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Heft 1/2010 enthält:
Karlauf, Thomas
Stauffenberg. Eine Motivsuche, S. 5
Nichts unheimlicher im Leben der Völker als das
langsame Nachwirken der historischen Schuld.
Treitschke
Wie die meisten Autoren, die sich (...)
Karlauf, Thomas
Stauffenberg. Eine Motivsuche
Nichts unheimlicher im Leben der Völker als das
langsame Nachwirken der historischen Schuld.
Treitschke
Wie die meisten Autoren, die sich außerhalb des germanistischen Seminars heute mit Stefan George beschäftigen, stieß auch der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Norton am Schluß seiner vor einigen Jahren erschienenen voluminösen Studie »Secret Germany« auf Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Nachdem er 750 Seiten lang mit inquisitorischem Eifer alle Indizien zusammengetragen und so aufbereitet hatte, daß ein schnurgerader Weg vom Dichter zum »Führer« ging, stand das Denkmal des Hitler-Attentäters allerdings etwas verloren im Park der Georgeschen Lyrik. Es leuchtete nicht recht ein, weshalb der glühende Jünger, der sich im Alter von fünfzehn Jahren in den Dienst des Meisters gestellt hatte und nach dessen Tod 1933 zu den treuesten Hütern seines Vermächtnisses zählte, zehn Jahre später den Entschluß gefaßt haben soll, ausgerechnet den Mann zu töten, in dem sich – nach Nortons Verständnis – die Prophetie Georges doch erfüllt hatte. Die Sache schien dem Autor selbst nicht ganz geheuer, wie die merkwürdige Dialektik im letzten Absatz seines Buches vermuten läßt: »Bis zum Schluß blieb Stauffenberg den Idealen treu, die er von Stefan George gelernt hatte. Wir werden niemals erfahren, ob Stauffenberg begriff, daß diese Ideale und der Mann, der sie predigte, dazu beigetragen hatten, denjenigen hervorzubringen, den er vernichten wollte.«
Im Sommer 2007 rückte, ausgelöst durch Spekulationen um den Walküre-Film von Tom Cruise, Stauffenberg in den Blickpunkt der Medien. Als der Film im Januar 2009 mit einiger Verspätung in die deutschen Kinos kam, meldete sich aus Cambridge der Historiker Richard Evans zu Wort und machte unmißverständlich klar, was von der ganzen »Operation Walküre« zu halten sei – nämlich nichts. Was dem Hitler-Attentäter vorschwebte, so Evans im Magazin der »Süddeutschen Zeitung«, sei ein von George inspiriertes neuromantisches Ideal gewesen, für das es schon 1944 keine Verwendung mehr gegeben habe. Stauffenbergs Vorstellung, daß Europa nur unter Führung der Deutschen eine Zukunft habe, sei genauso anachronistisch gewesen wie seine Sehnsucht nach dem Ständestaat. Ein Mann, der »für die parlamentarische Demokratie zeitlebens nur Verachtung übrig« hatte, schien dem Autor »als Vorbild für künftige Generationen schlecht geeignet«.
Wäre Demokratietauglichkeit der Maßstab historischen Interesses, hätten wir die Geschichtsschreibung eigentlich nicht nötig – die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Es liegt in der Logik einer solchen Argumentation, daß sie den Attentäter nur als Opfer seines Wahns begreifen kann. Immerhin, räumte Evans ein, habe Stauffenberg in der Erkenntnis seiner Mitschuld verantwortungsvoll gehandelt. Weil ihm »seine Bombe vor allem als moralische Geste bedeutsam war«, sei er heute zumindest menschlich rehabilitiert – ein geradezu aberwitziger Gedanke, der das Staatsstreichkonzept schlicht auf den Kopf stellt: Wer den Umsturz plant, handelt nun einmal aus Patriotismus, wie immer er ihn definieren mag, und nicht weil er als Gutmensch in die Geschichte eingehen will. Der Artikel sei »nahezu begriffsstutzig«, befand Karl Heinz Bohrer eine Woche später in seiner Replik, »reichlich naiv, aber auch scheinheilig« und – »nicht ohne Infamie«.
Für Robert Norton war die Diskussion, wie aus dem George-Schüler der Hitler-Attentäter hatte werden können, offenbar von Anfang an schiefgelaufen. Als seien die Historiker von falschen Prämissen ausgegangen, erklärte er im Juli 2009 in einem Artikel in der »Zeit«, der Hitler-Attentäter sei gar nicht der George-Schüler. Vielmehr habe sich Stauffenberg, um den Anschlag überhaupt denken zu können, zuvor von seinem Meister befreien müssen. »Als Stauffenberg seinen unvorstellbar mutigen und einsamen Versuch unternahm, hat er sich von zentralen Idealen und Werten Georges losgesagt. Stauffenberg hat die Achtung, die man ihm jetzt zuerkennt, auf schwerste Weise verdient. Dafür verdient aber Stefan George keine.« In der Wissenschaft kommt es nach dem berühmten Wort von Max Weber darauf an, die richtigen Fragen zu stellen. Wer fragt, ob Stauffenberg in der Lage war zu erkennen, daß die Ideale, denen er folgte, den Aufstieg Hitlers begünstigt hatten, zäumt das Pferd vom Schwanz auf. Nicht weil er die Georgesche Welt als Irrtum begriff, faßte er seinen Entschluß, sondern weil er glaubte, daß Hitler seine, Stauffenbergs, Ideale verraten hatte.
»Auf innerpolitischem Gebiet hatten wir die Grundideen des Nationalsozialismus zum größten Teil durchaus bejaht«, gab Berthold von Stauffenberg, der ältere Bruder, nach seiner Verhaftung am 21. Juli zu Protokoll. »Der Gedanke des Führertums, der selbstverantwortlichen und sachverständigen Führung, verbunden mit dem einer gesunden Rangordnung und dem der Volksgemeinschaft, der Grundsatz ›Gemeinnutz geht vor Eigennutz‹ und der Kampf gegen die Korruption, die Betonung des Bäuerlichen und der Kampf gegen den Geist der Großstädte, der Rassegedanke und der Wille zu einer neuen, deutsch bestimmten Rechtsordnung erschien uns gesund und zukunftsträchtig.« Im Laufe der Jahre seien aber »die Grundideen des Nationalsozialismus … in der Durchführung durch das Regime fast alle in ihr Gegenteil verkehrt worden«.
Die Stichworte aus dem Vokabular der NS-Ideologie, auf die Berthold in den Gestapo-Verhören verwies, finden sich auch in jenem Aufruf, den die Brüder am Vorabend des Attentats gemeinsam formulierten, um den Staatsstreich sittlich zu begründen. Das »Volk, das in der Erde der Heimat verwurzelt« ist und durch seinen Stolz auf die eigene Scholle Neid und Mißgunst überwindet, wird, so heißt es in dem Memorandum, von Führern geleitet, »die aus allen Schichten des Volkes« wachsen und »durch großen Sinn, Zucht und Opfer den anderen vorangehen«. Die Gesellschaft der Zukunft müsse wieder feudalistisch aufgebaut und nach den Mustern von Herrschaft und Dienst organisiert werden: »Wir wollen eine Neue Ordnung die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt, verachten aber die Gleichheitslüge und beugen uns vor den naturgegebenen Rängen.«
Der Text, den die Brüder am Abend des 4. Juli 1944 als ihr politisches Testament verfaßten, atmete bis in die letzten handschriftlichen Korrekturen von Claus den Geist Stefan Georges. Der hatte seine Verachtung für die Masse, für alles, was mit Freiheit und Fortschritt, mit Liberalismus und Demokratie zu tun hatte, in Hunderten von Versen niedergelegt: »Schon eure zahl ist frevel«. Zur Herrschaft waren in seinen Augen nur die Wenigen bestimmt, junge Männer, die bei den Griechen »kaloikagathoi« hießen, die Schönen Guten, die schon im Knabenalter ausgewählt und auf ihre künftigen Aufgaben im Staat einschließlich des Kriegsdienstes vorbereitet wurden. Im 20. Jahrhundert – so wollte es George – sammelten sich diese Besten um ihn:
Ich sah von fern getümmel einer schlacht
So wie sie bald in unsren ebnen kracht.
Ich sah die kleine schar ums banner stehn ..
Und alle andren haben nichts gesehn.
Dieser »kleinen Schar« hatte der Meister nicht nur die Zukunft Deutschlands, ihr hatte er das Schicksal des ganzen Kontinents in die Hände gelegt. Schon in den Büchern der Ahnen sei zu lesen, hieß es in einem der großen programmatischen Gedichte aus der Endphase des verlorenen Ersten Krieges, »dass einst / Des erdteils herz die welt erretten soll«. Je schlechter es um die Nation bestellt war, desto hemmungsloser richteten sich die Phantasien ihrer Vordenker auf das, was am Ende das Geistige selbst genannt wurde; von nichts träumten die Deutschen während des 19. Jahrhunderts lieber als von geistiger Vorherrschaft. Mit der Griechenschwärmerei fing es an; der Deutsche sei aufgerufen, das Erbe der Griechen anzutreten, hatte Hölderlin um 1800 wortmächtig in die Welt gesetzt. Hundert Jahre später war deren Genius restlos in den deutschen Volkskörper überführt. »Wir bekennen uns«, hieß es daher konsequent im »Schwur« der Stauffenbergs, »im Geist und in der Tat zu den grossen Überlieferungen unseres Volkes, das durch die Verschmelzung hellenischer und christlicher Ursprünge im germanischen Wesen das abendländische Menschentum schuf.« Dieser besonderen Konstellation verdanke der Deutsche »die Kräfte, die ihn berufen, die Gemeinschaft der abendländischen Völker zu schönerem Leben zu führen«.
Sich heute in solche Phantasiewelten hineinzudenken, fällt unendlich schwer. Wir empfinden die Szene des 4. Juli als geradezu gespenstisch und fragen nervös, in welcher Wirklichkeit die Stauffenbergs eigentlich lebten. Als folgten sie anderen Gesetzen, als gälte für sie ein anderes Zeitmaß, blieben sie bis in die letzten Stunden hinein ihrer elitären Grundhaltung treu. Ihre kalte, mitleidlose Arroganz macht sie uns fremd, ja verdächtig.
[...]
SINN UND FORM 1/2010, S. 5-17
Hansen, Martin A.
Dialog über Tötung und Veranwortung (1944), S. 18
Lund, Joachim
Den Feind bekämpft man nicht mit Vaterlandsliedern. Martin A. Hansen und die Spitzelmorde in Dänemark, S. 27
Fumaroli, Marc
Beim Wiederlesen von Mario Praz, S. 35
Aber ich weiß auch, daß man oft meint, ich
sage etwas Neues, wenn ich etwas Altes sage,
das aber die meisten noch nie gehört haben. (...)
Fumaroli, Marc
Beim Wiederlesen von Mario Praz
Aber ich weiß auch, daß man oft meint, ich
sage etwas Neues, wenn ich etwas Altes sage,
das aber die meisten noch nie gehört haben.
Cicero
Mario Praz. Bis vor kurzem (obwohl er bereits 1982 starb) geschah es mitunter schon bei der Andeutung seines Namens, daß ein italienischer Gesprächspartner Ihnen mit einer Hand den Mund zuhielt und die Finger der anderen beschwörend kreuzte. L’Innominabile! Und dann überhäufte man den Ausländer, der ahnungslos, unbedacht oder dumm genug gewesen war, auf Okkultes anzuspielen, zur Erbauung mit mehr oder weniger tragischen Geschichten, um die verhängnisvolle Macht des »Unnennbaren« zu beweisen, dessen Name noch immer Furcht einflößte. Nomen, numen. Das ging vom völligen Stromausfall bei einem Fest, das der Professor soeben verlassen hatte, bis zum Unfall eines Unglücklichen, der dem schrecklichen jettatore über den Weg gelaufen war.
Praz, der als junger Mann wohl unter dieser kaum beherrschbaren Gabe litt, hatte sich mit dem Schrecken abgefunden, den er verbreitete. Er kannte die mittelalterliche Legende, die Vergil zum Totenbeschwörer macht, und der Gedanke, er sei selbst einer, hat ihm als Historiker womöglich gefallen. Dennoch mußten sein Ruf und dessen Wirkung ihn melancholisch stimmen und ihm sein Anderssein besonders bewußtmachen. Und welche Genugtuung für den künftigen Autor von »Romantic Agony«, dasselbe zu durchleben wie Paul d’Aspremont, einer der unheimlichsten Helden Théophile Gautiers, der die schöne, puritanische Miss Anna Ward liebt: »Paul flößte sich selbst Angst ein: Ihm war, als schleuderte der Spiegel das Fluidum seiner Augen wie vergiftete Wurfspieße auf ihn zurück: Stellen Sie sich Medusa vor, die im falben Widerschein des Bronzeschilds ihr grauenhaftes, verzauberndes Haupt sieht.«
Vielleicht trug die Ausgrenzung dazu bei, daß der in Florenz aufgewachsene Piemonteser sich früh zu den in der Toskana lebenden Briten hingezogen fühlte – ein Vorzeichen seiner Berufung zum unbestrittenen Meister der Anglistik. In Italien sind Einsamkeit und Melancholie, wie Praz sie empfand, eher ungewöhnlich, dagegen sind Spleen und Exzentrik, die darauf beruhen, Grundzüge der englischen Kultur. Es bedurfte des ganzen Ansehens, das ihm die grenzenlose Bewunderung der anglo-amerikanischen Welt für seine Bücher und die Freundschaft etwa eines T.S.Eliot oder Edmund Wilson eintrugen, um die öffentlich bezeugte Abneigung Benedetto Croces zu kompensieren, des italienischen Literaturpapstes der Zwischenkriegszeit, der kein Buch von Praz in seiner Bibliothek duldete und sich bekreuzigte, wenn man ihn erwähnte. Das hinderte Praz nicht, nach seiner Rückkehr aus England ein halbes Jahrhundert lang glorreich als Professor für englische Literatur an der Universität Rom zu wirken und mit Landsleuten vom Rang eines Eugenio Montale oder Emilio Cecchi wie mit seinesgleichen zu verkehren. Mit der Zeit trat zu dem Schrecken, den er seinen Kollegen einflößte, Bewunderung, ja Verehrung, die ihm seine wöchentlich auf Seite drei von »Il Tempo« abgedruckten Essays bei einer großen Leserschaft verschafften. Mehrere Bände mit Artikeln über das alte und neue Rom waren unter den Titeln »Römisches Panoptikum« und »Die Stimme hinter der Bühne« erschienen. Die Thematik gibt einen überzeugenden Eindruck von Praz’ »journalistischen« Arbeiten, die das literarische und geistige Niveau von Sainte-Beuves »Montagsgesprächen« erreichen.
Die terza pagina italienischer Zeitungen (für die auch Kunsthistoriker wie Federico Zeri und Autoren wie Guido Ceronetti schreiben) ist wie die entsprechenden Seiten der Sunday Times, der Neuen Zürcher oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Relikt des 19. Jahrhunderts, zumindest für uns in Paris. Aber ein segensreiches Relikt, denn es verschafft den Talenten in vielen europäischen Ländern ein Auskommen, ohne das sie sich als Clowns verdingen müßten. Derartiger Aufgeschlossenheit verdankt sich auch die Existenz von Rezensionszeitschriften wie Times Literary Supplement oder New York Review of Books (die man in Paris zu kopieren versucht, ohne ihre Funktion in Amerika zu kennen). Praz’ Essays, die in Haltung und Intensität seinen Büchern gleichen, aber wohl mehr von ihm preisgeben, und seine Rundfunkbeiträge haben ihn zu einer Legende gemacht, die weniger auf abergläubischer Furcht als vielmehr auf Bewunderung und Respekt beruht. Als aber nach seinem Tod in seiner Wohnung in der Primoli-Stiftung eingebrochen wurde, kursierte in der guten Gesellschaft das Gerücht, der diabolische Professor sei zurückgekehrt, um die für die Öffentlichkeit bestimmten Sammlungen zu verwüsten.
Das Kino hat ihn schon zu Lebzeiten heiliggesprochen. Praz diente Visconti als Vorbild für den Helden eines seiner letzten Filme, »Gewalt und Leidenschaft«, auf englisch »Conversation piece«, eine Anspielung auf das Buch, in dem Praz seine Sammlung von Bildern dieses im 19. Jahrhundert beliebten Genres erklärt, für das er sich wie immer als erster interessierte: friedvolle Szenen im Familien- oder Freundeskreis, Aquarelle von Malern oder, öfter, von begabten Amateuren, auf denen Interieurs, Menschen im Gespräch oder bei Hausmusik zu sehen sind. Bilder einer Hochkultur, die er wegen ihres diskreten Charmes oder auch ihrer Schönheit für wertvoller erachtete als viele gutgläubig angebetete »Meisterwerke« auf dem Kunstmarkt oder in Museen. Doch man muß den Visconti-Titel gegen den Strich lesen. Das »Interieur« des Films ist keineswegs friedvoll und die »Gruppe« nicht durch verwandtschaftliche Gefühle oder die Liebe zur Musik verbunden. Die Geschichte spielt in einem römischen Renaissancepalast, den sein Besitzer, ein alter Hagestolz, luxuriös und raffiniert im Stil des 19. Jahrhunderts ausgestattet hat, und wie bei Praz hängen überall Conversation pieces. Doch Viscontis Ästhet war, wenn ich mich recht erinnere, so unklug, eine Etage an eine Familie zu vermieten, die am Puls der Zeit lebt, sich im New Yorker Stil einrichtet und die Baudelairesche »Zweizimmerwohnung«, wo der Einsame seinen Gedanken nachhängt, mit Rockmusik, freien Sitten und Radical chic heimsucht. Insgeheim fasziniert von ihrer lärmenden Vitalität und provokanten Sinnlichkeit, verbarrikadiert er sich aber nicht gegen die Barbaren oder wirft sie hinaus, sondern läßt sie gewähren und sich in diesem Luxus aus einer anderen Zeit, der ihnen übrigens behagt, ungeniert amüsieren. Eine Welt geht zu Ende, eine andere beginnt, und zwar mit der Demütigung und Niederlage des leicht masochistischen Ästheten, der Visconti so gefiel. Falls Praz für diesen Film ungewollt Modell stand, ist die Karikatur kaum zu überbieten. Unerschütterlich wie ein Fels, wäre er, wie der letzte Herrscher von Byzanz auf der Festungsmauer, eher mit der Waffe in der Hand gestorben, als moderne Ganoven, wie der Film sie feiert, auch nur für eine Sekunde in sein Haus oder gar sein Herz zu lassen. Die Besetzung der Figur mit dem athletischen Burt Lancaster, nicht mehr ganz so verführerisch wie in »Verdammt in alle Ewigkeit«, aber in Größe und Gestalt an einen alternden Sheriff erinnernd, bildet einen unbeabsichtigten komischen Gegensatz zu dem vertrockneten kleinen Professor, der zudem mit einem Hinkefuß geschlagen war, eine noble Behinderung, die er mit Talleyrand gemeinsam hatte, die aber zu seinem Ruf als Inkarnation des Teufels beitrug. Bleibt noch die museale Wohnung, ein antiquarisch-cineastisches Meisterwerk. Mit der von Praz hatte sie genausoviel gemeinsam wie die von Huysmans in »Gegen den Strich« für Des Esseintes erfundene Behausung mit ihrem Vorbild, dem vom jungen Robert de Montesquiou im Haus seiner Eltern am Quai Conti ausgebauten Dachboden. Huysmans kannte ihn nur aus einem begeisterten Bericht Mallarmés. Aber durch die römische Presse, die, wiewohl spät, Praz und seine Sammlungen zum Reportagethema machte, sowie durch Erzählungen zumeist englischer und amerikanischer Besucher (Gore Vidal war Stammgast im Palazzo Ricci) und durch die Lektüre von »La Casa della Vita«, einem zumindest eigenwilligen Buch, das mit dem Roman »Der Leopard« des Fürsten von Lampedusa um den Premio Viareggio konkurrierte, wußte Visconti genug über diesen legendären Ort, um daraus gleichsam einen prächtigen Zauberspiegel des 19. Jahrhunderts zu machen, einen Köder für die unwiderstehlichen jungen Gauner. Die Figur, die Visconti auf das universitäre Fossil projizierte, als das er Praz zweifellos sah, war der gleiche Narziß der Alten Welt wie der Fürst in »Der Leopard« oder der Schriftsteller im »Tod in Venedig«, der sich mit Freuden einem Narziß der Neuen Welt unterwirft. Womöglich war Visconti nicht der erste, der diesen Schluß zog, ausgehend von Praz’ erstem Buch, das ihn 1930 weltbekannt machte.
»Liebe, Tod und Teufel« galt vielen als indirektes Geständnis. Praz diagnostiziert darin minutiös die Pathologie der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts, die von de Sade, Maturin, Byron und de Quincey genährt wurde und mit Baudelaire, Swinburne und den »Dekadenten« ihren Höhepunkt erreichte. Es war sozusagen ein wildes Fin-de-siècle-Relikt von Aby Warburgs »alten Göttern«. Das Fazit, Praz verberge hinter der Maske des Gelehrten seine Obsession für makabre Erotik und okkulte Handlungen, war schnell gezogen und wurde auch von seinem Ruf als jettatore begünstigt. Um so mehr, als er Italien in seinem gelehrten Buch nicht verschonte. Im letzten Kapitel zeigt Praz ohne Rücksicht auf den Nationalmythos Gabriele d’Annunzio (den Helden von Fiume, vom Mussolini-Staat schon zu Lebzeiten inmitten des Plunders seiner Villa Vittoriale einbalsamiert), den Autor von »Lust«, als »lateinischen« Interpreten der rasenden »Nervosität« der Jahrhundertwende, als Dichter des Blutes, der Lust und des Todes, von kraftvollem Ungestüm und dem sinnlichen theatralischen brivido Italiens, der, anders als die frostigen Geister des Nordens, Bourget, Barrès oder Butler, den Klang seiner Sprache geradezu schamlos modulieren konnte. Das war zuviel für England, wo das Schlußkapitel zensiert und der zu eindeutige Titel mit dem akademischen Begriff »Romantic Agony« übersetzt wurde, unter dem das Buch zum Triumph wurde. In Italien, wo man nicht zuviel über sich selbst wissen möchte, las man das Kapitel, schrieb aber die treffenden Analysen des Autors lieber dessen erklärtem Hang zum heidnischen Sabbat zu. Lange bevor er Viscontis Filmheld wurde, machte ein ziemlich seltsames Mißverständnis den Historiker Praz zur Hauptperson seines Buches, zum Kapitän des »Narrenschiffs«, das er so ironisch distanziert wie kenntnisreich beschrieben hatte. So wurde Praz Opfer eines Fehlurteils, das die umgekehrte Wirkung hatte wie jenes, von dem Anthony Blunt lange profitierte. Während Praz, dieser Mann der Ordnung und der Wissenschaft, dieser moralisch und physisch kerngesunde Gelehrte, aufgrund seines literaturpsychologischen ersten Werkes als schwarze, verderbte Seele galt, vor der man sich hüten mußte, konnte Blunt als anscheinend untadeliger Kenner der klassischen französischen Kunst, der eine monumentale Monographie über den Maler-Philosophen Nicolas Poussin verfaßt hatte, auf einhellige Bewunderung und allgemeinen Respekt bauen – bis er zum Erstaunen der akademischen und bald auch der gesamten Welt als Spion und Verräter entlarvt wurde. Der Teufel hat solche Überraschungen auf Lager.
Das Vergleichen der beiden Männer und ihrer Werke ist um so mehr berechtigt, als beide mit dem Warburg-Institut verbunden waren. Praz veröffentlichte dort 1939 seine »Studies in Seventeenth Century Imagery«, den Anfang der akademischen Industrie, die sich »barocken« Emblemen und Inschriften widmet. Aby Warburg war eines jener Genies, an denen Deutschland im 19. Jahrhundert so reich war: Er reformierte die Kunstgeschichte, indem er in Kunst und Kultur Metamorphosen lebendiger Formen sah, die über eigenständige Energie verfügen und sich tarnen, um zu überdauern; eine seiner großen Entdeckungen war das »Nachleben« der heidnischen Götter in christlichen »Dämonen«, die als Sternbilder weiterexistieren und den Menschen Furcht einflößen. Das spät zu Ruhm gelangte Werk über »Saturn und Melancholie« ist ein seinen Schülern Saxl und Panofsky zu verdankender Niederschlag seiner Arbeiten, die größtenteils nicht veröffentlicht wurden, aber die anglo-amerikanische Welt sehr beeinflußten, auch durch seine Bibliothek und sein Institut, die er von Hamburg nach London verlagerte, um sie vor den Nazis zu retten. Die Warburgsche Tradition ist, wiewohl durch starke Persönlichkeiten gebrochen, noch heute erkennbar, etwa bei Frances Yates, die sich dem Okkultistischen in der Renaissance widmet, oder bei D.P.Walker, der das Wiederaufleben der spätantiken Theurgie der »Magier« im florentinischen Neoplatonismus nachwies. Der in England an seiner »Romantic Agony« arbeitende junge Praz war durch sein Interesse an den »Nachtseiten« der Romantik zum »Warburgianer« prädestiniert, sofern er nicht schon seit den dreißiger Jahren für die Ausrichtung dieser außergewöhnlichen Gelehrtengruppe empfänglich war.
Im Winter 1928 präsentierte Warburg (er starb 1929) in einem Saal der Bibliotheca Hertziana in Rom sein großes Projekt Mnemosyne. Begeistert lauschte Ernst Robert Curtius diesem Vortrag, der die Saat für sein zwanzig Jahre später veröffentlichtes Monumentalwerk »Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter« legte. Ob auch Praz zugegen war? Zumindest hat er den Vortrag gelesen und darin Anregungen gefunden.
Blunt, der Mitarbeiter des Instituts war, bezeigte offenbar stets eine etwas arrogante Reserviertheit gegenüber den kühnen Erkundungen des »Irrationalen«, die den Ruhm Warburgs und seiner begabtesten Schüler begründeten. Demonstrativ bevorzugte er die ausgewogensten und kältesten Formen der akademischen Tradition, die er streng positivistisch untersuchte, und trieb selbst seine »italienische« Interpretation Poussins in diese Richtung. Unter dem Deckmantel der Klassik war das »grüne Leuchten« Mr. Hydes, der den Russen gefährliche Geheimnisse verkaufte, fast bis zum Schluß unsichtbar. Was davon in seinen feinen Zügen mit der distanzierten Miene aufschien, verstärkte noch seine aristokratische Isolation, die jedem auffiel. Solche eigenartige Falschheit ist bei Italienern selten, und Praz war sie fremd, obwohl er ihre Unmenschlichkeit ermessen konnte. Seine Reise ans Ende der Nacht der Literatur des 19.Jahrhunderts machte er jedenfalls, ohne Schaden zu nehmen, als barmherziger und gebildeter Laienpriester. Die Bettlektüre des angeblichen Totenbeschwörers war Montaigne.
Montaignes »Essais« sind ja auch nicht gerade ein Brevier der Unschuld. Auf seine Art war auch Praz ein Spion und Verräter. Aber nach Art Montaignes, wie alle wahren Priester und großen Schriftsteller. Er war eine zu lautere Natur, um damit zufrieden zu sein, für eine fremde Macht zu spionieren. Sein Geheimnis bestand nicht darin, fernen Zeitgenossen zu dienen, um nahen Zeitgenossen zu schaden. Montaigne war ein Agent, aber einer, der die Horde seiner Zeitgenossen freudig verlassen hatte und mit fliegenden Fahnen zu den Alten übergelaufen war. Die ihres Amtes würdigen Priester sind Agenten Gottes in der Welt. Schon immer haben sie einander zugeraunt, was Lear zu Cordelia sagt: »Zum Kerker, fort; da laß uns singen wie die Vögel in dem Käfig. (…) Und hüllen uns in das Geheimnis der Dinge, als wären wir Gottes Spione …"
Alle großen Schriftsteller betrügen ihre Zeit mit den verschiedensten Mata Haris, die ihre Musen sind, und ihre Mission, das Leben der Formen zu verewigen, ist ein Hochverrat an ihrer Zeit, die aus freien Stücken an deren Zerstörung arbeitet. Unter den Augen der Barbaren, die Barrès gerade erahnte, verschrieb sich Praz mit Leib und Seele dem gegnerischen Lager, der letzten Epoche europäischer Zivilisation, dem 19. Jahrhundert. Er blieb sein Leben lang dessen Geheimagent unter den Zeitgenossen, eine fünfte Kolonne ganz allein. Damit hatte er in mancherlei Hinsicht ein gefährliches Leben gewählt. Aber auch ein freies Leben im Dienste dessen, was man liebt und was diese Liebe verdient. Warum dieses Überlaufen zu den Verstorbenen? Das war keine nekrophile Verirrung, und auch kein populärer Totenkult. Es ist viel einfacher und schlichter: Die Toten sind vollendet. Sie sind vergangen, geläutert, verwandelt durch die Wasser der Zeit. Wer diese Prüfung besteht, hat seine Form gefunden und gebietet über das Sakrament der Formen. Der Tod ist die Vollendung der Zivilisierung. Die Lebenden, vor allem jene, die nichts mit den Verstorbenen gemein haben wollen, die Überlebenden sind formlos und unvollendet, fühlen sich aber überlegen und stellen ihr Leben zur Schau. Doch das formlose Leben ist gemein, unfruchtbar, eine célineske Wucherung. Gestern wie heute, nie wird ein Mann von Herz und Geist daran denken, ihm in diesem Zustand zu dienen und zu huldigen. Nur die Verbündeten fehlen. Sie sind dort, wo die Formen sich halten und nichts anderes wollen, als sich im Reich der Zeit, wo die Toten über sie gebieten, zu verewigen und zu erneuern. Praz entschied sich für das Lager der Mnemosyne. Aber woher diese Vorliebe für das 19. Jahrhundert? Das ist eine relativ nahe Zeitregion, fast noch gegenwärtig. Sie ist, sie war noch gestern um uns. Genau dafür hassen sie die Zeitgenossen, die weder Kraft noch Neigung zum Weitermachen haben.
Praz spürte als erster diese eigentlich moderne Situation. Er erkannte, diese Epoche war auch eine verlassene, der sogar die Weihen der Geschichte verweigert wurden, weil sie ein so naher und schmerzlicher Vorwurf war. Deshalb liebte und studierte Praz sie, ganz wie Montaigne die Antike liebte, nur eben auf italienische Art, mit einer von Trauer überschatteten, geduldigen, fast fetischistischen Liebe zu dieser jüngst Verstorbenen. Die Sinne waren daran ebenso beteiligt wie das Herz und der Geist mehr als die Ideen, die bei Praz, der dafür zu klug war, nur mäßiges Interesse weckten. Um in eine dauerhafte Kommunikation mit seinen Verbündeten aus einem anderen Jahrhundert einzutreten, war Praz gezwungen, sich mit Hilfe mehrerer historischer Disziplinen und der Autobiographie eine einzigartige Methode zu erfinden. Zu den traditionellen Kanälen, geretteten Texten und Gegenständen kamen bei dieser so nahen Zeit ganze noch intakte Städte hinzu, unversehrte private oder öffentliche Interieurs, geringgeschätzte Kunstwerke und Gebräuche, die schon durch ihre Menge verstörten, und sogar verspätete Zeugen, deren Gesten, Manieren und Erinnerungen von dem im Sturm von 1914/18 untergegangenen Jahrhundert kündeten und damit eine wahre spirituelle Transfusion ermöglichten. Praz’ Wurzeln reichten ins 19. Jahrhundert, er hatte seinen Duft geatmet und sein Licht gesehen. Mit dem ungeheuren Gedächtnis des Gelehrten, mit der Disziplin des Philologen, der Sensibilität des Sammlers und dem Talent des Künstlers wurde Praz der Schliemann eines Troja, dessen Äneas er zunächst war, der Sohn im Exil:
Infandum, regina, jubes renovare dolorem
Troianas ut opes et lamentabile regnum
eruerint Danai …
Praz entwickelte einen eigenen Stil für dieses unendliche Thema, das er als erster erkannte, als alle um ihn herum sich davon abwandten oder nicht hinsehen wollten. Und man brauchte schon Stil, um die Vielfalt einer Methode auszuschöpfen, die literarische und psychologische Analyse mit der Beschreibung von Kunstwerken, die Behandlung kleiner Gegebenheiten mit der Deutung von Orten und Gesten verknüpft, um »die wiederhergestellte Vergangenheit in der Gegenwart« sichtbar, hörbar und spürbar zu machen und in dieser Vergangenheit die Vergangenheiten, die darin widerhallen. Diese Wissenschaft des Trauerns machte ihn unversehens zum Verbündeten des Sainte-Beuve der »Montagsgespräche« und des Baudelaire der »Ästhetischen Merkwürdigkeiten«. Spielerisch erfand er Disziplinen, geruhte aber nicht, sie theoretisch zu begründen, eine Geschichte der Mentalitäten, der Sitten und Haltungen zu Liebe und Tod, eine Geschichte des Privatlebens, der niederen Künste, der Symbolsysteme. In Gestalt der Semiologie ist diese romaneske Mimesis, von der Praz viel gelernt hat und die Balzac, Tolstoi, Flaubert, James im 19. Jahrhundert bis zur Magie trieben, längst gängige Münze. Als Schüler dieser Magie stellte der Schriftsteller Praz sie dem Historiker Praz zur Verfügung, und seine sinnlichen, bildersprühenden Texte voller »Korrespondenzen« haben nichts von einstudierter Kunstprosa; sie klingen wie unterirdische Musik, träumerisch und andächtig, und lassen die schwindelerregende Virtuosität vergessen, die anscheinend ganz selbstverständlich sprudelt wie leises, vertrauliches Plaudern. Nirgends wird dieser natürliche Ton, in dem wissenschaftliche Durchdringung und lyrische Teilnahme verschmelzen, so deutlich wie in den Artikeln der terza pagina, die zu Praz’ eigentlichem Genre wurden, zur ihm gemäßen Form, wo die erstaunliche Vielfalt an Tönen und Themen die unverwechselbare Farbigkeit seines Stils nicht überdeckt, sondern verstärkt. So ist der große Schriftsteller erst nach der späten, fast postumen Buchveröffentlichung dieser Artikel ganz aus dem Schatten des großen Historikers getreten. Dem Historiker schadet das nicht, da sich sein Wissen durch Neugier und Genauigkeit vermehrt, und der Schriftsteller steigert dank der wohlwollenden Leser die Macht seiner Suggestion, seines Gefühls und seiner Ironie. Liest man dann noch einmal »La Casa della Vita« oder »Gusto neoclassico«, entdeckt man, was man zuvor als Untersuchungen oder Essays gelesen hat, als Poesie wieder. Und man bemerkt, daß diese Werke aus zum »Hören« wie zum Verstehen gedachten »Stücken« bestehen. Sobald man Praz’ Kunst als Schriftsteller erkannt hat, begreift man, wieso er als Totenbeschwörer gelten konnte. Es gibt ja zwei Arten von Historikern: Die meisten waren und sind bestrebt, die erforschte Vergangenheit zu bannen und für die Gegenwart zu verflachen, sie quasi vorzukochen, wie ich gern sage, weniger um empfindlichen, sondern um robusten Mägen die Verdauung zu erleichtern. Die andere, seltenere Art, deren Idealtypus Praz sein könnte, nimmt sich der Vergangenheit an und gibt sich ihr hin und macht sie durch diesen Austausch in ihrer Blüte sichtbar, ohne Rücksicht darauf, ob sie die Lebenden erbost und die Moral der Truppe untergräbt. Praz hat etwas von Tacitus. Und von Vergil. Er glaubt an die Wahrheit, vor allem aber an die Schönheit. Er weiß, beide können verletzen. Aber er weiß auch, daß beide zusammen überzeugen, bewegen, versöhnen, zivilisieren können.
Zivilisieren ist das Schlüsselwort. Schließlich stammt die Vorstellung von Geschichte, die Praz zum Schriftsteller, ja Dichter gemacht hat, vor allem von einem zivilisierten Menschen. Zivilisiert ist heute ein fast verpöntes Wort, anstößiger als Wahrheit, Schönheit, Poesie oder Bildung, die ihrerseits an der Grenze des Erträglichen sind. Man hat sogar versucht, seine Bedeutung zu verändern, weil man befürchtete, daß es doch noch verführerisch sein könnte. Ein zivilisierter Mensch ist ein Weltbürger, der überall zu Hause ist, wo eine Welt existiert, und in allen Zeiten, in denen es eine Welt gab. Eine Welt ist nicht die Welt, und Weltläufigkeit hat wenig mit Zivilisiertheit zu tun. Eher mit der Zugehörigkeit zu einem Orden, einer Art Ritterorden. Es ist ein alter Orden, der sich aber den Umständen anzupassen versteht. Als Mitglied gönnt man sich den zum Überleben der Spezies unnötigen Luxus, sein Empfinden und Verhalten Formen und Regeln zu unterwerfen, die, obzwar ungeschrieben, überall stillschweigend anerkannt werden, wo diese Ordnung geherrscht und eine Welt hervorgebracht hat. Und wenn es einen Orden gibt, gibt es auch einen Corpus der Zivilisierten im Sinne des corpus mysticum. Er ist grenzen- und alterslos. Seine Seele ist die Literatur, doch die mündliche Überlieferung, Freundschaft und Erfahrung sind für ihn so unverzichtbar wie moralische Unabhängigkeit. Leider wird Zivilisiertheit heute leicht mit Konformismus verwechselt. Dabei sind es Gegensätze. Der Konformist versucht seine Fassade so zu gestalten, daß er mit den »modernen Manieren« übereinstimmt. Er gönnt sich keinen Luxus. Aus Geiz hält er am Jetzt und dessen chaotischen Gesetzen fest. Der Zivilisierte hat freiere Bewegungen, deren Kraft und Vielfalt aus einem Formengedächtnis stammen, das er oder das ihn gewählt hat und eine Ordnung, Regeln und unsichtbare Referenzen enthält. Der Zivilisierte entgeht der Herrschaft des Unmittelbaren dank der Korrespondenzen seines Lebens mit »früheren Leben«, die mit seinem verwandt sind und an denen er brüderlich teilhat, gleich, welchen Ländern oder Milieus sie angehören. Von einer »Welt« kann man erst sprechen, wo dieser geistige Luxus eine Bedeutung hat und die Leidenschaften des Jetzt in Schach hält.
Mario Praz, der Historiker, der Schriftsteller, der Lehrer, war als wahrhaft Zivilisierter eine Art Kentaur, dessen Kopf und Körper einer poetischen alten Ordnung entstammen, aus der sie ihre Freiheit und ihr Gesetz beziehen und die ihnen kraft der Erinnerung die Sinne schärft. Wenn er als Erinnerungsregion das 19. Jahrhundert wählt, dann deshalb, weil die Poesie dieser vielfältigen Epoche viele andere Poesien umschloß: Kein Jahrhundert war so empfänglich für frühere, keine Zivilisation so bemüht, frühere zu integrieren. Das 20.Jahrhundert wertet diese mnestische Großzügigkeit als Eklektizismus. Praz sah darin einen Gipfel der Zivilisation, hier fühlte er sich unter seinesgleichen, und er hatte für die »verräterischen Einzelheiten« ebensoviel Verständnis wie für die epischen Kraftlinien dieses Jahrhunderts. Eine besondere Vorliebe (die der schwarzen Legende, die ihn quasi auf »The Romantic Agony« reduzierte, widersprach) hatte er für die französische Seite im Europa des Novecento, für das Empire Napoleons und die Familie Bonaparte, die er besser als andere verstand. Diese scheinbar »neue« Familie, die in Wahrheit einer viel älteren und noch nicht so verbrauchten Tradition angehörte wie die alten Dynastien in Rom während der Renaissance, errang dank des Geschicks, der Umtriebigkeit und Energie ihrer Mitglieder mehrere Throne. Beinahe wäre das Empire zur Keimzelle eines augusteischen Europas geworden, und diese Familie, deren Gesetz aus längst vergangenen kraftvolleren Zeiten stammte, hätte den Traum von einer Pax Romana wahrgemacht, den Europa seit den Invasionen der Barbaren hegte. So kurz Napoleons Kaiserzeit auch erscheint, innerhalb weniger Jahre entstand eine einheitliche Zivilisation von Neapel bis Stockholm, von Madrid bis Tilsit, deren Stil, Kraft und Poesie Praz als erster rehabilitierte. Der Sturz des Empire verhinderte ein französisches Europa, das Napoleon mit seinem Schicksal gleichgesetzt hatte. Der Piemonteser Praz war aber auch empfänglich für das Europa nach dem Wiener Kongreß, das erst nach einem Jahrhundert zerfiel: 1815–1914. Er hat dessen viele Facetten hervorgehoben, englische, österreichische, russische und französische. Ausgehend von einem Conversation piece, einem Genrebild von Zoffany, einem Biedermeier-Möbelstück, einem Niello-Ei von Fabergé oder einem Roman von Dickens oder Tolstoi, einem Gedicht von Tennyson oder Baudelaire, entwickelte er seine gelehrten Betrachtungen, die nach und nach einen verschwundenen Moment der Zivilisation bis auf den Duft und das Gefühl genau wiedererstehen ließen. Seine Erinnerung sympathisierte mit dem, was schon Erinnerung war, denn alles, was diese zivilisierten Familien hinterlassen hatten, war ein Spiel mit früheren Formen, die Rekapitulation einer in einer flüchtigen Gegenwart neuerfundenen Geschichte, konzentrische Kreise von Echos. Diese mnestische Kette, der Praz sich verbunden fühlte, rühmte er in vielen Büchern, die so etwas wie »Tausendundeine Nacht« des 19. Jahrhunderts darstellen. Man müßte ihnen noch seine gesammelten Zeitungsartikel hinzufügen, in denen die italienischen Leser als erste Scheherazade hinter der Maske des jettatore erkannten.
Praz’ Geschmack an literarischen Pilgerreisen (belegt durch sein Buch »Il mondo che ho visto« – Die Welt, die ich gesehen habe –, in dem er von seinem Besuch in Jasnaja Poljana erzählt) war mir stets fremd. Ich ahnte daher nicht, daß ich selber eine machte, als ich den berühmten Professor in der Via Giulia besuchte, angekündigt und begleitet von meinem Freund Bruno Neveu, der in Rom lebte und schon einmal bei ihm war. Hätte ich eine machen wollen, dann in den Palazzo Ricci, in dem Praz wohnte, da dieser in zwei Romanen des 19. Jahrhunderts vorkam, die ich sehr schätzte. Da war sie also, die traurige fürstliche Bleibe, die Henry James und Emile Zola inspiriert hatte. Im »Bildnis einer Dame« büßt die schöne, schwärmerische Amerikanerin Isabel Archer hier dafür, daß sie den Abenteurer Gilbert Osmond geheiratet hat, der ihr als ein in die schönen, feinen Dinge Europas »Eingeweihter« erschien, aber nur der übliche Kultursnob ist. Und auch die melodramatische Schlußszene von »Rom«, dem einzigen Zola-Roman, der mich fasziniert, spielt hier. Ein Kardinal, der Papst werden soll, merkt, daß nicht einer seiner Rivalen, sondern seine geliebte Nichte vergiftet wurde, und fordert ihren Verlobten auf, sie auf der Stelle zu lieben, vor seinen Augen, damit sie nicht stirbt, ohne das Feuer der fleischlichen Leidenschaft gespürt zu haben. James und Zola haben das Dekor gut gewählt. Die abweisende Fassade und der nüchterne cortile des Gebäudes, feucht und lichtlos, erinnern mehr an das Reich Philips II. als an das Rom Raffaels oder Berninis. Aber ich sah keinen Zusammenhang zwischen der Phantasie der Schriftsteller, die diesen alten Palast zu neuem Leben erweckt hatten, und dem Professor, der dort wohnte. Ich empfand für ihn Respekt, ähnlich dem, der Paul Hazard für seine »Crise de la conscience européenne« gebührt oder Marcel Bataillon für »Erasme et l’Espagne«. Ein berühmter Ahne, was seine Gelehrtheit betraf. Ich hatte erst wenig von Praz gelesen und hegte noch das französische Vorurteil, daß ein großes Gedächtnis und literarisches Genie unvereinbar seien.
Eine ältere Hausangestellte mit weißer Schürze führte uns wortlos hinein. Schon im kaum erleuchteten Vestibül wurde man überwältigt von den riesigen, schweren Schränken und Bücherschränken und der seltsam harmonischen Anhäufung von Büsten, Statuen, Lithographien, Gemälden, Konsolen, die jeden freien Spalt zwischen den Möbeln einnahmen. Dann mußte man sich hinter der Bediensteten durch einen schmalen Gang mit niedriger Decke an gewöhnlichen, mit Taschenbüchern vollgestopften Regalen vorbeischlängeln, wo auch ein ganz gewöhnliches Telefon stand. Am Ende dieses für eine Intellektuellenwohnung typischen Verbindungsgrabens stand man plötzlich, staunend über den Kontrast, in einem gigantischen salone. Der Professor, der uns entgegenkam, war klein, trug einen dunklen Straßenanzug mit steifem Kragen und wirkte so winzig, als stünde er am anderen Ende eines großen Platzes; Stock und Hinkeschritt hallten auf dem Parkett in einem synkopierten Rhythmus, vor dem ganz Rom floh. Gestalt und Umgebung aber traten völlig in den Hintergrund, wenn man in sein strenges Gesicht blickte, das erschreckend asymmetrisch war, ein Auge halb geschlossen, das andere schwarz und herrisch, das in Stein gemeißelte Patrizierantlitz eines Mannes, der sich der Wissenschaft verschrieben hat.
Doch kaum hatten wir einander die Hand gegeben und ein paar Worte gewechselt, da verjagten sein Lächeln, seine Gesprächigkeit und seine vorzüglichen Manieren die Eule der Minerva, die ich einen Moment lang auf seiner Schulter gesehen hatte. Sogleich stellte die Haushälterin ein für das englische Teeritual vorbereitetes Silbertablett auf ein Tischchen. Als wir in den mit gestreifter Seide bezogenen Mahagoni-Fauteuils saßen, die der Professor uns angeboten hatte, setzte er sich uns gegenüber kerzengerade auf den Rand eines Kanapees, dessen dotterblumengelben Taftbezug große Schwäne und blaue Palmetten zierten. Ein weißlackierter Empirebücherschrank mit Applikationen aus vergoldeter Bronze, Pfeilen, Laubkronen und korinthischen Kapitellen umrahmte das Kanapee oben und an den Seiten wie ein Alkoven ohne Tiefe. Mit seinen außergewöhnlich lebhaften Farben, die heutige Menschen mit ihrem kleinmütigen Geschmack leicht verschrecken, verströmte dieser Salon aus der Zeit des Palazzo Farnese unter dem monumentalen Plafond, der sich zwischen bemalten Balken zum Himmel öffnet, einen fast femininen Luxus. Doch die vornehme Geometrie der klassisch ornamentierten Holztäfelung war den neuen Farben der Seidenbezüge und der Majestät des Raumes gewachsen. So vertrug sich das Empire blendend mit dem Rom der Renaissance, und der Professor paßte zu beidem. Er beherrschte die Szene überzeugender, als es unzähligen Gästen in Ballroben, für die dieser Raum gedacht war, möglich gewesen wäre. Smalltalk, wenn auch weniger affektiert als bei seinen englischen Kollegen, fiel ihm leicht. Alles interessierte ihn, er schloß kein Thema aus. Er war höflich genug, den Gast aus Paris nach den neuesten Theaterstücken zu fragen, obwohl er über das Wichtigste längst im Bilde war. Und er ließ sich auch nicht um die rituelle Besichtigung bitten, sondern schlug sie selbst vor, wohlwissend, daß man auch deshalb gekommen war.
Schriftstellereitelkeit war ihm fremd, kein einziges Mal erwähnte er sein eben erschienenes Buch »La Casa della Vita«, die Langfassung der »Reise um mein Zimmer«, die er während des Rundgangs viva voce für uns zusammenfaßte. Hätte ich doch nur Gelegenheit gehabt, dieses außergewöhnliche Werk vorher zu lesen, in dem Praz als Historiker, Memoirenschreiber, Autobiograph und Sammler zugleich, Gedächtnis und Gelehrtheit, Kunstkritik und Sittenchronik vereinend, aus jedem Raum seiner Wohnung in der Via Giulia ein labyrinthisches Kapitel macht und aus jedem Objekt ein Glanzstück! Mit welcher Leidenschaft hätte ich die Besichtigung mit der früheren verglichen! Und wie ein Besucher des Salons der Brüder Goncourt in ihrem »Grenier d’Auteuil« hätte ich nicht versäumt, den neuen Edmond de Goncourt nach dieser Version der »Maison d’un Artiste« zu befragen. Ich war beeindruckt von dem, was ich sah und hörte, und dieser Spiegeleffekt verwandelte den Eindruck in Ergriffenheit. Als ich das Buch las, begriff ich, was mir an diesem Tag begegnet war: kein gelehrter Sammler, sondern ein Schriftsteller in seinem Theater aus Erinnerung und Erfindung, in seiner »Bibliothek«, unter Balken, die vielleicht schon Montaigne gesehen hatte. Montaignes Bibliothek beschränkte sich allerdings auf Bücher, und obwohl Praz über ebenso viele verfügte wie ein gut ausgestattetes Forschungsinstitut, hatte er diesen »Quellen« der Inspiration noch unzählige Kunstwerke, Gemälde, Möbel und erlesene Reliquien hinzugefügt – »Meditationsorte« für den Dichter, Kanäle der stummen Kommunikation für das Medium, Ausgangspunkte für die gelehrte Vorstellung des Schriftstellers. Später, als ich »Conversation Pieces« las, ein Buch, in dem Praz das häusliche Leben und die Sitten des 19. Jahrhunderts zu neuem Leben erweckt, fiel mir ein, daß er uns auf einige Genrebilder aufmerksam gemacht hatte, von denen unglaublich viele an den Wänden hingen, eine in vielen Jahren gewachsene Sammlung, die schließlich das Buch, das ich gerade las, hervorgebracht hatte. Aber etwas Gesehenes in etwas Gelesenem wiederzufinden ist keine so magische Erfahrung, wie das Gelesene zu sehen und zu erfahren. Im einen Fall ist es eine Verifizierung, im andern erwacht man in einem anderen Leben.
Ich weiß, was man Praz’ »Sammlungen« vorwirft: daß sie keine »Meisterwerke« enthalten. Der Professor war nicht gerade reich, aber als Sammler interessierte er sich ohnehin weniger für Meisterwerke, für Museen oder Millionäre als vielmehr für das »bescheidene«, also vernachlässigte oder verachtete und daher kostengünstige Kunstobjekt, in dem er dank seines Wissens und seiner Intuition einen »Stein von Rosetta« mit vielfältigen, verborgenen Bedeutungen erkannte, deren Entzifferung sich lohnte. Tatsächlich waren die Werke, die er gesammelt hatte, schön, doch nie von offensichtlicher, arroganter Schönheit, sondern von einer Schönheit für Kenner, die ihrer Entdeckung harrte, ein Geheimnis gleichsam zwischen dem, der sie geschaffen hatte, dem, für den sie geschaffen waren, und dem, der beide verstand. Praz suchte weniger nach einer Kunst außerhalb der Zeit als vielmehr nach der in den Künsten verdichteten Zeit. Was mir bei diesem Besuch auffiel, war die Einheit dieser Sammlung in all ihren Formen. Praz zeigte uns Möbel und Gemälde, Medaillons und Statuen, Porzellan und Silber aus der Kaiserzeit, kleine Meisterwerke von italienischen Künstlern oder Handwerkern für Elisa Bacchiochi und Caroline Murat, Pauline Borghese und Laetizia Bonaparte. So führte er uns von Büste zu Miniatur, von Aquarell zu Pastell, die alle eine anrührende oder merkwürdige Geschichte hatten, zu den Orten und Episoden des napoleonischen Italiens, das so eng mit seinem Leben als sammelnder Historiker verbunden war und sich in der Ausstattung seiner Wohnung dartat. Empire-Psychen mit kostbaren Toilettenartikeln aus jener Zeit warteten auf ihre Herrin, ob Königin Hortense oder Praz’ Tochter oder seine Frau Vivian, die ihn kurz nach dem Krieg verlassen hatte, vielleicht weil sie der unbesiegbaren Schatten überdrüssig war, denen sie fortwährend begegnete.
Praz wußte, daß er den Palazzo Ricci verlassen mußte, da dessen Eigentümer sich profitable Immobiliengeschäfte versprachen. Aber es war nicht wie im »Kirschgarten«. Als Vorstandsmitglied der Primoli-Stiftung hatte er den geordneten Rückzug in den Palazzo Primoli vorbereitet, wo seine Sammlungen eine luftigere und ansehnlichere »sistemazione« fänden. Ich habe die neue Einrichtung nicht gesehen, aber nach den von Praz in einer erweiterten Ausgabe von »La Casa della Vita« veröffentlichten Fotografien sowie nach den Erinnerungen von Bruno Neveu zu schließen, ist es nicht gelungen, mit den Gegenständen auch die Atmosphäre des Palazzo Ricci in die neue Umgebung zu transportieren. Das römische Patrizierhaus von »Gégé« Primoli, einem »Napoleoniden«, der sich während des Second Empire in Paris ausgezeichnet hatte, entsprach dem Charakter der Prazschen Sammlungen natürlich viel mehr als ein Renaissance-Palast. Die Räume waren größer, heller und besser angelegt als in der Via Giulia. Ein Innenarchitekt half dem Professor, alles in eine elegante, angenehme Ordnung zu bringen. Aber das war es ja gerade: Ein Hauch von Kunstgewerbe, der das spätere Museo Praz quasi schon im voraus gruppenführungstauglich machte, war dort eingedrungen, während ich in der Via Giulia das fast klaustrophobische Gefühl hatte, den Meister der Zeit in seiner Geisteswerkstatt, umgeben von Kristallkugeln, Spiegeln und Hieroglyphen, wirken zu sehen. Selbst in dem für mich schönsten Museum der Welt, der unveränderten Wohnung von Isabella Stewart Gardner, einer Freundin von Berenson und James, in Boston, fand ich nicht diese »Aura«, die im Palazzo Ricci Gegenstände und Kunstwerke ausstrahlten, obgleich sie viel »bescheidener« waren. Die Dinge waren da wie dort mit Liebe zusammengetragen, aber bei Praz war es eine nachschöpfende Liebe, wie man ihr nur in römischen Kirchen begegnet, wo Gold und Stuck, Marmor und Altargemälde im Halbdunkel keinen anderen Zweck zu haben scheinen, als Tag für Tag am Wunder des Altars mitzuwirken. Im Palazzo Ricci war jeder Gegenstand beseelt von einer tiefen Freude, von Praz in seinen Büchern gerettet zu werden, es war die seltsamste, bestmöblierte »Gelehrtenstube«, die man sich vorstellen konnte. Sie wurde von der Moderne verschluckt, und Praz, der sie während seines ganzen schöpferischen Lebens nutzte, mußte sie schließlich gegen das bißchen weltlichen Luxus und Komfort eintauschen, das seinen Schätzen und seinen letzten Jahren zustand.
»La Casa della Vita« blieb also der Palazzo Ricci und Praz mit diesem Ort und diesem Buch untrennbar verbunden. Dank der Anthologien des Adelphi Verlags, die seine zunächst nur römischen Lesern bekannten Essays im ganzen Land populär machten, wurde er zu einem großen italienischen Schriftsteller. Und begann eine neue Karriere. Er ist offenbar einer der führenden Köpfe im Widerstand der italienischen Literatur gegen die Zusammenarbeit mit den neuen Barbaren der modernen »Kultur«, ein Symbol jenes Bündnisses zwischen Literatur und Bildung, auf dem seit Leopardi die Kraft und lebendige Kritik der besten italienischen Autoren beruhen und das heute Leute wie Sciascia, Ceronetti oder Citati aufrechterhalten.
In der Adelphi-Anthologie »Il mondo che ho visto« (Die Welt, die ich gesehen habe) lernt man Praz auf eine höchst erstaunliche, furchterregende, aber auch vollständige Art kennen. Die Texte erstrecken sich über ein halbes Jahrhundert, sie reichen vom Spanien der dreißiger bis zum Italien der siebziger Jahre. Praz auf Reisen! Als ich diese verborgene Seite des Menschen wie des Schriftstellers entdeckte, war ich erstaunt. Ich hatte mir Praz immer seßhaft vorgestellt, ja, in seinen vier Wänden eingeschlossen. Dabei war er so oft, so weit und mit so großer Lust durch die Welt gereist! Woher nahm er die Zeit, so viele Bücher zu schreiben, soviel zu reisen und auch noch darüber zu berichten? Ich hatte sein phänomenales Gedächtnis unterschätzt, das seine Gelehrtheit unterstützte, er war eine Art italienischer Borges, ein wahres Füllhorn. Mnemosyne hat Zeit zu reisen. Ich hatte auch unterschätzt, daß sein glückliches Naturell eine solche zivilisierte Verbundenheit um ihn herum schuf, die ihn auch im hohen Alter vor Einsamkeit bewahrte. Warum sollte jemand, der die Energie, den Blick und einen Sinn für »Trödel« hatte, Eigenschaften, die man braucht, um eine so überreiche Sammlung zusammenzutragen, nicht in der Lage sein, mit derselben aufmerksamen Neugier gemeinsam mit gleichgesinnten Freundinnen und Freunden die Welt zu durchstreifen? Und es war unvermeidbar, daß ein so von der Zivilisation des 19. Jahrhunderts durchdrungener Historiker auch eines ihrer liebsten geistigen Exerzitien wiederaufnahm, das damals das Niveau großer Kunst erreichte: Reisen und Reiseberichte.
Im 19. Jahrhundert hieß Reisen das Glück des Lesens zu verlängern: Man reiste zu Orten, von denen Bücher erzählten und die man dadurch schon kannte. Es hieß auch das Glück der »Karten und Stiche« zu verlängern: Man reiste nie ohne Skizzenbuch, das auch als Notizheft diente. Reisen war also Mnemotechnik, so abenteuerlich und entfernt auch das Ziel war, denn das forschende und erzählende Europa hatte seit dem 15. Jahrhundert Zeit gehabt, der ganzen Welt Eingang in ihr Gedächtnis, ihre Imagination zu verschaffen, Orte mit seiner eigenen Geschichte zu verknüpfen und jedem eine Legende zuzuschreiben. Zu diesen Orten zu reisen war also immer ein Akt des Erinnerns. Aber Erinnern ist auch ein Weg der Entdeckung und der Überraschung: Man erwartete, daß in der Freude des Wiedererkennens das Staunen über das Gegebene mit dem Auftauchen des Unbekannten zusammentraf. Die literarische und künstlerische Reise ging methodisch vom Bekannten aus, um den Bereich des Unbekannten abzustecken, der jedem blieb, die Region der begeisternden Entdeckungen. Ob Notizen und Zeichnungen zu einem Bericht wurden oder nicht – sie besiegelten einen umfassenden spirituellen Akt: die zivilisierte Pilgerreise. Was ist von dieser Disziplin geblieben? Ein trauriges Skelett: Flugreise, hektische Besichtigung und Fotosalven; das Gedächtnis und die schreibende Hand sind verdorrt und überflüssig geworden. Das Reisen des 19. Jahrhunderts verhält sich zu den zerstreuten Gemeinschaftsriten des Massentourismus wie die Messe von Bolsena zum gemeinsamen Knabbern an ökumenischen Krumen. Es ist nicht leicht, sich der Zurichtung durch diese Gemeinschaftswanderungen zu entziehen, Geld allein reicht nicht. Dazu bedarf es einer wirklichen, persönlichen Bekehrung, einer Initiation in eine Art der Bildung, auf die dieses Buch von Praz Lust machen kann.
Aber man sollte sich keine Illusionen machen. Die modernen Touristen haben irreparable Schäden angerichtet. Wie Heuschreckenschwärme vernichten sie auf ihren gierigen Migrationen, was sie konsumieren, ihre friedliche Invasion hat Landschaften, Städte, ganze Regionen verunstaltet. Davon abgesehen werden aufgrund der schieren Masse der Menschen weltweit Städte und Landschaften entstellt, ausradiert, gestraft, verschmutzt oder überschrieben wie zu der Zeit, als Mönche ihre Breviere auf altes Pergament schrieben, ohne auf das Manuskript von Ciceros »De re publica« zu achten. Eine spannendere Situation als die, von der dieses Buch implizit Zeugnis ablegt, ist also kaum vorstellbar: Da reist ein Tourist im vollständigen und ursprünglichen Sinne des 19. Jahrhunderts inkognito durch die vom 20. Jahrhundert ruinierte Welt. Am erstaunlichsten ist wohl, daß in diesem Buch so wenig geseufzt wird. Es stellt sich nämlich heraus, daß der alte Text der Natur und der Geschichte zäher als seine Zerstörer ist und es noch genug zu lesen und wiederzulesen gibt, jedenfalls für den, der zu lesen versteht. »Il Mondo que ho visto« ermutigt zum Reisen, lehrt aber auch, daß diese Kunst schwieriger geworden ist und wahrhaftig viel Geist verlangt.
Von Volney bis Flaubert war Reisen eine Poetik der Ruinen. Doch damals wurde der Text der Welt nur von der Zeit bearbeitet, der Freundin der Künste, die dieses strich und jenes hinzudichtete. Im 20. Jahrhundert hat sich alles verbündet, um die Ruinen zu entwerten. Der Reisende kann es nicht mehr dabei belassen, zu kommen, zu schauen und sich zu erinnern. Er muß zum Philologen einer restlos zerstörten Erde werden und die Aufmerksamkeit und List der Sioux entwickeln, um noch unversehrte Fragmente zu entdecken und zu verbinden und so den durch Graffiti und sauren Regen ausgewaschenen Sinn wiederzufinden. Melancholisch und furchtlos, ist Praz ein Meister dieser modernen Philologie des Reisens.
Das Unsichtbare zu sehen, nicht das Triviale, Offensichtliche, setzt eine Vertrautheit mit den Meistern des Reisens voraus, deren Werke Praz zum Teil in einer Vorrede kommentiert. Jeder Meister des Reisens ist, auch wenn er in einer bestimmten Tradition steht, ein einzigartiger Künstler, der dazu auffordert, selbst einer zu werden. Als Schüler der großen Reisenden und selbst Reisender bleibt Praz er selbst, und seine Einzigartigkeit wird hier sogar am deutlichsten. Wo immer er sich befindet, er braucht nur ein paar für gewöhnliche Menschen unsichtbare oder uninteressante Spuren, um ein vergessenes Universum wiederzuerwecken, das nur auf ihn zu warten schien. Welcher Mexiko-Tourist hat schon dem Palast von Chapultepec Beachtung geschenkt? Wer hat erkannt, daß dieses im Maya-Land gestrandete Überbleibsel des 19. Jahrhunderts mit den Jesuitenkirchen von Miramare bei Triest verwandt ist, wo ein einsames neugotisches Schloß steht? Praz erkundet diesseits und jenseits des Ozeans das Abenteuer von Maximilian und Charlotte, das noch bizarrer und tragischer ist als das Leben Ludwigs II. von Bayern. Und in Rio de Janeiro, der angeblich schönsten Bucht der Welt mit ihren Stränden und dem berühmten Karneval? Dort liegen unbekannte Reste der Herrschaft Pedros II., und diese in die Hitze der Tropen versetzte europäische Monarchie hat, wenn sie uns wieder ins Gedächtnis gerufen wird, etwas ebenso Irritierendes wie die klassizistischen Giebel und Symmetrien im Schnee und Eis von St. Petersburg.
Das Unsichtbare zu sehen ist auch eine nie versiegende Quelle der Heiterkeit und eine Übung in Humor. Wie der über einem Autofriedhof in der Washingtoner Vorstadt aufragende Palazzo Vecchio zum Hintergrund für die blauen Neonbuchstaben einer Alka-Seltzer-Werbung wird, ist nur eines von vielen Emblemen des modernen Eklektizismus, der seine Marken auf pharaonischen Pyramiden ebenso hinterläßt wie in den Medinas des muslimischen Orients. Soll man darüber spotten oder sich ärgern, wenn man mit Praz die Villa Hillwood bei Washington entdeckt? Sie ist das Werk der Erbin eines Nahrungsmittelimperiums, deren Mann Botschafter in der Sowjetunion war. Allegorien von Bouguereau und Gemälde im Stil von Winterhalter verraten einiges über den naiven Geschmack der steinreichen Familie. Aus der Sowjetunion brachten sie Schätze eines anderen Reiches mit: Geschirr, Kultobjekte und Einrichtungsgegenstände vom Hofe Nikolaus’ II. und der Seinen, die deren Mörder den Tycoons der Tiefkühlkost verkauften. Nur Praz’ Ohr hörte den schrillen und so modernen Unterton in diesem Museum. Seine Beschreibung der Cloisters und der Pierpont Morgan Library in New York, seine Glossen zur amerikanischen Museographie, die heute zum weithin nachgeahmten Modell geworden ist, sind heilsame Mittel gegen einen in Europa verbreiteten Geisteszustand, den Trotzki (das Wort rettet ihn) in bezug auf die Webbs, sozialistische Reisende in der UdSSR, als »Anbetung von vollendeten Tatsachen« bezeichnete.
Unsichtbares zu sehen heißt keineswegs sich dem Offensichtlichen zu verweigern. Als Historiker, Philologe und reisender Dichter ist Mario Praz empfänglich für die Schönheiten der Natur. In Tahiti, auf dem Nil oder in Palmyra am Ende der Wüste feiert dieser wählerische Geist mit wunderbar lyrischen Worten die Göttlichkeit des Lichts, die geheiligte Unschuld des Wassers und die Pracht des unberührten grenzenlosen Raums. Doch es ist nicht die naive Faszination durch das Erhabene, die ihn dazu treibt; der Grand Canyon läßt ihn kalt: »Die ganze Landschaft ist tot. Ein Mythos, der sie beseelt, ist nicht erkennbar. Die tiefen Bergschluchten in Norwegen erinnern an die Edda, man kann sich die Kämpfe zwischen Zwergen und Riesen vorstellen, man kann an Odin und seine zwei Raben denken oder an die rasenden Walküren, Femmes fatales, die unter der Esche Yggdrasil hausen, nordische Parzen, die das Schicksal bestimmen, das Leben der Söhne, der Männer und das Los der Helden lenken. Die Sagen und die Spuren gegenwärtigen Lebens mildern hier die Strenge der Szene, vermenschlichen sie, bevölkern sie mit würdevollen, aber begreiflichen Phantomen. Der Grand Canyon dagegen ist stumm und unbelebt.«
Erhabenheit entsteht bei Praz erst durch die Stimme der Erinnerung und die Beschwörung der Götter, die der Schönheit einer Landschaft menschliches Maß gibt. Palmyra, der Nil, Tahiti sprechen den Reisenden an, weil dort die Elemente nicht roh sind. Erst durch spirituelle Präsenzen, anderswo und indirekt gehörte Rufe, die an diesen Orten eine ergreifende Antwort finden, tritt die Erinnerung zutage. Tahiti etwa ist für Mario Praz nicht das Reich Gauguins, dessen Museum ihm eher sein künstlerisches und moralisches Scheitern anzuzeigen scheint. Tahiti ist der wiedergefundene Garten Eden, die sicht- und fühlbar gewordene Idee jenes geistigen Orts, der so viele Dichter und Maler zur Darstellung inspirierte, die ihnen aber nur so weit gelang, daß sie bei anderen die Sehnsucht danach weckte: »Wenn selbst Dante, der die reinen Farben der Miniaturisten kannte, von der Pracht des Feuerhimmels überwältigt war, wie wollen wir dann glauben irgend etwas von diesem Eden auf dem Papier festhalten zu können? Das Bild verlischt wie der Glanz der Leierschwanzfedern beim Präparieren. Es gibt jedoch einen Dichter, der, ohne daß er dort war, das Wesen dieser paradiesischen Natur erahnte. Das fiel mir ein, als ein Schauer aus einer vorüberziehenden Wolke wie eine Weihwasserbesprengung wirkte, eine sanfte, sogleich weggewischte Liebkosung; so etwas passiert oft in diesem ewigen Frühling, daß eine silbrige oder bleigraue Wolke hinter einem bewaldeten Hügel aufsteigt, den klaren Himmel kurz verhüllt und die Erde mit ihren tausend luftigen Kristallfingern sanft streichelt, um gleich wieder in der zurückkehrenden Sonne zu schmelzen. ›I bring fresh showers for the thirsting flowers‹ – diese ersten Worte aus Shelleys ›Wolke‹ fallen mir ein. Shelley, der die flüchtigen Schauer aus einer fröhlichen Wolke besang, die unterseeische, von unsagbaren Schätzen erstrahlende Wunderwelt in seiner ›Ode an den Westwind‹, die schimmernden Paradiese aus Düften und Farben in den Chören des ›Entfesselten Prometheus‹, Shelley, über dessen abstrakte Vorstellung von Engeln, die im Leeren mit den Flügeln schlagen, wir uns so oft geärgert haben, ist eben auch der, der das Wesen dieser gesegneten Landschaft, die er nie sah, erfaßt hat. Er hatte diese Ahnung am Mittelmeer, wo wir uns nichtsahnend auf einmal im Paradies wiederfinden.«
Alles ist vorhanden: ein ursprünglicher Mythos, der für die zivilisierte Menschheit von Bedeutung ist, als Mittler ein großer Text, der diesen Mythos zu Literatur und Poesie formt, und die Landschaft in ihrer Präsenz, ihrer berückenden Wirklichkeit, die an den Mythos und die Verse des großen Dichters gemahnt; mit einem Glücksgefühl geht das literarische Bewußtsein bis zur Idee, zum prophetischen Text zurück, und indem es das eine mit dem anderen verknüpft, findet es wieder einmal die Schönheit.
Im alten Europa hat man natürlich auf Praz gewartet. Über England, das er doch so gut kennt, verliert er in »Il mondo che ho visto« kein Wort. In Italien, wo Gemeinplätze lauern, wird er durch die rasenden macchine, die ihm sogar Siena vergällen, und das bis an die Tore des platonischen Palasts der Montefeltros in Urbino reichende Gelärme der Luna Parks und Lautsprecher von den hohen Orten abgelenkt. Praz sympathisiert mit den Exzentrikern, deren fixe Idee sie vor der alles überschwemmenden Vulgarität rettet: mit dem Pfarrer im Sieneser Hinterland, der in seinem Pfarrhaus eine überquellende, naive Wunderkammer eingerichtet hat, oder mit den Napoleon-Fans, die sich auf der Insel Elba treffen. Nur ein Italiener mit seinen Litotes kann ihren Charme einfangen und zugleich ihre Trivialität zeigen. Praz’ Essay über Paris von 1950 hat schon heute historischen Wert: Er gibt ein Bild von dem unversehrten, hinfälligen Nachkriegs-Paris, der Stadt des 19. Jahrhunderts par excellence. Es wurde in den dreißig glorreichen Jahren danach teils durch eine Modernisierung mit New Yorker Tropismen entstellt und, wo es davon verschont blieb, mit der unpersönlichen Kälte der »renovierten Antike« ausgestattet, der einzigen heute erlaubten Vergangenheitsform. Diese Seiten Praz’ über Paris, über das alte Palais von Elie und Liliane de Rothschild, gehören zu den schönsten und bewegendsten dieses Bandes, der davon viele enthält. Praz zeigt sich hier als Komponist, Interpret und verletzlicher Hörer dieser »Zivilisationsmusik«, die wir genauso brauchen wie das Brot. Er leidet unter ihren Dissonanzen ebenso, wie er für ihre unwahrscheinlichen und unerwarteten Harmonien empfänglich ist. In diesem Buch, das trotz seiner Kürze eine richtige kleine Reisebibliothek ist und zugleich ein Abriß über die Kunst des Reisens, erweist sich das ästhetische Empfinden, im Verbund mit solchem Wissen, als eine Art, mit wachen Sinnen in der Welt zu sein, und als eine der stärksten Formen der Liebe. Als »fröhliche Wissenschaft«, die sich die Tränen verbeißt.
Aus dem Französischen von Brigitte Große
SINN UND FORM 1/2010, S. 35-54
Praz, Mario
Shakespeares Italien, S. 55
Barnes, Julian
In Rom weilend... Arthur Hugh Clough und die ewige Stadt, S. 71
Barthes, Roland
Tagebuch der Trauer, S. 78
Reinhold, Daniela
Distanz und Unverständnis. Zur Erstveröffentlichung der beiden Schlußkapitel von Rudolf Wagner-Régenys »Begegnungen«, S. 83
Wagner-Régeny, Rudolf
Erinnerungen und Notizen (1943-65), S. 92
Aus dem Archiv der Akademie der Künste Es ist unwahrscheinlich, und nur der Erlebende vermag es zu bestätigen, daß eine restlose Zerstörung (...)
Wagner-Régeny, Rudolf
Erinnerungen und Notizen (1943-65)
Aus dem Archiv der Akademie der Künste
Es ist unwahrscheinlich, und nur der Erlebende vermag es zu bestätigen, daß eine restlose Zerstörung der eigenen Lebensführung eine Art der Heiterkeit zu erzeugen vermag, die jenseits aller festgefügten Vorstellungen steht. Je gewaltsamer alle äußeren wie inneren Werte aufgelöst werden, um so beharrlicher will ein starkes Weltgefühl sich bemerkbar machen. Es übernimmt die Funktionen des verstandesmäßigen Erwägens, es leitet unsere Schritte in nachtwandlerischer Sicherheit.
Ein kleines unfreundliches Zimmer des Gasthauses »Zum goldenen Frieden«, acht Kilometer von der kleinen Stadt Teterow entfernt, an der offenen Landstraße gelegen, beherbergte uns. Von hier reiste ich »auf Tourneen« und spielte in Lazaretten. In Burg Schlitz fanden die Aufnahmen statt, Gerhard Winklers Gesänge wurden von der lustigen Magda Hain vorgetragen.
Die unberührte Natur der Mecklenburgischen Wälder begann einen Genesungsprozeß in mir zu vollziehen. Er gab mir die Stärke, um Lelis nahen Tod vor Augen ertragen zu können.
Das Jahrzehnt von 1933 bis 1943 überdachte ich auf den vielen Wegen, die ich, durch die friedlichen Felder streifend, dahinging.
Alles, was sich in einem arbeitsreichen Leben bis jetzt ereignet hatte, war aufgelöst. Es hatte keine Spuren hinterlassen. Das fest Gefügte war nur noch schattenhaft in mir lebendig.
Der Krieg tobte in allen vier Himmelsrichtungen.
Mit einer Pferdedecke den Radioapparat und mich umhüllend, verbrachte ich unter Herzklopfen die Viertelstunden in dem Zimmer meines Majors (wenn er abwesend war), um Nachrichten des Londoner BBC zu hören. Er hatte eine Landkarte an der Wand angebracht, die er mit Fähnchen besteckte, die den Rückzug des deutschen Militärs markierten.
Wie sollte ich über das nahe Ende des Krieges Freude empfinden? Leli siechte dahin, während die Russen schon auf das deutsche Reichsgebiet vorgedrungen waren und die Amerikaner sich durch Frankreich auf Deutschland zu bewegten. Das Pendel meiner Empfindungen von übergroßer Freude zu unerträglichem Schmerze warf mich zu Boden. Ich rettete mich, indem ich den Bauernkindern der Umgebung Klavierstunden gab, sie die Notenschrift zu entziffern lehrte. Ja, es fand sich eine Förstertochter, die bei mir Französischunterricht nahm! So kam das Jahr 1945 heran.
Zwei Besuche darf ich nicht unerwähnt lassen. Heinz Hilpert und Gottfried von Einem besuchten mich in dem Gasthaus »Zum goldenen Frieden«. Sie waren auf abenteuerlichen Fahrten bis zu uns gelangt. Es rührte mich zutiefst.
Wenn nur »Friede« wäre! Dann wäre »alles gut«.
Der Friede nahte auf solche Weise: Zu allen Stunden sah man zerlumpte deutsche Soldaten, allein oder zu zweit, durch die Wälder streifen. Auch ein Rudel ganz abscheulich anzusehender müder Gesellen mit einem Hauptmann kam des Weges. Sie »formierten« sich zum letzten Gefecht, denn die Russen waren schon in Mecklenburg. Die Herrschaften von Burg Schlitz setzten sich mit eleganten ledernen Koffern, Hutschachteln und Golfausrüstung in ihre Kutschen und ließen sich westwärts fahren. Mit einem Male waren die Landstraßen voller Menschen. Es waren Ströme von Flüchtlingen, die »dem Russen« nicht in die Hände fallen wollten, denn jahrelang war dem Volke eine panische Angst eingeredet worden vor den »Bolschewiken«. Tag und Nacht hörte man die schlurfenden leisen Schritte der auf der Landstraße Vorüberziehenden.
Einige Wochen zuvor waren mysteriöse Gestalten aufgetaucht. Man wußte nicht, woher sie kamen, noch wo sie zu Hause waren. Es waren alte rundliche Frauen, hübsche Mädchen, die unnatürlich »gesund« aussahen. Es waren auch zwei Männer, von denen gesagt wurde, daß sie Ärzte seien. Als wir beide gleichzeitig von der Ruhr befallen wurden und nirgendwo Hilfe zu finden war (die Schloßherrschaften, an die wir uns wandten, sie möchten uns eine Flasche Rotwein zur Verfügung stellen, hatten bedauert, »in diesen Zeiten den Wunsch nicht erfüllen zu können«), kam lächelnd einer jener fremden Männer (ein Arzt »aus dem Baltikum«) und heilte uns mit Cybazol. Ich fragte ihn, wer er sei, warum er in dieses entlegene Land gekommen war. Mit verschämtem Lächeln wußte er nur zu sagen: »Kinder, ihr macht es gut. Bleibt hier, euch wird nichts geschehen. Laßt die anderen ihres Weges gehen!« Als man dann hörte, daß die Russen schon in Teterow seien und unaufhörlich Kanonendonner zu vernehmen war, sah ich gegen Abend einen kleinen rötlichen Bach den Schloßberg herunterfließen. Es war ein seltsames Rinnsal einer schaumigen Flüssigkeit. Man hatte »oben« befohlen, den ganzen Weinkeller zu zerschlagen. Die köstlichsten französischen Weine, Champagner und Cognac flossen, im Kies versandend, den Berg herab. Ein französischer Landarbeiter brachte mir fünfzehn unversehrte Flaschen Bordeauxweines, die wir sofort zu leeren begannen. Mit der Vernichtung des Kellers wollte man verhüten, daß angetrunkene »Feinde« im Schlosse randalierten.
Mit einem Male war eine große Truppe französischer Arbeiter um uns versammelt. Weshalb es geschah, weiß ich nicht, doch bauten sie neben dem Wirtshause am Waldrande Gruben, in denen man bequem Platz nehmen konnte, um die Russen zu erwarten. Jede Grube erhielt eine weiße Fahne, die aus einem Handtuch gebildet war. Eine Nacht verbrachten wir in diesen eigenartigen tierischen Erdgewölben, und ich allein trank fünf Flaschen des vortrefflichsten Weines, ohne etwas von dem Alkohole zu verspüren. So groß war die Erregung in uns.
Im Morgengrauen hörte man Pferdehufe. Es nahte ein Wagen mit zwölf amerikanischen Soldaten, die ihre Heimkehr aus der deutschen Gefangenschaft angetreten hatten. Sie brieten sich Fleisch, die Flaschen machten die Runde, man hörte sich die neuesten Nachrichten an, es war ein Kauderwelsch von Französisch, Deutsch und Englisch, was man hin und her rief. Dann wurden wir müde und gingen in das kleine Zimmer hinauf. Auch um das Haus war es still geworden. Nur das melancholische Schnauben der Pferde war zu hören.
Ich lag in meinen Kleidern, halb wachend, halb schlafend, auf dem Bett. Da wurde die Tür aufgerissen, und ein etwa vierzehn Jahre alter Junge in erdfarbener russischer Uniform trat ein. Auf seinem Gesicht lag ein freimütiges Lächeln, das uns stark anrührte. Niemand sprach, niemand bewegte sich. Da sprang Leli aus ihrem Bett auf und umarmte das Kind.
Schon einige Minuten später betraten acht Soldaten der Roten Armee unser Zimmer. Die Verständigung war mühselig genug, obwohl wir schon seit einem halben Jahre versucht hatten, uns mit Hilfe eines russischen Lehrbuches einige Worte anzueignen. Bald waren wir wie Kuriositäten belagert. Wir konnten nur Sätze wie diese bilden: »Die Rose und der Käfer sind im Garten« oder »Das Feld ist schön«.
Ein Clavichord, welches ich noch mit dem letzten Zug aus Bamberg erhalten hatte, stand auch in dem engen Raume. »Igraete! Igraete!« (Spielen Sie! Spielen Sie!), so klang es vom Morgen bis zum Abend. Und wenn es Nacht geworden war, kamen die Russen aus den Nachbardörfern, saßen bis zum Morgen bei uns, brachten Brot und gebratenes Geflügel, lachten, lärmten und ließen uns nicht schlafen. In dem freundlichen Getümmel konnte ich für ganze Stunden Lelis Kranksein vergessen, und es wollte sich etwas wie Hoffnung in mir bilden.
Dann erhielten wir hohen Besuch. Der Generalarzt einer Heeresabteilung, Major Tretjakow, kam, begleitet von einer wundersam schönen Dame, die wie eine unwirkliche Krankenschwester anzusehen war, um unsere Kunstwerke kennenzulernen. Sein Interesse galt weniger meiner Musik als einer Mappe mit Reproduktionen, die alle verbrannten Bilder, die Leli in ihrem Leben gemalt hatte, zeigte.
Dann kümmerte sich ein Sergeant namens Rittel (ein Pole, der in der Roten Armee diente und von Beruf Friseur war) täglich um uns. Zwei Monate lang waren wir Tag und Nacht »belagert von Interessenten« an Kunst. Ein Bäcker war der Ansicht, daß ich eine Schreibmaschine haben müsse, um etwas »zu tun«. Am nächsten Tage brachte mir ein Offizier eine Maschine.
[…]
SINN UND FORM 1/2010, S. 92-95.
Kaiser, Gerhard
Erzählen im Zeitalter der Naturwissenschaft. Zu Daniel Kehlmanns Roman »Die Vermessung der Welt«, S. 122
Kehlmann, Daniel
Schicksallosigkeit. Rede auf Imre Kertész, S. 135
Fest, Alexander
Kleine Rede auf Imre Kertész, S. 139