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1/2022
Heft 1/2022 enthält:
Cole, Isabel Fargo
Worte, Wörter, Wandlungen. Widerspruchseinheiten aus Franz Fühmanns Zettelkästen, S. 5Fühmann, Franz
Das Ungefähre gilt nicht mehr. Frühe Gedichte (1953 / 54), S. 15Schulze, Ingo
»Ich möchte Ihnen Hoffnung machen« Franz Fühmann oder Der Mythos als Ort der Verständigung, S. 20Anfang Juli 1984 wartete ich in der Sektion Altertumswissenschaften der Uni Jena darauf, zu meiner ersten mündlichen Prüfung (Grundkurs (...)
LeseprobeSchulze, Ingo
»Ich möchte Ihnen Hoffnung machen«. Franz Fühmann oder Der Mythos als Ort der Verständigung
Anfang Juli 1984 wartete ich in der Sektion Altertumswissenschaften der Uni Jena darauf, zu meiner ersten mündlichen Prüfung (Grundkurs Griechenland) aufgerufen zu werden. Der Dozent, der schließlich die Tür öffnete und mich hereinbat, sagte, während ich aufstand und auf ihn zuging: »Ach, wissen Sie schon? Gestern ist Fühmann gestorben!«
In diesem Augenblick brach für mich eine Welt zusammen. Ich hatte Franz Fühmann nie persönlich erlebt, war nie auf einer Lesung von ihm gewesen, ich hatte ihm nie geschrieben, ich hatte weder Fernsehbilder von ihm gesehen noch wußte ich, wie seine Stimme klang. Ich kannte nur einige seiner Bücher. Trotzdem lebte ich in der Gewißheit, in ihm einen wohlwollenden Leser zu haben, sobald ich nur etwas Selbstgeschriebenes vorzuweisen hätte. Ich würde nicht leichtfertig sein, denn in unserem Land, so schien mir, gab es kaum jemanden, der nicht schrieb und seine Texte nicht Fühmann schicken wollte. Auch mir war er die Versicherung dafür, nicht unbeachtet zu bleiben, sollte meine Schreiberei etwas taugen. Ich weiß nicht, woher ich damals diese Gewißheiten nahm. 1984 hatte ich von ihm gerade die im Jahr zuvor erschienenen Essays gelesen. Lag es an seinem Text über Wolfgang Hilbig? Da schenkt Fühmann seinem Verlag einen Schriftsteller. Und welcher unveröffentlichte Autor träumte nicht davon? Oder lag es an seiner Vorlesung »Das mythische Element in der Literatur« oder den E. T. A.- Hoffmann-Essays? Und noch während meines Grundwehrdiensts hatte ich »Vor Feuerschlünden«, seinen großen Trakl-Essay, gelesen, der den Schattenriß einer Autobiographie in sich barg. Dessen Offenheit, das Vorweisen der eigenen grauenhaften Irrtümer, war bestürzend und befreiend. Nicht weniger unerhört war Fühmanns Reflexion darüber, daß er selbst nach Salzburg fahren durfte, während anderen diese Möglichkeit verwehrt wurde. Wer von denen, die fahren durften, sprach sonst darüber? Wenige Wochen vor jener ersten Prüfung hatte ich einen Vortrag halten dürfen, ein Vergleich von Christa Wolfs »Kassandra« mit Fühmanns »König Ödipus«, es ging um die verschiedenen Arten des Umgangs mit dem Mythos. Daher wußte der Dozent, daß mich dieser Autor etwas anging. Doch 1984 gab es für den einundzwanzigjährigen Studenten kaum Bücher, die ihn nicht ergriffen, veränderten, erhoben, quälten oder zum Epigonen machten. Beinah jedes Zeugnis von Geistigkeit konnte brisant werden, jede Lektüre, jedes Gespräch fand in einem Alltag statt, den politisiert zu nennen sich erübrigte. Alles war politisch. Einen anderen Alltag kannte ich nicht. Doch warum ausgerechnet Franz Fühmann? Der Sternenhimmel der ostdeutschen Literatur leuchtete schließlich hell.
Als Kind habe ich nicht gelesen, drängte aber darauf, vorgelesen zu bekommen. Relativ früh bekam ich »Das hölzerne Pferd – Die Sage vom Untergang Trojas und von den Irrfahrten des Odysseus. Nach Homer und anderen Quellen neu erzählt von Franz Fühmann« geschenkt. Bei Fühmann sind die Götter keine erhabenen Wesen, aber mächtig und gefährlich. »Poseidon hat in meiner Vorstellung oft Züge eines Bahnhofvorstehers«, schreibt er 1973. »Den Apollo könnt’ ich mir ganz gut so denken, den Hermes und Ares zur Not, den Hephaistos, Hades, Dionysos gar nicht. Auch Zeus nicht, ihn am wenigsten: Dies Amt wäre für ihn zu groß / Den Prometheus auch nicht, der spielte herum … Aber Epimetheus wäre die ideale Besetzung.« Wenn meine Langeweile zu groß wurde, nahm ich mir das Buch heraus und blätterte zu jener Stelle – ich erkannte sie an den Illustrationen –, an der die Trojaner die Griechen fast zu besiegen scheinen. Weil es in dieser Neuerzählung soziale und ökonomische Unterschiede gibt, gewinnt eine Figur wie Thersites an Bedeutung. Er, der einzige ohne Genealogie und Adelsrang, der Mann aus dem Volk, der »immer zum Friedensschluß und zur Rückkehr in die Heimat geraten« hat, erzählt bei Fühmann von Prometheus, denn »die Götter sind grausam und böse und den Menschen feind«. Doch Fühmann weiß: »Im Mythos ist immer der ganze Mensch da, auch als Geschlechts-, auch als Naturwesen, aber nie auf diese reduziert.«
Auf Troja und Odysseus folgte beim abendlichen Vorlesen bald das Kinderbuch »Prometheus«. In ihm entdeckt Fühmann eine Figur, die Aufstieg und Fall verschiedener Zeitalter verbindet. Der Menschenfreund Prometheus wird zum Protagonisten eines Machtkampfs, der den jungen Lesern oder Zuhörern ein Gefühl für das Gewordensein der Welt gibt, für die Abfolge von Bündnissen und Kämpfen, aus denen Hierarchien und damit Herrschaftsverhältnisse entstehen. Erwachsenen mußte es schon damals (und heute erst recht aufgrund der postum erschienenen Teile) als Parabel auf das 20. Jahrhundert erscheinen. Das gilt auch für die »Nibelungen« und erst recht für »Reineke Fuchs«, der im Grunde bereits ein Muster für alle Mafia-Serien liefert: Der Schurke ist tatsächlich ein Schurke, aber als Leser hält man ihm unfaßbarerweise die Treue.
Fühmanns Neuerzählungen von Mythen und Sagen beunruhigten mich als Kind. Warum findet Hektor solch ein schmähliches Ende? Warum muß Prometheus so schrecklich leiden und gewinnt nicht gegen Zeus? Warum sind Götter eitel und egoistisch? Das waren nicht jene Figuren, die ich später im Museum fand. In einer Gegenwart, in der alles überdeutlich in Gut und Böse aufgeteilt war, stifteten Fühmanns Neuerzählungen Verunsicherung. Man wußte ja nicht einmal, wer die Guten und wer die Bösen waren. Diese Verunsicherung war für mich (und nicht nur für mich) noch wichtiger als die lustvolle Vermittlung weltliterarischer Stoffe, über die wir in der Schule (mit Ausnahme des »Reineke Fuchs«) kaum etwas hörten. Im Schullesebuch der 8. Klasse begegnete ich Fühmann mit »Kabelkran und blauer Peter«. Ich war irritiert, vielleicht sogar etwas enttäuscht, daß »mein« Autor, der doch bisher ganz der häuslich-vertrauten Atmosphäre angehört hatte, nun »allen« gehörte und Götter und sprechende Tiere keine Rolle spielten. Ich kann mich nicht mehr an die Lesestellen erinnern. Sie werden den Vierzehnjährigen nicht vom Hocker gerissen haben.
Wer heute in Bitterfeld an dem großen, gerade einmal wieder vor dem Abriß geretteten Kulturhaus vorüberfährt, in dem einmal herausragende nationale und internationale Ensembles und Solisten auftraten, in dem die Arbeitenden und ihre Kinder sich in Ballett und Fotografie, in bildender Kunst und Schauspiel versuchen konnten, dem bleibt der Spott über den »Bitterfelder Weg« im Hals stecken, auch wenn dieser in mehrfacher Weise ein Irrweg war. Denn was tatsächlich für »Bitterfeld« tauglich gewesen wäre, wie zum Beispiel der grandiose Roman »Erziehung eines Helden« von Siegfried Pitschmann, dem zweiten Ehemann von Brigitte Reimann, der aus freien Stücken und vor dem Bitterfelder Beschluß auf den Baustellen von Hoyerswerda / Schwarze Pumpe geschuftet hatte, wurde nicht nur nicht gedruckt. Der Autor wurde durch absurde Kampagnen gedemütigt und zum Selbstmordversuch getrieben.
Fühmann hat sich dem Anspruch des »Bitterfeldes Wegs« gestellt und immer wieder versucht, ihn zu erfüllen. Doch sein Widerspruch ist grundsätzlicher Art: »Was zum Beispiel empfindet ein Mensch, der weiß, daß er sein Leben lang so ziemlich dieselbe Arbeit für so ziemlich dasselbe Geld verrichten wird, als beglückend und was als bedrückend an eben dieser Arbeit; wo bringt sie ihm Reize, wo Freude, wo Leid, in welchen Bildern, auf welche Weise erscheint sie in seinem Denken und Fühlen usw. usw. Ich weiß es nicht und kann es nicht nachempfinden, und der Arbeiter spricht, obwohl er mein Freund ist, nicht darüber, weil es für ihn die allerselbstverständlichsten Dinge sind, so selbstverständlich, daß man die Frage danach gar nicht versteht, weil man die Antwort eben in Fleisch und Blut hat, nicht im Mund.«
Fühmann schummelt nicht. Es ist der Blick von einem, der die Welt der Arbeiterinnen und Arbeiter nicht aus eigener Erfahrung kennt, sich das aber als Defizit ankreidet und sich damit nicht abfinden will.
»Aufs Gymnasium kamen Arbeiter nicht; nach dem Abitur war ich zur Wehrmacht gekommen und hatte ein Maschinengewehr bedienen gelernt; in sowjetischer Kriegsgefangenschaft hatte ich in einem kleinen Waldlager Bäume gefällt und dann Karl Marx gelesen, und nach meiner Entlassung war ich für zehn Jahre an einen Büroschreibtisch geraten«, wo er seine Zeit »mit der Gliederung von Lektionen und Referaten, mit Aktennotizen und einem Rattenkönig an Papier und Protokollen hingebracht« hat. Hier macht sich einer auf den Weg, der nur den »Abklatsch der Wirklichkeit auf Rotations- und Schreibmaschinenpapier« kennt.
Fühmann, für den »Wahrheit und Schreiben« Synonyme sind, markiert eher die Unterschiede, die ihn von den Arbeitern trennen, als daß er die Grenzen mit seiner erzählerischen Kraft verwischt. Weil er die Voraussetzungen seines Schreibens benennt, weil sein Blickwinkel nichts vortäuscht, weiß ich als Leser immer, woran ich bei ihm bin.
Deshalb ist »Kabelkran und blauer Peter« heute wohl noch interessanter als bei seiner Veröffentlichung 1961. Denn diejenigen, deren Arbeit körperliche Schufterei ist, werden heute in der Literatur, im Film und Fernsehen kaum noch sichtbar – und wenn, dann als underdogs in den Nachmittagsprogrammen. Diese Exkursion des Schriftstellers auf die Werft (er hat viele weitere Versuche unternommen, in Großbetrieben zu arbeiten) liest sich von heute aus auch als Beginn eines Weges, der zu seiner literarischen Schürfarbeit »Im Berg« führen wird. Seine Erzählungen entdeckte ich nicht selbst. Anfang 1978, in den Winter ferien der 9. Klasse, saß ich der Malerin Gerda Lepke in ihrem winzigen Atelier am Laubegaster Ufer in Dresden Modell. Ich hatte gerade die Hermann-Hesse- Romane und Erzählungen gelesen und rang mit mir, ob ich in den sogenannten persönlichen Gesprächen mit unserem Klassenlehrer, der uns für die Offizierslaufbahn werben oder zumindest das Zugeständnis eines dreijährigen Armeediensts abpressen wollte, nicht doch, wie mein Banknachbar, er war Mitglied im Kreuzchor, bekennen sollte, den Dienst an der Waffe aus religiösen Gründen zu verweigern. Während Gerda mit der schräg vor ihr liegenden Leinwand kämpfte – die Pinsel waren an Stöcke gebunden – und mir von dem Duft der Ölfarben und des Terpentins, dem vielen Kaffee und dem überheizten Raum schon etwas flau war, sprach sie darüber, daß sie sich gerade mit Fühmann »beschäftige«. Sie schien immer einen Autor zu haben, mit dem sie sich beschäftigte. Und darunter waren einige, die ich auch aus meinen Lesebüchern kannte, Kurt Tucholsky und Majakowski zum Beispiel, aber auch ein gewisser Robert Walser, von dem ich noch nie gehört hatte. Nun sprach sie über Fühmanns Erzählungen. Vor allem die erste, »Kameraden«, empfahl sie mir nachdrücklich (die unter dem Titel »Betrogen bis zum jüngsten Tag« verfilmt worden war). Ich kaufte mir den Band (oder bekam ich ihn geschenkt?) und muß zumindest bis zum »König Ödipus« gelangt sein. Etwas später las ich den Zyklus »Das Judenauto«, ohne mir des Glücks bewußt zu sein, ihn in der ursprünglichen Fassung kennenzulernen, die allerdings erst 1979 herausgekommen war, achtzehn Jahre nach der Erstpublikation. Wiederum vier, fünf Jahre später, ich war schon Student, nahm ich mir die Erzählungen wegen des »Ödipus« erneut vor. Erst da fielen mir die Verletzungen auf, die Fühmann seinen Texten aus Überzeugung oder Selbstzensur zugefügt hatte. In »König Ödipus« planen Wehrmachtssoldaten während der Okkupation Griechenlands eine Aufführung der Tragödie des Sophokles. In langen Gesprächen bemühen sie sich um deren Deutung und offenbaren dabei ihren Rassenwahn wie ihre Blindheit für die eigene Situation. Die langen Sätze der Beschreibungen und wörtlichen Reden winden sich wie Schlangen um die Figuren. Immer gehetzter wird der Erzählduktus, der das Geschehen auf die Katastrophe zuführt. Die Peripetie blitzt auf den letzten zwei Seiten wie eine Erkenntnis auf, die nicht gänzlich unvorbereitet kommt, jedoch in der Eindeutigkeit, ja Konformität, mit der sie geschildert wird, die Novelle ihrer Ambivalenz beraubt und einen Hauptmann dem Publikum sagen läßt, was Sache ist: »und nun brach die neue Zeit des Menschenrechts aus den Schlünden des Balkans und den Hainen des Maquis und den sanften Ebenen Polens und rollte donnernd her aus den Weiten Rußlands, um die alte Zeit zu begraben, der anzugehören einfach schon Schuld war«.
Es zerstört nicht die Novelle, aber es bleibt ein Kratzer, den man wie auf einer Schallplatte hört. Das als Fühmanns Tribut für eine Veröffentlichung zu deuten, wäre zu billig. Allein äußeren Zwängen hätte er sich nicht gebeugt. Die vierzehn Erzählungen von »Das Judenauto« fügen sich zu einer großen Lebenserzählung, die man heute wohl »Roman« nennen würde. Dafür, wie Fühmann die eigene Verblendung nachzeichnet, gibt es, soweit ich das sehe, kaum Vergleichbares in deutscher Sprache. Kindheit, Jugend, die Zeit im Arbeitsdienst, in der Wehrmacht und der sowjetischen Gefangenschaft werden aus der Position desjenigen erzählt, der die nationalsozialistische Gesinnung verinnerlicht hat. Dieses »ich«, sei es das Kind mit seiner Angst vor den Juden oder der Landser, der noch Anfang Mai 1945 auf die Wunderwaffe hofft, quält mich als Leser, weil er keinen Ausweg aus seiner Logik findet, einem Gespinst aus Antisemitismus, Nationalismus, Antikommunismus, Herrenmenschentum, Angst und Rechtfertigung von Kriegsverbrechen. Die Unerbittlichkeit vorzuführen, die dieses Denken beherrscht, es nacherlebbar zu machen, wie ein Glauben auch Lüge und Verbrechen zu integrieren vermag, ist die Leistung dieser Prosa. Die zwei letzten Erzählungen fallen heraus und bekennen sich nun, da sich das erzählende Ich dem Abgrund entkommen glaubt, zur im Entstehen begriffenen neuen Welt, deren Licht aus dem Osten kommt. Dabei bleibt Fühmanns Darstellung so anschaulich und deutlich, daß ich als Leser die alten Muster unter dem neuen Bekenntnis sehe. Nun sollen sie aber wirklich einer anderen, einer besseren Sache dienen. In den Nachbemerkungen zur Ausgabe von 1979 schreibt Fühmann: »Diese vierzehn Episoden des ›Judenautos‹ werden hier dem Leser zum ersten Mal in der ursprünglichen Gestalt des Gesamtzyklus mitgeteilt. Die bisher gedruckte Version folgte dem Redigierungsvorschlag meiner damaligen Lektoren, die jene erste Fassung für unlesbar hielten. Heute scheint es mir eher umgekehrt, aber es ist meinen Autoritäten von damals gelungen, mich zu überzeugen, und ich füge hinzu: Sie hatten’s nicht schwer.« Fühmann spricht von einem literarischen Qualitätsgefälle »zwischen der ersten und der letzten Geschichte«, wobei die Vorschläge der Lektoren »auf eine Angleichung« hinausliefen, »wenn auch auf eine nach unten«.
Sein Zusatz »Sie hatten’s nicht schwer« ist etwas, worauf man immer wieder bei Fühmann trifft. Er schiebt das Versagen nicht auf andere, auf die Zensur. Seine inneren Nöte und Schuldgefühle, auch seine Hilflosigkeit, gehören dazu. »Ich widerstehe jedoch auch heute der Versuchung«, fährt Fühmann fort, »diesen Zyklus, dessen methodischer Eklektizismus mir bald weh tat, zu verstümmeln oder umzuarbeiten, also eine erste ästhetische Reflexion über den Ort meiner selbst in der neuen Gesellschaft auf den Stand einer zweiten und dritten zu bringen, anstatt eben diese zweite und dritte als bewußteres Leben und Schreiben zu leisten und die erste zu lassen, was sie gewesen ist: Stufe. Im Prozeß der Selbstfindung eines Autors sind alte Arbeiten nur korrigierbar durch neue, vorausgesetzt, daß sie das überhaupt sind (…).« Nach einem Hinweis auf Brecht heißt es dann: »Das Endziel meiner literarischen Bemühungen wäre die Darstellung Eines, von dem ich erfahren könnte, dieser sei ich. Ich werde sie wohl nie in dem Grade vollbringen, in dem ich ihr Vollbringen wünsche wie fürchte: Nicht der äußere Zensor, der innere ist das Hauptproblem. Nebenbei: Die Identität dieser Instanzen (…) macht letztlich den Mangel des ›Judenautos‹ aus.«
Das Bestehen einer Zensur in der DDR öffentlich anzusprechen ist das eine, den eigenen Anteil daran zu benennen das andere. Fühmann legt den Zusammenhang beider Zensuren offen. Für ihn ist Veränderung ein gesellschaftlicher und ein persönlicher Prozeß, also etwas, das sich gegenseitig beeinflußt und in Bewegung ist. Für die Selbstermächtigung und Emanzipation, die Fühmann im Laufe seines Lebens gelingt – bei allen Skrupeln, die an ihm in verschiedenste, mitunter entgegengesetzte Richtungen zerren –, brauchen Staat und Gesellschaft letztlich bis zum Herbst 1989, auch wenn sich der Spielraum zuvor stetig erweitert hat.
[...]SINN UND FORM 1/2022, S. 20-31, hier S. 20-25
Braun, Volker
Luf-Passion, S. 32Kleinschmidt, Sebastian
Menschenferne und Gottesnähe. Spiritualität in apokalyptischer Zeit, S. 44[…]
Aber ist die Corona-Krise vielleicht nur ein Vorspiel, das Menetekel für etwas, das noch kommt und das weit schlimmer ausfällt? Ich (...)LeseprobeKleinschmidt, Sebastian
Menschenferne und Gottesnähe. Spiritualität in apokalyptischer Zeit
[…]
Aber ist die Corona-Krise vielleicht nur ein Vorspiel, das Menetekel für etwas, das noch kommt und das weit schlimmer ausfällt? Ich spreche von der heraufziehenden Klimakrise, vom drohenden Versiegen des Golfstroms, von starken Stürmen, langen Dürren, großen Überflutungen, vom Auftauen der Permafrostböden, vom Schmelzen des polaren Eises und dem alptraumhaften Ansteigen des Meeresspiegels. Hier gewinnen die Voraussagen – nicht von Sehern, sondern aus der Forschung (der Schriftsteller Ulrich Horstmann nennt sie »das verhängnisorientierte wissenschaftliche Hochrechnungswesen«) – inzwischen tatsächlich den Charakter apokalyptischer Prophezeiungen. Und werden an manchen Orten schon Wirklichkeit und Wahrheit. Ende Juni 2021 wurden in der Ortschaft Lytton in der westkanadischen Provinz British Columbia sage und schreibe 49,6 Grad Celsius im Schatten gemessen. Drei Tage später wurde das Dorf von einer Feuerwalze überrollt. Die Einwohner mußten fliehen, Hals über Kopf. So gut wie alles, was sie besaßen, wurde ein Raub der Flammen. Komplett verkohlte Häuserreihen und Straßenzüge, der Ort zu neunzig Prozent zerstört.Und drei Wochen darauf das Gegenstück in Deutschland. Zwei Tage Starkregen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Die Wassermassen haben zwei kleine Flüsse, die Ahr und die Erft, in rasender Geschwindigkeit auf Rekordpegel ansteigen lassen, zum Überlaufen gebracht und zu gewaltigen Überschwemmungen und Erdrutschen geführt, die besonders die Orte Ahrweiler und Erftstadt schwer in Mitleidenschaft gezogen haben. Mehr als hundertachtzig Tote, verseuchter Schlamm, weithin ruinierte Häuser, Straßen, Bahngleise, Brücken, Strom- und Gasleitungen, Fabriken und Krankenhäuser sind die Folge. Nicht wenige, die in Kanada das Feuerinferno durchmachten, werden gedacht haben, daß das die Anfänge hyperletaler Hitzewellen sind. Und nicht wenige, die in Deutschland das Wasserinferno erlitten, werden gedacht haben, daß so moderne Sintfluten aussehen. Und daß das eine wie das andere ein Zeichen dafür ist, daß unser Aufenthalt auf Erden ein tragisches Ende nehmen könnte.
Apokalypse heißt Enthüllung, Offenbarung. Was offenbart sich hier? Der Dichter und Theologe Johann Gottfried Herder hat einmal in einem hochfliegenden Wort vom Menschen als dem ersten Freigelassenen der Schöpfung gesprochen. Heute erst zeigt der Satz seinen diabolischen Doppelsinn. Der Freigelassene der Schöpfung, der aus ihr Herausgetretene, der nicht mehr an sie Gebundene. Der Mensch, die Krone der Schöpfung, entpuppt sich als Parasit der Erde, als Irrläufer der Evolution. Und die Erde schickt sich an, ihn abzuwerfen.
Wir kennen alle die berühmten Verse aus Bertolt Brechts Exilgedicht »An die Nachgeborenen«, geschrieben zwischen 1934 und 38 im dänischen Svendborg: »Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!« Natur als Gegenstand der Poesie, so die politische Botschaft, ist nur zulässig, wenn das gesellschaftliche Unheil aufgezeigt wird. Und nun scheint es so zu kommen, daß gesellschaftliches Unheil künftig direkt durch Naturunheil hervorgerufen wird, ein Unheil, das nicht durch die Natur selbst, sondern durch menschliche Einwirkung auf sie mitverursacht ist. Gespräche über Bäume werden immer öfter zu Gesprächen über brennende Bäume. Auf griechischen Inseln werden dieser Tage Kirchenglocken geläutet, um Menschen zu evakuieren. Im Nu wird dort ein Sommerwald zu Winterwald – nur ohne Schnee und Kälte. Statt dessen Asche und verbrannte Erde.
Augenscheinlich befindet sich der Metabolismus zwischen Mensch und Natur an einem schicksalhaften Wendepunkt. Wir leben mehr und mehr in der gleichsam mythischen Befürchtung, daß es mit der Duldsamkeit der Natur zu Ende geht, daß uns Wetter und Himmel dafür strafen werden, daß wir im Aussaugen, Verschmutzen und Vermüllen, im Versiegeln und Vergiften, im Bebauen und Besiedeln der Erde, kurz im herrschsüchtigen Industrialismus der Massenzivilisation zu weit gegangen sind.
In der heutigen Wirtschaft, so Klaus Michael Meyer-Abich, der 2018 verstorbene Naturphilosoph, tun die Menschen so, als seien sie irgendwann als interplanetarische Eroberer auf die Erde hinabgeschwebt, um es sich dort eine Zeitlang möglichst gutgehen zu lassen, und als könnten sie, wenn nichts mehr zu holen ist, auf demselben Wege wieder verschwinden.
Flucht nach vorn, könnte man das nennen, und Milliardäre wie Jeff Bezos, Richard Branson und Elon Musk sind im Begriff, sie exklusiv anzutreten. Damit sind wir mittendrin im Sorgenzentrum der Gegenwart. Hat das 20. Jahrhundert – in Gestalt von Hitlerismus und Stalinismus – das Grundvertrauen in die menschliche Zivilisation erschüttert, droht das 21. Jahrhundert auch noch das Grundvertrauen in die Natur zu zerstören.
Inzwischen macht sich die Erkenntnis breit, daß ein neues Erdzeitalter begonnen hat, das Anthropozän, und daß bestimmte Reaktionen der Natur erstmals eine Folge menschlicher Rückwirkungen auf sie sind. All diese Dinge und besonders die Erderwärmung und was aus ihr folgt machen mehr und mehr Angst. Ist sie berechtigt? Ich fürchte – nüchtern betrachtet und ohne die Maske der Kassandra anzulegen –, ja.
Über Angst wird ungern gesprochen, denn sie scheint, da mit Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit verbunden, den Menschen zu lähmen und zu erniedrigen. Die Leute denken, Angst sei etwas für Feiglinge. Doch dem ist nicht so. Es gibt auch einen Mut zur Angst. Angst ist keine Störung, sie wird durch bedrohlich wirkende Signale der Umgebung geweckt, sie ist eine instinktive Form der Wahrnehmung von akuter und von künftiger Gefahr. Und so stellt sich – wir sind ja hier unter dem Dach der Kirche – die Frage: Sollte man sie, die Angst, nicht zum Angelpunkt einer dem Ernst der Lage angemessenen Spiritualität machen? Von Gottesdiensten, die das Bewußtsein der Bedrohung schärfen? Denn ohne Angst, ohne das Vor- und Mitwissen der Angst, ohne ihre Nähe zur Wahrheit sind wir, um an ein Wort des Philosophen Günther Anders zu erinnern, »apokalypseblind«. Doch höre ich schon den Einspruch der Theologen, Angst dürfe niemals die Grundlage des Glaubens sein. Christen bauen auf Hoffnung, auf Vertrauen in Gott als Fundament der Hoffnung, und sei es am Ende die Hoffnung verzweifelt Hoffender.
Doch vergessen wir nicht, daß die alte, vertraute christliche Hoffnung nicht mit der diesseitigen Apokalyptik verbunden war, sondern mit der biblischen. In der Heiligen Schrift gibt es mindestens zwei davon, im Alten Testament das Buch Daniel und im Neuen Testament die Offenbarung des Johannes. In beiden artikulieren sich nicht nur bildmächtige Gesichte göttlich beorderter Schrecken zum einbrechenden Ende der bisherigen Welt, des alten Äon, sondern auch Gesichte einer messianischen Rettung, einer neuen Welt, des neuen Äon. Die Johannesoffenbarung, geschrieben in der Zeit römischer Christenverfolgung, endet mit der Vision des himmlischen Jerusalem, das Buch Daniel, dessen Geschehnisse sich während der babylonischen Gefangenschaft der Juden ereignen, endet mit der Vision des aus den Wolken herniederschwebenden Menschensohns und der Vorhersage, daß die Gerechten des Volkes Israel aus den Gräbern auferstehen werden zu ewigem Leben.
»Der Zweck dieser Literatur«, so der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide ganz unpathetisch, »ist zweifach: Trost zu spenden über das Elend heute – mittels der Belehrung über das Unheil von morgen, dem das Heil von übermorgen unverzüglich folgen muß.«
Was aber wenn – wie in der säkularen Apokalyptik – keine Rettung, kein Heil von übermorgen verheißen wird? Wenn folglich die Erwartung dunkler Fatalität jeden Versuch, auf religiöse Weise an neue Anfänge zu glauben, unausführbar macht? Gleichsam das Kreuz ohne Auferstehung, Karfreitag ohne Ostersonntag. Dann stünden wir an einem Punkt, wo es nirgendwo transzendenzverbürgte Hoffnung mehr gäbe. Und wo allein die Angst der irdischen Wesen bliebe.
Im Umgang mit Angst sind uns drei Reaktionen vertraut, ja wohlvertraut, verkleinern, vergrößern oder bannen. Angst verdrängen macht blind für Gefahr. Angst schüren macht zittern bei Gefahr. Angst bannen macht stark in Gefahr. Ins Politische gewendet: Angst ignorieren führt zu Illusionismus. Angst schüren zu Machiavellismus. Angst bannen zu Wachsein und Besonnenheit.
Das »führt zu« gilt auch andersherum: Ignoranten – nach dem Motto, dieser Kelch wird schon an uns vorübergehen – drängen auf Angstvergessen; Machiavellisten – nach dem Motto des Namensgebers »Angst ist die solideste Grundlage, um andere für sich einzunehmen« – drängen auf Angstschüren; Wache und Besonnene – ganz ohne Motto – drängen auf Angstbannen.
Als Gebot der praktischen Vernunft bleibt nur das Dritte, die Mitte zwischen den Extremen, nämlich das kluge, pragmatische Bannen der Angst. Ansonsten wird sie uns in ihren Bann schlagen. Soll heißen, daß wir uns von ihr überwältigen lassen. Wir müssen in unserer Lage Angst sowohl respektieren als auch bezwingen. Nicht nur um der Schreckensspirale des Prognosen-Alarmismus zu widerstehen, sondern auch dem Doom Scrolling. Doom, englisch, steht für Untergang, Scrolling für das Verschieben von Bildausschnitten auf den Displays unserer Smartphones. Doom Scrolling ist der obsessive Drang, unentwegt düstere, ja dystopische Nachrichten im Netz zu konsumieren. Es befeuert das, was man inzwischen weltweit Climate Anxiety, Klima-Angst, nennt. Doch auch dem Gegenteil, der wenig ratsamen Gelassenheit, gilt es zu trotzen, der Vogel-Strauß-Mentalität. Der Dichter Hanns Cibulka, der nicht aufs Warten setzen wollte, schrieb schon Anfang 2000: »Obwohl die Temperaturen nur langsam steigen, fühlen wir bis in die Fingerspitzen die Bedrohung. In allen Dingen wächst verdeckt die Angst.« Aber wie und mit welchen Mitteln will man sich dem unheilschwangeren Ganzen, von dem wir schon seit drei Jahrzehnten wissen, überhaupt entgegenstellen? Jetzt spreche ich nicht von Aktivismus, nicht von Politik, nicht von Wissenschaft, nicht von Maßnahmen der sogenannten Klimarettung wie der Reduzierung des anthropogenen Anteils am CO2-Gehalt der Atmosphäre und der daran geknüpften Hoffnung, den Treibhauseffekt und damit die Erderwärmung zu stoppen. Die Angst, die tückische, sagt uns ja gerade: Das Drama ist nicht aufzuhalten, was auch immer wir dagegen unternehmen. Die Gewichte, die zu stemmen wären, sind zu groß. Kaum daß es uns gelingen werde, den Lauf der Dinge zu verzögern, von Richtungsumkehr nicht zu reden. Der alles andere als apokalypseblinde Rudolf Bahro meinte einmal: »Es ist, als wollten wir uns mit Tonnen Blei an den Füßen aus einem Schiffbruch retten.«
Hier stellt sich nun erneut die Gottesfrage, eine Frage, von der so viele dachten, daß sie längst hinter uns liege. Sie geht übrigens auch Agnostiker und Atheisten etwas an. Selbst wenn wir nichts von der Angst wüßten, eines wissen wir: Angst lehrt beten. Auch diejenigen, die zuvor noch nie gebetet haben. Und nicht nur das. Beten ist auch ein wirksames Mittel dagegen. Die Angst drückt von außen nach innen, das Gebet löst von innen nach außen. Ohne Beten kein Bannen. Das gilt auch für das Singen. Von Augustinus stammt der Satz: »Wer singt, betet doppelt.« Der Psalm 107 spricht von jenen, »die dann zum Herrn riefen in ihrer Not, und er errettete sie aus ihren Ängsten«.
Diese Ansicht wird natürlich nicht von allen geteilt, zum Beispiel nicht von Bertrand Russell, dem britischen Mathematiker und Philosophen. Der Nobelpreisträger hat in seiner Schrift »Warum ich kein Christ bin« von 1927 kurz und bündig erklärt: »Was die Religion betrifft, bin ich der gleichen Ansicht wie Lukrez. Ich halte sie für ein aus der Angst geborenes Übel und eine Quelle unsäglichen Leids für die Menschheit.« In seinem Buch »Eroberung des Glücks« von 1930 hat er jenseits des Glaubens ein eigenes Programm der Angstbekämpfung entworfen, das ganz auf Rationalisierung setzt.
Es geht in etwa so: Wenn Unheil drohe, sei es ratsam, sich ernsthaft und bedacht zu überlegen, was im schlimmsten Falle eintreten könnte. Hat man sich das möglicherweise bevorstehende Mißgeschick genau ausgemalt, dann suche man nach triftigen Gründen, aus denen es alles in allem doch nicht gar so furchtbar sei. Solche Gründe gebe es immer, da selbst im allerschlimmsten Falle nichts, was uns persönlich geschehe, irgendeine kosmische Auswirkung habe. Sobald man eine Zeitlang den schlimmsten Ausgang in Ruhe überdacht habe und mit aufrichtiger Überzeugung zu dem Schluß gekommen sei, daß er schließlich doch nicht von so ungeheurer Bedeutung ist, werde man finden, daß die Selbstquälerei in ganz erstaunlichem Grade nachlasse.
Wohl dem, möchte man dem großen Gelehrten zurufen, bei dem es funktioniert! Allerdings war dies nicht einmal bei ihm selbst der Fall. Wie Russell in seiner Autobiographie erzählt, erlebte er verschiedentlich Angstzustände, die er durch kein intellektuelles Verfahren beheben konnte. Auch war es bei ihm nicht die Angst vorm Klimawandel, sondern vor erblichem Wahnsinn und vor Depressionen.
SINN UND FORM 1/2022, S. 44-56, hier S. 49-54
Benrath, Ruth Johanna
Psalm. Aus der Tieffen. Gedichte, S. 57Gracq, Julien
Novalis und Heinrich von Ofterdingen, S. 61Wolter, Christine
Dante, ein paar Anmerkungen. Gedicht, S. 75Földényi, László F.
Die Wahrheit erlügen. Über die Schwierigkeiten biographischen Schreibens, S. 79Ionesco, Eugène
Elegien für kleine Wesen. Gedichte. Mit einer Vorbemerkung von Alexandru Bulucz, S. 90Meckel, Christoph
Was ein Gedicht kostet. Mit einer Vorbemerkung von Marie-Luise Bott, S. 99Becker, Jürgen
Die Rückkehr der Gewohnheiten. Journalgedichte, S. 109Sayer, Walle
Das Zusammenfalten der Zeit, S. 114Paret, Christoph
Wettbewerb mit Toten. Über eine eigentümliche Rezeptionstheorie Boris Groys’, S. 124Ist es trotz oder wegen der Publikationsflut unserer Tage, daß die Ratgeber, die ich mir eigentlich wünschen würde, partout nicht erscheinen (...)
LeseprobeParet, Christoph
Wettbewerb mit Toten. Über eine eigentümliche Rezeptionstheorie Boris Groys’
Ist es trotz oder wegen der Publikationsflut unserer Tage, daß die Ratgeber, die ich mir eigentlich wünschen würde, partout nicht erscheinen wollen: »Stillschweigen. Wie Sie zu Ihrer eigenen Schreibblockade werden«, »Das leere Blatt – eine Utopie«, »Schreib-Enthemmung? 120 geniale Tips sich zurückzuhalten«. Jedenfalls muß es mittlerweile als Ereignis allerersten Ranges angesehen werden, wenn ein Text einmal nicht geschrieben wird. So erklärt sich die Aufmerksamkeit, die der in Sinn und Form veröffentlichte Briefwechsel zwischen Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno jüngst erfahren hat. Adornos angekündigte Kritik des Godesberger Programms der SPD ist nie erschienen, da mochte Enzensberger als Herausgeber des Kursbuchs noch so sehr drängen, bitten und ermutigen. Der gegenwärtige Herausgeber Armin Nassehi teilte seiner Leserschaft gutgelaunt mit, er habe die Probleme seines Vorgängers nicht. Adorno habe sich auf eine Weise geziert, »die heutigen Autorinnen und Autoren wohl nicht mehr zur Verfügung« stehe. Man gönnt es ihm. Die Autoren von heute lassen sich nicht lange bitten. Kein Potential, das unausgeschöpft bliebe, keine Gelegenheit, die verpaßt würde. Ohne mich hier über die Gründe auslassen zu wollen: Nicht zu schreiben ist ein Luxus, den sich kaum noch jemand leisten kann. Die nachfolgenden Generationen werden es uns hoffentlich danken und über uns sagen, wir hätten alles gegeben, was wir konnten, und dann hätten wir weitergemacht. In Anbetracht des Umstands, daß an Geschriebenem kein Mangel besteht: Gibt es etwas Kostbareres als unterbliebene Schriften, also Momente, in denen einer davon Abstand nahm zu schreiben? Was ließ Adorno zögern?
Der erstaunlichste Hinderungsgrund bekundet sich im Eingeständnis: »Über einem solchen Text liegt der Riesenschatten der ›Kritik des Gothaer Programms‹ von Marx, und ich bitte es nicht als anmaßend zu betrachten, wenn ich hinter diesem Vorbild nicht zurückbleiben möchte.« Hier haben wir sie also, die Schreibhemmung allererster Güte namens Karl Marx!
Was Adorno innehalten ließ, war weniger Rücksichtnahme auf lebende Leser als auf die Schriften eines Toten. Diese Rücksicht scheint uns in der Tat abhanden gekommen zu sein. Wer wollte sich, so Nassehi, »noch als Licht im Schatten von Vorgängertexten stilisieren, die zu übertreffen auch eine negative Dialektik nicht in Frage stellen könne. Solche Sprecherpositionen gibt es aus guten Gründen nicht mehr.« Es gab einmal eine Zeit, in der man die alten Texte nicht nicht überbieten wollen konnte. Wobei die »guten Gründe«, warum es damit nun vorbei ist, von Nassehi nicht ausgeführt werden. Ich bin jedenfalls geneigt, Nassehis Verdikt ein wenig abzumildern: Einer, der sich wie Adorno in einen »Riesenschatten « gestellt sieht, muß sich nicht gleich für die Sonne selbst halten oder sich als »Licht stilisieren«. Besteht nämlich ein alternativer Weg, sich für ein großes Licht zu halten, nicht gerade darin, die Existenz von »Riesenschatten« zu leugnen? Was ist vermessener: das Ansinnen, es mit jemandem wie Marx aufzunehmen, oder aber der Entschluß, ihn zu ignorieren?
Adornos Verlegenheit ist eine doppelte. Gewiß, es ist ihm etwas peinlich, sich dem Vergleich mit einem Marx-Text auszusetzen (»ich bitte es nicht als anmaßend zu betrachten …«), doch diese Betretenheit setzt eine andere voraus: Hier sah sich jemand von einem Text aus der Vergangenheit derart in Verlegenheit gebracht, daß ein eigener Text nicht zustande kam. Was hat es mit dieser Besorgnis auf sich, Ansprüchen nicht gerecht zu werden, die aus der Geschichte in die Gegenwart hineinragen? Und gehören solche Ansprüche nunmehr selbst der Vergangenheit an? Ich kenne keinen Text, der darüber mehr Aufschluß gibt als Boris Groys’ »Politik der Unsterblichkeit. Vier Gespräche mit Thomas Knoeffel« von 2002:
»Als Philosophen oder als Künstler stehen wir vor allem im Wettbewerb mit den Toten. Im Grunde wollen wir, daß Hegel oder Kant uns sagen: Auf diese Idee bin ich nicht gekommen, wie wunderbar hast du das gemacht. Unsere eigentlichen Leser sind die Toten. Auch wenn wir meinen, Platon oder Kant überwunden zu haben – wirklich beseitigen können wir sie nicht. Aber wir können auch nicht von ihnen anerkannt werden, wie wir es uns insgeheim wünschen.«
Damit geht Groys über das hinaus, was die Rezeptionsästhetik als Erklärung des geschichtlichen Lebens literarischer Werke in Anschlag gebracht hat. Kontextualisierende (Kunst-)Theorien stoßen rasch an ihre Grenzen, wenn es um die Frage geht: Warum gehen einen die Texte längst Verstorbener in jedem Sinn des Wortes an? Warum kann uns ein Werk betreffen, »das als bloßer Reflex einer längst überwundenen gesellschaftlichen Entwicklungsform nur noch das Interesse des Historikers verdienen würde«, wie Hans Robert Jauß in »Literaturgeschichte als Provokation« schrieb? Die Antwort auf die Frage, aus welchen Gründen Werke jenseits ihres Entstehungskontexts rezipiert werden, fiel bei der Rezeptionstheorie seltsam zirkulär aus: Sie werden rezipiert, weil sie rezipiert werden. Jauß: »Das literarische Ereignis hat im Unterschied zum politischen nicht für sich weiterbestehende unausweichliche Folgen, denen sich keine nachfolgende Generation mehr entziehen könnte. Es vermag nur weiterzuwirken, wo es bei den Nachkommenden noch oder wieder rezipiert wird – wo sich Leser finden, die sich das vergangene Werk neu aneignen oder Autoren, die es nachahmen, überbieten oder widerlegen wollen.«
Doch warum sollte man ein Werk nachahmen, überbieten und widerlegen wollen, wenn man nicht zunächst im Bann des Eindrucks stünde, daß es von sich aus fortwirkt, ob nun als verpflichtende Instanz, Herausforderung oder verhängnisvoller Irrtum? Jauß’ Fehler ist die Annahme, daß die »Pflege« der Tradition den Lebenden obliege und daß diese augenblicklich verfallen würde, wenn sich nicht jede Generation dazu bereit erklärte, sie sich von neuem anzueignen. Die Vitalität einer Denktradition hängt jedoch weniger davon ab, ob man sie rettet, sondern eher davon, ob man sich vor ihr oder in ihr rettet. Wenn es nämlich Groys’ »Wettbewerb mit den Toten« gibt, dann bedürfen diese weniger des Beistands der Lebenden, als daß die Lebenden vor den Toten bestehen müssen. Ironischerweise hätte die Rezeptionstheorie also den Rezipienten nicht stark genug gewichtet. Sie hätte sich mit der Auskunft begnügt, daß die Meisterwerke gelesen und wiedergelesen würden. Sie hätte nicht zugestehen wollen, daß sie insofern groß sind, als sie uns lesen: Sie sind der eigentliche Rezipient und Adressat unserer Schriften. »Unsere eigentlichen Leser sind die Toten«, schreibt Groys. In Jauß’ Gedanken von der »Aktualisierung literarischer Texte durch den aufnehmenden Leser« bleibt die Möglichkeit der Aktualisierung aktueller Texte durch aufnehmende tote Leser ungedacht.
Demnach bestünde die angemessene Reaktion auf eine Standardfrage wie »Was hat uns Hegel heute noch zu sagen?« nicht darin, sie zu beantworten, sondern zurückzuspielen: »Was hätten Sie Hegel denn zu sagen?« Das Schicksal solcher Texte ist in dem Moment zu ihren Ungunsten entschieden, da sie vor der Gegenwart in der Rechtfertigungspflicht stehen, anstatt daß sich die Gegenwart in ihrem Licht erklären muß. Anders gesagt: Hegel, Kant oder Marx anzuerkennen, impliziert immer schon den Wunsch, von ihnen, oder wenigstens in ihrem Sinne, anerkannt zu werden. Alle »guten Gründe« sind in dem Falle schon die ihrigen, nämlich Gründe, die man ihren Texten entnehmen kann. Wer also fragt, warum er die Texte von Toten ernst nehmen sollte, hat sich bereits darauf festgelegt, daß er nicht gewillt sei, hinsichtlich ihrer ernst genommen zu werden. Das bedeutet nicht, daß die Frage falsch ist, wohl aber, daß sie nicht neutral ist. Und es bedeutet auch, daß es sich gar nicht um eine echte Frage handelt, weil sie die Antwort immer schon in sich trägt. Zudem wäre es viel zu harmlos, sich zu fragen, ob man beim Schrei ben den Schriften der großen Toten Rechnung tragen sollte. Gerade Adorno hat in dem Moment, der uns hier interessiert, gezeigt, daß ihnen Rechnung zu tragen bisweilen auch bedeuten kann, gar nicht zu schreiben.
Die »Relevanz« vergangener Texte für die Gegenwart entscheidet sich nicht an der Frage, inwieweit die Toten recht hatten oder falsch lagen. Wenn sie nämlich relevant sind, dann weil sie nicht aufhören, einem recht zu geben oder weil sie einen weiterhin aufs Glatteis führen. Noch immer muß man sich ihrer Irrtümer erwehren, noch immer ihre Bestätigung einholen. Gewiß ist es problematisch, derartiges zu sagen. Unleugbar tut sich hier eine verdächtige spiritistische Tendenz kund. Dabei ist aber weitaus mehr im Spiel als die Frage, ob jemand ernstlich an die Gespenster namens Kant, Hegel oder Marx glaubt. Es geht darum, ob diese Gespenster an einen selbst glauben.
Die besondere Ironie besteht darin, daß es Groys nicht bloß darum geht, eine »karrieristische « und falsche Form des Philosophierens von einer sachorientierten, wahren zu unterscheiden. Groys ist erklärter Pragmatist, wenn nicht gar Neoliberaler, der in den Begriffen des Wettbewerbs denkt. Würde er den Neoliberalismus für irgend etwas kritisieren, dann allenfalls für das Unlautere eines Wettbewerbs, zu dem allein Lebende Zugang haben, obgleich die Toten recht besehen die stärksten Konkurrenten sein müßten.
Es gibt ein weiteres anti-neoliberales Element: Die Toten, und nicht der »Markt«, sind die letzte Instanz: »Wenn ich von der Pragmatik des philosophischen Erfolgs spreche, dann meine ich damit weniger den Erfolg bei den Lebendigen als den Erfolg bei den Toten.« Wobei diese Pragmatik nicht sonderlich pragmatisch anmutet: Philosophieren soll hier nämlich heißen, die berühmten Toten noch einmal töten zu wollen und rückwirkend ihre Bestätigung einzuholen, und dies im vollen Bewußtsein der Tatsache, daß der eine Wunsch dem anderen widerspricht und beide unerfüllbar sind. Man weiß deshalb nicht recht, ob der Kampf gegen die Toten überflüssig oder aussichtslos ist, »denn auf der einen Seite sind sie, Gott sei Dank, tot, aber auf der anderen Seite gehen sie uns immer weiter auf die Nerven«. Ein solcher Kampf trüge gleichermaßen lächerliche wie heroische Züge. Man fragt sich unwillkürlich: Was wäre das Ziel? Groys’ Antwort: in gewisser Weise selbst tot sein.
»Was ich unter Genuß verstehe, ist die Möglichkeit, nachdem man sein Grab gebaut hat, darin ruhig zu liegen und dieses Grab zu genießen, noch bevor man tot ist. Bei vielen Autoren, die ihre philosophischen Konstruktionen schon gebaut haben, spürt man das Gefühl: Meine Grabstätten sind bereits da, alles bleibt erhalten. Dann tritt eine gewisse Entspannung ein, die Bereitschaft zur ungezwungenen Plauderei – eben ein bißchen angenehmes Leben im Tode.« Das Verhältnis zum eigenen Tod würde ein chiastisches sein: Philosophieren hieße vom Wunsch geleitet sein, nach dem Tode fortzuleben, im Gegenzug jedoch zeit seines Lebens tot zu sein. Man muß das vor dem Hintergrund des grassierenden Biographismus lesen, der glaubt, uns daran erinnern zu müssen, daß die großen Toten ganz normale Menschen mit gewöhnlichen kleinen Leben gewesen seien. Peter Sloterdijk hat in diesem Zusammenhang von der »Liquidierung des alteuropäischen Theoriesubjekts « gesprochen, wodurch »nun auch die theoretischen Menschen wieder wie Leute von nebenan erscheinen, sollten sie auch Albert Einstein, Max Weber, Claude Lévi- Strauss oder Niklas Luhmann heißen«. Ironischerweise bestünde diese Liquidierung darin, den Theoretiker ins pralle Leben zurückzuholen, weshalb Sloterdijk mutmaßen konnte: »Nicht alle Subjekte von Reanimationen begrüßen ihre Rückkehr ins volle Leben, ja, ich hege den Verdacht, sie bedauerten ihre Zurückholung aus dem schönen Tod der Interessenlosigkeit in die Arena der kognitiven Realpolitik.« (»Scheintod im Denken«, 2010)
Mit Groys will ich zweierlei zu bedenken geben: Erstens hätte Philosophie weniger mit dem »schönen Tod der Interessenlosigkeit « zu tun, sondern bedeutet, sich für Tote zu interessieren, wenn nicht gar, sich für Tote interessant zu machen. Zweitens würde die Verwandlung des Theoretikers in einen Normalsterblichen ihn nicht notwendigerweise seines Status als Theoretiker berauben. Vielmehr verwandelt er sich erst dadurch, daß er etwas Definitives geschrieben hat, in einen normalen Menschen, mit dem sich ungezwungen plaudern ließe. Vor diesem Zeitpunkt wird er dagegen ein anstrengender Zeitgenosse sein, der sich seinen Platz erkämpfen muß. Normalität gäbe es nicht vor der Theorie und als deren Quelle; normal und entspannt wäre der Theoretiker erst nach seinem Tod, der ihm in Gestalt der eigenen Konstruktionen entgegentritt. Hier begegnet einem übrigens ein weiterer Grund nicht weiterzuschreiben: Man hält nicht deshalb inne, weil man glaubt, vor gewissen Toten nicht bestehen zu können, sondern weil man glaubt, als Toter selbst Bestand zu haben.
Groys gibt nirgendwo ausdrücklich zu, mit der Erhaltung seiner Grabstätte zu rechnen, hat aber für das Titelbild als Leiche posiert, die mit offenen Augen im Bett liegt, während auf dem Beistelltisch die, wie man es ihm gern wünschen würde, definitiven Papiere liegen. Dazu paßt nicht ganz, daß er am Ende des Gesprächs bestreitet, am Wettbewerb mit Toten teilzunehmen: »Wenn die Philosophie eine Lebensform und ein Wettbewerb ist, dann bedeutet die philosophische, kontemplative Haltung in bezug auf die Philosophie die Nicht-Teilnahme an diesem Wettbewerb. Ich befinde mich viel lieber auf der Zuschauerbühne.« Kontemplativ sein kann man demnach nicht erst, wenn die eigenen Konstruktionen gebaut sind, sondern auch indem man anderen dabei zusieht, wie sie die ihren errichten. Doch wer macht das eigentlich noch?
Wenn Nassehis Behauptung stimmt, daß man mittlerweile davon Abstand nimmt, Vorgängertexte als Bezugspunkte des eigenen Schreibens zu begreifen, würde einem solchen Zuschauer nicht viel geboten. Diese Erfahrung kann man tatsächlich machen: Sobald die Texte der Vergangenheit als mehr oder minder unbeträchtlich gelten, büßen paradoxerweise auch diejenigen der Gegenwart ihre Wirksamkeit ein. Zwar würde sich Nassehi, wie er schreibt, Enzensbergers Satz »verzeihen sie meine ungeduld: es ist aber nicht ein redakteur, der hier drängt, es ist die sache selbst« gern für die eigene Autorenkorrespondenz ausbedingen, zugleich muß er aber eingestehen, »daß sich im Kontakt mit Autorinnen und Autoren heutzutage viel seltener geschichtsphilosophische Wucht oder gar ein Fenster für eine Offenbarung auftut«. Die Sache selber drängt nicht mehr zum Text, sie drängt am Text vorbei. Als hätte man in dem Moment, da man sich der Bürde der Vergangenheit entledigte, nicht nur an Unbefangenheit gewonnen, sondern sich zugleich um alle Relevanz für die Gegenwart gebracht. Ein weiterer Grund, weshalb Adorno den Text über das Godesberger Programm schuldig blieb, bestand darin, daß er beim Verfassen seiner »Negativen Dialektik « ins Stocken geraten war. Ihre Fertigstellung erforderte höchste Konzentration. Die heutigen Autoren des Kursbuchs würden Nassehi zufolge auch deshalb kaum eine Anfrage ausschlagen, weil sie nun einmal nicht damit beschäftigt seien, eine »Negative Dialektik« zu schreiben. Schade eigentlich. Für Groys hatte sich die Situation deshalb schon 2015 ins Gegenteil verkehrt: »Wenn ich früher an meinen Tod dachte, war ein unangenehmer Gedanke immer der, daß, wenn ich sterbe, in der Kultur noch viel geschehen wird. Heute fühle ich mich glücklich, denn die Kultur ist früher gestorben als ich. Also kann ich glücklich sterben in der Überzeugung, daß nach meinem Tod nichts mehr passieren wird, was mich hätte interessieren können.« (Boris Groys, Frank M. Raddatz: »Geld schlägt Wort«, in: Lettre International 2015 / 111)
Im Abstand eines guten Jahrzehnts präsentiert er somit zwei Versionen vom Glück des Theoretikers, die auch zwei unterschiedliche Weisen sind, sich mit der eigenen Sterblichkeit abzufinden: Bei der einen besteht sein Glück darin, sich schon zu Lebzeiten in den Archiven der Kultur begraben fühlen zu können, bei der anderen darin, Zeuge zu werden, wie diese selbst begraben werden.
SINN UND FORM 1/2022, S. 124-128
Trutmann, Albertine
Sanskrit-Lyrik auf deutsch? Von der Schwierigkeit, Murāris Gedichte zu übersetzen, S. 128Beyer, Marcel
»Und wie geht der Gesang«. Laudatio auf Anja Kampmann, S. 132Thimm, Günter
Nicht immer Kiefer am Waldrand, S. 137
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2/2022
Heft 2/2022 enthält:
Labatut, Benjamín
Die tote Stadt, S. 149Vor einigen Jahren, im Oktober 2008, gestand der englische Physiker Freeman Dyson in einer Vorlesung, daß er ein bestimmtes Lied von Monique Morelli (...)
LeseprobeLabatut, Benjamín
Die tote Stadt
Vor einigen Jahren, im Oktober 2008, gestand der englische Physiker Freeman Dyson in einer Vorlesung, daß er ein bestimmtes Lied von Monique Morelli – »La ville morte« – nicht hören könne, ohne von heftigsten Gefühlen überwältigt zu werden, ein ihm selbst unerklärliches Phänomen. Die mit schmerzvoller Stimme gesungene Ballade, begleitet von den Klagelauten eines Akkordeons, besticht durch ergreifende Bilder: Als wir in die tote Stadt einzogen / Hielt ich Margot an der Hand / Ein Morgen, der nicht endete / schenkte uns sein totes Licht / Wir liefen durch die Straßen, von Trümmern / zu Ruinen und von Tür zu Tür / Was einmal Türen waren / grenzte an ein seltsam fremdes Land. Egal wie oft Dyson die Aufnahme abspielte, jedesmal zerfloß er in Tränen, er schämte sich, das Lied in Gesellschaft zu hören; nur von Zeit zu Zeit, allein und wenn ihm danach war, gab er sich der Musik hin. Seine emotionale Reaktion war um so verstörender, als er praktisch kein Französisch konnte und nur eine äußerst vage Vorstellung davon hatte, worum es in dem Chanson ging. Selbst als ein Freund den Text für ihn übersetzte, war ihm das kein Trost. Nach jahrelangem Grübeln kam er zu der Überzeugung, daß diesen Strophen des französischen Dichters und Romanciers Pierre Mac Orlan etwas innewohnte, was in den tiefsten Schichten seiner unbewußten Erinnerung widerhallte, als sänge Monique nicht für die Lebenden, sondern für die zahllosen Seelen der Verstorbenen, deren Überreste sich, unsichtbar und vergessen, unter unseren Füßen sammeln. Eine plausible Erklärung für seine Anfälle von Melancholie fand Dyson schließlich in einem kurzen Artikel des russischen Mathematikers Yuri I. Manin, »Der Archetyp der leeren Stadt« aus seinem Essayband »Mathematik als Metapher«. Die leere Stadt ist hier die »Form einer Gesellschaft, der ihre Seele entzogen wurde und die nicht auf eine Eingabe wartet, eine Leiche, die nie ein lebender Körper war, ein Golem, dessen Leben selbst der Tod ist«. Die Wirkung dieses Archetyps auf unsere Psyche vergleicht Manin mit den diffusen Verlustgefühlen, die uns überkommen, wenn wir zufällig auf einen verlassenen Bienenstock schauen oder auf das endlos strömende Wasser in den Filmen des genialen russischen Regisseurs Andrei Tarkowski, der so besessen davon war, Bilder unserer Träume festzuhalten, daß er mit seiner Frau und seiner Crew in Flüsse voll giftiger Chemikalien stieg, um »Stalker« zu drehen, den Film, der ihn schließlich das Leben kostete. Die funkelnden Schlieren an der Oberfläche, in flüchtigen Bildern auf Zelluloid gebannt, stammten von giftigen Abfällen aus stillgelegten Fabriken und waren wahrscheinlich auch die Ursache für das Krebsgeschwür, das seine Lunge zerstörte und ihn 1986, mit gerade einmal 54 Jahren, umbrachte, und nicht nur ihn, sondern auch seine Frau Larissa und seinen Stammschauspieler Anatoli Solonizyn, die beide an derselben Krankheit starben. In »Stalker« ist ein weiter Landstrich – bekannt nur als »die Zone« – verseucht und unbewohnbar aufgrund von Kräften, die nicht nur den Körper und den Geist der Menschen infizieren, sondern vielleicht sogar ihre Seelen. Bewaffnete Truppen haben die Region abgeriegelt, doch eine kleine Gruppe verzweifelter Männer und Frauen wird unwiderstehlich von ihr angezogen wie Motten von einer radioaktiven Flamme, denn einem Gerücht zufolge gibt es tief im Inneren der Zone, im befremdlichsten Teil dieses Gebiets, einen kleinen und dem Anschein nach ganz gewöhnlichen Raum, in dem all jenen, die es hineinschaffen, ihre innigsten Wünsche erfüllt werden. Um den Fallen und Gefahren der Zone zu entgehen, müssen die Suchenden professionelle Führer anheuern, Stalker genannt, die sie durch die wüste Landschaft mit ihren verlassenen Ruinen und zerfallenden Gebäuden lotsen, wo die Vegetation das Land längst zurückerobert hat. Die Kettenspuren aufgegebener Panzer sind überwuchert, ebenso die Fassaden von Fabriken, Schulen und Krankenhäusern, andere leerstehende Gebäude sind halb verfallen und nicht wiederzuerkennen. Irgendwie sind die Gesetze der Wirklichkeit hier außer Kraft gesetzt, die Zeit fließt in seltsamen Schleifen, Erinnerungen und Träume nehmen Konturen an, Alpträume sind so real und schrecklich, als würden sie im Wachzustand erlebt. Die Szenerie ist erfüllt von einer berauschenden Melancholie, sie ergreift sowohl die Stalker als auch diejenigen, die sich die Verwirklichung ihrer Sehnsüchte erhoffen. Die Zone ist nämlich, obwohl unbewohnt und feindlich, eindeutig belebt und Teil von etwas, was dem menschlichen Bewußtsein ähnelt, ein hartnäckiger Wiedergänger, der sich dem unbarmherzigen Lauf der Zeit zu widersetzen vermag und einfach nicht vergeht, so wenig wie die Bilder vergangener Schrecken, die der Archetyp der leeren Stadt heraufbeschwört. Für Manin erklärt sich die Allgegenwärtigkeit dieses Archetyps in unserem kollektiven Gedächtnis aus den gesammelten Erfahrungen zahlloser Völker, die schon in grauer Vorzeit auf die Überreste alter vergessener Tempel stießen, zu Staub zerfallend im Wüstensand, begraben unter dem üppigen Grün undurchdringlicher Dschungel oder versteckt in den unzugänglichsten Hochtälern der Berge, Ruinen von solch kolossalen Ausmaßen, daß sie Göttern, wenn nicht Wesen von einem anderen Planeten als Wohnstatt gedient haben mußten. Es waren gespenstische Orte, man fürchtete und mied sie, wie auch die Angelsachsen sich fernhielten von den steinernen Mauern römischer Häuser, die sie als das Erbe sagenhafter Riesen betrachteten und niemals bewohnten. Die tote Stadt gibt es seit unvordenklichen Zeiten; sie geht zurück auf die Anfänge der Zivilisation, als die ersten Menschen begannen, sich in Siedlungen zusammenzuschließen, die immer größer wurden, blühten und gediehen und anderen Menschen ein Ansporn waren, Armeen aufzustellen, um diese Siedlungen zu überfallen, zu plündern und zu zerstören. Der Archetyp der leeren Stadt ist ein gedankliches Konstrukt, ein Destillat der Untergangserfahrungen zahlloser realer Gemeinschaften. Er steht für den nagenden Hunger in Zeiten der Dürre und die Nachglut der Brände, die die Häuser dem Erdboden gleichmachten, für die immer noch spürbaren Erschütterungen der Erdbeben, die ihre Fundamente auseinanderrissen, für die Narben, die die Seuchen hinterließen, die sie über Nacht entleerten. Doch Manin weist auch darauf hin, daß solche Phantombilder, egal wie schwach und verblassend, weder passiv noch neutral sind. Im Gegenteil, sie nähren unsere dunkelsten und ungestümsten Wünsche. Eine tiefe Sehnsucht nach Auflösung. Ein leidenschaftliches Verlangen, die Zerstörung all dessen zu erleben, was wir kennen. Ein Bedürfnis, die Welt vom Makel der Menschheit zu reinigen und unseren Planeten nicht nur von den Dämonen des Fortschritts zu befreien, sondern von allen Übeln, die unserer verfluchten Natur entspringen. Das kollektive Unbewußte ist kein bloßes geistiges Gepäck, sondern ein irrationaler Drang zu Tod und Zerstörung. Gleichgültig gegenüber den Träumen der Vernunft, ist das Unbewußte nicht eine Kraft, die zu Gemeinschaft oder Ganzheit führt, sondern etwas Irres, Verrücktes, Chaotisches, ein Sirenengesang, dem wir mit Nachdruck widerstehen müssen. »Diesem Potential«, schreibt Manin, »kann man nur die Erziehung des kollektiven Bewußtseins gegenüberstellen. Sonst wird die leere Stadt unsere letzte Heimstätte sein.«
Der Protagonist des Chansons, das Freeman Dyson so in seinen Bann schlug, ist ein älterer Soldat und Angehöriger einer Besatzungsarmee. Der namenlose Kämpfer ist nicht wach, sondern träumt: Er sieht sich selbst, wie er durch die Trümmer und den Staub einer eroberten Stadt geht und seine Frau an der Hand hält, beide betrachten die dunklen Ruinen ringsum. Sie kommen an ausgebombten Häusern vorbei, an ausgebrannten Autos, offenen Gräbern und dem verbogenen Metall eines zusammengeschmolzenen Spielplatzes, Szenen einer kaum vorstellbaren, von ihm selbst und seinen Kameraden angerichteten Verwüstung. Zwar weiß der Soldat, daß das, was er sieht, nur ein Traum ist und daß er in Wirklichkeit in der Kaserne schläft, fern des Gemetzels und allen Blutvergießens, doch kann er den Gedanken nicht ertragen, die Hand seiner Frau loszulassen, denn er ist fest davon überzeugt – mit einer Gewißheit, wie nur Träume sie schenken –, daß er sie niemals wiedersehen wird, weder in diesem noch in einem nächsten Leben. Und dennoch schultert er, als er die fernen Rufe eines Hornsignals hört, das Gewehr, küßt seine Frau auf den Mund und kehrt zurück in den Kampf.
(…)Aus dem Englischen von Thomas Brovot
SINN UND FORM 2/2022, S. 149-157, hier S. 149-152Monique Morelli, »La Ville Morte« auf YouTube
Iljašenko, Marie
Aerodynamik. Gedichte, S. 158Schulz, Nils B.
Auf verlorenem Posten. Überlegungen zu einer existentiellen Grundstimmung, S. 161Neumann, Peter
Alles stürzt gemeinsam, S. 178Adorno, Theodor W.
»Ich habe die Hosen voll, wenn ›ich an Deutschland denke in der Nacht‹«. Briefwechsel mit Lotte Lenya. Mit einer Vorbemerkung von Jens Rosteck, S. 180Vorbemerkung Kurt Weills plötzlicher Tod im einundfünfzigsten Lebensjahr, ausgelöst durch einen Herzinfarkt, am 3. April 1950 warf seine Ehefrau (...)
LeseprobeTheodor W., Adorno
»Ich habe die Hosen voll, wenn ›ich an Deutschland denke in der Nacht‹«. Briefwechsel mit Lotte Lenya. Mit einer Vorbemerkung von Jens Rosteck
Vorbemerkung
Kurt Weills plötzlicher Tod im einundfünfzigsten Lebensjahr, ausgelöst durch einen Herzinfarkt, am 3. April 1950 warf seine Ehefrau Lotte Lenya (ursprünglich Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer, 1898–1981) völlig aus der Bahn. Zweieinhalb stürmische Jahrzehnte hatten sie verbunden, ein bemerkenswertes Auf und Ab in Liebesdingen, eine veritable Schaffensexplosion, eine beispiellose Premierenserie in Berlin, die glorreiche wie mythenumrankte Brecht-Ära, die schwierige Emigration, der Neuanfang in den Vereinigten Staaten und gleich zwei Hochzeiten. Weills letztes amerikanisches Bühnenwerk, »Lost in the Stars«, erlebte am Broadway nicht weniger als 281 Aufführungen und stand auch in seinem Todesjahr – ohne ihre Mitwirkung – noch immer auf dem Spielplan. Nun dämmerte Lenya, die sich von einer außerehelichen Beziehung zur nächsten gehangelt hatte und sich erst allmählich an ihre neue Rolle als »Witwe Weill« gewöhnte, zwischen Apathie und Hoffnungslosigkeit vor sich hin. In ihrem Domizil Brook House in New City vor den Toren New Yorks suchte die einst so Unternehmungslustige, im Grunde eine echte Großstadtpflanze, nach den bangen, schweren Stunden im Flower Hospital eine Zukunftsperspektive.
Untätig herumzusitzen war ihre Sache nie gewesen, die Bühnenkompositionen ihres in den USA zuletzt so populären Mannes Staub ansetzen zu lassen kam ebenfalls nicht in Frage. Doch stand sie, im Showbusineß ihrer Wahlheimat de facto ein Nobody, vor einem unüberwindbaren Dilemma: »Die Amerikaner«, so urteilte sie im Januar 1959 in dem Aufsatz »Kurt Weill’s Universal Appeal«, »hatten seine Musik geliebt, aber kannten nur seine hiesigen Werke, nichts dagegen aus seinen Jugendjahren. Sie wußten nichts von der Art und Weise, wie er die bittere Realität, die Unsicherheit des Deutschlands in den Zwanzigern in seiner Musik einzufangen verstanden hatte.« In der jungen Bundesrepublik wie in der neugegründeten DDR hingegen galten lediglich Weills Werke aus der späten Weimarer Republik etwas, waren seine im Exil entstandenen Musicals und seine Beiträge für eine erst im Entstehen begriffene »American Opera« weitgehend unbekannt, fanden wenig Anklang oder wurden ignoriert, verschmäht oder gar abqualifiziert. »Also entschloß ich mich, wenn auch sehr widerwillig, dort anzufangen.«
Eine doppelte Herkulesaufgabe zeichnete sich ab – den »amerikanischen«, vorgeblich oberflächlichen und regressiven Weill in Europa und den »deutschen«, vorgeblich anspruchsvollen und progressiven Vorkriegs-Weill in der Neuen Welt bekannt zu machen, um seine innovativen Zeitopern, Operetten und Einakter auch bei den nachfolgenden Generationen durchzusetzen. Hinzu kamen die immensen Schwierigkeiten, mit denen Lenya sich als Nachlaßverwalterin konfrontiert sah. Jahraus, jahrein mußte sie sich fortan mit Urheber- und Aufführungsrechten, Partituren, Verlegern, Produzenten, Abrechnungen, Tantiemen, Details von Schallplattenproduktionen und Vertragsstreitigkeiten herumschlagen. Am wichtigsten war freilich, daß sie wieder an Statur gewann: »Zuallererst mußte ich mir selbst einen Namen machen.« Um englischen Zungen die Aussprache zu erleichtern, hatte sie schon 1937 die Schreibweise ihres – an eine Tschechow-Figur angelehnten – Künstlernachnamens (ursprünglich Lenja) abgeändert. Nun wurde aus Lotte Lenya schlicht Lenya, im Big Apple kam sie mit zwei Silben und ohne Vornamen aus. Weitere Markenzeichen waren ihre markante, zusehends dunkler und rauher werdende Stimme und, wie sie ihrem Briefpartner Adorno sogleich mitteilte, ihr neuerdings rotgefärbtes Haar.
Lenyas tiefe Verunsicherung war persönlicher wie künstlerischer Natur und reichte bis in die Kriegsjahre zurück: Im Frühjahr 1945 hatte Weills Operette »The Firebrand of Florence« nach einem Libretto von Ira Gershwin, in der sie als Duchess aufgetreten war, in Boston und New York City teils vernichtende Kritiken bekommen, und das steckte ihr noch in den Knochen. Ihr Selbstbewußtsein als Weill-Interpretin war ins Wanken geraten, sie hatte sich in der Folgezeit von der Bühne zurückgezogen. Während ihr Mann sich im Kollegenkreis durch Fleiß, Kreativität, Erfindungsgabe und eine erstaunliche Assimilierungsbereitschaft rasch Anerkennung verschaffte und auf dem besten Weg war, ein echter Amerikaner zu werden, hatte sie in der Musical- und Showszene der Neuen Welt nie richtig Fuß gefaßt. Ihr Vortragsstil und ihre Gestik, ihr eigenwilliger Sprechgesang, ihre wienerisch-berlinerische Intonation, ihr teils ruppiger, teils lasziver Ausdruck und ihre unvollkommene Beherrschung des (bei ihr stets akzentbehafteten) Englischen entsprachen nicht der Erwartungshaltung der an Entertainment und Wohlklang gewöhnten US-Theatergänger. Alles, was Lenya ausmachte, befremdete sie. Erst später, als die amerikanische Fassung der »Dreigroschenoper« zum Kassenschlager wurde und sie das Musical »Cabaret« mit aus der Taufe hob, stellte sich der Erfolg ein, und sie konnte einen Triumph nach dem anderen feiern. Dann auch wieder als Filmschauspielerin.
Maßgeblichen Anteil an dieser zweiten, internationalen Karriere, die 1961 in einer Oscar- und Golden-Globe-Nominierung sowie 1963 in der Mitwirkung in einem James-Bond-Film gipfelte, hatte ihr nächster Ehemann, der acht Jahre jüngere Romancier und ehemalige Chefredakteur illustrer Zeitschriften (wie »Harper’s Bazaar« und »Mademoiselle«) George Davis (1906 – 57). Dieser vielgereiste frankophile Europakenner hatte schon Carson McCullers und Truman Capote gefördert und sah sich, obwohl vorübergehend mittellos und beruflich desorientiert, imstande, ihrer Bestimmung als authentische Weill-Interpretin Nachdruck zu verleihen.
Lenyas Isolation und Depression endeten rasch, als sie Davis, der sie schon zu Weills Lebzeiten in verschiedene New Yorker Künstlerkreise eingeführt hatte, im Mai 1950 wiederbegegnete. Seinerzeit hatte er zur legendären und auch experimentellen Wohngemeinschaft in der Brooklyner Middagh Street, dem sogenannten February house, gehört, wo sich Berühmtheiten, Bohemiens und Avantgarde-Figuren wie Benjamin Britten und Peter Pears, Jane und Paul Bowles, Christopher Isherwood, W. H. Auden oder die Thomas-Mann-Kinder Klaus und Erika die Klinke in die Hand gaben. Nun wurde der homosexuelle Davis zu Lenyas ständigem Begleiter und zum zweiten von insgesamt vier Gatten. Das Verhältnis war keineswegs frei von Konflikten, doch mit seiner Hilfe und Begeisterungsfähigkeit vermochte sie den Kopf wieder aus dem Sand zu ziehen. Diese »neue Lenya« war ganz und gar seine Schöpfung. Beide boten alle Kräfte auf, um für Weills genuines Konzept eines zeitgenössischen Musiktheaters jenseits von U- oder E-Kategorien zu kämpfen, es am Leben zu erhalten und ihm ein neues Publikum zu erschließen.
Auf die Eheschließung im Juli 1951, ein zaghaftes Comeback im Sprechtheater und einige Hommage-Konzerte für Weill in der New Yorker Concert Hall folgte die sensationell erfolgreiche Off-Broadway-Produktion der »Threepenny Opera« in einer Fassung von Marc Blitzstein. Sie kam, ab März 1954, auf die Rekordzahl von 2 600 Vorstellungen und brachte Lenya einen Tony Award ein. Das war weit mehr als eine Ehrenrettung für den in Amerika verkannten »Berliner« Weill, und dabei ging das Tandem, was dessen Ästhetik betrifft, keine kommerziellen Kompromisse ein und verwahrte sich gegen leichtfertige Vereinfachungen oder ästhetische Zugeständnisse: Im Frühjahr 1955, fünf Jahre nach seinem Tod, setzte Lenya in Begleitung von Davis erstmals seit 1934 wieder ihren Fuß auf deutschen Boden (und zwar auf beiden Seiten der Grenze), spielte maßgebliche Soloalben ein und überwachte mit ihrer historischen Kompetenz die Produktion weiterer Brecht-Weill-Stücke. In Düsseldorf kam 1955 Weills Musical »Street Scene« als westdeutsche Erstaufführung heraus, an der Städtischen Oper Berlin 1957 seine frühe Oper »Die Bürgschaft«. Mit dem Dirigenten Wilhelm Brückner-Rüggeberg wirkte sie in maßstabsetzenden Gesamtaufnahmen von »Mahagonny« und »Die sieben Todsünden« mit, in den Vereinigten Staaten spielte sie unter Maurice Levine »American Theatre Songs« ein. Zusätzlich beaufsichtigte sie dort die Schallplattenpremiere von »Johnny Johnson«. Auf diese Weise etablierten Davis und Lenya geradezu vorbildlich eine authentische und stimmige Weill-Interpretation, die auch für die folgenden Jahrzehnte verbindlich blieb. Ein Glücksfall.
Vor diesem Hintergrund setzt zum Jahresende 1956 der Briefwechsel mit Theodor W. Adorno ein, der sich über das gesamte Jahr 1957 – den Höhepunkt ihrer Bemühungen um Weills musikalisches Erbe in Deutschland – erstreckt und dann erst wieder im Februar 1960 eine Fortsetzung findet. Die Bekanntschaft der beiden geht auf das Berlin der späten Zwanziger zurück, wie eine handschriftliche Widmung der jungen Lenja (sic!) für »Th. Wiesengrund-Adorno« vom September 1929 auf einem Druckexemplar von Marieluise Fleißers Drama »Pioniere in Ingolstadt« belegt. Sie spielte damals in Brechts umstrittener Inszenierung im Theater am Schiffbauerdamm an der Seite von Peter Lorre und Hilde Körber die Rolle der Alma. »Eine Liebe muß keine dabei sein« – das von Lenja für die Widmung ausgewählte Zitat stammt aus Fleißers Stück.
In den Briefen von 1957 – Lenya und Davis pendeln damals zwischen Deutschland und den USA hin und her – ist viel von Weills Brecht-Vertonungen die Rede, den »Sieben Todsünden«, »Happy End«, der »Dreigroschenoper« und den verschiedenen »Mahagonny«-Fassungen. Zum einen, weil sie zu Adornos bevorzugten Weill-Bühnenwerken zählten, zum anderen, weil Lenya sie just in jenem Jahr einspielte, Songs daraus vortrug oder Pläne für Neuinszenierungen schmiedete. Der Leser begegnet in diesem anregenden Austausch, durchweg in liebevoll-zärtlichem Ton gehalten, gespickt mit geistreichen Aperçus und stellenweise auch mit englischsprachigen Einsprengseln versehen, prominenten Zeitgenossen wie den Tänzerinnen und Choreographinnen Irene Mann und Tatjana Gsovsky, den Regisseuren Harry Buckwitz, Heinz Tietjen und Hans Curjel, der Schauspielerin Hannelore Schroth und einer Dame namens »Helli«, der Brecht-Witwe Helene Weigel also, über deren Gier nach Tantiemen ausgiebig gelästert wird und an deren Unnachgiebigkeit so manches von Lenya und Davis angestoßene Projekt zu scheitern droht. Brechts Tod liegt ja noch nicht lange zurück.
Lenya ist merklich daran gelegen, daß Davis bei »Teddy« bzw. »Teddie« und Gretel einen guten Eindruck hinterläßt – ein Wunsch, der in Erfüllung geht –, und äußert mehrfach ihre Besorgnis um seine Gesundheit. Mehrere Herzattacken und -infarkte in immer kürzeren Abständen sind Vorboten seines Todes am 25. November 1957 in Berlin – zwei Wochen nur, nachdem sie im Westteil der Stadt mit der prestigereichen Friedensglocke ausgezeichnet wurde und nur wenige Wochen, bevor sie die »Dreigroschenoper« einspielt. Eine weitere Aufnahme, für die sie bereits den Vertrag unterzeichnet hat, »Das Berliner Requiem«, wird in Anbetracht der Umstände fallengelassen. Davis ist bei seinem Ableben nur unwesentlich älter als seinerzeit Weill, und Lenya erlebt es als Schock und Katastrophe, zumal die gleiche Todesursache vorliegt. Sie resümiert (1962 in der Theaterzeitschrift »Playbill«): »Mein Herz war gebrochen, aber noch viel schlimmer als damals, als es Kurt zugestoßen war. In diesen sechs Jahren unserer Ehe hatte George mich laufen gelehrt, so wie man es einem kleinen Kind beibringt.« Im vorliegenden Briefwechsel mit Adorno findet Davis’ Tod keine Erwähnung, da Lenya das letzte Schreiben vor der mehrjährigen Pause zweieinhalb Wochen vorher verfaßte. Wieder einmal geht es um eine im letzten Moment nicht zustande gekommene Begegnung: »Schade, daß ich nicht ein paar Tage in Frankfurt bleiben konnte. Aber ich lasse George sehr ungern allein mit seiner Furcht vor dem Alleinsein, das typisch für herzkranke Menschen zu sein scheint. So konnte ich also nur schnell noch Gretel anrufen zwischen Zug und Flugzeug.«
Daß Adorno und Lenya auf solch warmherzige, ja fürsorgliche Weise miteinander kommunizieren und auch in künstlerischer Hinsicht völlig übereinzustimmen scheinen, nimmt, gelinde gesagt, wunder: Im Briefwechsel der Eheleute Weill / Lenya trat nämlich, insbesondere in den frühen vierziger Jahren, ein ganz anderes, negatives Adorno-Bild zutage. Dort firmierte der jetzt so Verehrte als »der Wiesengrund« und wurde mit wenig schmeichelhaften, ja beleidigenden Attributen belegt. Hintergrund war vor allem eine Intervention Adornos im März 1942 zugunsten Brechts, dem eine Neubearbeitung der »Dreigroschenoper« mit exklusiv schwarzer Besetzung in Los Angeles vorschwebte. Weill, dessen Ehrgeiz längst dem amerikanischen Musiktheater galt und dem die Angelegenheit »zum Hals heraushing«, hielt jedoch nichts von Wiederbelebungsversuchen der vermeintlich goldenen Berliner Zeit. Er fürchtete um sein Mitspracherecht und witterte ästhetische Verfälschung, erregte sich in einem auf englisch verfaßten Antwortschreiben über Adornos pauschale Abqualifizierung des Niveaus zeitgenössischer Broadwayproduktionen und sprach ihm jegliches Urteilsvermögen in der Angelegenheit ab. Tags darauf, am 8. April 1942, informierte er Lenya per Brief: »Nun, dem Wiesengrund habe ich einen Brief geschrieben, den er lange Zeit nicht vergessen wird. Ich schrieb ihm: es ist eine Schande, daß ein Mann von seiner Intelligenz so falsch informiert sein soll. Und dann erklärte ich ihm, daß das amerikanische Theater nicht so schlecht ist wie er denkt.« Lenya, die gerade in Atlanta mit Maxwell Andersons Stück »Candle in the Wind« auf Tournee war, erwiderte am 9. April: »Eigentlich zu komisch, um sich darüber aufzuregen. Ich bin so froh, daß Du ihm den richtigen Brief über das amerikanische Theater geschrieben hast. Aber bitte Darling, bestehe darauf, daß sie das außerhalb von Hollywood nicht zeigen dürfen. Gib bloß nicht nach. Zum Teufel mit denen.« Lenya warnte ihn, daß Brecht mit Adornos Schützenhilfe »die Musik in Fetzen schneiden« und das Werk »billig und lächerlich machen« würde. Weill hatte es geärgert, daß Adorno als erklärter Jazzfeind und Verfechter absoluter Musik für Brecht Partei ergriff. Von »Fachleuten «, die sogenannte Unterhaltungsmusik als »dekadent« verunglimpften, habe er keine Belehrungen nötig, wie »wichtig« und »wertvoll« seine »Dreigroschenoper« sei. Die Eheleute zogen in dieser Hinsicht also an einem Strang. Dabei hatte Adorno einlenkend noch um Nachsicht mit einem alten Weggefährten gebeten und den Beweis antreten wollen, daß er in der Zeit seines »Schweigens musiksoziologisch noch nicht ganz vertrottelt« sei. Vergebens.
Für Weill stand seit 1931 fest, daß Adorno einen Großteil seiner Musik ablehnte und ihr die Avantgarde-Tauglichkeit absprach, daher erblickte er in ihm einen ideologischen Gegner seines Schaffens. Der Eindruck verfestigte sich noch mit der Publikation von Adornos »Philosophie der neuen Musik« (1949): In der Dichotomie zwischen dem Neoklassizismus Strawinskyscher Provenienz und der zum Ideal erhobenen Zweiten Wiener Schule Schönbergs war für einen dritten Weg, wie ihn Weill beschritt, kein Raum. David Drew, der Doyen der Weill-Forschung, konstatierte 1975, Adornos Abkehr von seiner Musik habe »lange vorher stattgefunden, nämlich zu einer Zeit, als sie beide noch in Deutschland lebten«. Während er über die »Dreigroschenoper« und »Mahagonny« noch Aufsätze publizierte, schwieg er sich über Weills späteres Werk aus. Drew urteilt: »Weill war ohne Reue als Broadwaykomponist gestorben und als solcher in der amerikanischen Presse geehrt und betrauert worden«, Adorno hingegen habe die »zersetzenden und explosiven Elemente« in Weills Brecht-Phase zum Maß aller Dinge erhoben, sei davon nicht mehr abgerückt und habe ihr Fehlen als Manko empfunden, ohne den veränderten Gesetzmäßigkeiten der in den USA entstandenen Kompositionen Rechnung zu tragen.
Von Ressentiments findet sich in der Korrespondenz zwischen Lenya und Adorno keine Spur, wobei man fragen kann, inwieweit letzterer überhaupt Kenntnis von der früheren Verachtung für seine Person und Haltung hatte. Letztlich trug aber auch Lenya durch ihre meisterhafte, ja prototypische Interpretation weiblicher Figuren aus den Weill-Brecht-Werken (Prostituierte, Halbweltdame, Rächerin, burleske Verführerin) zur Verengung der Rezeption auf jene Phase bei. Im September 1955 nahm sie die Moritat von Mackie Messer, den Weill-Hit schlechthin, in einer Dixieland-Fassung mit Louis Armstrong auf; der in der USA geschätzte »September Song« oder die melancholische Ballade »Speak Low« erreichten nie dieselbe Durchschlagskraft – denn sie erfüllten ja auch kein Klischee. Es ging viel Zeit ins Land, bis Weills amerikanischen Opern, Operetten und Musicals (deren Frauengestalten Lenya eben nicht automatisch auf den Leib geschneidert waren) ein vergleichbarer Rang eingeräumt wurde und auch seine übrigen Werke seit den frühen zwanziger Jahren wieder die Spielpläne erobern konnten. Mittlerweile ist eine gewisse Balance in der Beurteilung des »Berliner«, »Pariser« und »New Yorker« Stils zu beobachten, hat sich die Auffassung einer annähernden Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Schaffensphasen durchgesetzt.
In den verbleibenden drei Briefen vom Februar 1960 werden andere Sachverhalte erörtert. Lenya möchte eine Verbindung zum Suhrkamp Verlag herstellen und bittet ihren deutschen Freund um Hilfe, sie setzt sich für David Drew ein und denkt darüber nach, eine autobiographische Skizze zu schreiben. Zur Sprache kommt auch ihre Beteiligung an einem Konzert der Musica-viva-Reihe in München unter der Ägide von Karl Amadeus Hartmann. Freunde des frühen Weill können sich im April 1960 darüber freuen, daß bei einer mehrteiligen Produktion an den Städtischen Bühnen Frankfurt neben den »Sieben Todsünden«, in denen Lenya die Anna I verkörpert, zwei seiner Kurzopern mit auf dem Programm stehen, die Einakter »Der Protagonist« und »Der Zar läßt sich photographieren « (beide auf Libretti von Georg Kaiser).
Lediglich am Rande thematisiert wird in der Korrespondenz ein Gespräch, das die Briefpartner im selben Jahr dem Journalisten und Musil-Herausgeber Adolf Frisé für den Hessischen Rundfunk gewährten. Naturgemäß gilt beider Augenmerk wieder den berühmt-berüchtigten zwanziger Jahren und ihrem Hauptschauplatz Berlin – 1960 schon ein Mythos. Während Adorno sich über »Legenden und Ärgernisse« jener an Widersprüchen so reichen Epoche ergeht, spürt man bei praktisch jeder Verlautbarung Lenyas ihre Unbekümmertheit, ihre Nonchalance und ihre Weigerung, die Dinge zu verklären, sowie ihre Freude, zu diesem Mythos beigetragen zu haben, ohne sich dessen nur ansatzweise bewußt gewesen zu sein. Es lohnt sich (besonders nach Lektüre des Briefwechsels), dieses lebhafte, knapp einstündige Doppelinterview wieder anzuhören, und sei es nur, um sich vom unnachahmlichen Klang der Stimme Lenyas betören und von Adornos leichtfüßiger Eloquenz beeindrucken zu lassen.
Jens Rosteck
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SINN UND FORM 2/2022, S. 180-194, hier S. 180-185
Dieckmann, Friedrich
Ausdruck als Befreiung. Schuberts Schulze-Lieder, S. 196Hulpe, Marius
Rosige Hand. Gedichte, S. 212Reichl, Veronika
Die Hummeln summen lauter. Katherina liest Clarice Lispector, S. 215Katherina hatte schon als Kind die Schönheit schwergenommen: Sie hielt es nicht aus, wenn etwas Schönes verging, ohne ganz gesehen worden zu sein. (...)
LeseprobeReichl, Veronika
Die Hummeln summen lauter. Katherina liest Clarice Lispector
Katherina hatte schon als Kind die Schönheit schwergenommen: Sie hielt es nicht aus, wenn etwas Schönes verging, ohne ganz gesehen worden zu sein. Während ihre Eltern bei Wanderungen immerzu weiterwollten, weil sie an den Kaiserschmarrn in der Gastwirtschaft oder den Kuchen zu Hause dachten, konnte Katherina einem berückenden Sonnenuntergang kaum den Rücken zukehren. Es wäre furchtbar, wenn die Schönheit umsonst dagewesen wäre. Nur wenn Katherina sah, daß andere Menschen den Sonnenuntergang bewunderten, mochte sie weitergehen. So ging es ihr mit allem, was sie liebte. Katherina trauerte die letzten drei Wochen der Sommerferien darum, daß sie zu Ende gingen. Der kommende Tod ihre Oma machte sie schaudern, das kommende Sterben ihrer Eltern war zu schrecklich, um gedacht zu werden. Und doch wußte sie jeden Tag darum. Das gab ihr etwas Altmodisches, aus der Zeit Gefallenes. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler verstanden nicht, daß alles eines Tages wirklich und für immer verschwindet. Sie lebten, als beträfe der Tod sie nicht. Katherina dagegen sah, wie durch und durch angemessen es war, unendlich traurig zu sein.
Als Katherina zehn Jahre später in Frankfurt studierte, bemühte sie sich, das Leben leichter zu nehmen. Sie fand neue Freundinnen und Freunde, die wie sie für Kultur und Philosophie brannten und sich um die Umwelt, den Rechtsruck der Gesellschaft und alle Arten von Ungerechtigkeiten sorgten. Über alle diese Dinge konnte sie nun endlich nächtelang mit anderen sprechen. Doch sie war mit ihrer Trauer über das Vergehen der Schönheit immer noch ziemlich allein. Weiterhin spürte sie eine Pflicht, möglichst viel Schönheit wahrzunehmen und ihr Verschwinden zu betrauern. Niemand außer ihr schien diese Aufgabe zu übernehmen.
Während sie an ihrer Dissertation schreibt, kommt Katherina durch ihre Lieblingsphilosophin auf Clarice Lispector. Die wichtigen Dinge zeigen einem ja immer die anderen. Sie und die Philosophin lernen sich bei einer Konferenz kennen und unterhalten sich länger beim Conference-Dinner, und die Philosophin sagt: Sie müssen Die Passion nach G. H. lesen. Gerade Sie, unbedingt! Sie erzählt voller Begeisterung, daß der Text von der Begegnung einer Frau mit einer Schabe in einem kleinen Raum handelt und gleichzeitig vom Leben und der Immanenz an sich. Die Philosophin ist klug und empfindsam und hat einen feinen Humor. Sie ist persönlich fast noch beeindruckender als in ihren Texten. Katherina möchte gern so ähnlich sein, wenn sie einmal sechzig ist. Es wird Katherina ob der persönlichen Empfehlung warm ums Herz. Doch das Buch ist vergriffen und die Fernleihe der Stabi weist eine ellenlange Warteliste auf. Vier Monate später findet Katherina das Buch in der Grabbelkiste eines Antiquariats. Es liegt da wie für sie hingelegt: ein dünner, vergilbter, grasgrüner Suhrkamp-Band für zwei Euro. Katherina freut sich ungeheuer. Sie trägt das Buch nach Hause, legt sich ins Bett und beginnt zu lesen. Der Text hat sofort etwas Besonderes. Katherina hält den Atem beim Lesen an, so schön ist die Sprache. Da steht zum Beispiel:
»Nein. Jedes plötzliche Verstehen ist schließlich die Enthüllung eines durchdringenden Nichtverstehens. Jeder Moment des Findens ist ein Sich-Selbst-Verlieren. Vielleicht widerfuhr mir ein Verstehen so vollständig wie eine Unwissenheit, und daraus gehe ich so unberührt und unschuldig hervor wie vorher. Kein Verständnis meinerseits wird jemals die Höhe dieses Verstehens erreichen, denn zu leben ist die einzige Höhe, die ich erreichen kann – meine einzige Ebene ist, zu leben. Nur daß ich jetzt – jetzt von einem Geheimnis weiß. Das ich schon wieder beginne zu vergessen, ach ich spüre, ich vergesse …«
Doch obwohl der Text Katherina fasziniert und sie Satz um Satz anstreicht, kann sie nach dreißig Seiten kaum sagen, was eigentlich gesagt wird. Das ärgert sie, denn sie möchte das Buch so tief in sich aufnehmen, wie es nur geht. Sie nimmt den Text deutlich wahr: Er ist erstaunlich hell. Er leuchtet geradezu. Katherina hatte Angst gehabt, daß die Schabe ihn ekelhaft machen würde. Sie hatte Erde, Schweiß und Kotze erwartet. Aber das kommt nur hier und da vor. Vor allem gibt es gekalkte Wände und Plasmen, die Wüste und die helle Sonne. Lispector spricht vom Leben an sich. Und doch mutet sie Katherina dieses Leben nur in kleinen Dosen zu. Sie gibt Katherina nur ein wenig Plasma, ein wenig weißliche Masse, ein paar Augenblicke blanken Lebens zu lesen. Katherina fühlt sich auf eine merkwürdige Weise geschont und weiß nicht, ob sie das gut finden soll.
Beim Weiterlesen wird Katherina nach und nach klar, daß Clarice Lispector versucht, von etwas kaum Sagbarem zu sprechen. Mit immer neuen Sätzen nähert sie sich etwas an. Darum widerspricht und verbessert sich die Erzählerin wieder und wieder: Weil der Text eine Suche ist, die zu keinem endgültigen Ergebnis kommt. Katherina muß das bewundern: diesen Eigensinn, ein ganzes Buch lang zu versuchen, etwas auszudrücken, was sich dem Ausdruck entzieht. Diese selbstbewußte Hartnäckigkeit einer Frau.
Die Erzählerin sagt irgendwo: »Ach, ich weiß nicht, wie ich es Dir sagen soll, denn ich neige nur dann zur Beredsamkeit, wenn ich irre, der Irrtum verleitet mich dazu zu diskutieren und nachzudenken. Doch wie soll ich mit Dir reden, wenn Schweigen herrscht, solange ich nicht irre?«
Katherina hat das Gefühl, daß das für das ganze Buch stimmt. Die Erzählerin versucht etwas zu formulieren, das so zentral und so schwer zu denken ist, daß die bestmögliche Annäherung ihr hundertfacher, übermütiger Versuch ist, einen Zipfel davon zu formulieren. Die Erzählerin ist bereit, sich tausendmal zu täuschen, tausendmal das Falsche zu sagen. Sie übertreibt immerzu. Nichts von dem, was sie sagt, stimmt ganz. Und trotzdem: Während der Text immer wieder neu ansetzt und immer wieder beredt wird in etwas, das Katherina als übertrieben und nicht ganz richtig wahrnimmt, sagt Lispector etwas, das zwar so nicht richtig sein mag, aber ein wenig anders gedreht vielleicht doch ganz ungeheuer richtig ist. Katherina vertraut Lispector. Denn der Text beschreibt Wahrnehmungen, Katherina kann es genau hören. Lispector fängt jeden ihrer Beschreibungsversuche mit einem Perzept an. Katherina haßt es, wenn Texte erfunden sind. Sie interessiert sich nicht für das, was die Leute sich so ausdenken. Schrecklich viele Romane tun das, manche gewinnen dabei sogar Preise für ihre Sprache, und Katherina schüttelt es. Weil man doch hört, wenn die Sprache lügt, wenn die Autorinnen und Autoren Satz für Satz die schnelle Pointe suchen und dabei Satz für Satz die Wahrheit opfern. Vermutlich ist ihnen das nicht einmal klar. Lispectors Text aber hat seinen Ursprung in Wahrnehmungen. Auch Lispector erfindet öfter mal etwas, auch sie ist immer wieder zu begeistert von ihren Ideen und läßt sich von ihnen fortreißen. Aber dann setzt sie wieder neu an.
Nach ein paar Tagen findet Katherina den perfekten Vergleich, um das Gefühl, Lispector zu lesen, zu beschreiben. Es fühlt sich an wie mit dem Rauchen aufzuhören. Wie damals fühlt Katherina sich noch ein Stück weiter vom Rest der Menschen entfernt. Wie damals fühlt sie eine leuchtend hellgraue Nüchternheit, die unbequem ist. Wie damals kann sie nicht sagen, welcher Rausch sich da eigentlich gelichtet hat. Und doch möchte Katherina diese hellgraue Nüchternheit – damals wie heute – nicht zurücktauschen gegen den angenehmen Nebel zuvor.
Nach 110 von insgesamt 180 Seiten beginnt Katherina darauf zu warten, daß es nun wirklich richtig losgeht. Denn sie hat zwar Seite für Seite das Gefühl, daß alles wichtig ist, aber sie kann den Inhalt weiterhin nicht recht festmachen. Sie findet sich selbst undankbar. Die bisherigen Seiten waren toll, sie sollte erfüllt sein. Und wenn man 110 Seiten in einem Buch gelesen hat, das immer neu ansetzt, ohne wirkliche Aussagen zu machen, warum sollte da noch etwas anderes kommen? Doch es stellt sich heraus, daß Katherina zu Recht gewartet hat: Die letzten 40 Seiten haben noch einmal einen besonderen Schub. Ein paar wichtige Motive bekommen einen ganz neuen Dreh und Gott bekommt vier Seiten, die Katherina den Atem nehmen. Katherina kommt aus einer katholischen Familie, Gott ist ihr wohlbekannt. Sie kennt ihn als einen gewalttätigen und fordernden Gott. Sie glaubt längst nicht mehr katholisch, doch sie weiß, daß die Position Gottes nicht leer ist. Was auch immer diesen Platz besetzt, es hat Macht. Und da sie keine stabile Alternative hat, drängt ihr alter christlicher Gott mit seinem Purpur und Gold und seinen tief in Katherina eingebrannten Formeln ständig in diese Position. In ihrer Kindheit auf dem Land war Katherina in ihrem Kampf gegen Gott allein, an der Uni kommt Gott nicht einmal vor. Die meisten Menschen um sie herum sprechen, als wäre das Leben im Prinzip freundliche Vernunft und gegen den Rest hülfe Homöopathie. Und selbst denen, die den Ernst der Lage spüren, ist Katherinas Interesse an Gott und ihr Kampf mit ihrem katholischen Erbe fremd. Lispector aber kennt Gott. Sie weiß um den Tod und um die Gnade. Katherina hat das Gefühl, Lispector biete ihr einen Tausch an: Katherina könnte ihren alten Gott gegen einen neuen, neutralen, farblosen Gott eintauschen. Nur so kann es gehen: Im Tausch von etwas angsterregend Universellem gegen etwas anderes angsterregend Universelles. Auf der Grundlage von Wahrnehmungen. Alle, die das Leben ohne Angst und Schmerz wollen, verkennen die Bedingungen ihrer eigenen Existenz. Katherina würde sehr gern Gott gegen Gott tauschen und liest die vier Seite viele Male.
* * *
Den Sommer verbringt Katherina mit einer Freundin schreibend in einem Gartenhaus. Sie stellen die Rechner auf alte, klapprige, grünlackierte Holztische und sitzen unter einem Kirschbaum, rundherum die Sträucher eines halbverwilderten Gartens. Sie gehen jeden Abend im See schwimmen. Wenn es sehr heiß ist, liegen sie in den Hängematten und dösen. Um sie summen Bienen und Hummeln. Im Gras zirpen die Grillen. Es ist herrlich.
Katherina hat es nicht geschafft, Gott gegen Gott zu tauschen. Als Anleitung für diesen Schritt taugte Lispectors Buch dann doch nicht. Doch etwas ist anders geworden, seit sie Lispector gelesen hat. Sie ist irgendwie fröhlicher. Die Hummeln summen seitdem lauter. Die Blätter der Eschen und Buchen rauschen unentwegt. Alles Lebendige ist ungeheuer stark. Überall sirren Insekten. Bisher erschien Katherina alles Leben zart und zerbrechlich. Und das ist es ja auch. Doch die Blätter der Bäume werden immer rauschen und immer werden Viecher herumkrabbeln. Auch dann, wenn Katherina längst nicht mehr da sein wird. Selbst wenn alle Bienen an Pestiziden sterben, selbst wenn die Erde zerspringt, werden auf einem anderen Planeten Schaben krabbeln. Bei Lispector ist jedes Leben mit gleich viel Bedeutung angefüllt. Jedes einzelne ist unendlich wichtig und zugleich völlig egal. Im Gartenhaus fühlt es sich tatsächlich so an. Wenn das so ist, muß Katherina keine Zeugin der Schönheit mehr sein. Weil immerzu neues Leben nachkommt, immer noch mehr Leben, das von innen vor Bedeutung leuchtet. Bisher war es Katherinas Aufgabe gewesen, die vergängliche Schönheit in sich aufzubewahren und um alles Verlorene zu trauern. Lispector hat ihr diese Aufgaben genommen. Sie hat Katherina unwichtiger gemacht. Sie hat sie den Schaben ähnlicher gemacht. Katherina und die Schaben sind heilig und zugleich unwichtig, und sie alle fliegen schnell durchs Leben und dann sind sie weg. Katherina wird weiter studieren. Sie wird weiter politisch streiten, sie wird Bücher schreiben und hoffentlich irgendwann selbst Professorin sein. Sie wird jedesmal untröstlich sein, wenn jemand stirbt, den sie liebt. Doch das alles ist nicht wirklich wichtig. Nur das Leben an sich ist wichtig. Katherina, die keine Kinder möchte, hat keine weitere Aufgabe, als lebendig zu sein, solange sie es ist. Katherinas Arbeit, ihre Karriere und sogar die Politik sind nur eine Zugabe, eine Spielerei. Das tut weh. Seit ihrer Kindheit war Katherina eine ernste Person, die alles besser verstand als die anderen und deshalb die große Aufgabe übernahm, um die vergehende Schönheit zu weinen. Sie hatte schon vor Jahren verstanden, daß das eine tendenziell narzißtische Idee ist. Weil es beinhaltete, daß sie eine größere Empfänglichkeit für die Schönheit und ein klareres Wissen um die Vergänglichkeit hatte als die anderen. Sie hatte sich eine Sonderrolle gegeben und sich selbst besonders wichtig genommen. Das war nicht sympathisch, und so hatte sie das Ganze mit zwei Therapeutinnen ausführlich besprochen, um es loszuwerden. Doch es war ihr nicht gelungen. Das Gefühl, daß dies nun einmal ihre Aufgabe war, war zu stark gewesen. Es hatte aus einer großen Tiefe an ihr gezogen und sie mit dieser Tiefe verbunden. Sie hatte das Gefühl geliebt. Das konnte sie nicht einfach loslassen. Vielleicht hatte ihr die Aufgabe des Trauerns auch geholfen, sich selbst als künftige Philosophin ernst zu nehmen und zu glauben, einen besonderen philosophischen Beitrag leisten zu können. Jetzt im Garten zieht die Aufgabe nicht mehr an ihr. Die Tiefe ist nicht mehr da, es gibt sie einfach nicht mehr. Dafür summen die Bienen und die Bäume rauschen und Katherina ist eine irgendwie fröhliche, aber auch verwirrte Schabe. Eine Schabe ohne Aufgabe. Daran muß sie sich erst mal gewöhnen.
SINN UND FORM 2/2022, S. 215-219
Reinert, Bastian
Ein Wort, dem man noch trauen könnte. Gedichte, S. 220Ziebritzki, Henning
Was ist es, das Gedichte schreibt? Zu Peter Huchel und Thomas Kling , S. 223Wandelère, Frédéric
Geheimnis des Regens. Gedichte, S. 236Schlaffer, Hannelore
Liebe vor dem Sündenfall oder Das Paradies im Roman, S. 238Eine Sammlung von Szenen wäre aus der Weltliteratur, aus Romanen und Erzählungen zusammenzutragen, die vergessen sind und doch nicht hätten (...)
LeseprobeSchlaffer, Hannelore
Liebe vor dem Sündenfall oder Das Paradies im Roman
Eine Sammlung von Szenen wäre aus der Weltliteratur, aus Romanen und Erzählungen zusammenzutragen, die vergessen sind und doch nicht hätten vergessen werden dürfen. Es sind dies anrührende Bilder einer erwachenden Liebe, die von sich noch nichts weiß. Die große Leidenschaft, die das – meist männliche – Gemüt entfacht und zur Eroberung einer Geliebten anfeuert, die Klage über deren Verlust, die Verführung zum Ehebruch, diese offenbaren Aufregungen aus lauter Liebe, die sich zum Motor einer Handlung so gut eignen, ist viel besprochen, theatralisch genutzt und lyrisch besungen worden. Doch gibt es Romane, Jean Pauls »Titan« etwa, Kellers »Grünen Heinrich« oder die Erzählungen Stifters, die nicht die Dramatik der großen Leidenschaft vorführen, sondern den Zauber einer erwachenden Neigung, die von Sünde kaum etwas ahnt und von Tragik nichts weiß. Während die literarisch zubereitete Leidenschaft durch starke Affekte enorme Effekte hervorbringt, äußert sich die erwachende Liebe in unscheinbaren Gesten, die im Gedächtnis des Lesers leicht wieder verblassen. Und doch sind häufig sie es, die, auch wenn sie nicht den Gang der Handlung bestimmen, der Erzählung Farbe geben und in der Erinnerung das Glück dieser Lektüren ausmachen.
Im Unterschied zur handlungsbestimmenden Leidenschaft steht für diesen Zustand der von der Pädagogik geprägte Begriff »Pubertät« zur Verfügung oder dessen poetische, durch Wedekind geprägte Version »Frühlings Erwachen«. Beide Bezeichnungen für den jugendlichen Liebesmorgen sind um die Jahrhundertwende entstanden, als Freud, Krafft-Ebing, Ricord, Charcot die Sexualität von einer Sünde zum Forschungsgegenstand erhoben. Die Leidenschaft war vom Skandal zum wissenschaftlichen Problem geworden, und damit entstand eine andere Literatur der Jugendlichkeit, die die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zog und ihren Niederschlag in den Internatsromanen fand, in Musils »Törleß« etwa, der den groben Sadismus erotisch erregter Pennäler darstellt, oder in Günter Grass’ witzigen Unanständigkeiten in der Novelle »Katz und Maus«.
Den Autoren dieser Werke war, im Unterschied zu ihren schüchternen Vorgängern, durch die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas Pubertät bereits die Romantik abhanden gekommen, die früher solche Jugendspiele verklärte und die eben in Roman und Erzählung jene versteckten, aber so anrührenden Szenarien der Liebe vor dem Sündenfall hervorgebracht hat. Von »Daphnis und Chloe«, dem antiken Hirtenroman, bis zu Stifters »Bunten Steinen« hat sich für die ahnende und scheue Liebe ein Repertoire von Gesten entwickelt, das Furcht und Seligkeit dieses Zustands zu fassen sucht.
Nahezu zwei Jahrtausende liegen zwischen Longos’ Roman und den Erzählungen von Musil und Grass, und dennoch stehen sie sich nah. Sie gehören der Idylle an, jener Gattung, die den Menschen in einem der Natur nahen Zustand und in einer zeitlich wie räumlich geschlossenen, befriedeten Umgebung vorführt. Der Hirtenknabe und die Hirtin der Antike sind solche idyllischen Charaktere, was man von den Figuren der modernen Erzähler nicht behaupten kann – und doch: Sie sind deren letzte Version, denn sie führen die Zerstörung des Idylls vor. Die Figuren beider Werke befinden sich in eben dem Lebensalter wie Figuren dieser Gattung immer. Sie kennen die Normen der Gesellschaft nicht genau, und auch sie leben, wie die Bewohner der Idylle, für eine begrenzte Zeit in einem geschlossenen Revier, dem Internat. Dieses allerdings ist als Ort strengster Erziehung das Paradox der Idylle, ein idyllisches Gefängnis. Das Erwachen der Liebe, die hier, dem aufgeklärten Jahrhundert und seiner Wissenschaft entsprechend, als Sexualität zu bezeichnen ist, führt die von dieser Erfahrung überraschten Jugendlichen ebenso in Verwirrung wie das Hirtenpaar des Longos. Die weitgespannte Geschichte der sündelosen Liebe also führt aus dem bukolischen Milieu der Antike ins Internat der Moderne, aus dem unschuldigen Spiel der Naturkinder zur verstörten Psyche moderner Jugendlicher. Die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen vollzieht sich am Anfang ihrer literarischen Darstellung als tapsende Erfahrung, an ihrem Ende als Teil einer Erziehung, die sie stört und verstört, sie wird von der Wiese in eine geschlossene Anstalt verlegt, immer aber schildert sie eine Initiation.
Zwischen diesen Polen, Entstehung und Ende einer erotischen Gattung, sind in der Roman- und Erzählliteratur zahlreiche Szenen versteckt, die das in der Antike begründete Schema der Idylle nutzen und variieren. Es lohnt, mit Daphnis’ und Chloes Liebe beginnend, sich der Mittel zu erinnern, mit denen jene dem Leser so wohlgefälligen Einschübe, diese Paradiese im Roman, hergestellt werden.
Naivität ist der wesentliche Zug, den der Autor seinen Figuren verleiht, sobald er das Frühlingserlebnis der Liebe darstellt. In Erscheinung tritt die kindliche Unschuld gerade dadurch, daß die Sinne rege werden, was der Leser bemerkt, was Knabe und Mädchen selbst aber kaum wahrnehmen und gar nicht verstehen. Nachdem Chloe Daphnis, den Knaben, im Bade nackt gesehen hat, nachdem also das Kleid, Symbol der Sitte, abgelegt und der Mensch in seiner natürlichen Gestalt vor Chloes Blick erschienen ist, setzt für sie ein Zustand ein, der sie überrascht. Jede Begegnung versetzt von nun an das Paar in selig-unselige Verwirrung: »Als aber der Tag wieder heraufkam, litten sie wieder wie zuvor. Sie waren selig, wenn sie sich sahen, und trauerten, sooft sie voneinander gehen mußten. Sie litten und sehnten sich nach etwas, wußten aber nicht, wonach sie sich sehnten. Nur so viel wußten sie, daß für ihn der Kuß, für sie das Bad der Anfang des Unheils gewesen war.«
Zum Kuß war es zwischen den beiden Paaren, die Jean Paul im »Titan« zu einer der schönsten Szenen jugendlicher Liebesahnung zusammenführt, nicht gekommen, doch führt auch hier die Begegnung von Albano und Liane, von Rabette und Roquairol zu geheimer Verwirrung in den Gemütern aller vier Freunde. Der Autor situiert die Gruppe, dem Modell der Idylle gehorchend, »tief in den dreifachen Blüten der Jugend, der Natur und der Zukunft«, dort also, wo sie »den weitesten Himmel in sich trug, den die Menschenbrust umspannen kann«.
Im Jahrhundert der sexuellen Aufklärung ist es leicht zu erkennen, woher diese schöne Verwirrung rührt, aus der quasi-idyllischen Unschuld nämlich, in der die Erziehung damals den Zögling noch zu halten suchte. Man braucht dazu nicht aus Jean Pauls Erziehungsbuch »Levana«, seiner Antwort auf Rousseaus »Émile«, zu zitieren, um zu wissen, daß »Mädchen, wie Perlen und Pfauen« sind, und man sie »schätzt (…) nach keiner andern Farbe als der weißesten«. Verwirrung war das Resultat einer sexuellen Nicht-Erziehung, einer Erziehung zur Unwissenheit, die Mädchen vor allem, aber auch Jünglingen in jenen Zeiten angetan wurde. Die Jungfrau sei, so Jean Paul in der »Levana«, »ein von der Gegenwart eng umkettetes Gemüte«, womit er die strenge Erziehung zur sogenannten Unschuld meint, vor dem ein Jüngling »auf einmal Glück und Freiheit weit ausbreitet«. Der Geliebte überrasche nun als der, »der alle Träume verkörpert, die bisher die uneigennützige Seele in Sterne, in Frühlinge, in Freundinnen und kindliche Pflichten eingekleidet hatte«. Diese »kräftig und rein erzogene Jungfrau ist eine so poetische Blume der matten Welt«, daß sie gehütet werden muß.
Aber auch für den Jüngling setzt ein Zustand ein, der zum ersten Mal jenseits aller bürgerlichen Erziehung seine Entscheidung herausfordert. Für ihn ist die Liebe die erste Entdeckungsreise, die er unternimmt. Die Selbsterforschung des ahnungslosen Knaben, an deren Ende die Selbsterkenntnis als erotisches Subjekt steht, nimmt, wie jegliche Entdeckungsreise, den Umweg über viele Irrwege. Jean Paul weiß diese Antriebe, die Ziel und Zweck noch nicht gefunden haben, in Szenen eines Quidproquo zu fassen, wobei die Verwirrung der Herzen nicht mehr ausdrücklich eingestanden werden muß, sondern gestisch dargestellt und durch geradezu tänzerische Fehltritte der Paare angedeutet werden kann.
(…)
SINN UND FORM 2/2022, S. 238-247, hier S. 238-240
Janz, Marlies
Die Frau, bei der sämtliche Standpunkte verfehlt sind. Walter Serners »Tigerin« im Kontext der Moderne, S. 248Schiffner, Sabine
Immer geben nur die Armen. Gedichte, S. 255Kempker, Kerstin
Fußnote 8, S. 258Prabala-Joslin, Avrina
Das Paradox der uneigentlichen Archive, S. 265Feßmann, Meike
Zsófia Bán oder Die Nordwestpassage der Imagination, S. 269Schmölders, Claudia
Wer war Carl Czerny? Nachrichten von Grete Wehmeyer, S. 273Hambitzer, Ulrich M.
Die heilige Seuche. Meditationen zu einem Gedicht von Stefan George, S. 276Oswald, Stephan
Das Grabmal als Merkzeichen. August von Goethes Tod in Rom, S. 278
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3/2022
Heft 3/2022 enthält:
Cather, Willa
Eine zufällige Begegnung, S. 293Koepsell, Kornelia
Klage um Dostojewski. Gedichte, S. 309Kieseritzky, Ingomar von
Der Jenseits-Baedeker, S. 316Hettche, Thomas
Männer sind sinkende Sterne. Tübinger Poetikvorlesung, S. 325Katkus, Laurynas
Auf der Rolltreppe gegen die Laufrichtung. Gedichte, S. 338Reichl, Veronika
Der doppelte Kompaß, S. 341Abdollahi, Ali
Der gebrochene Blick. Gedichte, S. 346Krüger, Michael
Meine israelischen Dichter, S. 350Lenz, Nina
Salamander. Gedichte, S. 370Rühmkorf, Peter
Träume ausgeklinkt. Briefwechsel mit Kurt Darsow 1996/97. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow, S. 372Flugübungen. Eine Vorbemerkung
Hellwache Gegenwartsnähe und profunde Belesenheit schlossen sich für Peter Rühmkorf nie aus. Bis in die (...)LeseprobeRühmkorf, Peter
Träume ausgeklinkt. Briefwechsel mit Kurt Darsow 1996/97. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow
Flugübungen. Eine Vorbemerkung
Hellwache Gegenwartsnähe und profunde Belesenheit schlossen sich für Peter Rühmkorf nie aus. Bis in die Wortwahl hat er in seinen vertrackten Gedichten das Triviale mit dem Erlesenen kontrastiert. Der Panzerschrank, die Wurstfabrik, das Hollerithgesicht, der Siebenuhrflieger, die Rheinstahltochter und das Morgenei koexistieren dort unfriedlich mit dem Montgolfier, der Hypotaxe, dem Prokrustesbett, dem Nietzschewort, Hans Huckebein und dem Prinzip Hoffnung. Kein Wunder, daß für den unehelichen Sohn einer Grundschullehrerin und eines Puppenspielers die unterschiedlichsten Charakteristiken in Gebrauch sind – vom letzten Minnesänger, finalen Hochseilartisten und alterslosen Springinsfeld bis zum rüden Schöngeist, rotzigen Romantiker und preziösen Gorilla. Mal galten seine Publikationen als sachlich-kritisch, witzig-frech und pfiffiggriffig, mal als zierlich-zynisch, sackgrob-kraß und unbändig-wütend.
Wußte der Mann mit den vielen Gesichtern überhaupt, wer er war? Daß er sich Decknamen wie Lyng, Lyngi, Lynkeus, Leslie Meyer, Wang Lun, Leo Doletzki, Johannes Fontara, John Frieder, Harry Flieder, Hans Hingst, Peter Torbog und Hans-Werner Weber zulegte, läßt sein diffuses Bild vollends verschwimmen. Die Verwirrung um seine Person erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt, als er 1996 intime Tagebuch-Aufzeichnungen aus den Wendejahren 1989 und 1990 unter dem Titel »TABU I« veröffentlichte, die ihn als von seiner alleinerziehenden Mutter gegängelten, von Krankheiten zermürbten, vom Alter gebeugten und von Kritikern links liegengelassenen Schmerzensmann auswiesen. »Man mag sie nicht, diese deutsche Dichterkrankheit«, schrieb Mathias Greffrath im Spiegel über das Klagelied eines leidgeprüften Poète maudit, »aber in Rühmkorfs Selbstbeobachtung wird sie als die unvermeidliche Schlacke erkennbar, die als Rückstand im poetischen Verbrennungsprozeß anfällt: In ihm schmelzt er mit ›eiserner‹ Disziplin aus den Nöten der Magersucht die Eleganz des freien Fluges, mit dem er der lustfeindlichen, prügelnden Mutter entkommt. So steigt die provozierende Sinnlichkeit aus den tiefen Verliesen des verhemmten Selbst, so wächst die Lyrik vom aufrechten Gang aus der Unfähigkeit, sich vertrauensvoll fallen zu lassen.« Wird man dem »lyrischen Ich- Darsteller« mit Festlegungen dieser Art gerecht? Lassen sich seine schmissigen »Volksund Monomanenlieder« allein aus der prekären Seelenlage ihres Verfassers erklären? Bei einer Lesung in Düsseldorf hatte ich Rühmkorf 1988 von einer ganz anderen Seite erlebt. Statt eines Nervenbündels intonierte da ein versierter Vortragskünstler in betörendem Singsang sein ortsbezogenes »Heinrich-Heine-Gedenklied«. Wer wollte, konnte in dem klimpernden Auftakt »Ting-tang-Tellerlein« sogar ein verwehtes Echo der Rolling Stones heraushören: »I met a gin-soaked bar-room queen in Memphis / She tried to take me upstairs for a ride« – was den fahrenden Sänger freilich nicht daran hinderte, sich nach der Veranstaltung von älteren Damen im Publikum wie ein Kavalier der alten Schule zu verabschieden: »Schön, daß Sie da waren!«
Auf dem Weg zu Hans Henny Jahnns reetgedecktem Domizil im Hamburger Hirschpark sah ich Rühmkorf ein paar Jahre später auf einem Balkon unweit des Altonaer Fischmarkts wieder. Auch diese winddurchwehte Begegnung wollte nicht recht zu dem Unglücksraben aus »TABU 1« passen. Sie erinnerte eher an einen wärmebedürftigen Passagier auf dem Sonnendeck eines Ocean Liners. Hätte ich bei der Gelegenheit wie ein aufdringlicher Verehrer bei ihm klingeln sollen? Lieber nicht! Immerhin wußte ich jetzt, was es mit der Adresse Övelgönne 50 auf sich hatte: ein kleines Reihenhaus an der Elbe, ein schmutziger Strand, träge schwappende Wellen und statt Tropical Islands die rostigen Containerschiffe einer vielbefahrenen Handelsroute.
Richard Anders, Rühmkorfs kauziger Jugendfreund, der schon an seiner Zeitschrift »Zwischen den Kriegen« mitgewirkt hatte, machte mich schließlich mit »Rühmi« persönlich bekannt. Er lud mich 1992 zu einem privaten Treffen in der Berliner Hinterhofkneipe Café Clara ein. Als der dürre Dichter im schlotternden Trenchcoat mit einem Troß junger Männer verspätet eintraf, hatte er bereits einen in der Krone. Daß »Bier und Korn auf Kosten des Hauses« noch nicht für ihn auf dem Tisch standen, fand er empörend: »Wo sind wir denn hier?« Nach der ersten Runde ergriff er entschlossen das Wort und ließ es sich im Verlauf des Abends nicht mehr nehmen. Seinem brillanten Redefluß konnten auch weitere Gläser nichts anhaben; vielmehr befeuerten sie ihn zu immer gläserneren Sentenzen und giftigeren Sottisen, bis dem Akrobaten in der Zirkuskuppel kaum noch jemand folgen konnte. Natürlich drehte sich der Diskurs unweit des Reichstags um den gerade stattfindenden »Ausverkauf der DDR«. Gegen das bigotte »Restauratorium« der Ära Adenauer hatte Rühmkorf schließlich mit einem Ingrimm agitiert wie sonst vielleicht nur noch Arno Schmidt. Wie konnte er nach dieser Kampferfahrung goutieren, daß der »Kanzler der Einheit« gerade gesamtdeutsch hinbekam, was der »Kanzler der Alliierten« westdeutsch auf den Weg gebracht hatte? »Widersteht! Im Siegen Ungeübte / zwischen Scylla hier und dort Charybde / Schwankt der Wechselkurs der Odyssee. / Finsternis kommt reichlich nachgeflossen; / aber du mit – such sie dir! – Genossen …« So in etwa lautete der vaterländische Gesang des alkoholisch entfesselten Luftgeists im Café Clara.
Über das Verhältnis von Dichtkunst und Drogengenuß hat sich Rühmkorf einschlägig geäußert. Mit Gottfried Benn war er der Ansicht: »Potente Gehirne stärken sich nicht durch Milch«. Ob ihm neben hochprozentigen auch eher immaterielle, um nicht zu sagen: überirdische Impulsgeber zu Diensten waren, ist schwer zu sagen: »Keine Posaune zurhand, keine Verkündigungen, / der Himmel abgespeckt, / wenn der Abend mit siebenfarbener Zunge am Fenster leckt«, ist in einem Gedichtband Rühmkorfs mit dem auf die Gravitationskonstante bezogenen Titel »Irdisches Vergnügen in g« zu lesen. Die dritte Strophe des Gedichts »Himmel abgespeckt« dagegen wildert im ungewissen: »Träume ausgeklinkt – gutso – die gondeln im Blauen, / in den schwimmenden Äther getupft; / mein gepökeltes Herz, mein eingesalznes Vertrauen, / das die Stellung hält und die Schlagader zupft.«
Jede Nacht streifen wir auf diese Weise die Erdenschwere ab. Vier- bis fünfmal ist in unseren Köpfen für jeweils zwanzig Minuten Kino. Doch was da über die innere Leinwand flimmert, folgt keinem Drehbuch. Erst nachträglich und unter Mitwirkung des Verstands werden Geschichten daraus. Läßt sich der »Stoff, aus dem die Träume sind«, überhaupt im Medium der Sprache erfassen? Schließlich besteht er hauptsächlich aus Bildern, und Bilder haben ihre eigene Logik. Dennoch wird seit Menschengedenken die Lehrmeinung vertreten, Träume hätten eine Bedeutung. »Aber die Träume, natürlich, sie sind ja nicht, sie bedeuten nur«, lesen wir auch in Peter Rühmkorfs »TABU I« im Anschluß an einen eigenen Traum, in dem ein Fisch zerlegt und gekocht wird, der vielleicht gar kein Fisch ist, sondern eine Seejungfrau. Mit Vater Freud im Bunde fällt dem deutungsseligen Träumer beim Aufwachen gleich der mädchenhafte Leib seiner Mutter ein, die gerade gestorben ist.
Luigi Malerba hält von Mutterschlachtungen dieser Art wenig. Zwar sind Träume auch für den italienischen Romancier kein bloßer Aberwitz, sonst würde er ihnen in seinem »Tagebuch eines Träumers« nicht so viel Aufmerksamkeit schenken; aber in seinen Augen handelt es sich dabei um kreative Ausbrüche, die auf der »Entregelung der Sinne« beruhen. Selbst die nüchternsten Köpfe können auf diese Weise ihr blaues Wunder erleben. Pedanten werden zu Phantasten, Verklemmte zu Draufgängern, Stubenhocker zu Weltreisenden. Und solche Erfindungen sollten allesamt auf die Muster des kollektiven Gedächtnisses zurückgehen? Malerba weiß es besser: »Wir können ganz friedlich behaupten, daß eine im Traum auftauchende Zypresse eine Zypresse ist und kein phallisches Symbol.« Also hinsehen statt analysieren! Aufschreiben statt zerpflükken! Den Traum als Kunstwerk betrachten! »Der Dichter arbeitet«, schrieb schon der symbolistische Dichter Saint-Pol-Roux auf seine Schlafzimmertür. Und Franz Kafka überschritt durch systematischen Schlafentzug die Grenze des Erfahrbaren noch radikaler. Sein Schrei ben war zugleich ein Träumen und dürfte seine unvergleichliche Wirkung wohl vor allem dieser schlafwandlerischen Eigenschaft verdanken.
Freud oder Malerba? Da ich gerade an einem Radiofeature mit dem Titel »Traumdenken. Über die Nachtseite des Verstandes« bastelte, hätte ich Rühmkorf gern vor diese Alternative gestellt. Am 3. Januar 1996 bat ich ihn daher brieflich um ein Interview. In einer ersten Antwort vom 23. Januar ging er zwar umständehalber nicht auf meinen Wunsch ein, kam aber schon eine Woche später überraschend bereitwillig auf mein Thema zurück, indem er mir ein eigenes Traumbeispiel nebst Kommentar übersandte. Zuschriften muß er, wie aus seiner inzwischen vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach archivierten Korrespondenz hervorgeht, in unvorstellbarer Menge erhalten haben. Er hat sie offenkundig nicht nur allesamt aufbewahrt, sondern in den meisten Fällen wohl auch beantwortet. Diese überbordende Mitteilsamkeit ist bei Schriftstellern durchaus nicht die Regel, wie jeder Schreiber von Leserbriefen weiß. Da es allein schon wegen des schieren Umfangs des Rühmkorfschen Briefwechsels unwahrscheinlich sein dürfte, daß er jemals vollständig veröffentlicht wird, soll hier stichprobenhaft aufgezeigt werden, was den leicht entzündlichen Briefeschreiber zu seinen flüchtig getippten und sorgfältig korrigierten Antworten gebracht haben könnte.
Der spontan aufblühende Briefwechsel ließ nach meinem Gefühl auf ein tiefes Bedürfnis nach Zuspruch und Geselligkeit schließen. Da feilte offenbar einer in seiner Dachstube an poetischer Flaschenpost, die nur selten aufgefischt und noch seltener gewürdigt wurde. Unter diesem einsamen Geschäft muß Rühmkorf maßlos gelitten haben. Nie war er mit dem zufrieden, was er in fleißiger Heimarbeit zustande brachte. Ein Projekt mit dem Arbeitstitel »Zeitroman« blieb auf der Strecke. Nur zwei Bände (»TABU I«, 1995, und »TABU II«, 2004) geben auszugsweise Einblick in die »Memos«, in denen der besessene Diarist seinen Alltag bis in die trivialsten Einzelheiten festhielt. In der Gruppe 47 ist er nach Mäkeleien an seinen Gedichten 1961 nie wieder aufgetreten. Bei Lesungen in anheimelnden Buchhandlungen war das anders. Da sah er in freundlich zustimmende Gesichter. Vor großem Publikum und mit Jazzbegleitung auf dem Hamburger Rathausmarkt war er erst recht in seinem Element und konnte aufgekratzt wirken wie ein Klabautermann. Aufbauende Empfindungen lösten wohl auch Briefe aus, die ihn aus seiner »Eber-Einzelbucht« herausholten und die Friedhofsasseln aus seiner Brust vertrieben.
Am Schreibtisch aber mußten Bildungsballast und Sprachschutt erst in langwierigen Probeläufen abgeschüttelt werden, ehe er zum freien Flug ansetzen konnte. Seltsamerweise fiel ihm dies bei seinem »Kerngeschäft«, dem Gedichteschreiben, am allerschwersten. Daß es monomanisch um sein eigenes Ich kreiste, hat nur entfernt mit Egozentrik zu tun. Als eine Art Lilienthal der Poesie nahm er dort sprachliche Anläufe, die ihm wenigstens auf dem Papier die Schwerkraft von den Schultern nehmen sollten, was ihm mit zunehmendem Alter immer mehr Mühe bereitete. Sage und schreibe 730 Seiten brauchte der »schuftende Artist« für den Aufgalopp zu seinem Gedicht »Selbst III / 88. Aus der Fassung «, und es ist nicht einmal sicher, ob sich die Mühe in diesem Fall gelohnt hat. Im kleinen Format aber gelangen ihm seine Flugversuche immer wieder: »Figur in Gras und Garben, / ein Herz, das wie Zunder verglimmt, / wenn der Abend flamingofarben / über die Grenze schwimmt« oder »All mein Glück wie nie gewesen, / aller Scherz wie nicht von hier, und da möchtest du es schon mal lesen, / daß es jemandem so ging wie dir« oder »Die Rosen gerade noch eben, / schon ziemlich viel Rost mit im Rot – / Das eine ziert sich zu leben, / das andere sinnt sich zu Tod.« Vielleicht, sagte ich mir, sind ja auch diesem Entfesselungskünstler seine Gedichte bisweilen im Traum erschienen. In unserem fragmentarischen Briefwechsel (einige meiner Briefe gingen bei einem Zimmerbrand verloren) gibt er sich in dieser Frage merkwürdig bedeckt. Lieber kehrt er den orthodoxen Freudianer heraus, der er nicht war, als sich am Schreibtisch in die Karten blicken zu lassen. Hatte er sich in seiner Jugend nicht überdies einer langwierigen Psychoanalyse unterzogen und anschließend sogar Psychologie studiert? Den Traum poetisch zu verwerten oder auch nur poetologisch in Betracht zu ziehen, muß Rühmkorf jedenfalls schwergefallen sein. Mehrere Versuche, ihm dennoch das eine oder andere Schreibgeheimnis zu entlocken, schlugen mithin fehl. In meinem Radiotext, auf den er am 1. Juli 1996 Bezug nimmt, kam auch sein Jugendfreund Reimar Lenz mit einem Traumbeispiel zu Wort. Lenz war bis in die sechziger Jahre Mitherausgeber der Zeitschriften »Lyrische Blätter« und »alternative« gewesen, in denen neben Celan, Enzensberger und vielen anderen auch Rühmkorf mit eigenen Gedichten vertreten war. Sein Gedicht »Anode« etwa, eine furiose Abrechnung mit dem Wirtschaftswunder, war 1962 erstmals in der »alternative« zu lesen (»Auf der Höhe des Friedens, aus der Fülle des Fetts, / in den gähnenden Sechzigern dies hier bekundet: / zu singen wenig, aber zu handeln genug – / nun schick deinen Traum in die Mauser«). 1957 reiste er mit Lenz, dem zwei Jahre jüngeren Dichterkollegen, zu den Weltjugendfestspielen in Moskau. Doch in unserem Briefwechsel kommt er erst auf ihn zurück, als ihm die Kopie eines verschollenen Jugendfotos aus seinen Sturm-und-Drang-Jahren ins Haus flatterte. Lenz hatte es aus den Tagen ihrer lyrischen Waffenbruderschaft aufbewahrt und an mich weitergereicht. Nicht einmal mit dem hochverehrten Arno Schmidt ließ Rühmkorf sich ködern. Nur zu gern hätte ich die von ihm zitierte lingualogische Komödie Alfred Maurys mit ihm diskutiert, »wo Jener einmal im Traume auf einer Landstraße spazierte und die Kilometersteine ablas. Dann in einen Kaufladen trat, dessen Inhaber zwar mit Kilogrammgewichten hantierte; dem Träumer aber mitteilte, er sei jetzt nicht in ›gay Paree‹, sondern auf der Molukkeninsel Dschilolo; worauf M. sich bedankte und durch Lobelienbüsche davonschritt, zwischen denen General Lopez auf ihn zukam und zu einer Partie Lotto einlud.« Dem Autor von »Zettel’s Traum« diente diese »scheinbar läppische Bilderfolge« zur Untermalung seiner »Etym-Theorie«, wonach Träumer aus »Zünd-Worten« die buntesten Geschichten konstruieren.
Doch Spekulationen dieser Art waren Rühmkorfs Sache nicht. Berichten über Traumdiktate bei Schriftstellern traute der »Klarsicht-Witzbold« nicht über den Weg. Daß die Neurobiologie über Freuds »Traumdeutung« längst hinaus ist und den Traum inzwischen als kreatives Spiel mit alternativen Möglichkeiten interpretiert, nahm er nicht zur Kenntnis. Dabei waren ihre Einsichten über die nächtliche Gedankenarbeit vermutlich auch für sein eigenes Schaffen von Belang. Der spielerische Umgang mit »Tagesresten« entsprach auch seiner poetischen Praxis. Im Traum würden »neue Muster« gewebt, befand schon August Strindberg. Er sei eine kunstvolle Mischung aus Erinnerung und Erfindung, aus Unwahrscheinlichkeit und Improvisation. Für den »Anti-Ikarus« Rühmkorf dagegen war und blieb der Traum, was schon Freud in seiner »Traumdeutung« aus ihm herausgelesen hatte.
Daß unser Briefwechsel bald versandete und im November 1997 schließlich ganz abbrach, lag jedoch nicht primär an inhaltlichen Differenzen, sondern an der immer prekärer werdenden Gesundheit des Adressaten. Zwar hatte ich am Rande von Lesungen und Vorträgen noch mehrfach die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, aber mehr als ein paar freundliche Worte kamen bei diesen Begegnungen nicht heraus. Dennoch war es ihm zum Abschied offenbar noch wichtig, mich auf der richtigen Seite der Barrikade zu wissen. Als der rebellische Geist in Deutschland verebbte, besann der »rote Rühmkorf« sich antizyklisch seiner west-östlichen Lehrjahre und fing wieder an, Marx zu lesen. Seinem letzten Schrei ben vom 23. November 1997 fügte er zur politischen Unterweisung das handschriftliche Gedicht »Bleib erschütterbar und widersteh« bei. Ein paar Jahre später, bei unserer letzten Begegnung auf den Fluren der Akademie der Künste am Hanseatenweg, kam er mir bereits so hinfällig vor, daß ich nicht mehr wagte, ihn anzusprechen.Kurt Darsow
SINN UND FORM 3/2022, S. 372-390, hier S. 372-376
Dąbrowski, Tadeusz
Wie ein Komet am Himmel. Gedichte, S. 391Dąbrowski, Tadeusz
Demut und Geheimnis. Ein Gespräch mit Adam Zagajewski über polnische Dichtung, Bewunderung und Phantasie, S. 393Tkaczyszyn-Dycki, Eugeniusz
Lieder und Ziegel. Gedichte, S. 403Killert, Gabriele Helen
Hypochondrie und Ironie. Uneigentliches Leiden und uneigentliches Sprechen im Werk von Adolf Muschg, S. 406Adolf Muschg ist seit Jahrzehnten schon ein Klassiker der Gegenwartsliteratur. Und wie es so manchem Klassiker ergeht: Er gilt viel und wird wenig (...)
LeseprobeKillert, Gabriele Helen
Hypochondrie und Ironie. Uneigentliches Leiden und uneigentliches Sprechen im Werk von Adolf Muschg
Adolf Muschg ist seit Jahrzehnten schon ein Klassiker der Gegenwartsliteratur. Und wie es so manchem Klassiker ergeht: Er gilt viel und wird wenig gelesen. Muschg ist gleichsam der Schweiz-Korrespondent der Literatur, der uns über dieses eigenwillige Nachbarland auf dem laufenden hält. Seine Stimme hat als die eines reflektierten Intellektuellen Gewicht, sei es in entschiedener Opposition zu den Vereinfachern bei gewissen Zeitgeist-Themen (zuletzt etwa der sogenannten Cancel culture) oder als engagierter Streiter für ein aufgeklärtes, Konflikte tolerierendes »gastliches Europa«.
Neben dieser politisch-publizistischen Präsenz ist Adolf Muschg aber vor allem ein – auch jenseits der achtzig – unvermindert produktiver Erzähler. Beinah alle zwei Jahre überrascht er mit einem meist umfangreichen Roman, und es zeigt sich, daß er sich und seinen Lesern nichts nachgibt. Muschgs Erzählen war immer anspruchsvoll, immer hochgradig vielschichtig und mehrdeutig. Es richtete sich, wenn nicht an die happy few, so doch an eine literarisch gebildete Leserschaft. Es geht eigentlich stets ums Ganze. Um das Leben mit seinen unaufhebbaren Widersprüchen und Ambivalenzen. Um Abgründe, dunkle defizitäre Seiten hinter der bürgerlichen Fassade.
Bei einer Annäherung an Adolf Muschg nimmt man am besten den Umweg über die Hypochondrie. Sie ist eine große Produktivkraft in seinem Werk wie in der Literatur überhaupt. Immanuel Kant nannte sie die »Grillenkrankheit« und Hugo von Hofmannsthal spricht von den Qualen eines »Gespensterkampfes«. Man denke auch an Thomas Mann oder an Italo Svevo und seinen Helden Zeno Cosini, der ständig damit beschäftigt ist, seine letzte Zigarette zu rauchen, überhaupt mit einer gewissen Angstlust an die letzten Dinge denkt und mit Mitte dreißig bereits sein Ende erwartet. Von diesem bekennenden Hypochonder stammt der Satz: »Die Krankheit ist eine Überzeugung. Ich wurde mit dieser Überzeugung geboren.«
Wenn es so ist, daß die Themen sich ihren Autor suchen und nicht umgekehrt, dann hat es nach Svevo wohl niemanden mehr so erwischt, hat die Hypochondrie wohl kaum einen treueren literarischen Sachverständigen finden können als Adolf Muschg. Wie Svevo ist auch er ein passionierter Ironiker. Wie die Hypochondrie sich der Krankheit als Maske, so bedient er sich der Maske der Ironie. Uneigentliches Leiden und uneigentliches Sprechen – das tertium comparationis liegt in der Dissimulation, in der Verstellungskunst. Unter einem Hypochonder versteht man für gewöhnlich jemanden, der sich Krankheiten einbildet. Ein eingebildetes Leiden. Sagen wir lieber: ein Leiden aufgrund von Einbildungskraft. Ein Druckgefühl in der Lendengegend, ein taubes Gefühl im Arm – das kann nur etwas Schlimmes sein. Der Hypochonder ist so durchdrungen vom Gefühl der Unhaltbarkeit des Lebens, daß er immer auf das Schlimmste gefaßt ist. Muschgs Figur Albisser zum Beispiel, der linksbourgeoise Jedermann der sechziger und siebziger Jahre und Protagonist des Romans »Albissers Grund« (1974), läßt nichts aus. Er ist von Kopf bis Fuß auf Schmerzen eingestellt, und von Kopf bis Fuß wird er auch untersucht. »Es brachte ihn jedesmal an den Rand einer Ohnmacht. Aber immer noch nicht an den Rand eines Befunds, obwohl sich ein Urologe einmal extra ein wenig ›Nierengries‹ einfallen ließ. Ein Stein wollte aber nicht draus werden. Erst, als nuklearmedizinische Praktiken aufkamen, gelang es, in der rechten Niere Albissers eine gewisse Unterleistung nachzuweisen. Von der lebte er eine Weile.«
Der Hypochonder »lebt« von seinen Symptomen wie der Kapitalist von seinen Schulden. Der Mensch mag sich eine »gewisse Unterleistung« infolge eines notorischen Leistungsdrucks, infolge zu hoch geschraubter Erwartungen und Ziele nicht eingestehen. Oder um es mit Muschg zu sagen, er kapituliert gleichsam vor einer »Über-Ich-Forderung« und flüchtet in die Krankheit, »die zugleich eine echte Zuflucht ist. Denn sie bringt die Schuld zum Schweigen, indem sie ein Organ für sie sprechen läßt, das zugleich die Not anzeigt und um Hilfe ruft.« (»Literatur als Therapie?«) Im Falle Albissers springt die Niere ein und entschuldigt ihn gewissermaßen. Dieser burleske Ironie-Ton des Romans ist eine reife Kulturleistung. Es hat den Autor, wie wir aus diversen Selbstzeugnissen wissen, einiges an leidvollen Erfahrungen gekostet, um diese Konversion in Komik leisten zu können. (»Cystoskopie, Gastroskopie, Bronchoskopie, Koloskopie waren eine Zeitlang beinahe mein tägliches Brot …«)
Der Schmerz ist also real, aber er ist auch ein Phantomschmerz. Denn da, wo er sitzt, sitzt nicht das Problem. Muschgs Protagonisten verhalten sich wie der Mann, der seinen verlorenen Hausschlüssel nachts vor der eigenen Haustür sucht, nicht weil er dort liegen könnte, sondern weil er dort Licht hat. Der Autor hat dieser Absurditätsmetapher in seinem Roman »Das Licht und der Schlüssel« manch fruchtbare Sinndeutung abgewonnen. Etwa die, daß wir »einander nicht unser wirkliches Leben (erzählen), sondern Geschichten, mit denen wir es besser zu ertragen glauben«.
Auch der hypochondrische Schmerz erzählt solche Geschichten. Der Druckschmerz, die Taubheit, die vorübergehende Lähmung, das Herzstechen. Tu etwas, laß dir etwas einfallen, sagt eine Instanz, die unerkannt bleiben möchte, zum Körper. Denn nur dieser, das sichtbare Leben und Leiden, wird in der sozialen Sphäre ernst genommen und gebührend beachtet in seiner ganzen theatralen Wandlungsfähigkeit. Der Hypochonder hat seit früher Kindheit gelernt: Wenn der Leistungs- und Erwartungsdruck zu groß wird, hilft nur die Flucht in die Krankheit. Im geschwächten Zustand wurde dem endlich umsorgten Kind die Zuneigung und Aufmerksamkeit zuteil, die ansonsten fehlte. Und so tummelt sich an den unschuldigen Organen des Hypochonders plötzlich das bunte Leben, das sonst so ängstlich eingesparte.
Damit sind wir beim Kern des Problems. Von diesem Verdacht, daß es ihnen an Leben fehlt, sind die sensiblen, introspektiv begabten Antihelden der Schweizer Literatur bis zur Tollheit durchdrungen. Das Lebensgefühl in diesem Land tendiert, will man der Literatur glauben, offenbar schon von Hause aus zum Hypochondrischen. Beinah seit die Schweiz existiert, gibt es den »Meister Niemand« – und Provinzialitätskomplex. Das bohrende Gefühl, sich gegen das Leben, indem man ihm ängstlich ausweicht, zu versündigen, lastet wie ein Atridenfluch auf dieser Literatur von Gottfried Keller bis Robert Walser, von Max Frisch bis Adolf Muschg. Wofür müssen sie so schwer büßen? Das fragen sich die Protagonisten unausgesetzt selber. *** Ein Hauch von Asche liegt in der Luft. Einen Geruch von »versäumtem Leben« will Zerutt, der Therapeut und Gegenspieler der Hauptfigur im Roman »Albissers Grund«, bei den Schweizern ausgemacht haben. Er selber versteht es auch nicht zu leben. Erst als er an der Kugel, die sein Klient auf ihn abfeuert, beinah krepiert, wachsen ihm übermenschliche Kräfte zu. In einer Besenkammer der Klinik, wo man ihn schon abgeschrieben hat, erfährt er so etwas wie eine Wiedergeburt. Mit der Hoffnung, daß es ihm endlich einmal gelingen möge zu leben, endet das Buch. Doch daraus wird nichts. Zerutt kehrt im übernächsten Roman zurück, als untoter Vampir ohne fühlbaren Puls, den drei Arztgattinnen mit ihrem Blut ernähren müssen. Dafür kann er gut erzählen und das Leben anderer bereichern und sogar verlängern.
Oft greift der Autor wie ein Notarzt – oder wie ein Zenmeister – beherzt ein und führt eine heftige Erschütterung herbei, damit Leben und Bewußtsein in seine Figuren zurückkehren. Er muß Gewalt anwenden. Nicht selten läßt er von der Schußwaffe Gebrauch machen, damit ein neurotisch Gehemmter endlich aus sich herauskann. Von Albisser heißt es, nachdem er dem Therapeuten einen Lungendurchschuß verpaßt hat: »Das war das Gesunde an Albissers Krankheit, (…) daß er sich mit dieser negativen Diagnose nicht zufriedengab. Er hat Glück gehabt, daß er auf Zerutt geschossen hat. Daß er es endlich fertiggebracht hat, auf jemand anders zu schießen.« Albisser hatte immer wieder leidvolle Erfahrungen mit Ärzten machen müssen. Sie laborieren herum, schneiden ihn auf sein Drängen hin auf und finden notorisch: nichts. Albisser will aber, daß da etwas ist. Der boshafte Zerutt konnte, als er Albisser auf den Grund schaute, aber auch nichts finden außer mangelhaftem Leben und Ersatzwirtschaft, was ihn teuer zu stehen kam.
Dieses »Nichts« ist ein schwerwiegender, ein unbekömmlicher Befund. Auch bei Italo Svevo spielt es eine tragende Rolle. Seinem Held Nitti, diesem inetto, sprich: Lebensuntauglichen in dem Roman »Ein Leben«, setzt es existentiell zu, wie schon sein sprechender Name bezeugt: Nichts, niente. Ihn und all die untragisch-traurigen, in der Masse verlorenen Romanfiguren des 19. Jahrhunderts graust es vor der Unendlichkeit dieses Nichts wie den Nachtwächter in den »Nachtwachen des Bonaventura«, einem Bravourstück vormoderner Literatur. Es liest sich wie das Krankenblatt des modernen Hypochonders mit seinen vagabundierenden Phantomschmerzen: »Da fliehen die Masken vorüber, die Empfindungen, eine verzerrter wie die andere … Schmerz, laß dir fest ins Auge schauen, warum erscheinst du mir! Auch er ist schon vorüber. Gebt mir einen Spiegel, ihr Fastnachtsspieler, daß ich mich selbst einmal erblicke – es wird mir überdrüssig, nur immer eure wechselnden Gesichter anzuschauen. Wie? Steht kein Ich im Spiegel, wenn ich davor trete? (…) Hu! Das ist ja schrecklich einsam hier im Ich, (…) nirgends Gegenstand, und ich sehe doch – das ist wohl das Nichts, das ich sehe!«
Beinahe wie ein Echo auf Jean Pauls »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei« oder wie die vorweggenommene Vision Nietzsches vom »tollen Menschen« nach dem Tod Gottes klingt diese Passage. Wie das Protokoll einer gleichsam transzendentalen posttraumatischen Belastungsstörung. Den Nachtwächter graust es vor den Phantomen wie später in Guy de Maupassants Phantasmagorie »Le Horla« den Erzähler beim Blick in den Spiegel. Der Spiegel ist leer, sein Bild ist daraus verschwunden. Für eine narzißtische Gesellschaft kann es keine größere Kränkung geben. Daß der Himmel leer ist, kann sie gut verkraften. Aber das auf sich selbst zurückgeworfene Subjekt füllt diese Leerstelle nicht aus, es erlebt sich als haltlos und defizitär. Dafür mag die Hypochondrie, dieses blinde Ausagieren der Angst vor der eigenen Nichtigkeit, ein Zeichen sein.
Der zappelnde Neurotiker Albisser ist auch heute noch repräsentativ für die abstiegsgefährdete bürgerliche Mitte. Er wollte sich und die Gesellschaft verändern. Doch dann: nichts. Die Revolution fand nicht statt. Nur dieses Hangeln von Symptom zu Symptom, diese Kunstanstrengung namens Neurose und das Schönerwohnen im Gerede. Muschg hat das Kollektiv-Ich in Albisser – und beileibe nicht nur in dieser Figur – gleichsam psychoanalysiert. Die Hypochondrie, so seine Expertise, ist ein schriller physischer Alarm, der eine Überanstrengung und narzißtische Kränkung anzeigt. Da ist etwas Heilloses, peinlich Ungenügendes, das doch im Innersten die Gesellschaft zusammenhält. Denn auch das schnelle tagespolitische Hüpfen von Thema zu Thema, von Skandal zu Skandal trägt – die Metapher drängt sich förmlich auf – auffallend hypochondrische Züge. Kein Thema, das nicht schon auf der Beschwerdeliste gestanden hätte, um nach kurzer Debatte von einer neuen Aufregung abgelöst zu werden, die genauso folgenlos bleibt. So kreuzen sich die Fluchtlinien in unseren Feuilletons, in den Talkshows, in Beziehungsgesprächen, im Parlament und konvergieren in der Suggestion der Zeitgenossen: Es wird wohl nichts Ernstes sein. Das Agenda-Karussell gesellschaftlicher Erregungsthemen oder die Winkelzüge der Symptomverschiebung als Surrogat libidinöser Wunscherfüllung – in beiden Fällen handelt es sich um Scheinbewegungen zum Zwecke der Beibehaltung eines etablierten Status quo.
Gegen die Hypochondrie ist kein Kraut gewachsen, es sei denn: die Ironie. Wenn die Hypochondrie das zugespitzte Empfinden für die Hinfälligkeit der Person ist, so ist die Ironie das luzide Wissen um die Hinfälligkeit aller Sätze und Setzungen, die Einsicht in die grundlegende Kontingenz und Unhaltbarkeit aller »abschließenden Vokabulare« (Richard Rorty). Die Ironie hat in einer säkularisierten Welt gleichsam den Blick von oben auf das irdische Treiben übernommen (um Jean Paul leicht abzuwandeln, der diese Rolle allgemein dem Humor zuerkannte). Sie verschafft sich einen Überblick und kommt zu dem Schluß: die Lage ist vielleicht hoffnungslos, aber nicht ernst. Mit dieser verläßlichen Grundskepsis ist das Erzählen bei Adolf Muschg imprägniert. Er sorgt dafür, daß alles Gesagte im Subtext unterwandert, jeder Spruch im Widerspruch gespiegelt wird. Vielleicht gerade weil er ein so eleganter, bis zur Redseligkeit eloquenter, geständnisinniger Erzähler ist, mißtraut er der Magie der Wörter, die gern so tun, als seien sie schon die Dinge selber; und läßt sich andererseits kaum eine Mehrdeutigkeit, kaum ein schillerndes Paradox entgehen, wo die Sprache selbst dies auf dem Wege begrifflicher Offenheit anbietet. Sätze können erst dann Wahrheit beanspruchen, wenn auch ihr Gegenteil wahr ist.
Die Literatur ist eine sehr ökonomische Angelegenheit. Sie braucht nicht Tausende Probanden, um etwas herauszufinden, was wir als signifikant oder wenigstens als evident bezeichnen. Es bedarf nur eines Autors, der das experimentum crucis mit sich selber anstellt. Für einen genuinen Schriftsteller kann das Leben nur dort wahrhaft glücken, wo es im Eigentlichen stattfindet: in seinem Schreiben. Seine dem Verdacht des Ungenügens und Mißlingens ausgesetzte Vita erleidet den Mangel nicht zuletzt infolge seiner Profession, die dem eigenen Leben alle Energie vampirhaft aussaugt und entzieht: das Thema des Künstlerromans von E.T.A. Hoffmann bis Thomas Mann, von Nabokov bis Adolf Muschg, dessen Novellen und Romane diese Dialektik zwischen Leben und Schreiben immer mitverhandeln.
[...]SINN UND FORM 3/2022, S. 406-418, hier S. 406-411
Noll, Chaim
»Aus barer organischer Bedürftigkeit«. Die Wüste als Indikator menschlicher Intelligenz, S. 419Zeller, Michael
Alter europäischer Boden. Der ukrainische Erzähler Wladimir Korolenko, S. 423Der ukrainische Erzähler Wladimir Korolenko Es fing damit an, daß eine Freundin wegen eines Wohnungsumzugs ihre Bücherregale durchforstete. Unter (...)
LeseprobeZeller, Michael
Alter europäischer Boden. Der ukrainische Erzähler Wladimir Korolenko
Der ukrainische Erzähler Wladimir Korolenko Es fing damit an, daß eine Freundin wegen eines Wohnungsumzugs ihre Bücherregale durchforstete. Unter den aussortierten Büchern fielen mir zwei Auswahlbände in die Hände, »Russische Erzähler« hieß der eine, »Klassische Erzählungen Rußlands« der andere. Sie waren älteren Datums und fast ohne Lesespuren. In beiden Bänden entdeckte ich Geschichten von Wladimir Korolenko. Das überraschte mich. Denn die »Staatliche wissenschaftliche Bibliothek« der ostukrainischen Stadt Charkiw, in der ich schon mehrfach aus meinen Büchern gelesen habe, ist nach eben diesem Wladimir Korolenko benannt. Das konnte ja wohl nur heißen, daß auch dieser als russisch geltende Schriftsteller ein Ukrainer gewesen sein muß. Zu Hause begab ich mich gleich auf die Spur dieses Korolenko, von dem ich noch keine Zeile gelesen hatte. Zum Glück fand ich noch zwei weitere ins Deutsche übersetzte Titel, auch sie schon einige Jahrzehnte alt: den Erzählband »Der Wald rauscht« von 1954 und den Erinnerungsband »Die Geschichte meines Zeitgenossen« von 1985 – zusammen immerhin tausend Seiten, genug, um mir von diesem Autor einen Eindruck zu verschaffen.
Korolenkos gesamtes literarisches Werk ist auf russisch geschrieben, wie das zu seinen Lebzeiten (1853 bis 1921) der politischen Lage seines Landes entsprach. Die russische Sprache war für die Schriftsteller aller unter dem Zaren vereinten Völker verpflichtend. Der Gebrauch des Ukrainischen etwa war seit 1863 gesetzlich verboten. Die Autoren mußten auf russisch schreiben und galten, selbst wenn sie ganz andere Wurzeln hatten, als russische Autoren. Gerade auch im Ausland, und zwar bis heute. Wenn ich im Gespräch erwähne, daß Nikolai Gogol Ukrainer war, ernte ich auch bei belesenen Landsleuten Erstaunen. Gleiches gilt für zahlreiche bildende Künstler oder Filmschaffende. Es ist ein sehr unsicherer Boden, auf dem man sich dabei bewegt, besonders als Ausländer, aber es ist wichtig, ihn zu betreten. Denn es ist alter europäischer Boden und man sollte nicht völlig ahnungslos darauf herumirren. Die Geschichten, die Wladimir Korolenko erzählt (ich kann nur über die ins Deutsche übersetzten Titel seines umfangreichen Werkes sprechen), sind in der kultivierten Sprache des späten 19. Jahrhunderts geschrieben. So erzählte man damals in Europa: in Frankreich, England, Skandinavien, Italien, Deutschland, Österreich, der Schweiz. »Der blinde Musiker« ist 1886 zum ersten Mal auf russisch erschienen und wurde schon 1891 ins Deutsche übersetzt.
Die Handlung spielt, wie es mehrfach heißt, »im südwestlichen Rußland«. Heute würden wir Ukraine dazu sagen. Doch der Begriff Ukraine taucht im Text nur auf, wenn es um die Vergangenheit oder um Landschaftsbeschreibungen geht. In diesem »südwestlichen Rußland« wächst der Junge Petr heran, in der ländlichen Natur eines Gutshofs, in wohlhabenden Verhältnissen. Das Kind ist blind. Neben der liebevollen, musischen Mutter spielt vor allem der Onkel Maksim eine wichtige Rolle. Dieser Onkel war in seiner Jugend ein Haudegen, der in seiner Heimat keinem Streit und keinem Duell aus dem Weg ging. Als es ihm dort zu eng wird, zieht er nach Italien und schließt sich den Truppen Garibaldis an, um mit ihm für die nationale Einheit des Landes zu kämpfen. Dabei 424 Umschau wird er verwundet und kehrt, ein Krüppel auf zwei Krücken, aufs Familiengut zurück. Dort setzt der Invalide sich zur Ruhe, liest Bücher, denkt nach, hat ein Auge auf seinen blinden Neffen. Die Mutter spielt auf einem Wiener Flügel das klassische Repertoire ihrer Zeit. Doch der blinde Junge wird immer öfter abgelenkt von Klängen aus dem nahen Pferdestall: Lieder, die der Knecht Jochim abends auf seiner Hirtenflöte spielt. »Das Wiener Instrument erwies sich als ohnmächtig gegen das Stückchen ukrainischen Weidenholzes (…) Das Geheimnis dieser Poesie bestand in der wundersamen Verbundenheit einer schon lange untergegangenen Vergangenheit mit der ewig lebendigen und ewig zum menschlichen Herzen sprechenden Natur, die die Zeugin jener Vergangenheit war.« Auch die Mutter wird von der Musik des Pferdeknechts berührt. Und »bald waren es nicht mehr gekünstelte, bravouröse Virtuosenstücke, die unter ihren Fingern hervorgingen, sondern stille Lieder und schwermütige ukrainische Volksweisen; sie durchtönten klagend das dämmrige Zimmer und erweichten und beschwichtigten das Herz« der Zuhörenden. Dafür, seinen Neffen ins gesellschaftliche Leben einzufühen, ist Onkel Maksim verantwortlich. Dazu lädt er seinen Kriegskameraden Stawrutschenko ein, einen knorrigen Alten, der wiederum zwei seiner Söhne mitbringt, beide Studenten. Unter der akademischen Jugend ist in Rußland um 1880 gerade die Bewegung »Liebe zum Volk« populär. »Die jungen Leute notierten sich Redensarten und Sprichwörter, schrieben sich Volksmelodien auf, beschäftigten sich mit Sagen und Märchen, verglichen die historischen Tatsachen mit ihrer Widerspiegelung im Volksbewußtsein.«
Auch die Ukraine ist von dieser Bewegung erfaßt. »Mit gerötetem Gesicht und blitzenden Augen« vertieft sich der Philologiestudent begeistert »in den Charakter des heimischen«, also ukrainischen »Volkes«. Erstaunlich, daß der Erzähler sich davon distanziert. Ironisch merkt er an, daß die engagierte Jugend sich ihre Kenntnisse überwiegend aus Büchern holt. Noch härter geht der alte Haudegen Maksim mit dieser Jugendmode ins Gericht. Er, der an der Seite Garibaldis für die Staatsgründung Italiens gefochten hat, scheint keine Sekunde an ein vergleichbares Projekt in seiner Heimat zu denken. Daß es zu einem ukrainischen Volksaufstand kommen könnte, liegt außerhalb seiner Vorstellungskraft: »Auch ich habe irgendwann einmal von Schlachten, von ihrer wilden Poesie und von schrankenloser Freiheit der Kosaken geträumt, doch ich bin von alledem geheilt worden. Ich begriff, daß die Geschichte diesen ganzen Plunder zum alten Eisen geworfen hatte.« Dieses Fazit zieht der alte Kriegsveteran vor den beiden jungen Leuten »mit einer gewissen nüchternen Gewichtigkeit«. »›Und was bleibt dann für uns zu tun übrig?‹ fragte ihn der Student nach einem langen Schweigen. ›Der gleiche ewige Kampf.‹ ›Wo? Wofür? In welcher Form?‹ ›Sucht nur!‹ antwortete Maxim kurz.« Damit endet in der Erzählung das Gespräch. Dieses Offenlassen jeder Zukunftsmöglichkeit irritiert mich. Und nicht nur in der Literatur. Es hat mich in der Ukraine immer wieder vor unlösbare Fragen gestellt, in allen möglichen Situationen, gerade wenn es um politische Zustände der Gegenwart ging, die ja, wie überall auf der Welt, ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben. Die Musik wird dem jungen Blinden in der Erzählung zur Lebensbestimmung. Petr geht nach Kiew, zum Studium bei einem angesehenen Pianisten. Es ist natürlich die zeitgenössische Musik des europäischen Salons, wie sie ihm seine Mutter Anna Michailowna auf ihrem Wiener Flügel vorgespielt hat. Doch wichtiger mögen die einfachen Lieder aus dem Pferdestall gewesen sein. Nach drei Jahren ist der Pianist so weit, sein erstes öffentliches Konzert zu geben. Natürlich findet es im ukrainischen Kiew statt, nicht im sonst üblichen Petersburg. Petrs Improvisationen zeugen »von einem innigen Gefühl für die heimatliche Natur, von einer feinsinnigen und originellen Verbundenheit mit den Urquellen der Volksmusik. Farbenreich, geschmeidig und wohltönend ergoß sie sich wie ein rauschender Bach, erhob sich zu einer feierlichen Hymne und verströmte in schwermütigen Gesängen. Es war manchmal, als jage ein Sturm durch die Himmel dahin und als donnere es in den endlosen Räumen, dann wieder schien ein sanfter Steppenwind in den Gräsern zu spielen und wirre Erinnerungen an längst Vergangenes heraufzubeschwören.«
Muß es einen nach diesem Loblied auf die ukrainische Volksmusik nicht wundern, daß es noch 1970 in Kindlers Literaturlexikon heißt, der junge Pianist beweise »eine überragende musikalische Begabung, die er aus der eingehenden Kenntnis der russischen Volksmusik schöpft«? Diese Vertauschung der Ukraine mit Rußland und Rußlands mit der Ukraine zieht sich fast durch die gesamte westliche Literatur, zumal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
***
»Die Geschichte meines Zeitgenossen« ist der fast sechshundert Seiten umfassende Erinnerungsbericht einer Kindheit. Er reicht vom fünften Lebensjahr des Knaben (1858), als der junge Zar Alexander II. Korolenkos Geburtsstadt Schitomir besucht, bis zur letzten Schulprüfung, die der Siebzehnjährige abzulegen hat (1870). Aufschlußreich dürfte für einen Mitteleuropäer auch die Gegend sein, in der das Buch spielt: das Grenzgebiet von Rußland, Ukraine, Polen. Die jahrhundertelangen geschichtlichen Verwerfungen lassen sich kaum mehr auflösen und mögen selbst den überfordern, der dort aufgewachsen ist – und Anlaß geben zu Gewalt und Auseinandersetzungen. Das ukrainische Schitomir liegt damals (noch nicht allzu lange) auf russischem Staatsgebiet. Sein Vater arbeitet dort, im Dienst des Zaren, als Kreisrichter. Er ist gebürtiger Ukrainer, stammt aus einer alten Kosakenfamilie, seine Frau ist Polin. In der Familie wird Russisch und Polnisch gesprochen, gebetet wird auf ukrainisch und polnisch. Polnisch geführt ist auch das Pensionat, wo der Junge auf deutsch und französisch unterrichtet wird. Später im Gymnasium sind seine Lehrer Russen, Ukrainer, Polen, jeder mit einem sehr persönlichen Bezug zu seiner Nationalität. Als vierte große Volksgruppe der Region wären noch die Juden zu nennen. Doch sie spielen bei Korolenko nur eine untergeordnete Rolle. Eine kleine Episode aus dem Schulalltag des Protagonisten um 1860: »Gleich zu Beginn des Unterrichts nahm Herr Butkewitsch die Schülerliste vor und begann laut die Namen zu verlesen. Dabei frug er immerfort: ›Pole? Russe? Pole? Pole?‹ Endlich kam er auch an meinen Namen. ›Russe‹, antwortete ich. Butkewitsch richtete seine munteren Äuglein auf mich und sagte: ›Das schwindelst du, Brüderchen.‹ Ich wurde sehr verlegen und wußte nicht, was ich antworten sollte. Nach der Stunde kam Butkewitsch auf mich zu, fuhr mit den Fingern scherzhaft durch mein Haar, bog meinen Kopf zurück und sagte: ›Du bist kein Moskowiter, sondern ein Kosakenenkel und -urenkel, aus einem freien Kosakengeschlecht, verstanden?‹ ›Ich verstehe‹, stotterte ich, obwohl ich, wie ich gestehe, herzlich wenig verstand und verwirrt war. Übrigens übte das Wort vom ›freien Kosakengeschlecht‹ eine undefinierbar verlockende Wirkung auf mich aus.« 426 Umschau 1863 fand einer von mehreren polnischen Aufständen gegen die russische Besatzungsmacht statt. Natürlich zeigte er auch im ukrainischen Schitomir mit seinem hohen polnischen Bevölkerungsanteil Wirkung. Nach einem Gespräch mit der (polnischen) Mutter ruft der (ukrainische) Vater Korolenko seine beiden Söhne ins Zimmer und schärft ihnen ein: »Hört, Kinder, ihr seid Russen, und von heute ab habt ihr Russisch zu sprechen.«
Auch in Schitomir setzt nach dem Aufstand eine rigorose Russifizierungspolitik ein, mit Denunziationen, Verhaftungen, Hausdurchsuchungen. Vermögen werden eingezogen, Prozesse gegen alle »Verdächtigen« geführt. Die drei erwachsenen Söhne der polnischen Nachbarfamilie der Korolenkos werden nach Sibirien verschleppt. Die alten Eltern geben daraufhin ihren Betrieb auf und verlassen die Stadt. Deutlicher wird der Erzähler selten, um die Willkürherrschaft im zaristischen Rußland anzuprangern. 1863 ist, wie gesagt, auch das Jahr, in dem Ukrainisch als Sprache verboten wird. Äußerst aufschlußreich in dem Buch ist auch Korolenkos Auseinandersetzung mit dem bis in unsere Tage hochverehrten ukrainischen Dichter Taras Schewtschenko. In fast jeder Stadt des Landes steht seit 1990 ein Standbild Schewtschenkos, in Erz oder Stein. Seine Liedersammlung »Kobsar « genießt geradezu kultische Verehrung, auch weil der Autor der ukrainischen Sprache treu geblieben ist (und dafür jahrelang im Gefängnis saß). Auch Korolenko wagt es nicht, an diesem Nationaldenkmal zu kratzen, doch sein Lob klingt eher reserviert, wofür er schon zu Lebzeiten von seinen Landsleuten kritisiert wurde: »Der Grundton der ganzen Poesie Schewtschenkos ist doch die tiefe Trauer um die Vergangenheit, eine Trauer, die sich in vage Träumerei über etwas Unerreichbares und Verworrenes verliert, wie das Raunen des Steppenwindes über einem alten Kosakengrab.«
Man fühlt sich an die Worte Onkel Maksims aus dem »Blinden Musiker« erinnert … Eine solche Stimmung entspricht keineswegs dem Ideal der Literatur, der Korolenko sich verpflichtet weiß. Er bekennt sich zwar zu seiner Anfälligkeit für die »ukrainische Romantik« mit ihrer »nationalen Stimmung«. Doch viel nachdrücklicher habe die russische Literatur auf seinen jugendlichen Geist gewirkt: »Nekrassows Gedichte, Turgenjews Erzählungen atmeten den Hauch lebendigster Wirklichkeit, die uns unwiderstehlich packte.« Aus ihnen blicke der »russische Intellektuelle mit seinen Gewissensqualen und seinem Herzensdrang hervor, richtiger: mit meinen Gewissensqualen und meinem Herzensdrang «. So der Siebzehnjährige, als er 1870 die Schule und das Dreiländereck Rußland, Ukraine, Polen verläßt. Mit seinen »drei ›Nationalismen‹«, von denen jeder auf seine »Seele Anspruch erhob und ihr die Verpflichtung aufdrängen wollte, jemanden zu hassen und zu verfolgen«, tritt der junge Mann seinen Weg ins Erwachsenenleben an. Aus dieser Entscheidungsenge, in die er sich hineingedrängt sieht, will er sich befreien. Und er schafft es mit Hilfe der Literatur: »Meine Seele mit dreierlei nationaler Abstammung fand endlich ihre geistige Heimat – die russische Literatur. « In dieser Sprache fängt Wladimir Korolenko an, literarisch zu schreiben, und in dieser Sprache wird er sein Lebenswerk schaffen. Ein Autor kann das nur in einer Sprache. Aber nicht jeder muß sich für eine und gegen eine andere entscheiden. Mit allen Konsequenzen, literarischen und vor allem auch politischen. Als Korolenko die »Geschichte meines Zeitgenossen« verfaßt, ist er längst wieder in seine ukrainische Heimat zurückgekehrt (nach Poltawa, woher Gogol stammt). Er ist wohl auch müde geworden von den publizistischen Kämpfen in Petersburg, wo er den größten Teil seines Lebens verbracht hat. Umschau 427 Viele Jahre, bald ein Jahrzehnt, war er in der Verbannung, unter anderem drei Jahre im sibirischen Urwald, bei Wintertemperaturen zwischen minus vierzig und fünfzig Grad. Manche seiner Erzählungen wurden im Gefängnis verfaßt. Ab 1895 vernachlässigt Korolenko das literarische Schreiben zugunsten politischer Publizistik. Es gibt vieles anzuklagen im Regime des Zaren (Pogrome, Folter, Standgerichte, Todesstrafen). Immer wieder muß er sich für seine Artikel vor Gericht verantworten. Und auch gegen die Massenerschießungen des neuen Sowjetregimes wird er, erfolglos, seine Stimme erheben. In seinen letzten Lebensjahren läßt er die politischen Auseinandersetzungen hinter sich. Er versenkt sich schreibend in seine Kindheit und erzählt die »Geschichte meines Zeitgenossen«.
***
In Rosa Luxemburg findet Korolenko eine bestens geeignete Übersetzerin. Wie er ist sie im zaristischen Rußland groß geworden, in ihrem ausführlichen Nachwort zeigt sie sich als ebenso kompetente wie glühende Verehrerin der russischen Literatur. Und noch etwas eint die beiden: So wie Korolenko im zaristischen Rußland in die Verbannung geschickt wurde, so hatte auch Luxemburg im deutschen Kaiserreich eine reiche Gefängniserfahrung. Nach abgesessener einjähriger Haft wurde sie 1916 gleich wieder in »Schutzhaft« genommen, denn der Erste Weltkrieg war ausgebrochen und eine Kommunistin galt als öffentliche Gefahr. Die meiste Zeit war sie im Staatsgefängnis Breslau eingesperrt. Um sich in ihrer Zelle geistig zu betätigen, begann sie mit der Übersetzung von Korolenkos »Geschichte meines Zeitgenossen«. Für diese »Selbstbeschäftigung« mußte sie sogar zahlen, monatlich sechzig Mark. Erst am Kriegsende, im November 1918, kam Rosa Luxemburg wieder frei. Da waren Übersetzung und Nachwort gerade abgeschlossen und gingen an den Verlag. Doch das im Sommer 1919 fertige Buch erlebte die Übersetzerin nicht mehr. Im Winter war sie umgebracht worden. In deutscher Sprache liegen von Wladimir Korolenko die zwei Bände Erzählungen (er hat ausschließlich Erzählungen verfaßt) und seine Kindheits- und Jugenderinnerungen vor. Es sind vor allem stimmungsvolle Naturbeschreibungen, die den Charakter dieser Prosa prägen, und Darstellungen der Menschen, die in dieser Natur leben. Immer schwingt bei diesem Erzähler Sympathie für die Schwachen und Benachteiligten mit, doch völlig unaufdringlich, ohne jede Ideologie. Rosa Luxemburg nennt das Korolenkos »fein vibrierendes soziales Gewissen«, sein »schmerzlich zuckendes Mitfühlen«. Kundigere Leser als ich, die sein gesamtes Schaffen kennen, haben gerade darin sein ukrainisches Erbe erkennen wollen. Sein Übersetzer Bruno Goetz hat 1954 eine schöne Erklärung dafür gefunden, die mir sofort einleuchtete: Korolenko habe zwar alle seine Bücher auf russisch geschrieben und sei im großrussischen Sprachraum und in der großrussischen Intelligenz zu Hause gewesen, doch seine ukrainischen Wurzeln verliehen »seinem Schaffen einen unnachahmlichen Charme und eine helle, unmittelbare Kindhaftigkeit und Lebensfrömmigkeit. Es ist der Geist des slawischen Südens, der immer wieder bei ihm durchbricht und uns beglückend und befreiend mit seinem leichteren Atem anhaucht.« Wenn das stimmt, ehrt sich die »Staatliche Wissenschaftliche Bibliothek« von Charkiw zu Recht mit seinem Namen.SINN UND FORM 3/2022, S. 423-427
Rundell, Katherine
Der Lemur, S. 428
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4/2022
Heft 4/2022 enthält:
Detering, Heinrich
Könige und Communismus. Eine Erinnerung an Bettine von Arnim 437, S. 437Rosenlöcher, Thomas
Mäandertal, S. 450Görner, Rüdiger
»Ich beginne zu wollen, was ich bin« Zum Werk von Clemens Eich, S. 453Aichinger, Ilse
Notizen zum Werke Felix Hartlaubs. Mit einer Vorbemerkung von Andreas Dittrich und Jannis Wagner, S. 463Bartsch, Wilhelm
Die Zukunft geht am Stock. Gedichte, S. 470Eich, Günter
Alte Wolfsfährte. Hörstück. Mit einer Nachbemerkung von Roland Berbig, S. 479Koziol, Andreas
Vom Nebel verschlungen. Gedichte, S. 484Jäger, Lorenz
Henri Bergsons Familie, S. 489Killert, Gabriele Helen
Neue Xenien. Gedichte [Gabriele Helen Killert, Kornelia Koepsell, Kerstin Hensel, Dirk von Petersdorff], S. 497Davis, Lydia
Proust im Schlafzimmer, S. 500Wagner, Jan
Python. Gedichte, S. 512Wajsbrot, Cécile
Ein Gespräch mit Juan Allende-Blin übers Komponieren, über Literatur und Exil, S. 516Beckford, William
Reise durch die Vereinigten Provinzen und das Rheinland im Jahre 1780, S. 522Heinemann, Elke
Versuch über William Beckford im Jahr 2022, S. 534Lambrou, Thanassis
Auf dem Hochseil. Gedichte, S. 540Harman, Mark
Borges’scher als Borges? – Joyce, Borges und das Übersetzen, S. 542Schöttker, Detlev
Ernst Jüngers Leser in Buenos Aires. Jorge Luis Borges und die erste Übersetzung der »Stahlgewitter«, S. 549Raddatz, Fritz J.
Besuch bei Katia Mann und Gespräche mit Lou Eisler-Fischer, Charlott Frank und Walter Mehring. Mit einer Nachbemerkung von Joachim Kersten, S. 552Ernst, Rudolf
Die verlorene Mitgift der Tony Buddenbrook, S. 559Fontane, Martha
»Für Papa ist es sehr nöthig, daß er heraus kommt« Ein Brief an Anna Witte. Mit einer Nachbemerkung von Regina Dieterle, S. 562