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Heft 3/2008 enthält:
Timpanaro, Sebastiano
Freuds Rom-Phobie, S. 293
Fuchs, Thomas
Zur Phänomenologie des Schmerzgedächtnisses, S. 319
Lange, Hartmut
Gespräch mit Ralph Schock, S. 329
RALPH SCHOCK: Viele Ihrer Novellen, auch die Künstlernovellen über Nietzsche, Liszt, Kleist und Schnitzler, kreisen um Endlichkeit und Tod. Warum (...)
Lange, Hartmut
Gespräch mit Ralph Schock
RALPH SCHOCK: Viele Ihrer Novellen, auch die Künstlernovellen über Nietzsche, Liszt, Kleist und Schnitzler, kreisen um Endlichkeit und Tod. Warum beschäftigt Sie das Thema so sehr?
HARTMUT LANGE: Der Tod beschäftigt einen immer dann, wenn man den Zenit seiner Lebenskurve überschritten hat und sieht, daß es nicht nach oben, sondern nach unten geht. Mich beschäftigt der Tod schon seit meinem vierzigsten Lebensjahr.
SCHOCK: Da hatten Sie den Zenit Ihrer Lebenskurve doch noch nicht erreicht.
LANGE: Da war ich schon drüber hinweg. Da war der Hegelsche Rationalismus, jene Form von Vernunft, die die Ich-Perspektive des einzelnen zur Menschheit und zur Weltgeschichte hin überschreitet und der ich so lange anhing, bei mir schon passé. Das geschah in dem Augenblick, als ich mein Selbst entdeckte. Ich fühlte mich plötzlich Philosophen wie Kierkegaard sehr nahe. Kierkegaard fürchtete vor allem die Endlichkeit, und er verzweifelte fast daran. Bei seiner Flucht in den Glauben gibt es Parallelen zu Pascal. Pascal versuchte mit Transzendenzentwürfen über das Nichts und die Leere hinwegzukommen. Bei mir war es ähnlich. Ich entdeckte plötzlich, daß der Rationalismus mir die Welt zwar erklären kann, aber an meiner existentiellen Ungewißheit nichts ändert: ich bin nichts als eine flüchtige Erscheinung. Aber das Ego will ja nicht einfach von der Erde weggefegt werden, und so kommt es, daß man sich so lange mit dem Tod beschäftigt, bis einem diese Grenzüberschreitung vertraut wird. Goethe, der ja noch in einer pantheistischen Gewißheit lebte, sagte von sich, er beschäftige sich so lange mit der Natur, bis er wünscht, dieselbe zu sein. Da ist der Schritt vom unerlösten Subjekt zur angeschauten Objektivität getan. Auch ich war gewillt, eine Brücke zur Transzendenz zu finden. Ich habe »Die Selbstverbrennung« geschrieben, einen theologischen Roman, in dem ich mich als Pfarrer sah, als Nihilist, der versucht, durch Verstandesfrömmigkeit die Angst vor der Endlichkeit zu überwinden. Das gelingt natürlich nicht. Wenn man Rationalist ist, muß man die Dürre und die Kälte des Nihilismus aushalten. Nur ist es dann so, daß man sich fast nur noch mit dem Nichts beschäftigt. Und das Nichts, das ist ja der Tod.
SCHOCK: Sie sprachen vom unerlösten Subjekt. Als Sie mit dem Schreiben anfingen, waren Sie Marxist. Auch der Marxismus hat die Unerlöstheit des Subjekts zum Thema. Was ist der Unterschied zwischen existentieller und marxistischer Unerlöstheit?
LANGE: Der Marxismus ist eine Soziallehre, die auf einem Glücks- oder Heilsversprechen basiert, auf einer Teleologie, einer Geschichtsentwicklung zum Besseren hin. Er sieht das Subjekt durch seine sozialen Bedingungen, seine Zivilisation determiniert, aber er sieht es nicht als Einzelwesen. Der Marxismus begreift das Subjekt nicht existentiell, sondern gesellschaftlich und geschichtlich. Als Marxist können Sie sagen: Wenn der Mensch sozial befreit ist, dann ist der Endpunkt der Geschichte erreicht, dann herrscht Vernunft in Staat und Produktion. Aber mein Erschrecken bestand ja in der Erkenntnis, daß der Marxismus die existentielle Basis des Subjekts, also Angst, Endlichkeit und Tod, ausblendet. Wir wurden doch dazu erzogen, unser Ich gänzlich aus dem Spiel zu lassen. Uns wurde gesagt: habt euch nicht so albern mit euerm Selbst. Jede Art Subjektivismus wurde hart bekämpft. In meiner Not habe ich mich dann an anderen Philosophien festgehalten. Ich wechselte von der Hegelschen Erkenntniseschatologie und der Marxschen Soziallehre, die ja beide streng rationalistisch und vernunftorientiert sind, zu Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger und Kierkegaard. Kierkegaard und Pascal fassen die Transzendenz noch christlich auf. Bei Schopenhauer ist das schon nicht mehr der Fall, und Nietzsche ist bereits die Antwort auf den säkularen Nihilismus. Wenn man begreift, daß man sich zwar politisch und sozial, aber nicht existentiell befreien kann, dann wird die Luft dünn, dann beginnt die Bodenlosigkeit, der freie Fall. Ein freier Fall, der kein Ende kennt und in dem man versuchen muß, zur Ruhe zu kommen.
SCHOCK: Bei Ihnen hat dieses Pascalsche Erschrecken aber keine religiöstheologische Grundierung mehr.
LANGE: Pascal gelang es noch, in die Apologie des Katholizismus zu flüchten. Auch Kierkegaard, obwohl hochgradig verzweifelt, gelang noch die Flucht in die Glaubensgewißheit. Bei ihm ist die Angst noch fest mit der Erbsünde verbunden. Das ist bei uns inzwischen alles weg. Sie können heute das metaphysische Erschrecken vor der Endlichkeit nicht mehr mit einem christlichen Transzendenzversprechen überwinden, und auch mit keinem anderen mehr. Sie können aber, und das ist bei mir der Fall, ein Transzendenzbegehren entwickeln. Das findet zwar keine Erfüllung, ist aber in sittlicher Hinsicht besser, als wenn Sie keins hätten. Es gibt von Pascal den wunderbaren Satz: »Dies verrät äußerste Geistesschwäche, wenn der Mensch nicht erkennt, wie groß sein Elend ohne Gott ist.« Damit hat er nicht die Gottesgewißheit postuliert, sondern nur gesagt: Wenn es Gott nicht gibt und der Mensch darüber nicht erschrickt, ist er geistlos. Dem würde ich zustimmen, denn ich wünschte immer noch, es gäbe Gott, obwohl ich überzeugt bin, daß es ihn nicht gibt.
SCHOCK: Könnte man das nicht metaphysische Ironie nennen?
LANGE: Es ist ein unerfülltes Transzendenzbedürfnis. Ich versuche, der Grauzone der Verzweiflung zu entkommen. Ironie hat dort keinen Platz.
SCHOCK: Man könnte so tun, als gäbe es Gott.
LANGE: Nein, das kann man nicht, das ist naiv. Der Unterschied ist, daß Sie Gott brauchen, aber wissen, daß es ihn nicht gibt. Sie können nicht so tun, als gäbe es ihn, das wäre doch Maskerade. Ich möchte den sehen, der das schafft und damit leben kann.
SCHOCK: Wie gelingt es Ihnen, Ihr Transzendenzbegehren zu stillen? Durch das Schreiben?
LANGE: Ja, der Künstler ist ein Selbstheiler, der seine Empfindlichkeit und Verwundbarkeit ins Ästhetische hebt und sich so ein Erfolgserlebnis verschafft. Mit jeder Sache, die man sich von der Seele schreibt, wird man ein Stück freier. Wobei im Rücken schon wieder die nächste Tür aufgeht und das nächste Gespenst erscheint, das man wegschreiben muß.
SCHOCK: Was ist denn das Erfolgserlebnis des Autors Hartmut Lange?
LANGE: Daß etwas gelungen ist.
SCHOCK: Eine Novelle, ein Satz, ein Gedanke?
LANGE: Nein, die Beschreibung eines Zustands. Wenn ich feststelle, daß ich meine eigene und auch einen Teil der objektiven Wahrheit ins Ästhetische gehoben habe, gibt mir das ein Gefühl der Genugtuung. Kunst kommt von Können, und wenn es einem gelingt, sein Können zu beweisen, hat man ein Erfolgserlebnis. Hinzu kommt der Wunsch zu überdauern. Markus Lüpertz wurde einmal gefragt, warum er male. Er antwortete, daß er in den Köpfen der Menschen drei, vier Sekunden länger zu überleben hoffe. Sartre sagte, er habe keine Angst vor seinem Sterben, aber vor dem Tod der Gattung, da er dann in ihrem Gedächtnis nicht mehr aufgehoben wäre. Der schlimmste Gedanke für mich ist, daß das ganze Bemühen um Transzendenz eines Tages durch veränderte kosmische Bedingungen - sofern man der Astrophysik glauben darf - einfach weggewischt wird.
SCHOCK: Das heißt, vor Ihnen tut sich ein dreifacher Gefahrenhorizont auf: erstens der nihilistische Abgrund, zweitens die Schreibtischkante, mit der Sie ihn verdecken, und drittens das Gefühl, daß beide, Abgrund wie Schreibtisch, zusammen mit der Gattung einmal verschwinden könnten.
LANGE: Dann hätte selbst der Nihilismus keinen Sinn mehr. Der Nihilismus definiert sich ja mittels Affirmation. Man will etwas behalten, schafft es aber nicht. Man sieht, daß es aufgezehrt wird. Wenn wir wissen, daß wir aufgrund sich ändernder kosmischer Bedingungen als Gattung verschwinden, erlischt nicht nur die Sozial-, Subjekt- und Kulturgeschichte, sondern auch das Andenken an die Menschheit überhaupt.
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SINN UND FORM 3/2008, S. 329-331
Lange, Hartmut
Erinnerungen an meine Mutter, S. 339
Kanterian, Edward
Über den unterschiedlichen Wahrheitsgehalt von Holocaust-Tagebüchern, S. 342
Im Oktober 1941 wurden auf dem Friedhof der südgalizischen Stadt Stanisławów über zehntausend Juden von deutschen Polizeieinheiten und (...)
Kanterian, Edward
Über den unterschiedlichen Wahrheitsgehalt von Holocaust-Tagebüchern
Im Oktober 1941 wurden auf dem Friedhof der südgalizischen Stadt Stanisławów über zehntausend Juden von deutschen Polizeieinheiten und ukrainischen Hilfstruppen ermordet. Die Überlebenden wurden in ein neuerrichtetes Ghetto gesperrt. Unter ihnen war die junge Eliszewa Binder, die bald begann, den Ghettoalltag in ihrem Tagebuch zu dokumentieren. Die letzte Eintragung stammt vom 19. Juni 1942, vermutlich ihr letzter Lebenstag, denn das Tagebuch wurde in einem Straßengraben in der Nähe des Friedhofs gefunden, auf dem das Massaker stattfand. Zehn Tage zuvor hatte sie angesichts der drohenden Vernichtung – der Judenrat hatte 800 Menschen zum Friedhof beordert – kommentiert: »Nun ja, diese ganze Kritzelei hat keinen Sinn. Tatsache ist, daß wir nicht überleben werden. Die Welt wird auch ohne meine weisen Notizen von allem erfahren.«
Objektiv betrachtet liefern ihre Aufzeichnungen tatsächlich kaum historische Informationen. Eliszewa Binder konnte nicht wissen, daß solche Massaker bald in allen Gebieten unter deutscher Herrschaft stattfinden würden. Im Januar 1942 wurden auf der Wannseekonferenz die Details der Endlösung beschlossen. Im März 1942 begann die »Aktion Reinhardt«, der die Juden im polnischen Generalgouvernement zum Opfer fielen. Eliszewa Binder schreibt nichts über diese Fakten; sie artikuliert einzig und allein ihre Gedanken und Gefühle, die sich zwischen völliger Verzweiflung und zaghafter Hoffnung bewegen. Diese Beobachtung trifft für nahezu jedes persönliche Zeugnis zu, besonders natürlich für Tagebücher und Briefe. Und sie führt zu dem Einwand, ob solche Texte nicht ohnehin viel zu subjektiv sind, um objektives Wissen über den Holocaust zu vermitteln. Sollte man sie nicht vor allem als dramatische Fallbeispiele oder als Veranschaulichung der furchtbaren Tragödie lesen? Oder anders gefragt: Würden uns wesentliche Umstände des historischen Geschehens verborgen bleiben, wenn wir die Tagebücher von Eliszewa Binder, Anne Frank oder Mihail Sebastian (um den es hier in erster Linie gehen soll) ignorierten?
Gewiß enthalten etliche dieser Tagebücher wichtige Informationen, vor allem, wenn ihre Autoren an herausgehobener Position wirkten wie Adam Czerniaków, der Vorsitzende des Warschauer Judenrats, wie Herman Kruk, der in der Ghettobibliothek in Wilna arbeitete, wie Raymond-Raoul Lambert, der Vorsitzende der Union Générale des Israélites des France, oder wie Abraham Lissner von der kommunistischen Widerstandsgruppe Ftp-Moi in Paris. Sie geben tiefere Einblicke in die Interaktion zwischen Judenräten und deutschen Dienststellen, aber auch in die Verhältnisse der jüdischen Gemeinschaft, in die einzelnen Fraktionen, die Widerstandsinitiativen und nicht zuletzt auch in die materiellen Aspekte des Ghettolebens. Aber von solchen Tagebüchern sind nur wenige erhalten geblieben, weshalb sich die Holocaustforschung in ihrer Frühphase auch auf die Täter konzentrierte, die ihre Verbrechen minutiös geplant und oft auch genauso minutiös dokumentiert haben, so daß wir heute Bescheid wissen über die Logistik und Befehlsstruktur von Deportationen und Massentötungen, über die Befehlsgeber, Befehlsempfänger und Handlanger. Hinzu kommt, daß auch Tagebücher und Briefe sowohl hochrangiger als auch subalterner Täter existieren, die das Bild ergänzen. Warum also auf die diffusen, wenn nicht gar irreführenden Auskünfte der Menschen hinter dem Stacheldraht zurückgreifen, wenn genügend Informationen von denjenigen vorliegen, die den Stacheldraht aufzogen?
Die gemäßigte skeptische These lautet: Von einigen wenigen Zeugnissen abgesehen, läßt sich die Realität des Holocaust ohne die Stimmen der Opfer beschreiben. Adam Czerniakóws Tagebuch ist eine unersetzliche historiographische Quelle, das Tagebuch von Eliszewa Binder oder Mihail Sebastian dagegen nicht. Etliche Einträge Sebastians wie etwa der vom 18. Dezember 1941 sind geradezu unverständlich: »Die neuen Anführer der Juden Streitman und Vilman! Heute von Lecca berufen«. Um zu begreifen, wieso ein Mitglied der rumänischen Regierung die neuen Anführer der Juden beruft, braucht man Hintergrundkenntnisse, die Sebastian nicht liefert, weil er sie auch nicht hat. Radu Lecca war in der Antonescu-Regierung der Beauftragte für jüdische Angelegenheiten und damit zuständig für die Deportationen und in dieser Funktion der Partner von Adolf Eichmann, der die Bildung von Judenräten angeordnet hatte. Sie sollten die jüdischen Gemeinschaften kontrollieren und der Vernichtungsmaschinerie zuarbeiten.
Raul Hilbergs frühes Meisterwerk »Die Vernichtung der europäischen Juden« ist paradigmatisch für die methodologische Ausrichtung auf die Dokumente der Henker. In »Die Quellen des Holocaust«, seinem letzten Buch, präsentiert Hilberg eine Typologie der Holocaustquellen. Zwar lehnt er die Zeugnisse der Opfer nicht rundweg ab, was ja auch seiner Editionsarbeit an Czerniakóws Tagebuch, das er als ein Schlüsselzeugnis ansieht, widerspräche, aber er stellt eine Art Zuverlässigkeitshierarchie auf, nach der die von Tätern während des Ereignisses verfaßten (amtlichen) Dokumente tendenziell bedeutsamer sind als die (persönlichen) Zeugnisse der Opfer. Auf der untersten Stufe stehen reine Erfindungen wie Binjamin Wilkomirskis »Bruchstücke: Aus einer Kindheit 1939–1948« (1995) sowie Täterberichte, die nach dem Krieg verfaßt wurden und der Entlastung dienen sollten (man denke an Albert Speers Memoiren). Hilberg ist auch kritisch gegenüber der Oral history, da sie dem Ideal des ursprünglichen, unmittelbaren, nicht revidierten Zeugnisses kaum entspreche. Aus ähnlichen Gründen hat er sogar Vorbehalte gegen die Erinnerungen von Überlebenden. Die Tagebücher von Opfern, oder jedenfalls einige davon, stuft er höher ein, am höchsten aber die deutschen Dokumente, obwohl auch sie Mängel und blinde Flecken aufweisen, wie er anhand vieler Beispiele zeigt.
Wenn aber keine Quelle ganz verläßlich ist, wie kann dann unser Wissen über den Holocaust objektiv sein? Ist dann nicht jede Quelle letztlich problematisch? Darauf scheinen Hilbergs Schlußbemerkungen hinauszulaufen: »Alle Ergebnisse befinden sich stets in einem Zwischenstadium. Wohl ist die Historiographie auch eine Kunstform, die das Streben nach Vollendung fordert, aber die Wirklichkeit der Ereignisse ist nicht rekonstruierbar.« Diese vorsichtig formulierte Skepsis ließe sich zuspitzen. Erstens: Die Quellen des Holocaust sind nicht aus zufälligen historischen, sondern aus notwendigen, in der Natur der Sache liegenden Gründen begrenzt. Zweitens: Alle Vergangenheitsquellen sind in dieser Weise begrenzt. Womit die Vorstellung von einem objektiven Zugang zur Geschichte eine Chimäre wäre. Ein solch radikaler Skeptizismus ist philosophischer Art. Er unterscheidet sich nur thematisch von Descartes’ in den »Meditationen« (1641) angestellter Überlegung, es gebe kein unanfechtbares Kriterium, das uns versichert, daß wir nicht träumen, wenn wir wach zu sein glauben – und nur in der Formulierung von Bertrand Russells Behauptung in der »Analyse des Geistes« (1921), es sei kein logischer Beweis dafür möglich, daß die Welt nicht erst vor fünf Minuten entstanden ist, inklusive aller Menschen und aller ihrer Erinnerungen an eine angebliche Vergangenheit.
Philosophischer Skeptizismus ist nur philosophisch zu beantworten. Am besten gelang dies Wittgenstein in seinen postum veröffentlichten Bemerkungen »Über Gewißheit« (1969). Doch wir müssen Hilberg nicht mit Wittgenstein gegen den Vorwurf allzu radikaler Skepsis verteidigen. Seine historiographische Praxis belegt eine andere Überzeugung als die oben skizzierte, hält er sich doch, zumal in seinem frühen Hauptwerk, an das erwähnte Hierarchiemodell, indem er den einzelnen Quellenkategorien von vornherein einen unterschiedlichen Wahrheitsgehalt zuschreibt. Danach sind Tagebücher wie die von Binder oder Sebastian Zeugnisse von »Privatpersonen« und damit weniger bedeutsam als die von Czerniaków oder Lambert. In epistemischer Hinsicht stehen sie jedoch über den Quellen, die aus dem Rückblick entstanden. Hier könnte uns jedoch ein weiterer skeptischer Gedanke verunsichern, daß nämlich gerade die Verankerung eines Tagebuchs im Hier und Jetzt sein größter Mangel wäre, da ja das Hier und Jetzt naturgemäß flüchtig, bruchstückhaft und zudem geprägt ist von der Persönlichkeit des Autors, seinen Lebensumständen und seiner Weltsicht. Derlei Argumente sind nicht bloß eine theoretische Möglichkeit. Man begegnet ihnen in Diskussionen über Holocaust-Tagebücher, wo ihnen kaum widersprochen wird, weil sie der Weisheit letzter Schluß zu sein scheinen.
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SINN UND FORM 3/2008, S. 343-352
Warner, Marina
Das entkörperte Wort: Das Gedächtnis im Cyberspace, S. 353
Roidis, Emmanouil
Lob der Krankheit, S. 364
Wahrscheinlich wirst du, lieber Leser, schon bei der Überschrift dieses Artikels mit den Achseln zucken und ausrufen: »Dummes Zeug!« Allerdings (...)
Roidis, Emmanouil
Lob der Krankheit
Wahrscheinlich wirst du, lieber Leser, schon bei der Überschrift dieses Artikels mit den Achseln zucken und ausrufen: »Dummes Zeug!« Allerdings wohl nicht, wenn du mal schwer krank warst und noch daran denkst, was du damals empfandest.
Der erste und vielleicht größte Vorzug einer Krankheit besteht darin, daß du dich nur an diesen Tagen erzwungener Untätigkeit völlig frei fühlst von jeder Verpflichtung und Verantwortung gegenüber dir selbst, deiner Frau und den Kindern, der Gesellschaft und deinen Gläubigern. Erst dann kannst du ruhigen Gewissens sagen: »Mag kommen, was da will – es ist nicht meine Schuld!«
Solange du gesund bist, schuldet dir die sogenannte Gemeinschaft aller Menschen rein gar nichts: weder eine Anstellung noch ärztliche Versorgung noch einen Kredit, weder Produktionsmittel noch Protektion, nicht mal ein Stück Brot. Du hast ja Arme und Hände, und es ist deine Sache, dir dies alles zu beschaffen. Wenn du Pech hast und trotz guten Willens weder Klienten findest, falls du Anwalt bist, noch Stammgäste, wenn du ein Kafenio hast, noch einen Herrn, wenn du Diener bist, oder der Herr Minister dich eines Morgens zum Arbeitslosen gemacht hat und du vergebens darum ersuchst, Prozeßakten abzuschreiben oder Schafe zu hüten, oh! dann nennt man dich natürlich zu Recht einen »Müßiggänger und Faulenzer, einen Tagedieb, Nichtsnutz und Arbeitsscheuen«. Krank zu sein ist also deinem Stolz weit weniger abträglich.
Und so bist du nicht nur die Sorge um das tägliche Brot los, sondern auch die äußerst lästigen gesellschaftlichen Verpflichtungen, Besuche, Visitenkarten, nationale und königliche Feiertage, Handkuß, Namenstage und Begräbnisse.
Statt dich pflichtgemäß um die Deinen zu kümmern, erlebst du nun, wie sie sich alle um dich kümmern. Wie sie sich um dein Bett scharen, besorgt, aufmerksam, beflissen, fürsorglich und bereit sind, dir jeden Wunsch, ja jede Marotte zu erfüllen.
Deine Freunde und Bekannten, die sich gewöhnlich so intensiv um dich kümmern wie um den Khan der Mongolei, sind überzeugt, daß Anstand und Sitte es gebieten, sich nach deinem Zustand zu erkundigen und besorgt zu tun.
Falls dich allerdings Verwandte und Freunde im Stich lassen, hat auch die völlige Verlassenheit ihren Reiz. Die Vorstellung, allein gegen Leiden und Tod zu kämpfen, vermag deinen Stolz zu befriedigen. Sie erlaubt es dir, dich mit dem großen Helden des Äschylus zu vergleichen, mit dem Gefesselten Prometheus, der, nachdem ihn die unbarmherzigen Meerestöchter verlassen hatten, ebenfalls allein zurückblieb an seinem Fels in der Ödnis mit dem Geier, der ihm die Leber zerfetzte.
Außerdem wird dieses völlige Verlassensein deine Studien des menschlichen Herzens und deine Erfahrungen damit bereichern und dir unerschöpflichen Stoff liefern, dich über deinen einstigen Glauben an die Liebe von Verwandten und Freunden lustig zu machen.
»Aber dann spüre ich doch, wie mich die Kräfte verlassen, meine Sinne nicht mehr richtig wach sind, mein Kopf schwer wird, so daß ich nicht mehr denken kann.«
»Und darüber beschwerst du dich, Undankbarer! Jahrelang haben dich die Gedanken gemartert; da ist es doch sicher eine Wohltat und kein Unglück, daß die qualvolle Arbeit des müden Hirns für eine Weile unterbrochen wird.«
Sollten dir indes noch Reste deiner Gehirntätigkeit verblieben sein, liegt das auch an den mit melancholischer Süße getränkten Vorstellungen vom friedlichen Ende des rechtschaffenen Mannes, von der Erlösung von irdischen Qualen, vom ewigen Frieden, vom Paradies der Christen, von der Einswerdung mit dem Gott der Pantheisten, vom Nirwana der Philosophen, und, um die nackte Wahrheit zu sagen, noch viel mehr als all das an der bis zum letzten Atemzug währenden Hoffnung darauf, noch einmal davonzukommen.
Das stärkste Argument zugunsten der Krankheit ist jedoch, daß man, ohne krank gewesen zu sein, nicht die höchste Glückseligkeit der Gesundung genießen kann.
Nach einem Monat strengen Fastens gestattet dir der Arzt, einen Bratapfel zu essen, und jene erlaubte Frucht scheint dir unvergleichlich süßer zu sein als die verbotene und von Eva gepflückte. Dann einmal täglich Suppe, zweimal, dreimal. Wer würde sich nicht die Finger lecken bei der Erinnerung an den göttlichen Geschmack des ersten Hühnchenschlegels und an das erste Glas Wein, süßer als Nektar?
Allmählich kehren die körperlichen und geistigen Kräfte zurück, und du spürst, daß dir die Krankheit eine Art Jungfräulichkeit zurückgegeben hat, daß dein verseuchter, müder und gealterter Körper erneuert wurde, daß in deinen Adern frisches Blut fließt und neues Fleisch deine Knochen umhüllt, daß also der Allgütige Gott dir ein zweites Leben geschenkt hat.
Bist du der Familie und deinen Freunden wiedergegeben, stehst du noch eine geraume Zeit blaß, mild, sanft, arglos wie ein Kind und umgänglich im Mittelpunkt des Interesses; alle hast du gern, und alle haben dich gern dank deiner gesegneten Krankheit, die dich von der Verbitterung befreit und dich gegen Zorn, Launen und Gereiztheit unempfindlich gemacht hat.
Und was sollen wir über den ersten Spaziergang nach langer Krankheit sagen? Du siehst die Sonne wieder, Bäume, Bürgersteige, Schaufenster, Theaterplakate, die zum Schloß marschierende Garde. Was dich früher zum Gähnen brachte, bezaubert dich nun, erfreut dich und rührt dich einzig und allein deshalb, weil du es beinahe nie mehr gesehen hättest. Falls dir der Arzt einen Aufenthalt in Faliron oder Kifissia verordnet hat: Wie viel grüner erscheinen dir jetzt dort die Bäume, wieviel blauer das Meer!
Aber eines Tages siehst du – mitten auf der Straße, als du verzückt einem Leierkasten lauschst, den du so lange nicht gehört hast –, wie ein anderer Patient vorbeikommt, dem das Glück nicht so hold war wie dir und der nun zu seiner letzten Ruhestätte auf dem Ersten oder Zweiten Friedhof gebracht wird.
Dieser Trauerzug, obschon recht häufig auf den Athener Straßen, macht dir zum ersten Mal tiefen Eindruck und wühlt dich völlig auf. Aber wie freust du dich insgeheim, wenn du dein Los mit dem des armen Toten vergleichst!
»Wäre ich«, denkst du, »in jenem abscheulichen Sarg, würde ich wie der Mensch da drinnen inmitten dieser gleichgültigen Menge in die schwarze Grube gebracht, aus der man nicht wieder herauskommt; und die Passanten würden gleichgültig den Hut ziehen und weitergehen wie jetzt. Ob ich das bin oder ein anderer, wäre den bösen Egoisten egal. Wahrlich, ich danke Gott, dem es gefallen hat, mich aufrecht auf diesem Bürgersteig gehen zu lassen, anstatt in jener fürchterlichen Kiste zu liegen«.
Noch ein paar Wochen lang verfolgst du die Leichenzüge mit großem Interesse und glaubst, du müßtest dich mit Respekt und Rührung vor jenen Toten verneigen, zu denen du beinahe gezählt hättest, als wünschtest du, daß sich auch die anderen vor deiner sterblichen Hülle verneigen würden.
Die schwarze Kleidung des Leichenträgers mit dem Kreuz auf dem Rücken läßt dich schaudern, vor allem, wenn du noch ein wenig blaß bist und der Leichenträger dich anblickt, als wolle er sagen: »Du wirst mich bald brauchen, Freundchen«.
Aber mit der Zeit rührt dich der Anblick der Toten immer weniger und du denkst an dich. Deine Wangen sind inzwischen rundlich und rosig, die Leichenträger betrachten dich nicht mehr, und auch du beachtest sie nicht. Bald lüftest auch du mechanisch den Hut und gehst gleichgültig an den armen Toten vorbei, mit denen du dich nicht mehr verbunden fühlst.
Die Zeit vergeht. Tag für Tag legst du ein weiteres Stück deiner Empfindsamkeit ab und verlierst allmählich die Fähigkeit, ergriffen und froh zu sein. Das Gähnen überwiegt wieder, und das Alltagsleben erscheint dir nüchtern wie ehedem, langweilig, eintönig und fade wie Kürbis. Auch gibt es keine Hoffnung, noch einmal die Lust zu kosten, am Leben zu sein, es sei denn, das Glück beschert dir, ein zweites Mal an Plutons Tür zu klopfen.
Aus dem Griechischen von Gerhard Bluemlein und Andrea Schellinger
SINN UND FORM 3/2008, S. 364-367
Hartung, Harald
Shorts, S. 368
Seiler, Lutz
Spaziergänge ins Niemandsland, S. 371
Wagner, Jan
Gedichte, S. 377
Voß, Florian
Gedichte, S. 379
Schwaabe, Christian
Unheilbar Krisenhaft. Die Moderne und ihre Kritiker, S. 382
Bergin, Joseph
Kirche und Geld im vormodernen Europa, S. 395
Villwock, Peter
Brechts Notizbücher, S. 411
Lombez, Christine
Unlautere Aneignung. Deutsche Gedichte in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, S. 418