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Heft 6/2009 enthält:
Yourcenar, Marguerite
Träume und Schicksale, S. 725
Die Wachenden haben eine einzige und gemeinsame Welt, die Schlafenden aber wenden sich ihrer eigenen Welt zu. Heraklit von Ephesus Ich (...)
Yourcenar, Marguerite
Träume und Schicksale
Die Wachenden haben eine einzige und
gemeinsame Welt, die Schlafenden aber
wenden sich ihrer eigenen Welt zu.
Heraklit von Ephesus
Ich möchte hier einige Träume erzählen, die für jemanden, der viel geträumt hat, besonders quälend oder tröstlich sind. Seit meiner Jugend (an Kinderträume kann ich mich bis auf zwei oder drei kaum erinnern) begleitet mich durch mein nächtliches Leben ein Dutzend verstörender oder gütiger Träume, die wie musikalische Motive erkennbar und wie diese unendlich variierbar sind. Sie unterteilen sich in Gruppen, in ausgeprägte Familien, ähnlich den Provinzen eines geheimnisvollen Landes, das man nur mit geschlossenen Augen besucht. Das Wiederauftauchen einer Person, eines Gegenstands, eines Stücks Landschaft, eines Gefühls in meinem schlafenden Kopf erlaubt mir, nächtliche Regionen zu orten, in denen ich im Traum schon war, die in der Zukunft wiederzusehen ich jedoch nicht sicher sein kann. Es gibt die Region der Erinnerungsträume, beherrscht von der Gestalt meines verstorbenen Vaters; den Zyklus von Ehrgeiz und Hochmut, den ich in den Nächten meines zwanzigsten Lebensjahres durchlief; den Zyklus des Schreckens, den ursprünglichsten von allen, bevölkert mit Phantasmagorien von Gefängnissen, Aussätzigen, Drachen und ausgerissenen Herzen, in den ich aber immer seltener eindringe, denn wie die Hoffnung vermindert sich mit der Zeit auch das Entsetzen, und vermutlich altern wir genauso beruhigt wie die Armen, die keine Angst zu haben brauchen, daß man ihnen ihr Unglück stiehlt.* Es gibt den Zyklus des Suchens, bei dem es gilt, die Spur einer verschwundenen und zum Phantom gewordenen Frau zu finden; den Zyklus des Todes, der voller Gärten ist und zudem alle anderen Zyklen enthält, weil man weder tief träumen noch tief denken kann, ohne auf diese große, schwarze Ungewißheit zu stoßen; und es gibt den Zyklus der Kirche, in dem stets eine Kathedrale, so schrecklich und beruhigend wie das Grab, vorkommt, die Sternennacht, Erd- und Körperhöhlungen; und diese finstere Basilika sieht man bald von innen, übersät von Kerzenlichtern und erfüllt von einer Stille wie von feierlicher Musik, und bald von außen, und ihre Türen wollen sich nicht vor dem Pilger öffnen, der nicht den Schlüssel hat, in ihre Tiefen einzudringen. Und es gibt den Traum vom Teich, der einzige große Traum, der bis in die Kindheit reicht und sich Jahr für Jahr ohne die geringste Änderung wiederholt. Und den Traum von der Liebe, den ich nicht mit unnötigen Erklärungen belasten will, denn die einzigen profunden Exegeten, die dieses Gefühl hervorgebracht hat, sind Orgel und Violoncello. Diese Träume können sich auch verbinden: Die Träume von Ehrgeiz, Liebe oder Tod spielen oft in einer Kathedrale, und der Traum vom Teich ist zugleich ein Traum vom heiligen Schrecken. Es gibt einen Traum vom melancholischen Glück, den man daran erkennt, daß er sich unter einem rosigen Himmel entfaltet, und einen Traum von der vollkommenen Glückseligkeit, den ich ein einziges Mal hatte und in dem nur ein unvergeßliches Blau vorkommt.
Ich übergehe also sorgsam die Körperträume, die zu offensichtlich von Magen oder Herzbeschwerden verursacht und begünstigt werden, und noch sorgsamer die aus unverarbeiteten Erinnerungen erwachsenden wirren und nebelhaften Träume, den amorphen Rest der kleinen Mißhelligkeiten des Lebens, die es nicht wert sind, daß man sie träumt oder lebt. Das sind die häufigsten, denn in der Welt des Traums gibt es wie in der Welt des Wachseins leider mehr Scheidemünzen als Goldstücke.
Ich übergehe ebenfalls die rein sexuellen oder postsexuellen Träume, die lediglich simple Bestätigungen der Begierde (oder der Lust) durch einen Schlafenden sind. Und ich übergehe schließlich die uns allen gemeinsamen großen Träume, deren Deutung schwankt, die aber dem einzelnen nahezu unverändert erscheinen und nur Emotionen gewähren, die das ganze Volk der Schlafenden teilt: Träume, die im Traumland so etwas wie Nationalstraßen und öffentliche Parks sind. Was immer zum Beispiel die Träume vom schönen Schweben oder von quälenden Verfolgungen bedeuten mögen, in denen sich Türen um den in seinem Bett liegenden Flüchtenden öffnen und schließen, oder die merkwürdigen Exhibitionismusträume, in denen der Schlafende nackt herumläuft und sich wundert, daß er keinen Skandal auslöst – sie alle sagen uns genausowenig über die Persönlichkeit des Schlafenden wie eine gebräuchliche Metapher über die verborgene Seele des Menschen, der sie, wie Zehntausende vor ihm, ausspricht. Mich interessiert vielmehr, wie das Schicksal des einzelnen den Traum prägt, die unnachahmliche Legierung, die entsteht, wenn ein Träumender allgemeine seelische und sinnliche Elemente nach seinen eigenen chemischen Gesetzen verbindet und sie mit den Bedeutungen eines Schicksals auflädt, das einmalig ist. Es gibt Träume, und es gibt Schicksale: mich interessiert der Moment, wenn ein Schicksal sich durch Träume offenbart.
Ich stelle hier Texte vor, für deren Genauigkeit ich mich verbürgen kann, und keine neue Traumlehre, wozu ich in keiner Weise qualifiziert bin. Aber im Hinblick auf die folgenden Seiten sollte ich vielleicht anmerken, in welcher Geistesverfassung ich diese Träume erzähle. Aus meiner Sicht (und selbstverständlich ist dies eine sehr persönliche) gibt es zwischen der Erfahrung des Träumenden und der des Dichters durchaus Analogien, und die unbearbeiteten Traumelemente und ihre unendlich abwandelbaren Symbolanklänge lassen sich mit den vulgären oder erhabenen Reimen vergleichen, die in den Spalten eines Wörterbuchs aufgereiht sind. Der Schlafende sammelt Bilder wie der Dichter Worte: Er verwendet sie mehr oder weniger glücklich, um sich etwas von sich zu sagen. So wie es Taubstumme gibt, gibt es Schlafende, die nicht träumen; manche träumen schlecht, Banales oder in Schüben. Es gibt Traumstotterer und Traumredner. Anderen schließlich, zu denen mich nicht zu zählen undankbar von mir wäre, wird zuweilen die Gnade eines schönen Traums zuteil so wie minderen Dichtern ab und an der Glücksfall eines Verses, über den sie selbst staunen. Und es gibt wahrscheinlich geniale Schlafende, die jede Nacht Erhabenes träumen. Wenn es Traumsammlungen und Traummuseen gäbe, würden wir sicherlich feststellen, daß Delacroix, Leonardo da Vinci oder Watteau in einer Welt von geschlossenen Augen lebten.
Wer meint, Träume dienten dem Schlafenden lediglich als Ausdrucksmittel, läßt das Schicksalhafte an ihnen völlig außer acht. Der Schöpfer erhabener Träume ist in seinem inneren Himmel ebenso festgelegt wie die geizige Hausfrau, die von zerbrochenen Töpfen träumt, aber je weiter man die Jakobsleiter erklimmt, auf der die Menschen auf- und absteigen, um so mehr gehen Freiheit und Geschick ineinander über und bilden das unteilbare Ganze eines Schicksals. Ein Schriftsteller, der sich seinen Träumen dreißig Jahre lang mit ergriffener und luzider Wißbegierde widmete, erzählte mir, daß es ihm im Schlaf aus eigener Kraft gelungen sei, aus der Alptraumzone zu entkommen: Die Alpträume mißglückten, sie endeten gut, zweifellos, weil er fortan imstande war, die äußeren Fatalitäten zum Scheitern zu bringen, also gerade das Vorrecht von Menschen, die eine persönliche Fatalität besitzen.
Doch die Gabe des Traums hat wie die Gabe des zweiten Gesichts nichts mit Geistesschärfe zu tun, und ein Genie kann in seinen Träumen sehr wohl ein Idiot sein. Mystische Neigungen hingegen, Entsagungen, die gefährliche Stimmung von echtem Schmerz oder tiefer Einsamkeit begünstigen halluzinatorische Träume; und daß die wirren und dürftigen Träume abnehmen, wenn man den Widrigkeiten des Alltags mit heiterer Gelassenheit begegnet, habe ich an mir gesehen. So wie man sagt, daß man ab vierzig für sein Gesicht und sein Schicksal selbst verantwortlich ist, kann man auch sagen, daß man im reifen oder hohen Alter für seine Träume selbst verantwortlich ist.
[...]
Aus dem Französischen von Caroline Vollmann
SINN UND FORM 6/2009, S. 725-728
Hürlimann, Thomas
Das Motorrad, S. 741
Wajsbrot, Cécile
Wieder eine Nacht, S. 745
Koepsell, Kornelia
Schlaflos im Neubaugebiet. Gedichte, S. 747
Zagajewski, Adam
Über die Treue. Imre Kertész' geduldige Arbeit am Mythos des Romans, S. 751
Im Prado hängt ein Bild von Francisco de Zurbarán, das Christus am Kreuz zeigt; zu seinen Füßen stehen aber nicht die traditionellen Figuren der (...)
Zagajewski, Adam
Über die Treue. Imre Kertész’ geduldige Arbeit am Mythos des Romans
Im Prado hängt ein Bild von Francisco de Zurbarán, das Christus am Kreuz zeigt; zu seinen Füßen stehen aber nicht die traditionellen Figuren der christlichen Ikonographie, sondern ein Maler mit Palette – gewiß ein Selbstporträt, wenngleich der Titel suggeriert, es handele sich um den Evangelisten Lukas. Das Gemälde erweitert das traditionelle Passionsmotiv um ein Bild des Künstlers, das unter anderem für die ästhetische Selbstreflexion steht. Zurbarán sagt uns auf diese Weise, daß die Relation zwischen dem Göttlichen, dem Schmerz und dessen Darstellung selbst für die größten Künstler ein Geheimnis bleibt – so kann man es wenigstens deuten, auch wenn der Maler sein Werk wohl eher, wie Kunsthistoriker meinen, als Lob der Malerei verstanden sehen wollte. Es ist zutiefst anrührend, wie Zurbarán aus der Konvention ausbricht, ohne sie zu brechen, wie er dem Bild, einer meisterhaften und geradezu klassischen Kreuzigung, gleichsam ein Fragezeichen einschreibt.
Bei diesem bemerkenswerten Gemälde an Imre Kertész zu denken mag sonderbar erscheinen. Doch auch in seinem Werk begegnen sich zwei große Themen: das wohl größte uns bekannte Leid und das geduldige Nachdenken über die Möglichkeit und den Sinn, es zu beschreiben. Für Kertész ist das keine Frage des Gedächtnisses; die Erinnerung an manche Tage – zumal den ersten Tag im Lager – verblaßt nie, wie der »Roman eines Schicksalslosen« beweist. Ihn bewegt vielmehr die Frage, wie sich der Bericht aus Auschwitz und Buchenwald und das Nachdenken darüber in die Literatur und das Leben unserer Zeit überführen lassen. Seine Romane, vor allem der »Roman eines Schicksalslosen«, erzählen langsam und gewissenhaft, als richteten sie sich auch an künftige Generationen, die, der Spielereien der letzten Jahrzehnte überdrüssig, wieder einfachere Kost verlangen.
Kertész gehört zu den Autoren, die man durch ihre Essays besser, wenn nicht überhaupt erst versteht. Nicht, weil seine Romane schwierig wären und eines Kommentars bedürften, sondern weil sie im Gegenteil einfach zu sein scheinen und der an Nabokov und Borges geschulte Leser Komplizierungen und Spiegelungen sucht. In seinen Skizzen und Tagebüchern, etwa dem »Galeerentagebuch «, zeigt Kertész die gleiche Bescheidenheit und intellektuelle Redlichkeit wie in seinen Romanen. Das gilt auch für »Die exilierte Sprache«, eine Sammlung von Texten aus den Jahren 1990–2002: Reden bei Konferenzen, Tagebuchfragmente und Texte zu anderen Autoren, darunter ein vorzüglicher, höchst anregender Essay über den von ihm so bewunderten Sándor Márai.
»Die exilierte Sprache« beginnt mit »Budapest, Wien, Budapest«, einer ganz uneitlen Beschreibung seines ersten Wien-Besuchs. Kertész konstatiert die vielen kleinen Demütigungen, die den Osteuropäer erwarteten (und nicht selten noch heute erwarten), der es geschafft hatte, die magische, unseren kleinen Kontinent in zwei Hälften teilende Grenze zu überschreiten. Auch die folgenden Texte zeigen den Autor als stets bescheidenen Menschen. Kertész war zu seinem Glück und zum Glück für seine Weltsicht jahrelang kein Star; in der ungeschriebenen Hierarchie der ungarischen Literatur hatte er nur einen unbedeutenden Platz und war hauptsächlich als Übersetzer deutscher Literatur bekannt. So erzählt er – zur Freude des Lesers, denn bei einem inzwischen berühmten Autor liest sich das wie eine Fabel über den Lohn der Tugend, und das gefällt uns immer –, wie er in Budapest für einen westdeutschen Dramatiker dolmetschte und nicht aus seiner streng definierten Rolle fallen durfte (»Sie sollen nicht gratulieren, Sie sollen übersetzen.«).
Der Autor umkreist sein Hauptthema; mit der Zeit begreift er, daß sein Schicksal (ein verlorenes, wie es im polnischen Titel des »Romans eines Schicksalslosen « genannt wird), so lokal oder provinziell es in gewissem Sinne sein mag, der Reflexion und dem Schreiben eine Fülle von Stoff bietet, wenn man es in die mitteleuropäische Geschichte einbettet – eine Jugend in Auschwitz und Buchenwald, die Befreiung durch die US-Armee, Rettung, Heimkehr, kurze Begeisterung für den Kommunismus, arbeitsreiche graue Jahre in der Volksrepublik, dann das Ende des sowjetischen Sozialismus und die Leere der neuen Wirklichkeit. Auf originelle Weise bleibt er diesem verlorenen, nach und nach wiedergewonnenen Schicksal treu, er legt es frei wie ein Archäologe, der, sich selbst erforschend, am Fundament des eigenen Hauses gräbt.
Doch Kertész, der gerne Zitate einstreut, beruft sich auch auf Camus: »Und dabei habe ich noch nicht von der absurdesten Gestalt gesprochen: dem schöpferischen Menschen.« Obgleich er sich nicht allzu konkret für die Philosophie des Absurden interessiert, ist er nicht frei von Zweifeln, sein Tun scheint ihm zuweilen sogar absurd. Er zweifelt oft, doch es sind beinahe erlösende Zweifel, durch die er, auch wenn sie ihm das Schreiben noch schwerer machen und seinen Verleger schier zur Verzweiflung treiben, seine Aufgabe besser versteht. Kertész bleibt seinem Leben treu, dem Leben eines Juden, der »einst von den rechtmäßigen Behörden seines Landes – Ungarn – im Rahmen zwischenstaatlicher Vereinbarungen als versiegelte Warenlieferung an eine fremde Großmacht übersandt wurde zu dem ausdrücklichen Zweck seiner Ermordung«. Er bleibt seinem Leben treu, ohne dessen Gefangener zu werden. Er schreibt Essays, in denen er verwundert sein Schicksal, sein Schreiben und seine Obsessionen betrachtet und hinterfragt.
Indem er sich in Frage stellt, reagiert er auf einen Vorwurf, den er womöglich gar nicht kennt, was aber unwichtig ist, weil er nicht ihm, sondern allen Autoren gemacht wurde, die am eigenen Leibe erfahrenes historisches Unrecht literarisch verarbeiten. Der große W. B. Yeats hatte im »Oxford Book of Modern Verse«, einer Anthologie englischsprachiger Lyrik, die War Poets, darunter Wilfred Owen, einen der wichtigsten literarischen Zeugen des Ersten Weltkriegs, ausgelassen und wurde deshalb kritisiert. In seiner Erwiderung gebrauchte Yeats den von Matthew Arnolds geprägten Begriff des passive suffering. An Dorothy Wellesley schrieb er, Owens Gedichte verzeichneten, wie ein Seismograph, lediglich die Reaktion auf ein welthistorisches Ereignis und nicht den Kampf eines freien Menschen mit der Welt, einen Kampf, in dem auch der Mensch schuldig werden könne und in dem sich die Waagschalen bis zum Schluß höben und senkten.
Nach Yeats’ strengem Maßstab müßte man wohl nahezu die ganze Literatur Mitteleuropas als lächerlich eindimensional abtun, als vielstimmige Klage in der Art eines gigantischen und lachhaften passive suffering-Oratoriums. Es fragt sich aber, ob die Auffassung des großen Iren heute noch gelten kann. Müßte man ihm nicht vielmehr einen verspäteten Brief schreiben, der so beginnen könnte:
»Lieber William Butler Yeats,
noch immer bewegt uns Ihr Vorwurf gegen den armen Wilfred Owen. Die Debatte ist inzwischen – verspätet wie alle literarischen Erscheinungen – in dem Teil Europas angekommen, den manche als Ost-, manche als Mitteleuropa bezeichnen. Wir kennen Ihre Meinung und wissen, Sie mögen keine Lyrik – heute würden Sie wohl von Literatur insgesamt sprechen –, die auf individuell erlittenes historisches Unrecht reagiert, keine Dichter, die in ihrer unschuldigen Seele die Schläge der brutalen Welt registrieren. Sie glaubten vermutlich nicht an die Unschuld der Dichterseele, sondern hielten den Menschen für frei und meinten, er müsse immer auch nach der eigenen Schuld fragen. Die Auseinandersetzung mit anderen, so sagten Sie, erzeuge Rhetorik, Lyrik entstehe in der Auseinandersetzung mit sich selbst.
Doch betrachten Sie die europäische Geschichte. Nach Ihrem Tod im Januar 1939 breitete sich das Böse, das auch Sie kannten und über das Sie in schönen Gedichten meditierten, weiter aus. Es blühte schon zu Ihren Lebzeiten; Sie konnten nicht alles wissen, haben vielleicht nicht jeden Tag Zeitung gelesen; manches haben Sie auch bagatellisiert … Nun aber erlangte das Böse, das Sie nicht als Inspiration für Gedichte, Romane oder Dramen akzeptierten, eine solche Macht, daß die Befolgung Ihres Postulats, die Dichtung müsse passives Leiden vermeiden, den Tod der Imagination und das Aussterben der schönen Literatur bedeutet hätte. Die Anthologien wären leer geblieben, die Regale in den Buchläden verödet…
Manche Autoren sind buchstäblich durch die Hölle gegangen, obwohl sie – es wird Ihnen schwerfallen, das zu glauben – unschuldig waren. Was hätten die wenigen, die überlebten, denn tun sollen? Sie mußten beschreiben, was sie erlebt hatten, ohne die Schuld an ihrem Leid bei sich zu suchen. Das wäre einer Lüge gleichgekommen. Sie konnten nicht Ihnen zuliebe diese Zeit aus dem Gedächtnis streichen und auf ein aktiveres Leiden warten. Sie waren zu passivem Leiden verurteilt …
Und sollten nicht gerade wir Christen – gewiß, Ihre Religiosität war fern jeder Dogmatik – Verständnis für das passive suffering haben? Was war Christi Tod am Kreuz denn anderes …«
So könnte der Anfang eines Briefs an W. B.Yeats aussehen, in dem noch manches zu sagen wäre. Unterzeichner wären »einige mitteleuropäische Schriftsteller «, keine Verbandsfunktionäre, sondern ausschließlich Privatpersonen, darunter fiktive. Kertész könnte dazu gehören. In seinen Werken spricht ein Mensch, der das Schlimmste durchgemacht hat, aber auch – als wäre ein Schriftsteller kein Mensch – ein humorvoller, gelassener Autor, der seine Privilegien und Grenzen kennt. Dieser Autor erinnert an den Maler auf Zurbaráns Gemälde, er steht oft unter dem Kreuz, mit mitfühlendem, unsicherem Blick und einer Palette, auf der ein großes Fragezeichen leuchtet. Nur ist die Palette des Schriftstellers komplexer und zumeist unsichtbar – sie wäre schwer zu malen. Sie enthält viele Farben und Wesenszüge, die bei jedem Romancier oder Dichter anders sind. Kertész ist undogmatisch; zum Mißfallen vieler, die über die Erinnerung an die Shoah wachen, malt er auch ein ungeschöntes Bild des kommunistischen Totalitarismus. Man müßte noch einmal an Yeats schreiben, denn indem Kertész seiner Themenliste die Tristesse und alltägliche Grausamkeit des Kommunismus hinzufügt, verlängert er sein Sündenregister um ein zweites passive suffering. Doch hätte er als aufmerksamer und ehrlicher Beobachter anders handeln können?
Kertész stellt sich diesem Problem mit Humor. Vor allem aber glaubt er an die Literatur. In »Liquidation« sagt die Hauptfigur: »Doch ich glaube an die Literatur. An nichts sonst, einzig und allein an die Literatur. Die Menschen leben wie die Würmer, aber sie schreiben wie die Götter. Einst war es ein bekanntes Geheimnis, heute ist es in Vergessenheit geraten: Die Welt besteht aus Scherben, die auseinanderfallen, sie ist ein dunkles, zusammenhangloses Chaos, allein vom Schreiben zusammengehalten. Daß du überhaupt eine Vorstellung von der Welt hast, daß du weißt, was alles in der Welt geschehen ist, ja, daß du überhaupt eine Welt hast: das alles hat das Schreiben für dich erschaffen und erschafft es ununterbrochen, es ist der unsichtbare Spinnenfaden, der unser aller Leben zusammenhält, der Logos.«
Kertész’ Glaube an die Literatur und an das, was die Griechen Logos nannten, ist wohl seine größte Stärke. Er bewahrt ihn davor, in die Zeugenrolle gedrängt zu werden. In der angelsächsischen Literaturkritik wird Autoren, die über ihre Totalitarismuserfahrungen schreiben, oft das Etikett witness angeheftet – gemäß der Logik des Gerichtsverfahrens, in dem die Zeugenaussage nur ein Baustein ist und das letzte Wort, die abschließende Analyse und Deutung dem Richter vorbehalten sind. Ein wahrer Dichter oder Romancier ist aber nie bloß Zeuge; wenn er an den Logos glaubt, ist er zugleich Ankläger, Verteidiger und Richter seiner Welt. Doch der Vergleich des Logos mit einem Spinnenfaden sagt noch mehr: Für Kertész bietet der Logos Struktur, Konstruktion und Rettung, er ist aber auch Bedrohung und Falle, etwas Klebriges und Gefährliches.
Kertész fasziniert als Autor, der seinen Zeugenbericht ständig ergänzt, als handele es sich – im künstlerischen, nicht im faktographischen Sinne – um etwas Unabschließbares, wie die Suche nach Wahrheit. Sein Hauptwerk, der »Roman eines Schicksalslosen«, ein erschütterndes und doch ganz einfaches Buch, wird von anderen Romanen und Essays umrahmt, die alle die große Frage nach der Würde und der Bedeutung des Wortes stellen. Kertész verwahrt sich gegen jede Abwertung der Literatur. Sein Werk ist voller Zweifel, ob man das Grauen überhaupt darstellen kann, doch anders als viele Literaturtheoretiker stellt er den Wert des Worts nicht in Frage. Gleichwohl – die Spinnenfaden- Metapher! – kennt er auch die Debatten über die Unzuverlässigkeit der Sprache.
Er arbeitet am Mythos des Romans, des großen läuternden Romans; »Fiasko« und »Liquidation« handeln weniger von Menschenschicksalen als vom Schicksal des Romans, das heißt von dem einen fundamentalen, notwendigen Roman, den er schreiben wollte und auch schrieb – und von dem er weiter träumte, an dem er weiter arbeitete, obwohl er schon veröffentlicht war. Kertész’ Denken kreist um die Verteidigung des Logos; aber er ist kein abstrakt analysierender Philosoph, er ringt mit sich, mit dem Material seines Lebens und seiner Erinnerung.
Wenn man die Möglichkeiten betrachtet, die Autoren in unserem Teil Europas haben, dann markieren Imre Kertész und Emil Cioran – diese Verbindung liegt näher als die zu Zurbarán – die beiden Pole. Der Aphoristiker und Essayist Cioran – ein hochintelligenter, sprachmächtiger Autor, dem wir uns mit Sympathie, Bewunderung und Neugier, manchmal aber auch kritisch und sogar widerwillig zuwenden – wollte vermittels des Schreibens, der (französischen) Sprache seinem Leben entfliehen oder zumindest Abstand zu ihm gewinnen. Kertész hingegen, weniger raffiniert und weniger an Paradoxen interessiert, entscheidet sich für die Treue; er bleibt seinem Leben treu, bleibt sich treu als ungarischer Jude und Mensch, der Buchenwald und den Kommunismus überlebt hat, der viel gelesen und nachgedacht hat und der es nie besonders eilig hatte. Er verfügt über kein spektakuläres Material, überrascht den Leser nicht mit neuen Schreibweisen, und »Kaddisch für ein ungeborenes Kind« steht vielleicht zu sehr unter dem stilistischen Einfluß von Thomas Bernhard. Kertész dramatisiert sein Schicksal nicht oder jedenfalls nur so weit, wie es die Literatur verlangt (auch Schweigen kann dramatisch sein). Seine Bücher zeugen von bewundernswerter Beharrlichkeit beim Suchen und Bearbeiten dessen, was ihm aufgegeben wurde. Wir spüren, daß wir es mit einem zutiefst aufrichtigen Autor zu tun haben, der sich vor allem für das interessiert, was ist. Und der das Nachdenken über den Wert des Wortes wie einen Schirm über sein Schreiben spannt.
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 6/2009, S. 751-756
Brombert, Victor
Gespräch mit Richard Schroetter. "Wir ahnten nicht, was kommen würde", S. 757
RICHARD SCHROETTER: Man kennt Sie als einen der führenden amerikanischen Komparatisten, als Romanisten und Literaturkritiker, aber auch aus dem Film (...)
Brombert, Victor
Gespräch mit Richard Schroetter:
"Wir ahnten nicht, was kommen würde"
RICHARD SCHROETTER: Man kennt Sie als einen der führenden amerikanischen Komparatisten, als Romanisten und Literaturkritiker, aber auch aus dem Film über die ›Ritchie Boys‹, jene jungen Emigranten, die im Zweiten Weltkrieg in Camp Ritchie für Spezialeinsätze ausgebildet wurden. Sie kamen 1923 zur Welt und verbrachten Ihre Kindheit in Leipzig. Was hat Ihre Eltern, wohlhabende jüdische Kaufleute aus Rußland, dazu bewogen, ausgerechnet nach Deutschland zu gehen?
VICTOR BROMBERT: Bei Ausbruch der Oktoberrevolution 1917 waren sie auf der Hochzeitsreise in Dänemark und mußten sich plötzlich entscheiden, wo sie bis zur Rückkehr in die Heimat leben wollten. Damals glaubten sie noch, es handle sich um ein vorübergehendes Exil. Weil mein Vater Geschäftsbeziehungen nach London hatte, übersiedelten sie dorthin, blieben aber nur ein Jahr, denn meine Mutter fühlte sich in England nicht wohl.
SCHROETTER: Welche Erinnerungen haben Sie an Leipzig?
BROMBERT: Die Wohnung lag in der Ferdinand-Rhode-Straße, nicht weit vom Gewandhaus, hatte einen herrlichen Wintergarten und war so groß, daß ich mit dem Fahrrad durch die Flure fahren konnte. Mit der Kinderfrau sprach ich Deutsch, in der Schule natürlich auch, und ab und zu sogar mit meiner Mutter, die auf einem Mädchenpensionat in Wien gewesen war. Noch heute zähle ich manchmal auf deutsch, etwa bei der Gymnastik. Komplizierte Texte lese ich ohne Mühe, nur bei einem anspruchsvollen intellektuellen Gespräch hätte ich Schwierigkeiten. Hin und wieder ging ich mit meinem Vater oder meiner Großmutter im Rosentaler Wäldchen spazieren. Die Wintertage waren grau, jedenfalls im Vergleich zu Frankreich, das ich schon vor der Emigration kennenlernte. Das hing mit dem Tod meiner Schwester zusammen. Sie starb mit fünf in Breslau auf dem OP-Tisch. Man hatte noch erwogen, sie wegen des Gehirntumors zu einem Spezialisten in die USA zu bringen. Nach diesem Schlag reiste meine Mutter nach Nizza und nahm mich mit. Ich entdeckte den Süden, das blaue Meer, die Kaps, und auf einmal kam mir Leipzig noch grauer vor.
SCHROETTER: Das war 1931. Nahmen Sie damals auch Politisches im Alltag, auf der Straße wahr?
BROMBERT: Einmal erlebte ich, wie zwei Demonstrationszüge aufeinander zumarschierten, Kommunisten gegen Nazis, beide mit Transparenten, Knüppeln und Marschliedern. Nach ein paar Minuten war die Straße übersät mit Verwundeten, und überall war Blut. Das hat mich geprägt, seitdem verabscheue ich Kundgebungen und Menschenmassen. Andere Erinnerungen an Leipzig habe ich wohl einfach ausgeblendet. Im nachhinein wird mir klar, daß das nicht nur am Frankreich-Erlebnis lag, das alles überstrahlte. Ich habe diese Zeit als bedrohlich erlebt und auf meine Weise darauf reagiert. Mit der Sprache machte ich es ein paar Jahre später ähnlich: Ich tat so, als könne ich kein Deutsch, oder machte den französischen Akzent nach.
SCHROETTER: Agitation und politische Gewalt kannten Ihre Eltern doch schon aus Rußland.
BROMBERT: Sie gehörten dort zu den assimilierten Juden, ihre ökonomische Situation verschaffte ihnen das Privileg, in St. Petersburg oder in Moskau zu wohnen und nicht im Schtetl. Sie waren Kosmopoliten, beherrschten drei oder vier Sprachen und hatten an der Universität studiert. Mein Vater hörte in Paris Reden von Jean Jaurès und Anatole France, ehe er in Rußland seinen Jura-Abschluß machte. Meine Eltern kannten schon einiges, was den deutschen Juden noch erspart geblieben war. Sie wußten, wie leicht Antisemitismus in Gewalt umschlagen kann. Ich wuchs auf in einer Atmosphäre bürgerlichen Komforts, aber mit dem Bewußtsein, daß wir nicht so recht dazugehörten. Wir waren keine Deutschen, aber auch keine Russen mehr, wir waren Staatenlose.
SCHROETTER: Was für Pässe hatten denn Ihre Eltern?
BROMBERT: Sie hatten die russische Staatsbürgerschaft mit der Revolution verloren und lebten als geduldete Ausländer in Deutschland. Sie hatten sogenannte Nansen-Pässe, nach dem Völkerbundkommissar für Flüchtlingsfragen Fridtjof Nansen. Diese Pässe stellte das Land aus, wo sich der staatenlose Emigrant aufhielt. Immerhin konnten meine Eltern Grundbesitz erwerben, ihre Firma lief sehr gut, die Geschäftsbeziehungen reichten bis nach China. Es war ein Import-Export-Großhandel, hauptsächlich mit Pelzen. Mein Vater reiste zu Auktionen nach London, doch eigentlich war er eine poetische Seele und ein Liebhaber der Dichtung, kein Geschäftsmann. Zum Jurastudium war er bloß gekommen, weil man doch irgendwas studieren mußte.
SCHROETTER: Als Sie neun waren, verließ die Familie Deutschland. Das war sicher ein riskanter Augenblick.
BROMBERT: Wir flüchteten 1933 mit einem Nachtzug in die Schweiz, mein Onkel und seine Familie waren im selben Zug. Die Eltern hatten mir streng verboten, ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis die Tür des Schlafwagenabteils zu öffnen. Wir hörten, wie zwei, vielleicht auch drei Polizisten einstiegen und den Schaffner fragten, ob Juden im Zug seien. Er sagte nein, obwohl er es besser wußte. Das hat uns gerettet. Man hätte uns sonst wohl aus dem Zug geholt und wegen »Devisenschieberei« angeklagt, da meine Eltern einiges an Bargeld bei sich hatten. Ich habe oft an diesen Schaffner denken müssen. Vielleicht war er ein aufrechter Sozialdemokrat. Seinetwegen habe ich mich immer geweigert, alle Deutschen für schuldig zu halten.
SCHROETTER: Also stimmen Sie nicht überein mit Daniel Jonah Goldhagens These vom latenten Antisemitismus der Deutschen?
BROMBERT: Überhaupt nicht, ich bin schockiert von seiner historischen Unkenntnis. Die Situation der deutschen Juden vor dem Nationalsozialismus war vergleichsweise beneidenswert. Für die russischen Juden war Deutschland ein Hort der Aufklärung, wo die staatliche Ordnung Schutz gewährte. Wer es sich leisten konnte, machte dort Urlaub und genoß den Respekt, der ihm entgegengebracht wurde. Gegen Frankreich hatte man Vorurteile wegen der Dreyfus-Affäre – ein Mißverständnis der französischen Geschichte. Goldhagens Buch ist parteiisch und historisch teilweise unzutreffend. Mich ärgern seine These eines eingeborenen und gleichsam vererbten Antisemitismus und die Schlüsse, die er daraus zieht. Es gibt keine von Antisemitismus freie Gesellschaft, nicht einmal bei den Juden. Natürlich ist der Holocaust etwas historisch Einmaliges wegen des systematischen Vorgehens und der Blindheit, der vorsätzlichen oder partiellen Blindheit vieler Menschen. Aber wir sind alle blind gegen bestimmte Dinge in unserer Gesellschaft. Wir hören ab und zu, oder wissen oder erraten, was in Polizeistationen und Gefängnissen vor sich geht. Doch wir vergessen es lieber und freuen uns, wenn die Polizei uns hilft. Wir sind alle dazu fähig, die unerfreulichen Seiten unserer Gesellschaft auszublenden. Das ist natürlich keine Entschuldigung für das Geschehene. Zudem legen einige Gesellschaften größeren Wert auf Gehorsam als andere. In Italien hat ein Befehl nicht viel zu bedeuten, man kümmert sich nicht darum oder macht das glatte Gegenteil. In Deutschland befolgt man die Gesetze, im guten wie im schlechten.
[...]
Aus dem Englischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 6/2009, S. 757-759
Brombert, Victor
Italo Svevo oder die Paradoxa des Antihelden, S. 768
Apollinaire, Guillaume
Erinnerungen an Auteuil, S. 783
Gut, Taja
In die Sprache gerettet. Über Christopher Nolan, S. 788
Seghers, Anna
Briefe, S. 798
Ritsos, Jannis
Aus den "Tanagra-Figuren" (Januar 1967), S. 804
Bender, Hans
Zwölf Vierzeiler, S. 807
Rosenau, Christian
Gedichte, S. 810
Dieckmann, Friedrich
Schiller und der Frieden, S. 814
Becker, Jürgen
Schillers unverwischbare Spur, S. 841
Krüger, Michael
"So war es, wie Du erzählst, aber dann sagtest Du: Alles war anders." Über Jürgen Becker, S. 846
Poppe, Enno
Zum Gedenken an Friedrich Goldmann, S. 852
Wenders, Wim
Was Menschen mit ihren Bewegungen sagen. Die Kunst der Pina Bausch, S. 854
Festrede zum Frankfurter Goethepreis 2008 In unserer Gesellschaft ist nicht alles Gold, was glänzt. Wir haben es immer häufiger (...)
Wenders, Wim
Was Menschen mit ihren Bewegungen sagen.
Die Kunst der Pina Bausch
Festrede zum Frankfurter
Goethepreis 2008
In unserer Gesellschaft ist nicht alles Gold,
was glänzt. Wir haben es immer häufiger mit
falscher Münze zu tun. Wenn etwas besonders
glänzt, ist es häufig auch besonders unecht,
künstlich, "fake". "Fool’s gold" heißt
der schöne englische Ausdruck für das falsche
Gold, auf das man hereinfällt.
Das tritt nirgendwo so deutlich zutage wie
in unserer Unterhaltungsindustrie, wenn
dort "Gefühle" beschrieben, evoziert, ja,
letzten Endes "produziert" werden. Die
theatralischen Gesten eines Opernsängers,
die einstudierte Mimik in Videoclips oder
die puren Nachahmungen von Emotionen in
jedem zweiten Fernsehspiel (von Soap Operas
wollen wir gar nicht erst reden) spricht
jedem Begriff von Echtheit Hohn und lassen
einen oft an der Möglichkeit zweifeln,
in irgendeiner "Darstellung" heute überhaupt
noch irgend etwas Überzeugendes
und annähernd Glaubhaftes anzutreffen.
Neulich habe ich einen Orangensaft getrunken,
und schon beim Runterschlucken des
Tranks wurde mir übel. Als ich auf die Unterseite
der Plastikflasche schaute, stand
da: "Artificial substitute for imitation orange
juice". Muß man sich erst mal auf der
Zunge zergehen lassen! Wie weit kann man
sich noch von echtem Saft entfernen?
Mit den Gefühlen ist es nicht anders. "Artificial
substitutes for imitations of emotions …"
Es geht mir, uns allen, immer häufiger
so, nicht nur im Fernsehen, im Zirkus, im
Kino, auf was für Bühnen auch immer, auch
in Museen, in Konzertsälen und selbst beim
Bücherlesen, daß wir den Gefühlen und
ihrer Präsentation nicht mehr trauen. Oder
einfach nicht mehr mitfühlen können. Es
will uns einfach nichts und niemand mehr
"bewegen" … Im Prozeß des Produzierens
ist etwas schiefgelaufen.
Sie alle, wir alle, kennen natürlich echte
Emotionen. Sie, wir, haben sie selber erleben
dürfen, oder erlitten. Aber haben Sie
sich in letzter Zeit wirklich wiedererkannt
in irgendeiner "Darstellung" ähnlicher Gefühle,
so daß Sie dieser Interpretation ihr
volles Vertrauen gegeben haben, sich ihr
hingegeben, sich in sie haben hineinfallen
lassen? Stimmen Sie mit mir überein,
daß das selten geworden ist? Immer seltener
wird …
Nicht, wenn Sie sich Pina anvertrauen. Ich
habe vor einem Vierteljahrhundert zum ersten
Mal ein Stück von Pina Bausch aufgeführt
gesehen. Das war in Venedig. Ich
gebe zu, ich wußte nicht viel vom Tanztheater.
Ich war ein "Spätberufener". Ich hatte
ein paar Ballette gesehen und alle möglichen
Tanzaufführungen in aller Welt, aber
nichts hatte mich je vom Hocker gerissen,
vom Stuhl gehauen, umgeworfen …
Und nur so kann ich beschreiben, was mich
da im "Café Müller" ereilte. Nein, kein
Wirbelsturm war da über die Bühne gefegt.
Da waren … Menschen aufgetreten, die sich
anders bewegten, als ich das kannte, und
die mich anders bewegten, als mir das je
geschehen war.
Schon nach ein paar Augenblicken hatte
ich einen Kloß im Hals, und nach einigen
Minuten ungläubigen Staunens habe ich
einfach meinen Gefühlen freien Lauf gelassen
und hemmungslos geheult. Das war
mir vorher noch nie passiert … Im Leben
schon, durchaus auch mal im Kino, aber
nicht beim Anschauen einer einstudierten
Inszenierung, geschweige denn einer Choreographie
Das war nicht Theater, nicht Pantomime,
nicht Ballett und schon gar nicht Oper. Pina
ist, wie Sie wissen, die Erfinderin (nicht
nur hierzulande) einer neuen Kunst.
Es ist an der Zeit, über "Bewegung" zu
sprechen. Eigentlich sollte ich mich als
Fachmann ansehen. (Oder zumindest Sie
mich …) "Motion Picture Director" ist
schließlich mein Beruf, ich bin also einer,
der sich mit "bewegten Bildern" auskennt.
Dachte ich auch. Bis mich Pina eines
anderen belehrt hat. Nein, "belehrt" ist
nun wirklich der falsche Ausdruck. Nichts
läge ihr ferner. Aber sie ist, ohne es unbedingt
zu wollen, eine große Lehrerin für
alle, die denken, sie wären auf die eine
oder andere Weise bewandert in punkto
"Bewegung".
Die deutsche Sprache hat ja die wunderbare
Eigenschaft, in einem Wort oft mehrere
Zusammenhänge anzusprechen Es gibt
kaum ein schöneres Beispiel dafür als den
Begriff der "Bewegung". Das ist sowohl
eine Geste, ein Schritt vorwärts, die
phänomenologische "Fort"-Bewegung, sich von
einem Ort zum anderen aufmachen …
Und dann ist es auch das, was einem auf
solch einer Reise zustoßen kann, nämlich
daß einen "etwas bewegt". Für diese innere
seelische Bewegung macht das Englische
den Sprung von "Motion" zu "Emotion".
Die deutsche Sprache bleibt bei ihrem
einen Wort, und das kommt mir hier zustatten,
denn nichts kann Pinas Arbeit
besser beschreiben, als daß sie die beiden
Bedeutungen meines Lieblingswortes zu
einer zusammengeführt hat. Motion ist hier
emotion.
Mich hat Bewegung als solche vorher nie
berührt. Ich habe die immer als gegeben
vorausgesetzt. Man bewegt sich eben. Alles
bewegt sich. Erst durch Pinas Tanztheater
habe ich auf Bewegungen, Gesten, Haltungen,
Gebärden, Körpersprache achten
gelernt. Und diese dadurch erst achten gelernt.
Und jedesmal aufs neue, wenn ich über die
Jahre Pinas Stücke gesehen habe, viele
zum wiederholten Male, habe ich, oft wie
vom Donner gerührt, das Einfachste und
Selbstverständlichste neu als das Bewegendste
überhaupt zu sehen gelernt. Welcher
Schatz unseren Körpern innewohnt,
sich ohne Worte mitteilen zu können, und
wieviel Geschichten erzählt werden können,
ohne daß ein Satz gesagt wird.
Aufstehen, hinfallen, wanken, hinsinken,
entgleiten, auffangen, loslassen, springen,
emporschnellen, sich überschlagen, in sich
zusammenfallen, abrollen, Schutz suchen,
sich verhärten, sich anspannen, sich ineinanderkrallen,
den Arm um jemanden
legen, sich berühren und wieder auseinandergehen,
sich hochheben lassen, sich
tragen lassen, sich fallen lassen, den Kopf
senken, weinen, lachen, jauchzen, kichern,
jubeln, prusten, schluchzen, gleiten, stolpern,
hüpfen, purzeln, stürzen … gehen,
schreiten, laufen, rennen, anhalten, stehen
bleiben … sich zum Narren machen, einen
Schuh verlieren und mit dem anderen
weiterhumpeln, stolzieren, geschmeidig
flanieren, sich wiegen, sich anschmiegen,
wippen, ungeduldig mit dem Fuß pochen,
stehen gelassen werden, das Kinn hochheben,
die Augen senken, kriechen, gedemütigt
werden, angehimmelt werden …
Der verschmierte Lippenstift! Der verrutschte
Rock! Der hochgekrempelte Ärmel!
Das Hemd, das aus der Hose hängt.
Die hängende Zunge, die fliegenden Haare,
der ausgestreckte Zeigefinger, der gebogene
Rücken, das erhobene Haupt …
Menschen bewegen sich, und indem diese
Gesten, Sprünge, Schritte … von Pina ins
Rampenlicht gesetzt, inszeniert, hervorgehoben
und bewußt gemacht werden, oft
spielerisch, aber immer leicht und nie
"bedeutungsschwanger", sieht man sie auf
einmal so, als hätte man nie vorher auch
nur im entferntesten begriffen, wie jede unserer
inneren Bewegungen, unserer "emotions",
sich nach außen hin bekunden, fortsetzen,
ent-äußern, zu motions werden.
[...]
SINN UND FORM 6/2009, S. 854-856