedacht war. Nach dem Ersten Weltkrieg wollte man zum einen das Habsburgische Reich zerschlagen, zum anderen die neu entstehende Sowjetunion blockieren. Man schuf den sogenannten Cordon sanitaire, darin nahm Rumänien eine Schlüsselstellung ein. Als Resultat des Weltkriegs hat es sein Territorium verdoppelt. Bis zu diesem Zeitpunkt lebten die Banater Schwaben nicht in Rumänien, sondern sie waren eine Bevölkerungsgruppe in der k.u.k.Monarchie. Und dann, mit einem Schlag, über Nacht, ohne das Dorf zu verlassen, sind meine Großeltern rumänische Staatsbürger geworden. Sie kannten weder die Sprache, noch wußten sie viel über Rumänien. Und dann waren sie eben da. Unter den Kommunisten kam den Deutschen eine ausgleichende Rolle zu. Was die ethnischen Konflikte betrifft, waren ja nicht sie das Problem, sondern die ungarische Minderheit, die noch viel größer war; bis heute gibt es in Siebenbürgen territoriale Streitigkeiten. Die Deutschen sah man als Ausgleich zwischen Rumänen und Ungarn, als den Dritten in dieser Konstellation. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele meiner Landsleute aber erst einmal zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Die anderen hat man enteignet. Uns nahm man das Haus weg, wir durften nur darin wohnen; erst nach zehn Jahren gab man es uns zurück. Also, die Deutschen hatten nichts. Und das führte dazu, daß man die Kinder in die Schulen schickte; sie sollten studieren. Denn das, was man im Kopf hat, kann einem niemand mehr wegnehmen. Und so kommt es, daß es in der deutschen Minderheit überdurchschnittlich viele Ingenieure gibt. Die sind später alle nach Deutschland gekommen. Denn das Geschäft mit der Ausreise wurde für das kommunistische Regime immer wichtiger, weil es Geld brauchte. Das fing in den fünfziger Jahren mit den rumänischen Juden an, die man an Israel verkaufte. Nach diesem Modell wurden ab den siebziger Jahren die Deutschen verkauft. Ceaus¸escu, mit diesem ganzen Wahnsinn, den er betrieb, brauchte Devisen, und so wurde dann Kopfgeld gezahlt, so ähnlich wie für die DDR-Bürger. Auf diese Weise wurden wir immer weniger. Inzwischen gibt es nur noch sehr wenige Deutsche in Rumänien. Die meisten leben heute in Deutschland.
[...]
SINN UND FORM 6/2011, S. 793-813
Wodin, Natascha
Das Ausland des Alters, S. 814
Zuerst hatte sie geglaubt, die Schwäche, mit der sie eines Morgens aufgewacht war, sei eine der ganz gewöhnlichen kleinen Unpäßlichkeiten, die (...)
Wodin, Natascha
Das Ausland des Alters
Zuerst hatte sie geglaubt, die Schwäche, mit der sie eines Morgens aufgewacht war, sei eine der ganz gewöhnlichen kleinen Unpäßlichkeiten, die kamen und genauso schnell wieder gingen, spätestens nach der nächsten Nacht mit erholsamem Schlaf. Doch am nächsten Tag, Lea hatte acht Stunden lang tief und entspannt geschlafen, war die unerklärliche Schwäche immer noch da. Am Tag darauf und eine Woche später immer noch. Alles fiel Lea auf einmal schwerer als bisher, das Aufstehen von ihrem Bett, das Ankleiden, sogar das Zähneputzen. Fast alles, was bisher völlig unmerklich vor sich gegangen war, forderte jetzt zwar keine große, aber doch eine deutlich fühlbare Kraftanstrengung. Ging sie hinunter auf die Straße, um etwas zu erledigen, fühlte sie sich schon zwei Häuser weiter so erschöpft, daß sie am liebsten umgekehrt wäre. Der Weg bis zu dem kleinen Supermarkt in der Nachbarstraße war weiter geworden, die Tasche mit den Einkäufen schwerer, die Treppe bis zu ihrer Wohnung höher. Es schien ihr, als müsse sie bei jeder Bewegung irgendeinen unsichtbaren Widerstand überwinden, eine Kraft, die sich ihr ständig von außen entgegenstellte. Ähnlich hatte Lea sich nur vor langer Zeit einmal in den Tropen nahe dem Äquator gefühlt, in jener schweren, zähen Luft, durch die man wie durch Wasser watete. Was war los mit ihr? Was ging vor sich im unheimlichen Dunkel ihres Körpers? War es nun soweit, war dies der Anfang der früher oder später unabwendbaren Krankheit zum Tode?
Leas Ärztin ordnete die üblichen Untersuchungen an, aber die Befunde waren alle negativ. Lea litt schon seit Jahren an der Alterskrankheit Nummer eins, an essentieller Hypertonie, die mit erhöhtem Cholesterinspiegel einherging, beide Leiden wurden mehr oder weniger erfolgreich mit dem üblichen Medikamentencocktail in Schach gehalten, was Lea ein paar unangenehme, aber nicht schwerwiegende Nebenwirkungen einbrachte. Die Schwäche kam ganz offensichtlich aus einer anderen Quelle, aber diese war nicht auszumachen. Die Ärztin schickte Lea wieder nach Hause, vielleicht handelte es sich um einen harmlosen Infekt, um eine vorübergehende Erschöpfung, die von selbst wieder vergehen würde. Aber nichts verging, vier Wochen später war die Schwäche immer noch da. Die Ärztin überwies Lea zum Herzspezialisten, zum Internisten, es wurden neue Blut- und Urinproben genommen, Darmspiegelung, Sonographien, Computertomographien. Lea erwartete das Schlimmste, aber wieder gaben die Befunde keinerlei Hinweis auf eine Erkrankung. Mal ging es Lea besser, ein paar Tage lang fühlte sie sich wieder fast wie früher, schon glaubte sie sich wieder ins Leben entlassen, aber dann holte die unerklärliche Schwäche sie um so unerbittlicher wieder ein, und nach und nach begann ihr zu dämmern, daß es sich hier nicht um eine Krankheit handelte, und wenn, dann um eine ganz allgemeine, dem Leben immanente Krankheit, von der die gesamte Menschheit befallen wurde, die Krankheit zum Tode namens Alter.
Lea erlebte gerade ihren dreiundsechzigsten Sommer und war nach heutigen Maßstäben noch nicht wirklich alt zu nennen, von den prominenten Methusalems, die zum Inventar jeder Talkshow über die neue Langlebigkeit gehörten, war sie noch weit entfernt, aber trotz immer mehr Fitness, Wellness und High-Tech-Medizin lebten auch heute noch viele Menschen nicht länger als ihre Eltern. Vor kurzem hatte ein ehemaliger Mitschüler Lea nach Jahrzehnten ausfindig gemacht, er lebte immer noch in der ländlichen Kleinstadt von damals und wußte, daß sich von den einst vierundvierzig Sieben- bis Achtjährigen, die auf einem historischen Klassenfoto zu sehen waren, kleine Nachkriegsjungen und -mädchen mit Strickstrümpfen und hungrigen Gesichtern, inzwischen bereits sechs oder sieben unter der Erde befanden. Das waren erschreckende dreizehn bis sechzehn Prozent.
Auch in Leas Freundeskreis waren bereits Tote zu beklagen. Als erster war Dinesh gegangen, ein sanfter, samthäutiger Inder, mit dem Lea einst in einer Wohngemeinschaft zusammengewohnt hatte, ein Nichttrinker, Nichtraucher, Vegetarier, der innerhalb weniger Monate an einer unheilbaren Autoimmunerkrankung gestorben war, noch nicht einmal sechzig Jahre alt. Dann war Elvira, ebenfalls eine Freundin aus der damaligen Zeit, an Blasenkrebs erkrankt, man wußte nicht, was sie schließlich zerstört hatte, der Krebs oder die höllischen Therapien.
Vor kurzem war Lea in einer Zeitschrift auf das Foto einer Kultautorin der achtundsechziger Jahre gestoßen. Lea hatte sie vor langer Zeit einmal auf einem Friedenstribunal kennengelernt. Toll, daß du auch schreibst, hatte sie zu Lea gesagt, während sie in der Mittagspause einander an einem Tisch gegenübersaßen und Spargel aßen. Lea war erglüht vor Glück, die Göttin der damaligen Literatur hatte sie fast in ihren Olymp geholt, und gleichzeitig hatte Lea sich gefühlt wie im Blick einer Boa constrictor, während die berühmte Autorin sie über den Tisch hinweg mit ihren kristallblauen Augen anblitzte und sich die aufgespießten Spargelstangen eine nach der anderen in die kolossale Öffnung ihres weit aufgerissenen Mundes schob. Nach dem Tribunal war sie auf ihrem Motorrad davongebraust, ein Feuervogel, eine Himmelsstürmerin in einer prall gefüllten schwarzen Lederkluft, mit einem wilden, rot flammenden Haarbusch. Etwa fünfundzwanzig Jahre später war sie tot, sie war nur achtundfünfzig Jahre alt geworden. Das Foto in der Zeitschrift zeigte eine Sterbende. Den Rest eines Menschen, eine gewichtlos gewordene, an einen Baumstamm gelehnte Gestalt, die Zuflucht, Rettung bei diesem Baum zu suchen, in ihn hineinkriechen zu wollen schien, ein transparent gewordener Körper, der bereits ins Formlose überging.
Das Leben ist so kurz … das Leben vergeht so schnell … wie formelhaft und nichtssagend hatten diese Klagen alter Menschen einst in Leas jungen Ohren geklungen. Nun verstand sie zum ersten Mal, was gemeint war. Sie war noch gar nicht dazu gekommen, sich zu orientieren, zu begreifen, wo sie überhaupt war, sie fühlte sich noch am Anfang, in den Startlöchern des Lebens, und schon hatte das Ende ihr einen ersten großen Gongschlag gesandt. Alles, ihr ganzes Leben war unwirklich, aber nichts so unwirklich wie das Alter, vor dem sie jetzt stand. Es kam ihr vor wie ein Spuk, ein böser Traum, aus dem sie jeden Augenblick erwachen mußte. Bei Simone de Beauvoir las sie: »Ich bin vierzig Jahre alt. Als ich mich von diesem Staunen erholt hatte, war ich fünfzig. Die Betroffenheit, die mich damals befiel, hat sich nicht mehr gegeben.« Und: »Eine nach der anderen werden die Bindungen brüchig werden, die mich auf der Erde zurückhalten, eine nach der anderen werden sie zerreißen … Die ganze Musik, die ganze Malerei, die ganze Kultur, so viele Bindungen: plötzlich bleibt nichts mehr.«
Der aus dem Dunkel der Vergangenheit aufgetauchte Mitschüler, den Lea nach über einem halben Jahrhundert tatsächlich noch auf dem Klassenfoto erkannt hatte, hatte ihr auch ein aktuelles Foto von sich geschickt. Im Vergleich mit dem kleinen schmächtigen Jungen mit dem Mädchengesicht und der Haarklemme in den ungehorsamen Locken wirkte der Dreiundsechzigjährige monströs. Er war nicht dick, aber in seiner Gestalt, so schien es, hätten zehn Jungen von damals Platz gehabt. Wieviel Körper, wieviel Fleisch der Mensch doch anhäufte im Lauf seines Lebens! Im Vergleich mit dem einst so zarten Kindergesicht wirkte das jetzige erschreckend grobschlächtig, anmutlos, es war schlechthin ein anderes, ein völlig anderes Gesicht als das des einstigen Jungen. Und trotz seiner gewaltigen Expansion war das Fleisch dieses Körpers, man sah es deutlich, schon wieder ein vergehendes, abnehmendes, eine verschrumpelnde, von beginnender Austrocknung gezeichnete Frucht. Dürres, ergrautes Haar, ein vom Leben zerfurchtes, durchpflügtes Gesicht, das Lea die Wahrheit über ihr eigenes Alter spiegelte.
So also begann es, dachte sie. Es kam nicht nach und nach, wie man sich das vorstellte, sondern ganz plötzlich, mit einem Ruck, nachts, während man schlief. In einem einzigen Augenblick bildete sich im abgenutzten Körper ein Riß, ein Leck, durch das die Kraft auszulaufen begann. Und wenn man aufwachte, war man alt geworden, ohne zu begreifen, was einem geschehen war. Sie mußte an ihren alternden Vater denken, der vor langer Zeit gestorben war. Die Zeit schien immer mehrere Jahre in seinem Körper stillgestanden zu haben, er sah jedes Mal gleich aus, wenn Lea ihn besuchte, einen Sommer lang, einen zweiten und auch einen dritten, aber dann machte sie einen Sprung, und plötzlich, wenn Lea ihn nach ein paar Wochen wieder sah, war er um Jahre gealtert. Nun hatte die Zeit auch in ihr so einen Sprung gemacht, nicht den ersten natürlich, das ganze Leben bestand aus solchen Sprüngen, aber dieser war ein qualitativ anderer, er hatte in eine andere Dimension geführt, wie sonst vielleicht nur in der Kindheit mit ihren jähen, einschneidenden Entwicklungssprüngen. Der Kreis der Zeit hatte sich zu schließen begonnen. Lea war angekommen in ihrem Namen, der auf das hebräische Le’ah zurückging und »die Ermüdete« hieß, sie war hineingealtert in ihren Namen, identisch geworden mit ihm.
Früher hatte sie alte Menschen oft beneidet. Sie hatten das geschafft, was ihr selbst unmöglich erschien. Sie hatten ihr Soll an Jahren erfüllt, die gesamte Lebensstrecke zurückgelegt, ohne unterwegs zu verunglücken. Es war ihnen auf wundersame Weise gelungen, über alle Klippen und Abgründe des Alltags zu kommen, das Leben zu überleben. Sie hatten die Lebensnorm erfüllt, ihre Pflicht getan und sich die Freiheit der Kür erworben. Sie waren entbunden von allen Zwängen, entlassen in einen Urlaub auf Lebenszeit, in einen Tod, der keine Tragödie mehr war, sondern das natürliche Gebot ihrer Zeit.
Jetzt verstand Lea nicht mehr, warum die Welt nicht voll war von alten Menschen, die schreiend vor Angst durch die Straßen liefen. Wie konnte man es aushalten in so unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Tod? Herrschte in den von alten Menschen bewohnten Gefilden, an deren Eingang Lea stand, so etwas wie Einverständnis mit dem Unabwendbaren, eine stille Ergebenheit, waberte dort ein gnädiger Nebel, der sich um das Grauen legte? Sorgte die alternde Physis dafür, daß auch die Kraft für die Angst allmählich ausging? Büßte das alternde Gehirn nach und nach die Phantasie ein, sich das eigene Ende auszumalen? Nicht erst jetzt begehrte Lea gegen ein Leben auf, das bereits im Augenblick seiner Zeugung den Tod gebar, gegen die unabwendbare Tatsache, daß mit jedem neuen Menschen auch ein neuer Tod in die Welt kam. Wenn hinter der Schöpfung eine Absicht stand, wenn es Gott gab, dann konnte er nur ein Sadist sein. Er hatte eine sterbliche Kreatur erschaffen und ihr gleichzeitig die Angst vor ihrer Vergänglichkeit eingepflanzt, ein Lebewesen, das als Sterbewesen geboren wurde, in jedem Augenblick gefangen in dem unauflösbaren Widerspruch zwischen Vergänglichkeit und Selbsterhaltungstrieb, in einem Leben, das von Anfang an eine Todesfalle war. Es gab Augenblicke, in denen Lea am liebsten selbst das Ende herbeigeführt hätte, um die Wartezeit abzukürzen, um die schreckliche Angst vor dem Ende zu beenden. Oder, so fragte sie sich im nächsten Augenblick, gab es gar keinen Ausweg, war nicht einmal der Tod der Tod des Todes? Wurden wir vielleicht im Augenblick unseres Endes sofort in ein neues Leben und damit in eine neue Todesfalle gestoßen, und das immer wieder, ohne Ende, das Leben als Todesfalle in Ewigkeit? Zum ersten Mal wurde ihr bewußt, daß die Ewigkeit nicht etwas war, das erst nach unserem Tod einsetzte. Die Ewigkeit war jetzt, die Ewigkeit war immer, alles spielte sich in der Ewigkeit ab. Unsere Geburt, unser Leben, unser Tod fanden in der Ewigkeit statt. Wir putzten uns die Zähne in der Ewigkeit, wir telefonierten in der Ewigkeit, die Autos auf den Straßen fuhren durch die Ewigkeit. Es existierte nur die Ewigkeit, immer, in jedem Augenblick war Ewigkeit, und es gab keine Zeit außerhalb von ihr. Genauso wie die Erde ein Ort des Universums war und alles, was auf ihr geschah, im Universum geschah. Die Erde und das Universum waren keine getrennten Orte, sondern ein einziger, unser Wohnort war das Universum, und unsere Uhren tickten in der Ewigkeit.
Mehr und mehr wurde Lea von einer regelrechten Todesmanie, einer Art Thanataphobie ergriffen. Der Tod war nicht mehr ein Ereignis, das sie irgendwann in ferner, noch unsichtbarer Zeit erwartete, er stand unmittelbar bevor, in der nächsten Stunde, in den nächsten fünf Minuten. Die Panik war ihr unentwegt auf den Fersen, sie überfiel sie auf der Straße, im Supermarkt, sie riß sie nachts aus dem Schlaf, sie schlug mitten in sie hinein beim Aufbrühen ihres Frühstückstees oder irgendeiner anderen harmlosen Verrichtung. Wörter wie Leiche, Sarg, Friedhof waren wie Minen in ihrem Kopf geworden. Sie dachte an Epikur. »So ist also der Tod, das schrecklichste Übel«, sagte er, »für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.« Aber das ging an der Sache vorbei. Die meisten Menschen fürchteten sich ja nicht vor dem Tod, sondern vor dem Sterben. Milena Jesenská, die 1944 im KZ Ravensbrück umkam, brachte diese Furcht auf den Punkt: »Ach, könnte ich tot sein, ohne sterben zu müssen.« Es ging nicht um den Tod, sondern um den Übergang, die Nahtstelle zwischen Sein und Nichtsein. An dieser Nahtstelle waren wir sehr wohl noch, wir starben bei lebendigem Leib, wir wurden ermordet. Bei lebendigem Leib wurde uns alles entrissen, was wir waren, alles, was wir liebten, womit wir verwachsen waren, bei lebendigem Leib wurde uns unser gesamter Leib entrissen, während es doch bereits eine Katastrophe für einen Menschen war, eine Hand oder einen Fuß zu verlieren.
Lea begann sich bereits zu fragen, ob sie drauf und dran war, ein Fall für die Psychiatrie zu werden, eine Patientin mit einer Todespsychose, da trat eines jener beiläufigen, alltäglichen Ereignisse ein, die sich plötzlich als schicksalhaft für uns erweisen, unser ganzes Leben verändern. In diesem Fall war es nicht mehr als irgendein winziges elektrisches Teilchen, das kaputtging, vielleicht nur ein bißchen Staub an einer falschen Stelle. Jedenfalls gab Leas Drucker seinen Geist auf. Ausgerechnet jetzt, da sie ihre Arbeit dringender brauchte denn je, das Schreiben als rettenden Strohhalm, als Versteck, das es ihr immer gewesen war, im Grunde immer schon ein Versteck vor dem Tod.
Nachdem sie zwei Tage lang durch die Wüste der Elektronikmärkte geirrt war, mußte sie sich mit dem Gedanken abfinden, daß es offenbar tatsächlich auf dem gesamten Markt keinen einzigen Drucker mehr gab, der mit ihrem etwa sechs Jahre alten, aber noch völlig intakten Rechner kompatibel war. Sie fand sich in der Lage eines Menschen, der einen neuen Wasserhahn brauchte und gezwungen wurde, sich ein neues Bad anzuschaffen.
Lea rief bei der Tauschbörse ihres Kiezes an, in der sie Mitglied war, und tatsächlich hatte jemand einen noch fast neuwertigen Rechner mit allem Zubehör abzugeben. Es kam ein junger Mann, der ihr die neue Technik installierte, und bevor Lea es begriff, war sie ans Internet angeschlossen, das zwar auch damals schon weit verbreitet, aber noch nicht alltäglich war. Im Nu hatte der junge Mann ihr auch so etwas Rätselhaftes wie eine E-Mail-Adresse eingerichtet, obwohl sie gar nicht wußte, was man damit machte und was das gesamte Internet überhaupt war.
Die Existenz von Internetadressen war ihr unbekannt, tagelang klickte sie verwundert und seltsam fasziniert auf den rätselhaften Seiten herum, die auf ihren Monitor sprangen und sie endlos auf neue Seiten führten, in irgendeine unbegreifliche Wüste von Buchstaben, farbigen Bildern und Lichtzeichen. Ihr Rechner wurde zur Camera obscura, die sie in unbekannte Welten entführte, während das Modem leise zwitscherte und fiepte, als würde es Zeichen aus dem Weltraum senden. Der neue Rechner war mit zwei Lautsprecherboxen versehen, so daß sie nicht nur zum ersten Mal vor bewegten Bildern saß, die über ihren Monitor liefen, ihr bis vor kurzem noch völlig stummer Computer sprach plötzlich auch und machte Musik.
Als sie wieder einmal ziellos den zappelnden bunten Bildern folgte, ertönte plötzlich ein Song von Cat Stevens, Musik aus Leas jungen Jahren. Sie hielt inne und hörte zu. I’m bein’ followed by a moonshadow ... Der Song erinnerte sie an eine weit zurückliegende Nacht an einem abgelegenen griechischen Strand, an den es ein paar Rucksacktouristen verschlagen hatte, es wurde Retsina getrunken und Marihuana geraucht, über dem dunklen, leise plätschernden Meer ein Mond wie eine pralle, überreife Orange, und ein bärtiger junger Amerikaner mit Stirnband saß im Sand und spielte Moonshadow auf der Gitarre. Immer wenn Lea den Song wieder hörte, sah sie dieses Bild vor sich, und sie erinnerte sich an das Gefühl einer überwältigenden Freiheit, in die sie aus der tödlichen Enge der fünfziger und sechziger Jahre entkommen war, eine Freiheit, die noch ganz an eine Zukunft mit grenzenlosen Wundern und Verheißungen geknüpft war. Nachdem der Song abgelaufen war, begann er sofort wieder von vorn ... leapin’ and hoppin’ on a moonshadow, moonshadow ... der Bildschirm sendete irgendwelche Signale in Form blinkender roter Herzen aus, und plötzlich erschien zwischen diesen Herzen Text, der eben noch nicht dagewesen war. Das fettgedruckte Wort »Ghostdog«, ein Doppelpunkt und dahinter: Wer bist Du? Es dauerte eine Weile, bis Lea begriff, daß sie gemeint war. Jemand hatte sie angesprochen aus diesem anonymen elektronischen Universum, offenbar irgendein zweiter, lebendiger Mensch. Sie war so perplex, als hätte der ewig stumme Gott sie plötzlich angesprochen, als sei ihm zum ersten Mal ihre Existenz aufgefallen.
Gott war, wie sich herausstellte, ein neunundzwanzigjähriger Elektroingenieur aus Bochum. Lea war an einem Ort namens Chatroom gelandet, wie der Fremde ihr erklärte, hier trafen sich Leute, um sich miteinander zu unterhalten, sich kennenzulernen. Das ging so vor sich, daß man das, was man zu sagen hatte, in ein Textfeld hineintippte und anschließend auf die Entertaste drückte. Sobald der unsichtbare Gesprächspartner die Nachricht erhalten hatte, schrieb er eine Antwort in das Textfeld auf seinem Monitor und drückte ebenfalls auf die Absendetaste. Sofort erschien sein Text auf dem Monitor am anderen, ihm ebenfalls unbekannten Ende. Im Grunde war es wie Telefonieren, nur in schriftlicher Form. Nur daß man mit völlig fremden Menschen »telefonierte« und sich nicht gegenseitig anrief, sondern einander rein zufällig in den unendlichen Weiten des Cyberspace kreuzte.
Die Unterhaltung mit dem neunundzwanzigjährigen Elektroingenieur war der Anfang von Leas nie geahnter Chatkarriere, die sie unversehens aus ihrer Todeswelt herausriß, in ein Leben, das sie weniger erwartet hatte als eine Giraffe auf der Straße vor ihrem Haus. Ihr geheimes Zweitleben, das mehr und mehr zu ihrem ersten und hauptsächlichen Leben werden sollte. Lea zog um an einen Wohnort jenseits der physischen Welt, sie wurde Mitglied in einem riesigen virtuellen Tauschring menschlicher Phantasien, Erfindungen, Sehnsüchte und Begierden, der Chatroom war die größte weiße Leinwand der Welt, auf die man alles projizieren konnte, was man wollte, jenseits der beschränkten Wirklichkeit, jenseits der üblichen Spielregeln, Grenzen und Konventionen. Hier, im Schutz der Anonymität, kam man sofort zum Eigentlichen, zu den geheimen, in Dunkelzonen verbannten Wirklichkeiten der Menschen. Sofort war Lea dem neuen Medium verfallen, als hätte sie ihr ganzes Leben eigentlich nur darauf gewartet, endlich in einem Chatroom anzukommen, als würde ihr Leben eigentlich erst jetzt beginnen.
Der Elektroningenieur aus Bochum, der in Wirklichkeit vielleicht ein Bäcker aus Sindelfingen war, auch wenn Lea als Anfängerin noch weit entfernt von solchen Unterstellungen war, der junge Mann, der vielleicht ein alter war, hatte ein Geheimnis, mit dem er nicht herausrücken wollte. Das war der perfekte Köder für jemanden, der so süchtig nach Geheimnissen war wie Lea. Der Fremde hatte sie an der Angel, er erklärte ihr, wie sie am nächsten Tag zur vereinbarten Zeit an ihren Treffpunkt zurückkehren konnte, von ihm erfuhr sie, daß es so etwas wie eine Suchmaschine und Internetadressen gab, und nach einigen Fehlschlägen gelang es Lea tatsächlich, am nächsten Tag in den grenzenlosen Weiten des Cyberspace den Chatroom der blinkenden Herzen wiederzufinden, wo bereits der vielversprechende Name »Ghostdog« in der Anwesenheitsliste auf sie wartete, wie Romeo unter Julias Balkon. Das Geheimnis des Mannes, auf das sie so neugierig war, bestand darin, daß er sich seit jeher in unerfüllter Liebe zu gelähmten Frauen verzehrte, die im Rollstuhl saßen. Er hielt sich selbst für pervers und hatte angeblich noch nie jemandem von seiner ihm selbst unerklärlichen Neigung erzählt, alle Versuche, es mit einer ganz normalen Frau zu versuchen, waren fehlgeschlagen, so daß seine zweite Schmach darin bestand, daß er bis heute noch Jungfrau war. Seit Jahren reiste er von Behindertenmesse zu Behindertenmesse, aber je länger, desto weniger brachte er den Mut auf, sich einer seiner Angebeteten im Rollstuhl zu nähern, ihr schließlich gestehen zu müssen, daß er wegen ihrer gelähmten Beine verrückt nach ihr war.
Sie trafen sich noch ein drittes Mal im Chatroom, aber tags darauf, als Lea bereits angefangen hatte, sich den Kopf über die tragische Geschichte des Fremden zu zerbrechen, zu überlegen, wie er endlich die so ersehnte Bekanntschaft machen könnte, als bereits ihr unheilbares Mitgefühl für alle Einsamen und Außenseiter alarmiert war und sie schon fast zu wünschen begonnen hatte, selbst im Rollstuhl zu sitzen, um ein so mächtiges Verlangen auf sich zu ziehen, erschien er nicht mehr zu ihrer Verabredung. War ihm etwas dazwischengekommen? Hatten sie sich vielleicht erst für den nächsten Tag verabredet? Erst jetzt begriff Lea, daß sie zwar sein geheimstes Geheimnis kannte, aber weder seine Telefonnummer noch seine Adresse. Sie wußte nicht einmal, wie er hieß. Später dachte Lea noch oft an Ghostdog, ihren ersten Geisterhund, zurück. Er hatte sein Pseudonym dem gleichnamigen Film von Jim Jarmusch entliehen, aber damals ahnte Lea noch nicht, daß er ihr mit seinem Namen gleich bei ihrem Debüt in der virtuellen Welt alles über diese Welt gesagt hatte. Eine Welt der Geister, der namenlosen, körperlosen Wesen, die sich vorübergehend in Form von Worten materialisierten und in jedem Moment für immer in Luft auflösen konnten. Lea hatte falsch gelogen. Sie hatte sich um fünfunddreißig Jahre jünger gemacht, um sich dem Alter des jungen Mannes anzupassen, aber ihr gravierendster Mangel waren für ihn wahrscheinlich gar nicht ihre dreiundsechzig Jahre, sondern ihre zwei gesunden Beine. Mit der Naivität der Anfängerin wartete Lea in den nächsten Tagen noch mehrmals auf ihn, aber es blinkten weiterhin nur noch die roten Chatherzen auf ihrem Monitor, und Moonshadow wurde weiterhin in Endlosschleife abgespielt, und auch das nur deshalb, weil Lea nicht wußte, daß es eine Liste gab, auf der sie zwischen Dutzenden von Musikstücken wählen konnte, von den Beatles über Heino und Madonna bis zu Mozarts Türkischem Marsch.
Lea ging mit ihren Walkingstöcken in Richtung Thälmannpark. Sie befolgte einen Rat ihrer Ärztin. Es galt, ihre Kondition zu stärken, den Bluthochdruck zu bekämpfen, das Erschlaffen der Muskeln, die Versteifung der Gelenke. Außerdem litt Lea schon seit Jahren an mysteriösen Brennschmerzen im Gewebe, die wahrscheinlich einer der über vierhundert Rheumaarten zuzuordnen waren und in unregelmäßigen Abständen ein regelrechtes Höllenfeuer in ihrem Körper entfachten. Zudem hatte ihre Ärztin bei ihr schon vor längerer Zeit eine chronisch obstruktive Bronchitis im zarten Anfangsstadium diagnostiziert. Lea hatte mit achtzehn Jahren zu rauchen angefangen und erst mit achtundfünfzig aufgehört. Vierzig Jahre hatte sie geraucht, zwanzig davon Kette. Erst eine akute Bronchitis, bei der sie am Bettrand saß und nach Luft japste wie ein verendender Fisch, den eine Welle an Land gespült und nicht wieder mitgenommen hatte, heilte sie von ihrer Sucht. Sie hatte einmal nachgerechnet. In vierzig Jahren hatte sie sich, in Zigarettenlängen gemessen, von ihrer Berliner Wohnung bis an die Alte Oder bei Wriezen geraucht, eine Strecke von etwa achtundfünfzig Kilometern auf der Landstraße. Das war nicht ohne Folgen für ihre Lunge geblieben. Sie pfiff, sie knarrte, sie schnorchelte oder begann plötzlich zu singen, mit den hübschen, melodischen Tönen einer leise wimmernden chinesischen Ziehharmonika. Nicht jede obstruktive Bronchitis ging mit dieser seltsamen Sangeslust einher, aber Leas körperliche Symptome waren seit jeher von unerschöpflichem Erfindungsreichtum. Sie hatte nachgelesen und erfahren, daß diese Art von Bronchitis oft ins Lungenemphysem führte, manchmal in den Lungenkrebs, auf jeden Fall wurde die statistische Lebenserwartung um fünf bis sieben Jahre verkürzt.
Lea konnte sich ihre eingefleischte Abneigung gegen Sport nicht mehr leisten, die Vorschüsse der Jugend waren endgültig verbraucht, jetzt ging es an die Substanz, und das Nordic Walking hatte sich für sie als eine durchaus annehmbare sportliche Betätigung erwiesen. In gewisser Weise waren die Stöcke Gehhilfen, Krücken, die das Gewicht aus ihrem von den üblichen Allerweltsschmerzen geplagten Rücken auf die Arme verlagerten und ihrem Schritt wieder mehr Kraft verliehen. Es dauerte eine Weile, aber mit Hilfe der Stöcke gelang es ihr schließlich immer wieder, ihre neue Altersschwäche zu überwinden, und wenn sie erst einmal in die rhythmische Bewegung des Walkens gekommen war, vergaß sie oft sogar ihren Körper, er ging wieder von selbst, wie früher. Eins hatte Lea inzwischen verstanden: Alter bestand vor allem in einer zunehmenden Präsenz des Körpers. Ein Paradox. Je näher das Ende des Körpers kam, desto gegenwärtiger wurde er. Wenn dieser Prozeß sich konsequent bis zum Schluß fortsetzte, mußte die Physis im Augenblick des Todes am gegenwärtigsten sein.
Zwei- bis dreimal die Woche ging Lea mit den Stöcken in den Thälmannpark. Er war zehn Minuten von ihrer Wohnung entfernt, die Straßen bis dorthin waren gesäumt von Straßencafés und kleinen Geschäften. Als Lea ein paar Jahre nach dem Mauerfall in die Stadt gekommen war, hatte hier noch die Freiheit der Wildnis geherrscht. Sie war mit Max gekommen, die Stadt sollte sie anstecken mit ihrem Aufbruch, ihrem Neubeginn, mit ihren offenen Möglichkeiten, sie sollte retten, was nicht mehr zu retten war. Nichts mehr war zu retten gewesen. Nicht die Liebe und nicht die Stadt. Die Gegend, in der Lea wohnte, inzwischen seit sieben Jahren allein, hatte sich in dieser Zeit in eine Art multikulturelles Disneyland verwandelt. Obwohl sich in den Straßen Sprachen aus allen Teilen der Welt mischten, entstand der Eindruck, daß alle, die sich hier tummelten, eine Einheitssprache sprachen, eine neue Weltsprache der Jugend, der Liberalität, der grenzenlosen Toleranz und guten Laune. Was dem Ort vollkommen fehlte, war Vergangenheit. Im Gegensatz zu den gewachsenen westlichen Stadtteilen war hier alles neu. Die Menschen, die Häuser, die Kneipen, die Läden, sogar der Asphalt der Straßen, die ständig aufgerissen, geschlossen und wieder aufgerissen wurden. Nichts hielt sich hier lange, alles war kurzlebig, in ständigem Wechsel begriffen, immer in Bewegung, eine Welt der Flüchtigkeiten und Fluktuationen, der ständigen Untergänge und Neuanfänge. Alles wurde immer schicker, immer teurer, die heißbegehrten Wohnungen konnten sich zumeist nur noch Leute der oberen Einkommensschichten leisten. Es gab noch ein paar billige alte Kneipen, in denen man für fünf Euro essen konnte, in den neuen Gourmetrestaurants kostete ein Besuch das Zehnfache. »Eßt die Reichen« hatte einer der unsichtbaren Sprayer an die Fassade eines solchen Restaurants gesprüht. An die DDR erinnerte nur noch ein letztes unsaniertes Haus, das rußgeschwärzt und wie verwüstet von steinfressenden Heuschreckenschwärmen in Leas Nachbarstraße stand und, obwohl nach wie vor bewohnt, ein Denkmal sozialistischen Bankrotts geworden war, zum genußvollen Grausen der Touristengruppen, denen die historische Ruine auf Stadtrundfahrten vorgeführt wurde. Eine Gestalt kam Lea entgegen, die zum alltäglichen Straßenbild gehörte. Ein Wesen undefinierbaren Alters und vermutlich männlichen Geschlechts, halb Dandy, halb Stadtindianer, bei jedem Wetter in einen langen, wallenden Mantel gehüllt, in der Hand einen eleganten Spazierstock, die Füße in zierlichen Stiefeletten. Auf seinem Kopf schwebte ein Kunstwerk aus bunten Tüchern, ein ganzer Stoffladen, der Kopfschmuck einer ausgeflippten Diva oder eines geheimnisvollen Wüstenprinzen. Oft hörte man ihn etwas murmeln, kehlige, keltisch anmutende Laute ausstoßen, die nach Verwünschungen klangen und nicht unbedingt den Wunsch weckten, ihm im Mondschein zu begegnen. Man konnte beobachten, wie der Tücherberg auf seinem Kopf stetig zunahm, wie der Träger allmählich zu einem wandelnden Pilz mit wachsender Kappe und immer dünner werdendem Stiel mutierte. Je größer die Last auf seinem Kopf wurde, desto kleiner wurde er selbst, er schrumpfte proportional zur Vermehrung des Stoffs auf seinem Kopf, er fügte, so schien es, der Welt in Form dieses Stoffs immer genau so viel an Materie hinzu, wie er selbst an Substanz verlor, bis er schließlich ganz in seinen Kopfschmuck übergegangen sein würde, bis von ihm nichts mehr übrig sein würde als ein Haufen bunter, herrenloser Lumpen.
Vor der Tür des afrikanischen Shops, der nicht viel größer war als der Innenraum eines Schranks, vollgestopft mit Masken, Matten, geschnitzten Kleinmöbeln, hockten zwei junge Schwarze mit staubigen Rastalocken und rauchten selbstgedrehte Zigaretten, vor ihnen auf dem Trottoir eine kleine Trommel, die sie als Tisch für zwei Kaffeetassen und eine Tüte Zucker benutzten. So saßen sie immer hier, im Schatten eines Ahornbaums, rauchend, schweigend, schauend, wie in einem Dorf im Busch. Eine Lea in europäischen Breitengraden ganz und gar unbekannte Sanftmut ging von ihnen aus, ein scheinbar unerschütterliches, zutiefst körperliches Ruhen in sich selbst.
Am Eingang zum Park stand das Zeiss-Planetarium, eine riesige, in der Sonne gleißende Silberkugel, die in ihrer Geschlossenheit an eine indische Dagoba erinnerte oder an einen Atommeiler. In diesem Planetarium hatte Lea einst eine Erfahrung gemacht, die sie bis heute nicht losließ. Es war in ihrer Anfangszeit in der Stadt, als alles noch neu, verblüffend, unfaßbar gewesen war, als sie sich mit Max täglich durch die einstige Terra incognita der Stadt treiben ließ, durch den unbekannten deutschen Osten, den sie ihr Leben lang nur von Fahrten auf der Transitautobahn nach Westberlin gekannt hatte, auf einem dieser Streifzüge hatten sie in einer Winternacht, in der der Regen durch einen jähen Temperatursturz zu stalaktitenartigen Eiszapfen an den Bäumen gefroren war, im Zeiss-Planetarium Zuflucht gesucht und waren durch Zufall gerade rechtzeitig zu einer Veranstaltung gekommen. Das Programm des Abends, das »Sternenwelten« oder ähnlich hieß, stammte noch aus DDR-Produktion. Die Vorstellung begann mit dem Sonnenuntergang über dem stillen, vom westlichen Kommerz noch unangetasteten Alexanderplatz, nach und nach leuchteten in der gigantischen schwarzen Planetariumskuppel die ersten Sterne aus dem Sternfeldprojektor auf. Zu feierlichen Klängen von J. S. Bach wurde man auf eine Weltreise über den Sternenhimmel mitgenommen, vom kleinen Wagen über der Lausitz ging es durch riesige Sternenhaufen, galaktische Nebel und Feuerschweife stürzender Kometen bis zum Kreuz des Südens über dem nächtlichen Papua-Neuguinea. Auch das sowjetische Raumschiff fehlte nicht, das plötzlich irgendwo zwischen Andromeda und Pegasus wie eine absurde Wunderkerze durch die Ewigkeit schoß, begleitet von einem pathetischen Kommentar über den technischen Fortschritt und den sozialistischen Menschen als Eroberer des Alls. Als das Licht in der Kuppel wieder anging, stellte sich heraus, daß die Veranstaltung noch nicht zu Ende war. Ein unscheinbarer grauhaariger Mann trat vor das kleine, in wenigen Sitzreihen zusammengedrängte Publikum und begann eine Art Unterricht in Sternenkunde abzuhalten. Offenbar hatte es in der DDR das Vergnügen nicht umsonst gegeben, es mußte mit dem Lehrreichen und Bildenden verbunden werden. Das deutlich als ostdeutsch zu erkennende Publikum hörte brav und interessiert zu, Lea hatte keine Lust auf nachgetragene Theorie, sie wollte aufstehen und gehen, aber plötzlich war sie gelähmt von dem Gefühl, es nicht zu dürfen. Sie befand sich in der Zeit vor der Wende in der DDR, sie war in einer Parteischulung gefangen, die zu verlassen eine politische Provokation, ein staatsfeindlicher Akt gewesen wäre. Unter dem Bann dieser gespenstischen Vorstellung konnte sie sich nicht von ihrem Sitz lösen. Blut und Wasser schwitzend, wie das von der Schlange hypnotisierte Kaninchen harrte sie aus bis zum Schluß, obwohl sie mit ihrem Bleiben zur Komplizin eines totalitären Systems wurde.
Seit damals fragte sie sich oft, wer sie in einer Diktatur gewesen wäre, auf welcher Seite sie gestanden hätte. Immer hatte sie von sich geglaubt, daß sie Zivilcourage besaß, daß sie nicht korrumpierbar war von der Macht, aber das Erlebnis im Planetarium hatte ihr die Gewißheit genommen. Hätte sie, wenn es darauf angekommen wäre, mitnichten die Freiheit gewählt, sondern das Schicksal des Kaninchens? Und hatte sie einfach nur Glück gehabt, daß es nie in ihrem Leben darauf angekommen war, daß sie sich dieser Nagelprobe nie hatte unterziehen zu müssen?
Damals war die Gegend um das Planetarium eine Wüste aus Nacht und Eis gewesen, jetzt lagen auf der Liegewiese hinter dem kugelförmigen, nachts von einem neonblauen Licht erleuchteten Gebäude junge Leute auf der Liegewiese in der Sonne, andere spielten Frisbee, ein drolliger junger Hund jagte unermüdlich Stöckchen hinterher, die ihm ein junges Mädchen mit langen staksigen Beinen warf. Lea mußte ihre Stöcke in eine Hand nehmen und ein Papiertaschentuch aus ihrer Gürteltasche nesteln. Seit ein paar Jahren begannen draußen an der Luft sofort ihre Augen zu tränen, wie man es kannte von alten Leuten. Die Augenärztin hatte ihr erklärt, daß ein übermäßig tränendes Auge in Wirklichkeit ein austrocknendes Auge war. Der vermehrte Tränenfluß war ein Zeichen dafür, daß der fetthaltige Anteil der Tränenflüssigkeit abnahm, während der wäßrige zunahm. Lea nahm ihre Sonnenbrille ab und wischte sich die Nässe aus dem Gesicht, peinlich berührt von dem Gedanken, Vorübergehende könnten glauben, daß sie weinte. Dabei hatten nicht nur ihre Augen zu lecken begonnen. Sobald sie etwas Warmes aß, fing ihre Nase an zu laufen, manchmal bemerkte sie es erst, wenn ihr das wäßrige Rinnsal schon in die Suppe tropfte. Auch der Schließmuskel ihrer Blase zeigte erste Erschlaffungserscheinungen. Nicht nur das Papiertaschentuch war Leas obligatorischer Begleiter geworden, sondern auch die Slipeinlage für leichte Blasenschwäche. Natürlich hatte Lea gewußt, daß alles das zum alternden Körper gehörte, aber aus irgendeinem Grund hatte das nie für sie selbst gegolten. Die ersten Symptome des Alters hatten sie genauso überrumpelt wie einst die ersten Symptome der Pubertät, das erste Blut, die kleine Verdickung in ihrer rechten Brust, die sie für eine tödliche Geschwulst gehalten hatte, bis sich auch in der linken Brust so ein kleiner Klumpen bildete und sie verstand, was es damit auf sich hatte. Offenbar, so dachte sie manchmal, gingen alle Menschen unvorbereitet und bestürzt, wie zum ersten Mal in der Weltgeschichte, durch die entscheidenden Portale ihrer Entwicklung.
Hinter der großen Spiel- und Liegewiese begann eine Plattenbausiedlung, die einst als vorbildliche sozialistische Wohnanlage konzipiert war. Früher hatten die Wohntürme ausgesehen wie aus schmutziger, zerfledderter Pappe, der Westen hatte sie in riesige, bunte Schokoladentafeln verwandelt, die in den Himmel ragten. Als Westdeutsche fühlte Lea sich an solchen Orten immer noch fremd, sie bargen immer noch das Geheimnis der anderen deutschen Wirklichkeit. Einst, so hatte Lea gehört, sollen Plattenbausiedlungen Hochburgen sozialen Lebens gewesen sein, jetzt herrschte hier eine gespenstische Stille und Menschenleere. Niemand ging auf den asphaltierten Wegen, die die Eingänge miteinander verbanden, auf den Balkonen sah man nur Blumenkästen und Sonnenschirme, aber keine Menschen, aus den geöffneten Fenstern drang kein einziger Laut, alles war ordentlich, sauber und schmuck, aber vollkommen leblos. Ein älterer Mann in einem Trainingsanzug, der seinen Kurzhaardackel an der Leine führte und Lea einen feindseligen Blick zuwarf, kam ihr vor wie ein Zerberus, der jetzt eine Totenstadt bewachte.
Lea holte ihren MP3-Player aus der Gürteltasche, hängte ihn um den Hals, steckte sich die Hörstöpsel in die Ohren und drückte den Startknopf. Immer wieder erstaunte sie das Rätsel eines technischen Geräts von der Größe eines Feuerzeugs, das die Akustik eines Konzertsaals erzeugte und eine Musiksammlung enthielt, für die man einst einen ganzen Schallplattenschrank gebraucht hatte. Die Schluchten zwischen den Wohntürmen füllten sich mit Musik. Mozarts Haffnerserenade. Alle Schwere fiel augenblicklich von Lea ab. Das, was in ihre Ohren eindrang, verwandelte das Gehen in Fliegen. Die Musik löste die Kausalitäten auf, sprengte den Körperkäfig und riß Lea mit in ihre Bewegung, in die Mozartsche Leichtigkeit. Sie schwang ihre Stöcke im Takt, ihre Füße in den Luftpolsterschuhen schienen kaum noch den Boden zu berühren. Sie tauchte ein in einen kleinen Wald aus Trauerweiden und Birkendickicht. Eine Brücke führte über einen Teich, auf dem Enten umherfuhren. Ein seltsam lauschiges Plätzchen inmitten der industriellen Typenbauten. In dem dunkelgrünen, trüb wirkenden Teich spiegelte sich glasklar der Himmel mit seinen weißen Federwolken, und von dort, aus diesem Wasserhimmel, kam jetzt Mozarts Musik. Lea blieb eine Weile stehen und gab sich dem bizarren Eindruck der auf den Kopf gestellten Welt hin, der Himmel unten, das Wasser mit den Enten darüber, und über allem die Musik.
Etwas weiter das Thälmanndenkmal, ein Koloß, der einst den gesamten Bronzevorrat der DDR verschlungen hatte und auf einem Sockel aus ukrainischem Granit vor dem Haupteingang zum Park stand. Angesichts dessen, daß man nach der Wende auf schnellstem Weg alles ausgemerzt hatte, was an das sozialistische Deutschland erinnerte, und dieser Zerstörungswut zum Beispiel auch eine Clara-Zetkin-Straße zum Opfer gefallen war, verwunderte es, daß Ernst Thälmann unangetastet geblieben war. Womit hatte der Arbeiterführer das verdient? Hätte ihm vielleicht gegraut vor dem Denkmal, das man ihm errichtet hatte? Ein furchterregendes, gigantomanisches Monument der Macht, das, mit dem Rücken zum Park, vor einer riesigen steinernen Leere für jubelnde Massen stand, besprüht mit den Worten »Rotfront« und »Antifa ist Inzest«.
Auf Leas MP3-Player waren die Stücke wie Kraut und Rüben gespeichert, der Haffnerserenade folgte Joe Cockers »Summer in the City«. Eine völlig neue Stimmung, ein neuer Gehrhythmus, und es war Sommer in der Stadt, ja, eine überraschende Deckungsgleichheit zwischen Song und Realität. Ein Lokal am Wegrand hieß nach alter Ostmanier »Café Metropol«, jetzt mit dem Beinamen »Grillhaus« versehen, nicht mehr als ein schäbiger Imbiß in einem trostlosen Verkaufspavillon mit Backshop, Drogerie, Supermarkt. Draußen vor dem Eingang drei Männer und eine Frau, rauchend, mit Bierflaschen in der Hand. Man sah ihnen an, daß sie zu den Entwurzelten gehörten, zu den Deutschen von der anderen Seite, die den Sprung in die neue Welt nicht geschafft hatten und denen man in manchen Gegenden der Stadt in beängstigenden Massen begegnete. Die vier Gestalten vor dem einstigen Café Metropol standen in der Leere, man sah es ihnen deutlich an, die Bierflaschen in ihren Händen waren ihr einziger Halt. Die auf der Strecke Gebliebenen, die Perspektivlosen, die ihren Hartz-IV-Regelsatz vertranken und in deren Gesichtern ein gefährlicher Haß geschrieben stand.
Ein weiterer Pavillon aus verrottenden Betonfertigteilen und verschmierten Glasfassaden stand leer und war über und über mit aufgesprühten Hieroglyphen bedeckt. »Rosengarten« stand in kaum noch lesbaren Lettern über dem Eingang. Lea versuchte sich vorzustellen, welchen Zweck dieses Gebäude einst auf dem Gelände einer mustergültigen sozialistischen Wohnanlage erfüllt hatte. Ein Café, eine Art Kulturhaus? An manchen Stellen begann bereits der Wildwuchs das Gebäude zu verschlingen, da und dort standen noch ein paar verkümmerte, müde Rosen. Letzte Relikte der anderen deutschen Wirklichkeit, die im Ostteil der Stadt gelegentlich noch anzutreffen waren und keine neuen Besitzer fanden. In einer Welt, in der alles jemandem gehörte und alles verwaltet wurde, waren diese herrenlosen Ruinen letzte Stätten wilden, funktionslosen Lebens.
Auf einem etwas ansteigenden Wiesenstück waren viele kleine Inseln zu sehen, und jede Insel ein Paar. Eine helle Fläche mit dunklen Erhebungen, die Maulwurfhügel hätten sein können. Die jungen Leute saßen oder lagen in der Sonne, immer zwei und zwei, manche eng umschlungen, ungeniert Zärtlichkeiten austauschend. Mit den Stöpseln ihres Musikgeräts in den Ohren sah Lea alles wie in einem Stummfilm, die Bilder erschlossen sich ihr nur durch das Wissen, das sie von ihnen besaß, ihre Optik war ohne Akustik seltsam tot, so sahen vielleicht Taubstumme die Welt. Joe Cocker in ihren Ohren wurde durch Eva Cassidy abgelöst. Die Stimme der Melancholie. Flashback to warm nights ... die Frau, die das sang, war mit dreiunddreißig Jahren an Hautkrebs gestorben. War ihre Stimme so traurig, weil sie mehr von der Vergänglichkeit gewußt hatte als andere? Lea sah auf die Paare auf der Wiese und fühlte plötzlich die ganze Verwaistheit ihres eigenen Körpers, seine monströse Verworfenheit. Seit wann hatte sie kein Mann mehr berührt? Schon in den letzten Jahren mit Max hatte es keine Berührungen mehr gegeben, und schon in dieser Zeit war Lea aufgefallen, daß sich etwas verändert hatte in der Luft um sie herum. Lange hatte sie nicht verstanden, was es war, etwas seit jeher Gewohntes, Vertrautes war verschwunden, und dann war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. Aus den Augen der Männer, die sie ansahen, war der Funke verschwunden. Dieser Funke, der immer da gewesen war, ein selbstverständlicher Teil der Welt, ihrer Wärme, ihrer Farbigkeit, ihrer Elektrizität. Dieser Funke, der seit jeher eine natürliche Eigenschaft von Männeraugen war und der ihr gesagt hatte, daß sie eine Frau war, dieser Funke war erloschen. Die Männer sahen sie jetzt durchaus freundlich an, manchmal mit Bewunderung oder Verehrung, oft mit Dankbarkeit für ihr aufmerksames Ohr, aber sonst war in diesen Augen nichts mehr. Die Männer hatten aufgehört, sie zu begehren. Das Begehrtsein, das immer ein ganz normaler, selbstverständlicher Lebenszustand für Lea gewesen war, das Begehren, das sie ohne jedes eigene Verdienst, ohne ihren Willen und manchmal auch gegen ihren Willen, allein kraft ihres Geschlechts besessen hatte, war nicht mehr da. Erst mit dieser Erkenntnis war Lea bewußtgeworden, wie abhängig sie von diesem Begehren war, wieviel von ihrem Selbstbewußtsein sie daraus bezogen hatte. Wahrscheinlich hatte es ihr das einzige kleine Gefühl von Macht in ihrem Leben verliehen. Und vielleicht war es ihre tiefste Gewißheit gewesen. Wenn nichts an ihr liebenswert war, wenn nichts an ihr Wert besaß, dieser eine Wert, der Wert ihrer Weiblichkeit für einen Mann, blieb eine unerschütterliche, naturgegebene Tatsache. So hatte sie geglaubt. Nie hatte sie den Gedanken gedacht, daß gerade die Natur ihr diesen Wert auch wieder nehmen würde. Sie wußte nicht, ob sie ein typisches Beispiel ihres Alters war oder ob noch etwas anderes an ihr abschreckte, vielleicht eine gewisse gravitätische Unnahbarkeit, die man ihr nachsagte, aber seit etwa zehn Jahren hatte sich kein einziger Mann mehr für sie interessiert. Zuerst war sie noch mit Max zusammen gewesen, vielleicht hatten sie die Verletzungen ihrer letzten gemeinsamen Jahre so wund und grau gemacht, daß kein Auge sich mehr an ihr hatte entzünden können, aber seit ihrer Trennung waren sieben Jahre vergangen, und nichts hatte sich verändert. Wenn der Tod in der Trennung von Körper und Seele bestand, dann hatte ihr Tod bereits begonnen. Ihr Körper und ihre Seele gingen längst getrennte Wege, und vielleicht war das eine weise Vorsehung der Natur. Man sollte sich schon im Leben an diese Trennung gewöhnen, schön langsam, Tag für Tag, damit es dann, im Augenblick des Todes, nicht so abrupt kam, damit man auf den endgültigen Riß zwischen Körper und Seele vorbereitet war. Ihr größter Neid galt jedem, der die Strecke bis dorthin nicht allein zurücklegen mußte, der einen Weggefährten hatte. Sie hatte es versäumt, sich in jungen Jahren den Ofen zu bauen, der im Alter wärmte, sie hatte die letzten Jahre, in denen es vielleicht noch möglich gewesen wäre, an eine Beziehung ohne Zukunft verschwendet, sie war zu spät gegangen. Nun blieb ihr nur noch die Reue, die Reue und der Neid auf die geheimnisvolle Welt der sicheren Paarbeziehungen, auf jene Menschen, die im Alter in Ehen und Familien aufgehoben waren, die Eltern und Großeltern waren, Kinder und Enkel hatten. Sie hatten ein Leben gelebt, das sie im Alter in den Schutz natürlicher Bindungen einbettete, Bindungen, die Lea nie gelungen waren. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte zwar auch sie in Beziehungen gelebt, aber nie hatte sie sich vorstellen können, für immer zu bleiben, zu heiraten, Kinder zu bekommen, sich für ein einziges von allen möglichen Leben zu entscheiden. In keiner ihrer Beziehungen hatte sie sich einrichten können, in keiner hatte sie sich heimisch gefühlt. Etwas Unseßhaftes war in ihr, sie konnte sich nicht dauerhaft binden, aber sie konnte auch nicht dauerhaft mit sich allein sein. Sie hatte immer die Wildnis gebraucht und war nicht ausgekommen ohne Nest, sie hatte sich immer nach Feuer gesehnt und war gleichzeitig angewiesen auf Wärme. Nun, da sie das Feuer wahrscheinlich gar nicht mehr vertragen hätte, da es keine Ambivalenzen mehr gab und sie sich nur noch nach Wärme sehnte, war keine Wärme mehr da, jene Temperatur, die mit zunehmendem Alter immer notwendiger und unentbehrlicher wurde. Wehe dem, der ohne den Schutz der Liebe altern muß! Wo hatte sie das gelesen? Die Beziehungen um sie herum kamen ihr jetzt wie Festungen vor, Dämme gegen den Tod, dem sie, Lea, weil sie ein falsches Leben gelebt hatte, nun schutzlos gegenüberstand, allein in einem leeren Raum.
Auf einer Bank hüpften ein paar Spatzen herum, rissen mit ihren kleinen Schnäbeln an dem Rest einer Pizza. Lea mußte daran denken, was ihre russische Freundin Marina aus der Nachbarstraße ihr einmal erzählt hatte: In der Sowjetunion wurde den Kindern in der Schule beigebracht, daß Zugvögel schlechte Vögel waren, Vaterlandsverräter, die sich ständig im feindlichen Ausland herumtrieben. Gute Vögel waren nur die Spatzen, weil sie ihre Heimat nie verließen, die bodenständigen Spatzen waren vorbildliche sowjetische Patrioten, an denen die Kinder sich ein Beispiel nehmen sollten.
Leas erster Chatroom, in den sie der Meister Zufall hineingelotst hatte, war, wie sie inzwischen wußte, ein abseitiger, unschuldiger Ort gewesen, an den sie sich kurze Zeit später erinnerte wie an einen Sandkasten, in dem sie ihre ersten, rührend ahnungslosen Schritte im Reich der virtuellen Wirklichkeiten gemacht hatte. Nachdem der Elektroingenieur mit seiner unheilbaren Leidenschaft für Rollstuhlfahrerinnen sie in das Geheimnis der Internetadressen eingeweiht hatte, hatte sie sehr schnell herausgefunden, daß es Chatrooms wie Sand am Meer gab, daß rund um die Uhr die zumindest potentielle Möglichkeit bestand, per Knopfdruck mit allen ans World Wide Web angeschlossenen Bewohnern des Erdballs in Kontakt zu treten.
Seit jeher verwunderte Lea die romantische Überzeugung mancher Menschen, die glaubten, den Mann oder die Frau mit der zweiten Hälfte ihres Herzens gefunden zu haben. Hätte man nicht die gesamte, aus annähernd sieben Milliarden Menschen bestehende Weltbevölkerung kennenlernen müssen, um so etwas behaupten zu dürfen? Und würde auch nur ein einziges Paar der Welt zusammenbleiben, wenn es plötzlich durch Zauberei möglich würde, alle restlichen auf dem Erdball lebenden Menschen des anderen Geschlechts kennenzulernen? Auch im WWW konnte man nicht die gesamte Weltbevölkerung kennenlernen, aber doch einen deutlich größeren Teil als in der körperlichen Bewegung durch den Raum, erst recht, wenn man in dieser Art Fortbewegung so eingeschränkt war wie Lea. Sie hatte noch die altmodische Sehnsucht nach fernen Ländern in sich, weil sie in ihrem Leben so wenig gereist war, immer angewiesen war auf einen festen Punkt, auf das Bekannte und Vertraute, auf die Kante ihres Schreibtisches und ihres Bettes. Um so überwältigender war für Lea ihr neuer Anschluß an das internationale, weltumspannende Kommunikationsnetz. Es weckte nicht unbedingt die Hoffnung in ihr, dem Mann mit der zweiten Hälfte ihres Herzens zu begegnen, dem war sie schon mehrmals in ihrem Leben begegnet, in ihren sehr jungen und einsamen Jahren sogar ziemlich oft, aber ihre schon fast begrabene Hoffnung auf einen Gefährten für ihre letzte Wegstrecke war wieder zu neuem Leben erwacht. Die Hoffnung auf eine am Ende doch noch lebbare, tragende Liebe, auf ihren Philemon, womöglich doch den einen mit ihrer zweiten Herzhälfte, dem sie mangels Gelegenheit nie begegnet war und jetzt dank der neuen technischen Möglichkeiten vielleicht doch noch begegnen konnte. Vielleicht saß er, inzwischen ebenfalls alt geworden, irgendwo am anderen Ende der Welt auch vor seinem Monitor und wartete, vielleicht hatte auch er die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, sie am Ende doch noch zu finden. Jeder Augenblick, den sie nicht an ihrem PC verbrachte, konnte der Augenblick sein, in dem sie ihn verpaßte. Ob sie sich schnell ein Stück Fleisch in der Küche briet, die Wäsche im Bad aufhängte oder schlief – genau in dieser Zeit konnte er auf der Bildfläche erschienen und wieder verschwunden sein, für immer verschwunden, bevor sie ihn bemerkt hatte. Sie wagte es kaum noch, sich von ihrem Rechner zu lösen. Den größten Teil des Tages und der Nacht verbrachte sie auf ihrem Warteposten, so unsicher und fragwürdig er auch war, aber immerhin gab es jetzt einen Warteposten, auf dem Lea auch eine viel bescheidenere Variante angenommen hätte, wenn sie sich ihr geboten hätte. Einfach einen sympathischen, verträglichen Mann ihrer Generation, mit dem sie der Eiszeit eines einsamen Alters hätte entfliehen können. Die Chance, so einem Mann in einem Chatroom zu begegnen, tendierte allerdings gegen Null. Ganz abgesehen von der ungünstigen demographischen Lage, davon, daß es in Leas Alter einen deutlichen Frauenüberschuß gab, war sie in den Chatrooms nicht nur eine Verirrte im Raum, sondern auch in der Zeit. Es hielten sich dort fast ausschließlich junge Leute auf, im Lauf von mehreren Wochen war sie nur zwei bemitleidenswerten Trotteln ihrer eigenen Altersklasse begegnet. Der eine hatte sich »Reifer Herr« genannt, der andere »Geiler Rentner«.
Eines der ersten neuen Worte, die Lea in der virtuellen Wirklichkeit kennenlernte, war Avatar. Google hatte ihr erklärt, daß es sich dabei um den grafischen Vertreter einer echten Person handelte, daß das Wort aus dem Sanskrit stammte und für eine in irdische Sphären herabgestiegene Gottheit stand. Jeden Tag stiegen in den Chatrooms Hunderte, Tausende von Gottheiten in irdische Sphären herab, obwohl es eigentlich umgekehrt war. Irdische Menschen, so ungöttlich und unansehnlich sie in ihrer Gestalt als echte Personen auch sein mochten, verwandelten sich beim Eintritt in den Chatroom in Götter, jeder schlüpfte in die Gestalt einer der Werbeikonen, die als Avatare angeboten wurden. Jede Frau und jeder Mann hatte am Eingang die Wahl zwischen zehn verschiedenen Bildchen, nolens volens mußte man sich für eines davon entscheiden, bevor man das Allerheiligste betreten durfte. Für Frauen reichte das Spektrum von der unschuldigen Kindfrau bis zur Femme fatale, für den Mann vom sanften Träumer bis zum zupackenden Draufgänger. Jeder wählte sein Wunschbild und gab dadurch etwas von sich preis, ob nun gewollt oder nicht. Neben dem Pseudonym, unter dem man sich einloggte, war der Avatar der einzige Anhaltspunkt für die verborgene Persönlichkeit des Chatters, wobei das Pseudonym zweifellos die größere Aussagekraft besaß, weil hier keine Vorgaben existierten und jeder auf seine eigene Phantasie angewiesen war.
Hatte man sich für eine Gottheit entschieden und ihr einen möglichst klangvollen Namen verliehen, gelangte man vom Olymp in die irdischen Sphären, zunächst in die sogenannte Lobby. Es handelte sich um die Wandelhalle, den Marktplatz, die Piazza des Chats. Ausgerechnet an einem Ort, wo es nur die Sprache, nur die Schrift gab, schienen sich die sprachlosesten Gemüter der Nation zu versammeln. Über den Bildschirm scrollten Unterhaltungen, die in einer Art Chatpidgin geführt wurden, in einer virtuellen Primatensprache, die weitgehend aus Kürzeln und Smileys bestand. Erschien mal ein halber oder gar ein ganzer Satz auf dem Bildschirm, wimmelte er gewöhnlich von grammatikalischen und orthographischen Fehlern. Die unsichtbaren Chatter erinnerten Lea an die Teilnehmer gewisser Fernsehtalkshows, in denen zynische, selbst minderbemittelte Moderatoren den vom ersten und letzten Scheinwerferlicht beglückten Mob in seiner ganzen Sprachlosigkeit vorführten. In der Anwesenheitsliste wimmelte es von Nicknamen wie HeißeStute, ScharfesLuder, GeilerEhemann, Sexgun und so weiter. Ein virtueller Ballermann, ein virtueller Swingerclub, ein virtueller Stammtisch, eine virtuelle Jugendclique, eine virtuelle Diskothek, ein virtueller Bolz- und Balzplatz, ein virtuelles Sammelbecken für jedermann und jedefrau. Es ging vor allem um die anatomischen Daten der Anwesenden, genau um das, was hier unsichtbar und unüberprüfbar war. Dementsprechend waren hier alle Frösche Prinzen, es gab nur Supermänner. Sie priesen ihren Waschbrettbauch an, ihre Potenz, die phänomenalen Maße ihres Geschlechtsteils in Länge und Durchmesser. Die Frauen sahen alle aus wie Claudia Schiffer. Lea wurde ständig nach ihrer Körpergröße, nach ihrem Gewicht, nach ihrer Körbchengröße, nach ihren sexuellen Vorlieben gefragt. Die etwas romantischer Veranlagten erkundigten sich auch nach der Augen- und Haarfarbe, zu den Standardfragen gehörte, was sie gerade anhatte, darüber hinaus wollte niemand etwas von ihr wissen. Es wurde gekalauert und geschunkelt, gelästert und gepöbelt, geschäkert und angemacht, und auch die Voyeure kamen auf ihre Kosten. Sex war hier eine Familienangelegenheit, volkstümlicher Zeitvertreib, und das einschlägige Vokabular kannte auch der Ärmste im Geist. Der Gedanke an heimliche Zuschauer, denen hier eine verbale Peepshow geliefert wurde, war für manche Beteiligten vielleicht ein zusätzlicher Ansporn. Alles das nahm Lea nach ersten Fluchtreflexen kaum noch wahr, es war eine unvermeidbare Begleiterscheinung auf ihrem Warteposten. Und während sie ausharrte und beobachtete, stellte sie fest, daß sie hier nicht die einzige Außenseiterin war. Es gab noch andere wie sie, seltene Schriftkundige, die hier, genau wie sie, an den Rändern herumlungerten, blinde Passagiere, Wilderer, Wegelagerer, die Lea sofort an ihrer Sprache erkannte. Es genügte ein einziger Satz, und es war klar, daß es sich um die seltene Ausnahme handelte, um die Nadel im Heuhaufen, nach der sie suchte. Die ganz normale deutsche Sprache, die Lea von diesen seltenen Chatbesuchern erreichte, nahm sich an diesem Ort aus wie eine Fremdsprache, wie höhere Dichtkunst.
Um sich dem Zugriff der Chatfamilie zu entziehen, Dauerchattern wie sie selbst, die sich durch einen festen Nicknamen zu erkennen gaben, mußte Lea ihre Chatidentität jedes Mal wechseln. Oft mehrmals am Tag, da sie nur eine Leitung für Internet und Telefon besaß und diese Leitung wenigstens hin und wieder für Anrufer oder eigene Telefonate freigeben mußte, ohnehin schon bedrängt durch die Fragen ihrer Freunde, warum ihr Telefon in letzter Zeit ständig besetzt sei.
Sie durchforstete ihren alten, dickleibigen Weltatlas und gab sich die Namen indischer Städte und afrikanischer Flüsse, sie lieh sich Frauennamen aus der Literatur, aus der Mythologie, aus der Oper. Sie nannte sich Noumea, Jalta, Effie, Nana, Rienzi, Lulu, Moira, Artemis. Mittags war sie Katonga, abends Undine, nachts Ernani. Das Italienische gab auch andere klangvolle Namen her: Allora, Aspetta, Mozzarella. Manchmal kleidete Lea sich in Süßes: Nutella, Hanuta, Milka. Man konnte sich auch Nanu oder Soso nennen oder schlicht beliebige Buchstaben aneinanderreihen.
Sobald sie in Gestalt ihrer Ikone den Chatroom betrat, eilten die Massen herbei, um ihr zu huldigen. In den Chatrooms herrschte drastischer Frauenmangel, und mindestens die Hälfte der Männer stürzte sich sofort auf jeden neuen weiblichen Avatar, der auf der Bildfläche erschien. Lea wurde überflutet von Anfragen, die sie im sogenannten Flüstermodus erreichten, ein Wort, das einen falschen Eindruck erweckte. Man sprach nicht etwa leiser miteinander als die anderen, wie hätte das in schriftlicher Form auch vor sich gehen sollen, die Nachricht wurde an eine bestimmte Person gesandt und blieb unsichtbar für die anderen, nur die durch einen besonderen Klick ausgewählte Person konnte sie lesen. Die Männer schickten Lea Smileys, reichten rote Rosen, luden zu Sekt ein, andere kamen ohne Umschweife zur Sache: Bist du geil? Willst du hart durchgefickt werden? Worauf stehst du? Hast du Lust auf CS? CS war das gängigste der ständig über den Bildschirm flimmernden Kürzel, ein freundlicher Chatter hatte Lea erklärt, daß es sich dabei um die Abkürzung von Cybersex handelte. Lea hatte nicht zuzugeben gewagt, daß sie das Wort noch nie gehört hatte, Cybersex blieb für sie das große, ungelüftete Geheimnis der Erotikchats.
In einer Zeit, in der Sex als etwas galt, das für jeden jederzeit zu haben war, spielten sich in den Erotikchats Szenen erschütternden männlichen Elends ab. Die Männer demütigten sich, sie bettelten und flehten um Antwort, breiteten öffentlich oder im Flüstermodus ihr ganzes sexuelles Desaster aus. Andere beschimpften die Frauen als Schlampen, als Flittchen, als eiskalte Nutten, es ging bis zu Morddrohungen. Die Welt schien voll zu sein von abgewiesenen, verschmähten Männern, die mit einem dunklen, unberechenbaren Haß gegen Frauen herumliefen, im Schutz der Anonymität konnte dieser Haß sich hemmungslos austoben. Gleichzeitig war Lea sich nicht sicher, ob die Chatter wirklich dieselben Leute waren, die draußen auf der Straße herumliefen. Von keinem Menschen, dem sie auf der Straße begegnete oder den sie gar persönlich kannte, konnte sie sich vorstellen, daß er chattete. Die Chatter waren nicht dieselben Menschen, die in den U-Bahnen fuhren, in den Geschäften einkauften, in den Kneipen und Kinos saßen. Sie stammten von irgendeinem ganz anderen, Lea unbekannten Ort, sie waren ein Volk, eine Nation für sich und Lea die heimliche, unerkannte Grenzgängerin zwischen zwei Welten.
Die Lobby, in der die Kontaktaufnahme stattfand, war nur ein Vorraum, so etwas wie ein Bahnhof, von dem die Züge zu den eigentlichen Zielorten abgingen, zu den sogenannten Séparées. In der Lobby sah man sich um, taxierte, testete, traf die Vorauswahl. Auch im Flüstermodus war man noch nicht allein, man stand nur abseits und behielt, während man sich gegenseitig abtastete, den Rest der Chatter im Auge. Erst im Séparée war man wirklich allein, auf dem Monitor erschienen nur noch die Mitteilungen, die der Fremde am anderen Ende in seine Tastatur tippte. Man war hier anders allein als in der physischen Welt, man war mit einem Fremden allein im Äther, in irgendeinem sang- und klanglosen Nichts. Ihr erstes Séparéegespräch führte Lea mit einem zweiundvierzigjährigen Mann, der aus einem Hotelzimmer in Budapest chattete. Der erste Schriftkundige, dem sie nach ihrem allerersten Ghostdog, dem Elektroingenieur, im Cyberspace begegnet war. Ungarn war eines der Länder, die Lea einmal vor langer Zeit besucht hatte, und etwas von diesem Land hing nun an dem Fremden, obwohl er sich nur auf einer Geschäftsreise dort aufhielt. Sie brachte ihn in Verbindung mit der dröhnenden Stille der Hortobágy-Puszta, mit den Bildern der kleinen, verschlafenen Dörfer zwischen Tabak- und Maisfeldern, mit den schluchzenden Geigenklängen der stolzen, mit Gold und Klimper behängten Zigeuner. Aus irgendeinem Grund schrieb der Fremde mitten im Frühsommer von der herbstlichen Melancholie in seinen Schreibfingern. Bis zum Morgen unterhielten sie sich über Melancholie, über Ungarn, über die Liebe und über den Tod, und nachdem Lea bereits zu glauben begonnen hatte, daß sich eine Liebe zwischen ihnen anbahnte, für die es weder Altersgrenzen noch andere kleinliche Beschränkungen gab, sprang plötzlich eine Mitteilung des Systems auf ihren Monitor: »›Augenblick‹ hat den Raum verlassen.« Lea ging davon aus, daß die Verbindung zusammengebrochen war, Verbindungen nach Osteuropa waren immer labil, mit ihren brennenden, übermüdeten Augen starrte sie in die um diese Uhrzeit nur noch schmale Anwesenheitsliste, in der gleich wieder »Augenblick« erscheinen mußte, aber nach einer Stunde gab sie auf. Entweder kam ihr ferner Gesprächspartner in seinem Hotelzimmer tatsächlich nicht mehr ins Internet, oder er war Leas zweiter Ghostdog, der sich wortlos für immer verabschiedet hatte. Im Cyberspace, das war Lea noch nicht bewußt, mußte man nichts erklären, sich keinen unerwünschten Fragen stellen, es gab den praktischen Klick, mit dem man sich sekundenschnell und folgenlos für immer aus dem Staub machen konnte. Und wozu hätte ein Chatter, der sich »Augenblick« genannt hatte, ihr auch erklären sollen, daß aus ihnen nichts werden konnte, weil er ein verheirateter Mann und Familienvater war?! Und wozu hätte Lea ihn mit der Tatsache schockieren sollen, daß er sich in seiner einsamen ungarischen Hotelnacht für eine Frau entflammt hatte, die im Alter seiner Mutter war?! Manchmal, das sollte Lea noch einsehen, war der wortlose Klick an diesem Ort die weiseste Art, sich zu verabschieden. Statt banaler Enttäuschung hinterließ er ein Geheimnis, einen flüchtig schönen Schmerz. Es war ein sonniger Sonntagnachmittag im Juni, als Lea den sechsunddreißigjährigen Alexander kennenlernte. Von Anfang an war klar, daß er ein Mann von ungewöhnlicher Herkunft war, daß er in einer Welt schöner, verbürgter Sicherheiten leben mußte, das konnte er nicht verbergen, so eisern er das Geheimnis seiner Identität an diesem Tag und auch in Zukunft hüten sollte. An Unverschämtheit und Direktheit übertraf er alle anderen in den Chatrooms, zugleich verfügte er über auffällig gute Manieren, er war gebildet, ein Kenner der Literatur und Musik, er war ironisch, fordernd, weltläufig, dekadent, völlig unromantisch und zutiefst gespalten. Der eine Alexander war ein liebender Ehemann und Vater zweier Kinder, der andere hielt die Monogamie für das größte Übel der Welt und führte im verborgenen das Dasein eines Wüstlings, eines sexbesessenen Widersachers des Establishments, der bürgerlichen und kirchlichen Moral, die er aus tiefstem Herzen haßte und verachtete.
Nachdem Lea mit ihm ein paar Stunden in einem Séparée verbracht hatte und über Grenzen gegangen war, die sie mit einem Fremden noch nie überschritten hatte, erst recht nicht mit Hilfe der Technik, widerfuhr ihr eine der schlimmsten Blamagen ihres ganzen Lebens. Alexander hatte sich zum Schluß nicht in Luft aufgelöst wie
Döring, Bianca
Schwarzes Licht, S. 838
Dieckmann, Friedrich
Auf Gerald Zschorsch blickend, S. 847
Nisbet, Hugh Barr
Lessing und die Toleranz, S. 851