Recherchierbar sind hier alle Beiträge von heute zurück bis einschließlich 1949.
Bestellbar sind, sofern nicht anders vermerkt, alle Hefte der letzten Jahre bis einschließlich 1992.
-
1/2018
Heft 1/2018 enthält:
Prischwin, Michail
»Glücklich unsere Erben, die unsere Zeit nur lesen werden.« Aus dem Tagebuch 1930. Mit einer Vorbemerkung von Eveline Passet, S. 5Vorbemerkung Ich kann der Gesellschaft nur aus einem Abstand zu ihr in versunkenem Nachdenken nützlich sein.
1. Juni 1928 Wie soll man (...)LeseprobePrischwin, Michail
"Glücklich unsere Erben, die unsere Zeit nur lesen werden." Aus dem Tagebuch 1930. Mit einer Vorbemerkung von Eveline Passet
Vorbemerkung
Ich kann der Gesellschaft nur aus einem Abstand zu ihr in versunkenem Nachdenken nützlich sein.
1. Juni 1928Wie soll man dagegen sein! Nur ein Verrückter kann sich unter die Lawine stellen und denken, daß er sie aufhält. Mir vormerken: In ein Umfeld gehen, wo aufgebaut und an etwas geglaubt wird.
28. Oktober 1929Die Revolution beraubt den Menschen seines individuellen Schicksals.
24. Dezember 1930Michail Prischwin (1873 –1954) ist dem Leser, in Rußland wie jenseits seiner Grenzen, vor allem als Kinderbuchautor bekannt und als "Sänger der russischen Natur" – ein Titel, den er Maxim Gorki verdankt. In den deutschen Sprachraum vermittelte ihn als erster Alexander Eliasberg, der 1914 im Münchener Georg Müller Verlag eine Auswahl früher Erzählungen vorlegte. Den Kulturvermittlern in der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR galt Prischwin, da offiziell zwar anerkannt, doch ideologisch wie stilistisch fern jedem sozialistischen Realismus, als probater Autor, um das deutschsprachige Publikum an die Sowjetliteratur heranzuführen; allerdings betrieb kein Verlag in Ost oder West kontinuierliche Werkpflege. In der DDR erschien noch das eine oder andere, meist aber wurde bereits Übersetztes neu herausgebracht. Prischwins einziger Welterfolg war und blieb "Ginseng. Die Wurzel des Lebens", verfaßt 1932 / 33, erstmals erschienen 1934. Daß es einen zweiten – gleichwohl vom Naturschilderer nicht zu trennenden – Prischwin gibt, den Beobachter und Bedenker der Menschen und des Menschengemachten, entging der Öffentlichkeit. Und es mußte ihr entgehen: Der Autor, der seit 1905 Tagebuch schrieb, tat dies ab 1917 im verborgenen, auch im engsten Umfeld wußte bis zuletzt nur seine zweite Frau davon. Eine einbändige, thematisch geordnete Auswahl ohne Datumsangaben, die 1960 unter dem Titel "Nesabudki" (Vergißmeinnicht) erschien, konnte nicht – und durfte wohl auch nicht – das tradierte Bild korrigieren. Möglich machte dies erst die Perestrojka: Zwischen 1991 und 2017 wurden Prischwins Tagebücher in 18 Bänden mit mehr als 13 000 kleingedruckten Seiten ediert. Sie umfassen drei russische Revolutionen, den Großen Terror, den Zweiten Weltkrieg, das erste Jahr nach Stalins Tod und bilden ein Mosaik aus Alltagserlebnissen, Begegnungen mit berühmten Persönlichkeiten wie einfachen Menschen, aus Betrachtungen zu Literatur, Religion, Politik, Philosophie, aus Träumen und Selbstbeobachtungen, Naturschilderungen, Briefkonzepten, literarischen Entwürfen, Haushaltsfragen, Überlegungen zur Beziehung der Geschlechter etc. Vor allem aber verzeichnen die Tagebücher immer wieder kleine und kleinste Mutationen des politisch-gesellschaftlichen Lebens und deren Niederschlag im Alltag, im Individuum, im Zwischenmenschlichen, in der Sprache. Dieses gigantische diaristische OEuvre entsprang dem Willen, den eigenen Blick, das eigene Fühlen und Denken, die eigenen Wertvorstellungen, die eigene Sprache freizuhalten von den Korruptionen, denen viele aus mangelnder Widerstandskraft oder aus Angst erlagen – oder zu denen sie durch ihren Glauben an die Revolution verführt wurden. Auch Prischwin gelang es nicht, von den politischen und sprachlichen Topoi des neuen Regimes gänzlich unberührt zu bleiben. So notiert er am 14. November 1930: "Sechs Jahre habe ich an der ›Kette des Kaschtschej‹ [einem autobiographischen Roman] geschrieben in der Hoffnung, unser Land stünde vor einer Wiedergeburt, die ich als einträchtiges gemeinsames Schaffen eines guten Lebens verstand. Mein Vorgefühl hat mich getrogen, wie sich zeigt, ist der Weg bis zu einem ›guten‹ Leben in freiem Schöpfertum noch weit (…)" Zugleich endet der Eintrag mit der Feststellung, daß ihm "die ›Notwendigkeit‹ mit ihrem Realismus " jetzt näher sei "als die ›Freiheit‹ mit ihrer Illusion und Romantik".
In den Jahren der Leninschen "Atempause" (der Neuen Ökonomischen Politik) und noch 1928 erlaubte sich Prischwin bei aller abständigen Skepsis Hoffnung. Es ist das Jahr, in dem der erste Fünfjahrplan zur Förderung der Wirtschaft in Kraft tritt, die Zeitschrift "Oktjabr" Scholochows "Der stille Don" und Ilf und Petrows "Zwölf Stühle" abdruckt, der wie Grigori Sinowjew und Dutzende andere linke und rechte Oppositionelle aus Politbüro und Partei ausgeschlossene Lew Trotzki nach Alma-Ata verbannt wird, Sergej Eisensteins Film "Oktober" in die Kinos kommt und Maxim Gorki nach siebenjähriger Abwesenheit erstmals wieder sowjetischen Boden betritt. Von Prischwin erscheinen die Bände 3 bis 6 einer auf sieben Bände angelegten Werkauswahl, die, noch ehe der letzte Band herauskommt, 1929 in die 2. Auflage geht. Seine immer wieder aufkeimende Hoffnung auf eine bessere Zukunft verdankt sich seinem früh in einer persönlichen Krise erworbenen Credo der Lebensbejahung, auch dann, wenn Wirklichkeit und persönliche Verzweiflung eher dessen Verneinung nahelegen (Suizid gedanken begleiten ihn bis ins Jahr 1940). Dem augenscheinlich Bösen, Katastrophischen, Sinnlosen einen Sinn abgewinnen, es nicht als das Äußere, Überwältigende, Andere zu betrachten, sondern es als Teil der eigenen lebensweltlichen Wirklichkeit durch teilhabende Beobachtung und distanzschaffendes Schrei ben ins tägliche Dasein zu integrieren – diese Haltung half ihm bereits, die Bürgerkriegsphase zu überstehen. Nach einem zweiwöchigen Gefängnisaufenthalt – man hatte ihn zusammen mit Führungspersonen von "Wolja Naroda" (Volkswille, einer Zeitung der Sozialrevolutionäre, für deren Literaturbeilage er schrieb) verhaftet – notierte er am 30. Januar 1918: "Jetzt ist klar, daß es unmöglich ist, im Namen der menschlichen Individualität gegen die Bolschewiki anzutreten: Der Bottich brodelt und wird bis zuletzt brodeln, man kann höchstens an den Rand des Bottichs treten und überlegen: ›Wie, wenn ich mich auch hineinstürzte‹?" Der Bottich ist bei Prischwin eine Metapher für persönlichkeitslose Räume, für die Geschichte und das kollektive ("östliche") Wir.
Er selbst wird sich nicht hineinstürzen, sondern dicht am Rand des Bottichs stehenbleiben. Im Frühjahr 1918 zieht er wieder ins heimatliche Chruschtschowo, ein Dorf nahe Jelez im Gouvernement Orjol, wo er versucht, auf einem ererbten Stück Land, auf dem er ein Haus gebaut hat, als Lehrer, Jäger und Selbstversorger mit Frau und zwei Kindern durchzukommen. Doch die Mushiki verjagen ihn schon im Herbst: Es war die Zeit der "schwarzen Umteilung", in der Landlose nach Gutdünken Enteignungen durchführten. 1920 / 21 darbt Prischwin als Lehrer in Alexino (Smolensker Gebiet), wo er im einstigen Adelssitz der Baryschnikows das "Museum des Gutslebens" einrichtet. Er hungert, geht auf die Jagd und läuft viele Werst in die Stadt, um für seine Dorflehrerration zu kämpfen. Was immer ihm begegnet, notiert er im Tagebuch: Natureindrücke, den Mushiki Abgelauschtes, in deren Dialekt sich Vulgarismen mit Biblischem und verdrehtem Bildungswortschatz ("Antilligenz") mischen, die Gestik der Revolutionäre, den verunglückenden Sowjetsprech und die Gewaltexzesse der neuen lokalen Machthaber, häusliche Szenen, und dazu nicht selten christlich-apokalyptisch gefärbte Reflexionen über all dies. 1922 verdichtet er, was ihm in Chruschtschowo und Alexino widerfuhr, in wenigen Monaten zu einer schauerlich wahren Groteske, ganze Tagebuchpassagen finden nahezu unverändert Eingang in die Erzählung "Der irdische Kelch", über die Trotzki, auch wenn er ihr "großen künstlerischen Wert" bescheinigt, das Todesurteil verhängt: "Ganz und gar konterrevolutionär". Eine vollständige und unzensierte Fassung des Buches liegt erst seit 2004 vor.
Aber noch in den schwärzesten Phasen sucht und findet Prischwin den Augenblick des Innehaltens und Zurücktretens, der Schönheit, der Harmonie, des Aussetzens der jagenden Zeit: das Idyll. Das Idyll nicht als Flucht aus Gesellschaft und Geschichte (also als innere Emigration), sondern im Gegenteil als Rebellion: als beharrliches Erinnern an eine andere Dimension des Daseins – des Seins als solches. Das um so unbeirrter gepriesen werden muß, je mehr es bedroht ist. Er selbst spricht nicht von Idyllen, sondern von "phänomenischen" Notaten und Skizzen. Auch in seinen Romanen schreibe er letztlich "otscherki", jene nur ungenügend mit "Skizze" übersetzbare Kleinform, die nah an realen Begebenheiten bleibt, sie aber derart verdichtet, daß ein verborgener Sinngehalt hervorgetrieben und das Geschehnis transzendiert, aus seiner Einzelfallhaftigkeit erlöst wird. Tatsächlich ist jedes Tagebuchnotat mal mehr, mal weniger sprachlich-stilistisch durchgestaltet, und die Diarien erscheinen im Ablauf der Tage merklich komponiert. So entsteht Eintrag um Eintrag ein fünfzig Jahre umspannender chronikalischer roman fleuve, dessen Protagonist durch eine Zeit grauenvoller Irrungen und Wirrungen geht, eine Zeit, die Tag für Tag, Jahr um Jahr von den Menschen gelebt wurde, vom einzelnen, der seine Hilflosigkeit, sein Ausgesetztsein erfährt, dem vielleicht eben nur diese eine Chance bleibt: einen Ort zu finden, den er freihalten kann von dem System reiner, vollendeter Tatsachen, die Zeit und Raum und Geist bis an den äußersten Rand füllen und füllen sollen.
Prischwin hat diesen Ort im diaristischen Schrei ben gefunden. "Der Kampf vom Lachen bis zum Schrei und den Tränen über die eigene Person wird für alle gebraucht – darin besteht mein Weg in der Literatur. Deshalb hat mich der im Wasser zappelnde Schmetterling beschäftigt: Das bin ich! Folglich muß der Schmetterling gerettet werden", notiert er am 18. Juni 1937. Dieser Ort des Rückzugs, der Raum des diaristischen Schreibens, erweist sich auf dialektische Weise zugleich als derjenige Ort, an dem man sich auf die Zumutungen des Faktischen mit allen geistig-seelischen Konsequenzen einlassen kann und an dem sich andere Erkenntnisse gewinnen lassen als im "Bottich" (in den sich etwa ein Ilja Ehrenburg warf): Man erlebt sich – noch eine dialektische Volte – als hineinverwickelt, widersprüchlich, zerrissen, fehlgehend: "Im Politischen irre ich mich beständig, weil ich mir meine Urteile aus Material bilde, das mein Herz mir zuträgt, mein Verstand wagt nur im Verein mit dem Gefühl aufzutreten", konstatiert er am 21. Juli 1929, "deshalb sind meine Urteile im Politischen stets kleinbürgerlich und unsicher."
Deutlich wird diese Unsicherheit etwa in Prischwins zwiespältiger Haltung gegenüber den Mushiki, dieser Lumpenbauernschaft, die zwischen 1917 und 1922 zu einem plündernden und mordenden gesellschaftsfeindlichen Mob wurde. Ihm zog er, so brutal sie ihrerseits war, die bolschewistische Staatsmacht vor, schien sie doch ein Minimum an Ordnung zu garantieren. Als er 1928 / 29 in Sagorsk (Sergijew Posad) lebt und viel auf dem Land unterwegs ist, fühlt er sich erneut an die Zeit des Kriegskommunismus erinnert: "Dem Mushik ›die Freiheit geben‹", vermerkt er am 21. August 1928, "bedeutet, ihm die Freiheit zur Zerstörung zu geben." Gut ein Jahr später, am 1. November 1929, schreibt er: "Das äußere Bild erinnert sehr an 1918, damals allerdings wurde das Plündern mit der Revolution gerechtfertigt: ›Plündere den aus, der dich ausgeplündert hat‹, heute mit dem sozialistischen Aufbau der Zukunft. Damals saß auf jedem Posten ein überzeugter Revolutionär, heute nur noch ein Exekutivbeamter, Überzeugte gibt es nicht mehr. [durchgestrichen: Die Welt hat in der Geschichte alle Arten von Raub und Plünderung gesehen, aber so etwas, daß jeder Werktätige ausgeraubt wird zugunsten der faulenzenden ›Armut‹ und die Bürokraten mit dem Wort ›wer nicht arbeitet‹ … Widerlich, daran zu denken.]" Drei Tage zuvor hatte er notiert: "Selbst wenn es eine Akkumulation der Produktionsmittel, von Traktoren und anderen Maschinen gibt, so zahlt den Preis dafür die Bevölkerung durch Verarmung. Die Frage ist bloß, was zuerst eintritt: Machen die Maschinen die Armen glücklich und reich, oder zerstören die Armen in äußerster Verzweiflung die Maschinen? Warten sie oder nicht?"
Michail Prischwin betrachtete seine Tagebücher als sein Hauptwerk. Zu Recht: Sie sind Zeitchronik und Zeitroman in einem, sind durch die Wahrnehmung eines einzelnen gegangene und in unterschiedlichem Maße literarisch verdichtete Mitschriften der Ereignisse. Dieser einzelne – man kann es sich denken – ist zu keinem Zeitpunkt ein innerlich entschiedener oder gar sich offen bekennender Gegner des Regimes, doch ebensowenig ein Befürworter. Gerade das öffnet sein Ich auf all die anderen einzelnen, die unter den Bedingungen von Revolution, Krieg, Bürgerkrieg und Stalinismus lebten.
Der folgende Auszug stammt aus dem Jahr 1930, das am 5. Januar mit dem ZK-Beschluß "Über das Tempo der Kollektivierung und die staatlichen Hilfsmaßnahmen beim Kolchosaufbau " begann. Am 30. Januar folgte der Beschluß "Über Maßnahmen zur Liquidierung der Kulakenwirtschaft und zur Durchsetzung der Kollektivwirtschaft", am 25. April der "Über die Konsolidierung der Situation in den Arbeitslagern". In Sogorsk wurden im Januar die Glocken von den Kirchtürmen gestürzt. Prischwin hat dieses "Glockensterben " im Tagebuch und auch auf Fotos festgehalten. Er selbst gerät als Mitglied der Schriftstellergruppe Perewal in die Kritik. In Moskau wurde am 2. Februar eine Ausstellung zu Majakowski eröffnet, der gut zwei Monate später den Freitod wählte; Isaak Brodski malte "Lenin im Smolny", und im Bereich der Literatur erschienen Arkadi Gajdars "Die Schule des Lebens", Marietta Schaginians "Das Wasserkraftwerk", Iwan Bunins "Das Leben Arsenjews", Andrej Platonows "Die Baugrube" sowie, im Berliner Exilverlag Slowo, Vladimir Nabokovs Roman "Lushins Verteidigung".
Eveline Passet
SINN UND FORM 1/2018, S. 5-27, hier S. 5-9
Ranga, Dana
Cosmos! Gedichte, S. 28Murawjowa, Irina
Die Gestrigen, S. 33Sobol, Michał
Herr Orkusz. Gedichte, S. 42Köpp, Ulrike
Neues Leben und Gemeinschaft. Zum Reformstreben in der Moderne, S. 46Die Stalinallee, jene für ihre Architektur bewunderte wie verhöhnte Prachtstraße in der östlichen Mitte Berlins, ist eine Chiffre für den (...)
LeseprobeKöpp, Ulrike
Neues Leben und Gemeinschaft. Zum Reformstreben in der Moderne
Die Stalinallee, jene für ihre Architektur bewunderte wie verhöhnte Prachtstraße in der östlichen Mitte Berlins, ist eine Chiffre für den hoffnungsvollen Kurs zum Aufbau des Sozialismus wie auch für die existentielle Krise der Deutschen Demokratischen Republik im Juni 1953. Der sozialistische Boulevard sollte Arbeitern und ihren Familien großzügige, lichte Wohnungen bieten, mit Ladenzeilen die industrielle Leistungsfähigkeit des Landes demonstrieren und den Bewohnern mit einer Vielfalt gediegener Konsumgüter ein gutes Leben verheißen. In der Vorstellung der Planer gehörten dazu neben Geschäften für Jenaer Glas, für Schuhe und Bekleidung auch eine großzügige Buchhandlung und zwei Reformhäuser. Deren Einrichtung war im Rat des Stadtbezirkes unumstritten. Ganz anders die Frage, ob man auch dem Verkauf von Antiquitäten und Pelzwaren stattgeben solle, galten diese doch als Luxusgüter und standen für eine Gesellschaft der sozialen Ungleichheit, welche die DDR als Gesellschaft der Gleichen überwinden wollte. An den Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Reformhäusern störte sich aber niemand, sie gehörten zum städtischen Leben und Einkaufen dazu wie Werbeanzeigen für Säfte oder Margarine aus der Reformsiedlung Eden bei Oranienburg. Die Ideen und Praktiken der um 1900 entstandenen Lebensreformbewegung waren inzwischen ganz selbstverständlich in den Alltag der Leute eingegangen. Auch für mich gehörten die Reformhäuser mit ihren braunen Holzregalen seit meiner Kindheit zum Inventar der Städte. Erst auf der Suche nach den Adern der Lebensreform in der DDR im Archiv stieß ich auch auf institutionelle Widerstände gegen diese Bestrebungen. Hinter den Kulissen gab es sogar den Versuch, den Gebrauch des Begriffs Reform für diese Handelseinrichtung zu unterbinden. Womöglich kam er von subalternen Mitarbeitern, die damit dem revolutionären Selbstverständnis der SED Genüge zu tun meinten. Bei dem Versuch sollte es dann aber auch bleiben.
Bei den Auseinandersetzungen um Praktiken der Lebensreform in den Nachkriegsjahren und der Frühzeit der DDR ging es immer auch um die Frage: Wie wollen wir leben nach diesem schrecklichen Krieg? Sein Ende wurde auch als Chance für einen kulturellen Neuanfang verstanden. Mit der Roten Armee kamen im Mai 1945 dessen Vorboten, die sowjetische Besatzungsmacht zirkelte den politischen Raum dafür ab: mit der Entnazifizierung der Behörden und Verwaltungen, mit der Bodenreform und der Enteignung der großen Unternehmen, die mit dem Krieg Gewinne gemacht hatten. Und ob die Deutschen sich nun als von den Faschisten Befreite fühlten oder als vom Feind Besiegte, sie nahmen diesen Raum ein und zeigten, daß selbst noch im radikalen historischen Bruch eine kulturelle Kontinuität waltet. Auch die Revolution von oben hat ihren Boden, der sie nährt.
Gleich im Sommer 1945 richtete der Magistrat von Groß-Berlin im Ressort Volksbildung eine Abteilung "Neues Leben" ein. Sie sollte "die Kulturarbeit des neuen Menschen" befördern. Mit Vorlesungen, Volkshochschulen und Ausstellungsführungen wollte sie den Berlinern geistige Anregung bieten. Tanz matineen, Gymnastik und Laienspielgruppen sollten für Unterhaltung und Entspannung der erschöpften Bevölkerung sorgen. Gesangs- und Sprechchöre wollte man auf die Beine stellen und mit ihnen die antifaschistisch-demokratische Politik des Magistrats unterstützen. Sogar um die Organisation von Reisen und Wanderungen wollte sich die Abteilung zusammen mit Jugend- und Tourismusvereinen kümmern. All diese Vorhaben erinnern an die Praxis der sozialdemokratischen Kulturarbeit in der Weimarer Republik. Der Mehrzahl der Berliner lagen freilich wohl die Unternehmungen weit näher, die sie mit der NS-Organisation "Kraft durch Freude" erlebt hatten. Diese aber hatte nur an das Freizeitkonzept der Arbeiterkulturbewegung vor 1933 angeknüpft, so wie nun auch die Antifaschisten, die zum Beispiel im Bezirk NO 55 die Bewohner zu einer ersten Silvesterfeier nach dem Krieg einluden. Man wolle das Jahr gemeinsam "in würdiger Form und froher Weise abschließen", mit Freude und neuem Lebensmut. Die Einladung versprach ein kurzes Programm mit Rezitation und Gesang, ein Marionettenspiel mit dem Titel "Ein chinesisches Friedenslied" und Tanz in das neue Jahr hinein. Das Mehl und das Fett für die Pfannkuchen mußte allerdings jeder selber mitbringen.
Die Abteilung "Neues Leben" des Berliner Magistrats setzte auf alle, die trotz der Trümmerlandschaften wieder zu hoffen wagten. Mit Liederheften wollte sie die Gemeinschaft stärken, was schließlich not täte "beim nicht leichten Aufbauwerk ". Ein erstes Heft, "Lieder für Feier und Gemeinschaft", erschien 1946. Es hob an mit "Freundschaft ist die Quelle wahrer Glückseligkeit", einem Kanon von Beethoven, und ging weiter mit dem Volkslied "Die Gedanken sind frei" und dem Lied der Moorsoldaten, mit dem die Häftlinge des Konzentrationslagers Börgermoor ihr elendes Dasein zu überstehen versuchten. Der Grundton von Gemeinschaft erklang auch in den zukunftsgewissen deutschen Arbeiter und Jugendliedern wie "Wann wir schreiten Seit’ an Seit’" und in russischen Volksliedern. Ein zweites Liederheft hieß "Weisen von Abschied, Liebesfreud und Liebesleid"; der Verlag Neues Leben hatte sie offenbar sämtlich dem "Zupfgeigenhansl " entnommen, dem legendären Liederbuch der bürgerlichen Wandervögel. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte es Gymnasiasten und Studenten auf ihren kleinen Fluchten aus dem Alltag begleitet und ihnen geholfen, sich auf ihren Wanderungen als "neue Menschen" zu fühlen. Im "Zupfgeigenhansl" war demokratisches Liedgut über die Nazizeit hinweg aufbewahrt worden. Die ursprünglich darin enthaltenen Soldatenlieder hatte der Verlag allerdings nicht mehr abgedruckt. Den fröhlichen Marsch ins Feld zu besingen, danach war niemandem mehr zumute, schon nach dem Ersten Weltkrieg nicht und nun erst recht nicht mehr.
Wo sich 1945 in Ostdeutschland Hoffnung auf Gemeinschaft und ein neues Leben regte, reichte diese also bis an den Anfang des Jahrhunderts zurück. Der Soziologe Ferdinand Tönnies hatte den Begriff der Gemeinschaft 1887 in seiner Schrift "Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen" geprägt. Darin grenzte er die beiden sozialen Gebilde scharf voneinander ab. Er verklärte das naturwüchsige Leben in der traditionellen Dorfgemeinschaft zum Inbegriff harmonischen Daseins und sah die Gesellschaft als bloßes Nebeneinander entfremdeter Individuen. Tönnies hatte die mit den Gründerjahren sich rasant entwickelnde Industriegesellschaft vor Augen, die ihm allein auf "Egoismus", auf "Begierde und Furcht" zu beruhen schien. Die Großstadt galt ihm "überhaupt als Verderben und der Tod des Volkes". Seitdem entfaltete der Begriff der Gemeinschaft eine geradezu magische Kraft. Denn die Bewohner der großen Städte übernahmen ihn und übertrugen ihn auf ihre Bedürfnisse. Sie lösten ihn von seinem Ursprung, der dörflichen Zwangsgemeinschaft, und wendeten ihn auf Gemeinschaftsformen an, die sich innerhalb der kritisierten Gesellschaft eröffneten. Die in die Moderne Entlassenen erfanden sich ihre Gemeinschaft, wählten sie je nach Lebenslage, Interessen und Neigungen. Wie die Wandervögel, die Gymnasiasten und Studenten, die am Wochenende "auf Fahrt" gingen und dabei ihr Anderssein kultivierten und sich als Neue Menschen stilisierten. Oder wie die ehemaligen Tagelöhner und Mägde, die in die Städte gezogen waren, wo sie die Fabriken und Wohnverhältnisse als Fluch erlebten. Sie fanden mit ihresgleichen neue Zugehörigkeit, die Geselligkeit in der Kneipe, die Ausfahrt am Sonntag oder den solidarischen Zusammenhalt im Arbeitskampf um höhere Löhne.
Nicht selten war die Erkundung alternativer Lebensformen mit der Suche nach Antworten auf die "soziale Frage" oder "die Arbeiterfrage" verbunden, zeitgenössische Kürzel für die Mißstände der kapitalistischen Gesellschaft und die Hoffnung auf Besserung im Sinne des Sozialismus. Auch der Untertitel der ersten Ausgabe von Tönnies’ "Gemeinschaft und Gesellschaft", der noch die Begriffe von "Communismus und Socialismus" enthielt, ist nur ein Indiz dafür, wie virulent sozialistische Vorstellungen waren und wie eng die verschiedenen politischen und kulturellen Bestrebungen im Ausgang des 19. Jahrhunderts zusammenhingen. Das Wissen darum ist freilich im 20. Jahrhundert verlorengegangen. Die geschichtlichen und sozialen Entwicklungen trennten sie, nicht zuletzt die großen Kriege. Und eine akademische Geschichtsschreibung, die dem Gang der Ereignisse politisch befangen, wenn nicht ideologisch verblendet nur auf bestimmten Pfaden folgt.
(…)
SINN UND FORM 1/2018, S. 46-60, hier S. 46-49
Rosenau, Christian
Helden sagen. Gedichte, S. 61Habbal, Rasha
Ich erlaube dir nicht, mich zurückzulassen, S. 65Antoon, Sinan
Die schmale Stelle am Tor. Gedichte, S. 75Demus, Jakob
Nachtschau, S. 78Stárková, Magdaléna
Die Nacht verteilt. Gedichte, S. 87Wegmann, Christoph
Der Kanzler und die Sängerin. Aus Theodor Fontanes »Musée imaginaire«, S. 90Theodor Fontane besaß nicht besonders viele Bilder, sein Kopf aber war voll davon. Voller Fresken, Graffiti, Denkmäler, Zeitungsillustrationen, (...)
LeseprobeWegmann, Christoph
Der Kanzler und die Sängerin. Aus Theodor Fontanes "Musée imaginaire"
Theodor Fontane besaß nicht besonders viele Bilder, sein Kopf aber war voll davon. Voller Fresken, Graffiti, Denkmäler, Zeitungsillustrationen, Spielkarten, Ofenkacheln mit biblischen Szenen und vielem mehr. 1819 geboren, wurde er Zeuge jenes Umbruchs, in dessen Verlauf Bilder die Schrift verdrängten und die Herrschaft über Wahrnehmen und Denken übernahmen.
Als Fontane sieben Jahre alt war, brachte der Vierfarbendruck die Lithographie in Schwung, und der Neuruppiner Bilderbogen, durch den der Knabe Theodor so vieles erfuhr, erstrahlte in farbigem Glanz. Als er zehn war, taten sich Joseph Nicéphore Niépce und Louis Daguerre zusammen, um das heliographische Verfahren zu verbessern. Mit dreizehn konnte er in der Wundertrommel die ersten Bilder laufen sehen, mit achtzehn die ersten hochwertigen Farbillustrationen bestaunen, mit vierundzwanzig die erste Illustrierte durchblättern. Dann kamen der Rotationsdruck und die Massenpresse auf, auch das Photonegativ, mit dem man von ein und derselben Aufnahme beliebig viele Abzüge herstellen konnte. Ab Mitte des Jahrhunderts errichtete man wie im Fieber in allen großen Städten Museen, Ausstellungssäle, Kunstgalerien und Rundgebäude für Panoramen. Litfaßsäulen und Plakatwände wurden montiert, die Bildergeschichten Wilhelm Buschs, Witzblätter und Kunstzeitschriften entstanden, Bilderschauen gingen auf Tournee. Als Fontane 1898 starb, gab es die Lichtreklame, die Photolithographie, den Rollfilm, den Bildtelegraphen und die Kinematographie; eigentlich alles, was das Auge begehrte. Und der Sprachmensch Fontane hat vieles davon mit wachem Interesse aufgenommen.
Der Bilderschatz, den Fontane im Verlauf der Jahrzehnte in seinem Gedächtnis ansammelte, wurde zu einem riesigen "Musée imaginaire". Über 1500 Bildobjekte tauchen in seinen Romanen auf; nur etwa 300 davon sind Kunstwerke im engeren Sinn, die Mehrzahl stammt aus dem Alltagsleben, das der Erzähler mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit erkundet hat. In diesem imaginären Museum gibt es Abteilungen für Kinder und für Fromme, für Kenner von Karten, Globen und Modellen, für Liebhaber des Erotischen und des Panoptikums. Alle wichtigen Geschehnisse und Themen spiegeln oder konzentrieren sich in Bildern, mit Bildern lernen sich Figuren kennen und lieben, wegen Bildern zerstreiten und trennen sie sich.
Fontane war ein ausgesprochener Augenmensch, ja geradezu hypervisuell begabt. "Wir lernen mit den Augen am meisten", erklärte er einmal seiner Frau, "es ist beständig tätig". Auf sein Auge traf dies jedenfalls zu, es wurde zudem von einem phänomenalen Bildgedächtnis unterstützt. Als Fontane im Sommer 1880 an "Graf Petöfy" zu arbeiten begann, stützte er sich außer auf Kartenmaterial auch auf seine Erinnerungen an einen fünf Jahre zurückliegenden Wienaufenthalt, um die Schauplätze des Romans zu bestimmen. "Ich kenne jetzt in der Altstadt jede Gasse und weiß ganz genau, wo meine Personen wohnen", berichtete er seiner Frau, nachdem er sich drei Tage in seine Erinnerungen und Tagebuchnotizen vertieft hatte. "Dies lokale sich Einleben bedeutet furchtbar viel; das andre findet sich schon, selbstverständlich wenn man seinen Stoff als Keim des Ganzen hat." An anderer Stelle behauptete er, er könne sich etwas als "unverwischbares Daguerrotypbild" einprägen und unverändert behalten.
Überall fand er Bilder, auf denen etwas zu entdecken war, ein Detail, das seine Phantasie anregte – auf Friedhöfen und Rummelplätzen, in Wirtshäusern und Salons. Einmal, als er in einem sehr engen "Water-Closet" direkt vor seiner Nasenspitze die eingravierten Schweinigeleien von "talentvollen jungen Männern " inspizierte, fand er zu seinem Erstaunen darunter auch "die bekannte Figur des pythagoräischen Lehrsatzes" – eine Kombination, die sein "hellstes Lachen" hervorkitzelte. Er kannte keine Berührungsängste vor dem Gewöhnlichen oder gar Primitiven. In London besuchte er ebenso gern das Panoptikum mit den Wachsfiguren der Madame Tussaud wie die National Gallery. Wie ein Goldgräber wusch und siebte er Massen von Bildmaterialien, um die lauteren Stücke zu gewinnen, die für seine literarischen Anliegen brauchbar waren. So hat er seine Erzählkunst auch beschrieben, als "Dunkelschöpfung im Lichte zurechtgerückt", denn in seinen Entwürfen sei stets "Dummes, Geschmackvolles, Ungeschicktes neben ganz Gutem", und es gehe darum, dieses ganz Gute in mühsamer Arbeit "herauszupulen" und zu einem Gesamtbild zusammenzufügen.
Auf Reisen kaufte sich Fontane Ansichtskarten oder kleine Photoalben. Die Abteilung "Photographie" seines imaginären Museums umfaßt einige Dutzend Sammlerstücke, vor allem Visitenkartenbilder, Ansichtskarten und Porträtaufnahmen, die wichtigsten Photoformate im 19. Jahrhundert. Die massenhaft verbreiteten Visitenkartenphotos kamen ab 1860 auf. Brauchte Fontane eine solche Aufnahme, ging er wie alle andern ins Photostudio, allein oder mit Familie. Damals besaß fast niemand eine Kamera, die Kodak-Box kam erst 1895 auf den Markt. Fontanes erstes, bis heute erhaltenes Porträt stammt vom September 1863. Es handelt sich um ein Ganzkörperbild in Dreiviertelansicht: Der Vierundvierzigjährige ist in einen offenen Gehrock gekleidet und stützt den rechten Arm lässig auf eine Konsole; den schmalen Kopf erhoben, die feinen Haare nach hinten gekämmt, blickt er bestimmt und verträumt zugleich auf ein unsichtbares Objekt.
Auch Bismarck begab sich zuweilen ins Photostudio, einmal sogar ganz ohne politische Absicht. Der Kanzler begleitete eine attraktive junge Dame, und dabei entstand ein kleines Bild mit skandalöser Wirkung.
(…)
SINN UND FORM 1/2018, S. 90-97, hier S. 90-92
Nolte, Paul
Handschrift und Helfer. Thomas Nipperdeys »Deutsche Geschichte«, S. 98Thill, Hans
Schafwinter. Gedichte, S. 112Kleinschmidt, Sebastian
Vom Unheil des Erkennens. Hartmut Langes erster Novellenband, S. 115Rothmann, Ralf
Dunkler Umriß – Kleist und das Glück. Dankrede zum Kleist-Preis 2017, S. 125Heinemann, Elke
Under Cover. James Kirkups Erzählung über Heinrich von Kleist und Thomas Pynchon, S. 128Ansull, Oskar
Aspekt einer schwierigen Identitätsfindung. Karl Emil Franzos, Walter Benjamin, Ludwig Strauß, Paul Celan, S. 134Krieger, Hans
»Zieh den Mondkork aus der Nacht!« Noch einmal Christine Lavant: ein Nachtrag zu Werk und Rang, S. 136
-
2/2018
Heft 2/2018 enthält:
Appelfeld, Aharon
Am Rande unserer Stadt, S. 149Appelfeld, Aharon
"Deutsch sollte meine Sprache sein, sie wurde es leider nicht". Ein Gespräch mit Achim Engelberg über Literatur, Vergangenheit und Gegenwart , S. 168ACHIM ENGELBERG: Etliche Autoren, die über den Völkermord an den europäischen Juden oder die Schrecken der Lagerwelt des 20. Jahrhunderts (...)
LeseprobeAppelfeld, Aharon
"Deutsch sollte meine Sprache sein, sie wurde es leider nicht". Ein Gespräch mit Achim Engelberg über Literatur, Vergangenheit und Gegenwart
ACHIM ENGELBERG: Etliche Autoren, die über den Völkermord an den europäischen Juden oder die Schrecken der Lagerwelt des 20. Jahrhunderts schrieben, begingen Selbstmord, etwa Primo Levi oder Jean Améry. Andere wie Jorge Semprún brauchten einen zeitlichen Abstand, um von ihren Leiden erzählen zu können. Nach dem Tod von Imre Kertész sind Sie einer der letzten, die die Schoah in den Mittelpunkt ihres Werkes stellen.
AHARON APPELFELD: Mit Kertész war ich eng befreundet. Ich konnte kein Ungarisch und er kein Hebräisch, aber unsere gemeinsame Sprache war Deutsch, wir kamen beide aus der österreich-ungarischen Kultur. Primo Levis Werke und die der anderen habe ich gelesen. Sie waren älter als ich, zehn oder zwanzig Jahre. Ein beträchtlicher Unterschied. Ich war damals noch ein Kind und konnte keine Memoiren schreiben, dazu muß man bewußt erlebt haben, was geschehen ist. Deshalb stellte sich die Frage für mich etwas anders. Ich konnte nur Literatur schreiben, keine Erinnerungen. Ich fing mit Gedichten an, die aber keinen Wert haben, weil ich in meiner Heimatstadt Czernowitz nur ein Jahr zur Schule gegangen bin. Nach Palästina kam ich 1946, mit fast vierzehn Jahren. Ich konnte weder die Sprache, noch verfügte ich über Bildung. Und es war anstrengend, Hebräisch zu lernen. In einem Kibbuz, wo man uns zu Bauern machen wollte, schrieb ich erste Erzählungen. Ohne meine Eltern, ohne die Familie war ich ziemlich verloren. Vieles war mir fremd. Czernowitz war zwar keine große, aber eine schöne Stadt. Die Lyrikerin Rose Ausländer lebte in derselben Gasse wie ich, es gab außerdem viele Dichter, Schriftsteller, Künstler und eine deutschsprachige Universität. Die meisten Schüler auf dem Gymnasium waren Juden.
In Israel konnte ich mich nicht einfügen in dieses heroisierte, optimistische Leben, die ideologisierte Kultur. Ich trug an meiner Last. Dort aber hieß es: Vergeßt, laßt die Vergangenheit hinter euch, lebt in der Gegenwart. Ich wollte aber mit meinen Eltern leben, den Großeltern, den Bekannten. So geriet ich in Opposition zum damaligen Israel. Glücklicherweise fand ich mit Mitte Zwanzig meinen Vater wieder. Wir hatten beide lange befürchtet, der andere könnte nicht überlebt haben. Mein Vater war in Czernowitz ein tüchtiger Geschäftsmann gewesen, nun hatte er alles verloren. Ich hatte inzwischen auch studiert und gute Lehrer gefunden: Gershom Scholem, Martin Buber oder Samuel Bergman waren assimilierte Juden, die sich mit dem jüdischen Schicksal auseinandersetzten. Später wurden sie meine Freunde. Scholem war nicht nur Historiker, sondern auch Schriftsteller. Sein "Sabbatei Zwi. Der mystische Messias" ist große Literatur. Auch Buber war ein Meister.
ENGELBERG: Mittlerweile sind Sie selbst ein klassischer israelischer Schriftsteller.
APPELFELD: Aber damals war ich noch zu sehr mit der Vergangenheit verbunden. Ich schuf mir erst meine Welt, ich war eher ein deutscher Autor. Deutsch war ja meine Muttersprache.
ENGELBERG: Hatten Sie Mentoren? Wie äußerten sich Ihre Lehrer zu Ihrer Literatur?
APPELFELD: Buber war mein erster Leser. Ich war 27 oder 28 Jahre alt, als ich ihm eine Erzählung gab. Es ging um Leute, die die Schoah überlebt hatten und einsam und verloren nach Israel gekommen waren. Sie konnten hier weder mit ihrer Vergangenheit noch in der Gegenwart leben, sie hatten keine Zukunft. Buber gefiel das Faktische, daß es wenige Adjektive, keine Idealisierung und nichts Didaktisches gab. Ich kam aus der Kafka-Kleist-Tradition. Sie waren meine großen Meister. Ich las beide sehr langsam auf deutsch. Besonders Kafka war mir nah, weil er mit seinem Judentum kämpfte, ähnlich wie Jean Améry. Das Judentum mit seiner langen Geschichte verbindet uns.
ENGELBERG: Wenn Sie ein neues Buch beginnen, was steht am Anfang?
APPELFELD: Gefühle, Stimmungen, Bilder. Es sind Details zu unserem Haus in Czernowitz oder dem in den Karpaten, wo ich meine Großeltern besuchte. Das führt mich voran, Seite um Seite, Kapitel um Kapitel. Wenn ich ein Buch schreibe, habe ich eine Idee. Das heißt nicht, daß ich diese leicht definieren kann. Es beginnt mit etwas Kleinem, einem Tisch etwa, doch dann kommt die allgemeine Idee. Es ist eine Reise. Nehmen wir diesen Raum. Hier gibt es viele Sachen – die Bilder von meinem Sohn Meir hängen an den Wänden –, aber um ihn so zu beschreiben, daß er dem Leser vor Augen steht, brauche ich nur zwei Details. Diese muß man aber erst einmal finden. Ich bin kein nostalgischer Schriftsteller, aber ich liebe meine Figuren. Deren Vorbilder habe ich kennengelernt, während des Krieges und danach. Viele lebten und leben hier in Israel. Das ist die Quelle.
ENGELBERG: Ich las, daß Sie im Kaffeehaus schreiben. Ist das immer noch so?
APPELFELD: Seltener. Ich schreibe nur in Kaffeehäusern ohne rauschende Musik, davon gibt es immer weniger. Das ist aber die Bedingung für mich. Die richtigen Kaffeehäuser verbinden mich mit denen zu Hause in Czernowitz. Da gab es viele – wie in Wien.
ENGELBERG: Sie schreiben aber immer noch mit der Hand, anschließend mit der Maschine?
APPELFELD: Ich glaube, jeder Schriftsteller, vielleicht jeder Künstler sollte das Physische, das Sensuelle mit Papier und Handschrift empfinden. Ich schreibe alles zuerst mit der Hand, aber jetzt benutze ich keine Schreibmaschine mehr, sondern eine Frau kommt und ich diktiere und korrigiere gleichzeitig. Jedes Buch benötigt einige Fassungen. Die Sätze sollen schön sein.
ENGELBERG: Sie erschrieben sich eine Welt aus Worten, ein Werk von fünfundvierzig Bänden. Trotz mancher Kritik haben Sie Buch um Buch veröffentlicht. Wann kam der Durchbruch?
APPELFELD: Am Anfang gab es in Israel diese primitive Reaktion auf meine Literatur: "Du lebst noch dort, nicht hier." Sie wollten den großen starken Juden. Ich hatte es schwer, bis sie begriffen, daß ich über Leute schreibe, die wie ich hier in Israel leben. Damals waren rund fünfzig Prozent der Bevölkerung Überlebende der Schoah. Der Durchbruch kam allmählich, vor allem nach der ersten englischen Übersetzung. Der renommierte Kritiker Irving Howe schrieb eine Rezension des Romans "Badenheim", das Buch erschien auf der Titelseite der New York Times Book Review.
ENGELBERG: Howe war zwar in der New Yorker Bronx geboren, aber seine Eltern kamen aus Osteuropa, genauer: aus Bessarabien. Viele der Gründungsväter Israels stammen, politisch wie kulturell, aus dieser Region. Tel Aviv nannte man in den fünfziger Jahren auch "Lodz am Mittelmeer".
APPELFELD: Es war nicht nur Lodz. Sie kamen aus verschiedenen Ländern. Viele waren Verlorene, sie tranken reichlich Wodka, spielten Karten, gingen zu Prostituierten. Es war eine Reaktion auf die Lager, aus denen sie kamen. Aber sie wurden zu meinen Helden.
ENGELBERG: Über zwanzig Jahre waren Sie Professor in Be’er Sheba, der Hauptstadt der Negev-Wüste, wo Sie noch einmal ein ganz anderes Milieu kennenlernten.
APPELFELD: Meine Vorlesungen waren gut besucht. Ich verglich die jüdischen Literaturen verschiedener Kulturen, wobei mich vor allem die deutsche interessierte, Kafka, Heine, insbesondere seine Prosa. Ich schrieb auch einige Aufsätze, etwa über Isaac Bashevis Singer, der rechtzeitig aus Polen in die Vereinigten Staaten ausgewandert war.
ENGELBERG: Er siedelte sein Werk in ähnlichen Gegenden an wie Sie, hat ähnliche Trennungen wie Sie erlebt. Seinen Sohn, der mit seiner Mutter nach Moskau, später nach Palästina emigriert war, sah er zwei Jahrzehnte lang nicht. Seine Nobelpreisrede hielt er 1978 auf Jiddisch.
Plötzlich ertönt eine Sirene. Wir stehen auf. Es ist Jom haSikaron, der Gedenktag an die gefallenen israelischen Soldaten und Opfer des Terrorismus, auf den der Unabhängigkeitstag folgt. Aharon Appelfeld ist sichtlich bewegt und bleibt die zwei Minuten, in denen der Ton zu hören ist, stehen.
APPELFELD: Letzte Woche war Jom haScho’a, der Gedenktag an die Schoah.
Heute nun dieser Tag. Das weckt viele Erinnerungen.
[…]
SINN UND FORM 2/2018, S. 168-175, hier S. 168-171
Berg, Yonatan
Totes Meer. Gedichte, S. 176Amiel, Irit
Leben (vorläufiger Titel), S. 180Zagajewski, Adam
Ein Tropenwald von Erinnerungen. Gedichte, S. 205Venclova, Tomas
Der Fürst und sein Zar. Briefe aus dem Exil, S. 209Manchmal denke ich, man sollte alle Länder der Welt in zwei Klassen einteilen – in Immigrations- und Emigrationsländer. Man könnte mir (...)
LeseprobeVenclova, Tomas
Der Fürst und sein Zar. Briefe aus dem Exil
Manchmal denke ich, man sollte alle Länder der Welt in zwei Klassen einteilen – in Immigrations- und Emigrationsländer. Man könnte mir entgegenhalten, dies sei eine unzulässige Vereinfachung, die darauf zurückführen ist, daß ich selbst sowohl Immigrant als auch Emigrant bin. Doch ich würde meine Ansicht verteidigen. Jeder weiß, daß die Vereinigten Staaten – ihre Stärke, ihr Wohlstand, ihre Kultur – vornehmlich, wenn nicht sogar ausschließlich von den Massen von Ankömmlingen geschaffen wurden, die frei zu atmen begehrten (um es mit den Worten der Inschrift der Freiheitsstatue zu sagen). Im Gegensatz dazu wurde Rußlands Kultur – nicht jedoch seine Stärke und seine nicht vorhandene Prosperität – in beinah demselben Ausmaß von Emigranten, von den bemitleidenswerten Verstoßenen jenes alten, pompösen Imperiums erschaffen. Dasselbe läßt sich im wesentlichen auch über Polen sagen und vermutlich auch über Litauen, mein Heimatland – sowie über alle Länder jener schwer zu definierenden Region namens Ost- oder bisweilen auch Mitteleuropa im Schatten des besagten Imperiums.
Die Emigranten dieser Länder kann man, wiederum, mindestens in zwei Gruppen einteilen. Die einen, wie Adam Mickiewicz und Alexander Herzen im 19. Jahrhundert und meine Zeitgenossen Czesław Miłosz und Joseph Brodsky, verlassen ihre Heimat für immer. Andere, wie Boris Pasternak oder Michail Bulgakow, werden zu inneren Emigranten. Die "innere Emigration" ist eine russische Spezialität. Selbst Alexander Puschkin war in einem gewissen Sinne ein innerer Emigrant. Er wollte immer ins Ausland reisen, bekam aber, wie sich leicht erraten läßt, niemals eine Ausreisegenehmigung. In seiner Verzweiflung verfiel er auf die seltsamsten Ideen: Er versuchte, sich einer russischen Delegation nach Peking anzuschließen, und meldete sich im russisch-türkischen Krieg sogar freiwillig zur Armee, nur um ein einziges Mal im Leben ausländischen Boden zu betreten. Es gelang ihm auch, doch da war der besetzte türkische Boden, wie er enttäuscht feststellte, bereits russisch geworden.
Viele Russen haben die Trennlinie zwischen innerer und echter Emigration überwunden, und manche von ihnen sind sogar zurückgekehrt, beispielsweise Marina Zwetajewa und Sergei Prokofjew, und es hat ihnen, milde ausgedrückt, nicht gutgetan. Im übrigen läßt sich auch keine klare Trennlinie zwischen beiden Formen der Emigration und dem Tod ziehen.
Dagegen gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen einer gewöhnlichen und einer aussichtslosen Tyrannei. Die letztere zeichnet sich durch totale Isolation und Abgeschlossenheit aus (was der Marquis de Sade sehr gut verstand). Länder, die ihre Grenzen auf Dauer schließen, rechtfertigen diese Entscheidung mit eindrucksvollen Mythen. Diese Mythen sind Hunderte Male widerlegt worden und trotzdem unglaublich lebendig. Sie erhalten sich nicht nur durch die Bemühungen der Regierungen, sondern auch durch die in den Gesellschaften vorherrschenden Meinungen. Meistens ist die Argumentation die folgende: Die Abkehr von der eigenen Gesellschaft (und sogar die Entscheidung für die innere Emigration) ist geistiger Selbstmord. Es ist ein nichtswürdiger Akt, der dem Betrug an der eigenen Frau oder, noch besser, an der eigenen Mutter gleichkommt. Es ist ein religiöses Verbrechen, die Ablehnung des wahren Glaubens. Emigration ist die Abwendung von gewissen mystischen Wahrheiten, deren Erkenntnis nur auf heimatlichem Boden möglich ist. Natürlich ist das Leben auf diesem Boden schwer, niemand wird das bestreiten, aber das eigene, von unendlichem Leid heimgesuchte Land im Stich zu lassen, ist unmoralisch und ehrlos. Der Mensch kann ohne die heimatliche Landschaft vor Augen nicht leben. Ein Schriftsteller kann ohne seine Muttersprache nicht existieren. Die menschliche Kreatur ist nicht von sich aus klug und anständig – sie ist ein untrennbarer Teil ihres heimatlichen Bodens, ein Tropfen Heimatblut, ein Rädchen im geistigen Getriebe der Heimat. Verstand und Anstand können ohne kollektive Volkseele nicht existieren. Der Mensch ist ein Embryo, der stirbt, wenn die Nabelschnur durchtrennt wird, die ihn mit dem warmen, starken Körper seiner Großen Mutter verbindet. Das Individuum existiert nicht, basta.
Selbstverständlich hat es Menschen gegeben, die diese Mythen bewußt oder unbewußt abgelehnt haben. Oder wenigstens mit ihnen gerungen haben wie Jakob mit dem Engel. Es gibt gute Gründe für die Behauptung, daß auf diese Weise – durch Ablehnung und Ringen mit diesem Mythos – das Beste entstanden ist, was die russische und osteuropäische Kultur hervorgebracht hat.
Über diese Menschen kann man unendlich viele Geschichten erzählen, die nicht immer interessant, aber meistens lehrreich sind. Zum Beispiel die Geschichte, wie Boris Godunow, jener relativ liberale – von Puschkin ein bißchen zu Unrecht in dem bekannten Drama verurteilte – Zar, zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine ganze Reihe junger russischer Aristokraten zum Studium ins Ausland schickte und kein einziger zurückkam. Das hatte, um es mit Ossip Mandelstam auszudrücken, einen sehr einfachen Grund: Es gibt keinen Weg zurück aus dem Sein ins Nichtsein. Die Konfrontation mit dem Sein jedoch war offenbar kaum zu verkraften, zumindest nicht für einige der jungen Männer. Einer von ihnen ging jeden Tag zu jenem Gebäude in London, in dem sich damals die russische Gesandtschaft befand, und rief aus sicherer Entfernung: "Ihr Moskowiter seid alle verdorbene Dummköpfe!" Später begann er zu stehlen und wurde entsprechend der englischen Rechtsprechung feierlich hingerichtet. Dies ist, leider, ein beständiges Schema, dem das Schicksal von russischen (und osteuropäischen)
Emigranten folgt.
Viel später, im 19. Jahrhundert, gab es Wladimir Petscherin, einen Philosophen und Dichter von unbestreitbarem (wenngleich nicht außergewöhnlich großem) Talent. Vom russischen Staat nach Europa entsandt, desertierte er und konvertierte sogar zum Katholizismus, trat in ein Redemptoristenkloster ein und starb mit achtundsiebzig Jahren in Dublin. Er war allmählich zu extrem konservativen Überzeugungen gelangt und organisierte sogar eine öffentliche Verbrennung von Büchern, die er für häretisch hielt, was einen großen Skandal auslöste. Manche behaupten, er sei der Prototyp des Großinquisitors der "Gebrüder Karamasow". Zwei Verse von ihm seien hier erwähnt:
Oh, wie süß es ist, sein Heimatland zu hassen
Und ständig seinen Untergang herbeizusehnen!
Ich bin der Meinung, daß dies einer der originellsten – und, mag sein, auch furchtbarsten – Texte der Weltliteratur ist. Mich läßt er allerdings weniger über die Morallosigkeit eines Petscherin als vielmehr über ein Heimatland nachdenken, das zu solchen Versen inspiriert.
Aber die längste Emigrantengeschichte, die ich erzählen möchte, ist eine andere. Ihr Protagonist war zweifellos von größerer Weisheit als Petscherin und reifer als jener unglückliche junge Mann, der im London des 17. Jahrhunderts zugrunde ging. Er war ein Militär und Staatsmann sowie ein guter – wenngleich kein herausragender – Schriftsteller. Überdies war er der erste russische Emigrant, der es wagte, die Nabelschnur zur kollektiven Seele zu kappen und sich zu einem unabhängigen menschlichen Wesen zu entwickeln. Über vierhundert Jahre trennen uns von ihm. Sein Name war Fürst Andrei Kurbski. Kurbski war und ist in einem gewissen Sinne unser Patron – kein heiliger Patron (er war alles andere als heilig), sondern eine Art Vorvater: ein Mann, der vielfach mit denselben Problemen konfrontiert war wie wir und manchmal sogar dieselben Worte verwendete.
Diese Geschichte hat, genauer gesagt, zwei Protagonisten. Der andere ist sogar noch außergewöhnlicher. Es ist der Zar von ganz Rußland, der erste, der sich überhaupt als "Zar" bezeichnet, als Imperator. Im Westen ist er als Iwan der Schreckliche bekannt. Diese Übersetzung ist ein wenig ungenau, denn "grosnyj" bedeutet streng und furchteinflößend. Mit diesem Adjektiv bezeichnet man einen Vater, eine Naturgewalt oder eine Gottheit. Es wurde häufig auch auf Stalin angewendet. Einer verbreiteten Meinung zufolge bedeutete es, daß dieser Herrscher zwar furchteinflößend war, aber auch für seine treuen Untertanen gesorgt hat. Hier wollen wir ihn Iwan den Gestrengen nennen.
[…]
Aus dem Litauischen und Englischen von Claudia Sinnig
SINN UND FORM 2/2018, S. 209-218, hier S. 209-212
Popescu, Marius Daniel
Der Fliegenfotograf. Gedichte , S. 219Wiegler, Paul
Gabriele. Romanfragment (Sommer 1945). Mit einer Vorbemerkung von Gernot Krämer, S. 222Wiegler, Paul
Autobiographische Skizze, S. 241Othenin-Girard, Corinne
Permanente Exilantin. Gedicht, S. 245Zimmermann, Hans Dieter
Eine Zeitlang ist man auf der Welt. Erinnerungen an Franz Tumler, S. 247Schulz, Christiane
Mit dem Fluß treten die Augen über das Ufer. Gedichte, S. 255Geiser, Christoph
Der Neandertaler von Darmstadt, S. 258Das Auge Gottes, übrigens, war auch noch nicht im Bus. Ja, vielleicht war das säumige Auge Gottes überhaupt der Grund, warum der Bus, der sich (...)
LeseprobeGeiser, Christoph
Der Neandertaler von Darmstadt
Das Auge Gottes, übrigens, war auch noch nicht im Bus. Ja, vielleicht war das säumige Auge Gottes überhaupt der Grund, warum der Bus, der sich nach und nach mit immer mehr saumseligen Fruchtbringenden füllte, noch immer nicht losfahren konnte, weil das Auge Gottes, die Treppe des Staatstheaters beherrschend, noch immer jedes einzelne Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft auf seine Linse bannen wollte und damit den Abstieg all der Fruchtbringenden über die Treppe behinderte und verzögerte – während wir dasaßen, auf unserem Bänkchen am Fenster zur Nacht, eingezwängt zwischen den Stehenden, die Panische mir gegenüber und die Verhärmte. Sukzessive immer mehr eingezwängt, unaufhaltsam. Den Ehernen sah ich erst, als es schon zu spät war. So stolperte ich, bereits panisch, über die Füße der Linguistik … Panik, ja. Urplötzlich. Und nicht der Panischen halber, die ganz unpanisch da sitzenblieb, wo sie saß, und auch nicht der Verhärmten wegen. Die verhärmt so sitzenblieb, wie sie war. Ich muß da raus, und zwar sofort, war das einzige, was man von mir noch vernahm, heißt, einzig die Linguistik im grellen Kunstlicht, über deren Füße ich stolperte, vernahm’s mutmaßlich, stereotyp lächelnd, ehern und stoisch.
Aus dem hellen Licht des Fahrzeuginneren in die Nacht der Schatten da draußen stolperte ich, aus dem Licht der Fruchtbringenden in die Finsternis umherhuschender Schatten. Die Schatten wollten mich zurückhalten! Sie vermochten es nicht. Die Vorstellung plötzlich, der Bus fülle sich immer mehr, immer mehr Fruchtbringende drängten hinein, die Fruchtbringenden nähmen quasi überhand und der Bus kippe; die Handbremse löse sich und der Bus finge ganz sachte an, die abschüssige Straße herunterzurollen … Fahrer konnte ich keinen sehen; so gäbe es gar keinen Fahrer, der Fahrer stünde, seine Zigarette rauchend, neben dem Bus und würde zu spät bemerken, daß sich sein Fahrzeug voller Fruchtbringender unaufhaltsam in Bewegung setzt – nicht aufzuhalten, nein, bis ins Erdinnere womöglich – oder der Bus finge plötzlich an zu brennen. Explodiere! Von der Zigarette des Fahrers. Und wir säßen da, eingezwängt zwischen der Panischen und der Verhärmten, dem Ehernen und dem Aufrechten, dem Zwingenden und dem Nährenden, dem Ordnenden und dem Vielgekrönten, der Unterhaltenden und der Eifrigen, den Stehenden und den Sitzenden, den Übersetzern und den Übersetzten, den Preisträgern und ihren Lobrednern, den Spektabilitäten und den Magnifizenzen, dem Semantikdiskurs und dem Semiotikdiskurs, dem Strukturalismusdiskurs und dem Dekonstruktivismusdiskurs, und nirgends ein Hammer, das Fenster zur rettenden Nacht einzuschlagen … Die Nacht als Rettung, solange ich noch eine kleine Tür sehe, die offensteht … und kein Auge Gottes, nirgends.
Wie käme ich jetzt zum Staatsempfang in die Orangerie? Was soll ich in der Orangerie … ja, wo wäre die denn? Wo bin ich?
Diese Stadt, mit rätselhaftem Namen ungeklärter Herkunft (nach der aber ein chemisches Teilchen benannt ist), die ich seit drei Jahrzehnten kenne, ist nicht nur nachts leer. Von den Bomben zerstört, nach dem Krieg in der Annahme wieder aufgebaut, sie bräuchte ein System von Hauptstraßenzügen als Organismus, als bräuchte es Platz für vierspurige Autobahnen, ging die Mitte verloren; das Zentrum: eine Fiktion. Der Luisenplatz. Nichts als ein Name und eine Säule, als müßte sie das Zentrum markieren, umgeben von Warenhäusern, die nachts zu sind. Dingversammlungen hinter erloschenen Fenstern.
Wo bin ich? Heißt: Wo geht’s denn vom Staatstheater, dieser architektonisch zusammenhanglosen Betonstruktur aus Treppen, Rampen und Balken, frage ich, mausallein plötzlich nachts zurückgeblieben, zum Luisenplatz, dieser fiktionalen Mitte, oder, besser noch, wichtiger eigentlich, zum Welcome Hotel, respektive zum Hessischen Landesmuseum, gleich gegenüber unserem Hotel? Noch haben wir ja nichts gegessen nach zweistündiger Preisverleihung, und der Hunger ist doch immer der elementarste Antrieb. Zum Staatsbankett in der Orangerie aber würden wir niemals zu Fuß gelangen, wir würden sie – auch ein für sich isoliertes Zentrum in einem Park an den unscharfen Rändern dieser Stadt – niemals wiederfinden, und: kein Taxi, nirgends.
Auch wir wären geladen, zu den Fruchtbringenden gehörig auch wir. Wir?!
Mausallein. Gottverlassen. Dem Auge Gottes, dem löwenmähnigen, aus dem Blick geraten. Wollten wir’s nicht? Was sollen wir uns denn mit all den Geladenen am Buffet um die Happen und Häppchen und, an den langen Tischen, um den fruchtbringendsten Platz quasi balgen, den mindesten Anstand & Abstand wahrend? Was soll ich hier? Loslaufen zunächst, in die Nacht, notgedrungen richtungslos, aber nicht ziellos.
Eine Gaststätte wäre der Vernunft gemäß das erste Ziel; ein Gaststätten-Signal ausfindig zu machen, eine Leuchtschrift, die auf eine Gaststätte hinweisen würde, eine Bierreklame, eine stattliche Eingangstür, wie für Gaststätten gewöhnlich, erleuchtete Fenster, Butzenscheiben womöglich … nichts zunächst. Betonstrukturen im diffusen Licht, eher lichtlos eigentlich, kein Flutlicht von Neon oder Kandelabern, keine erkennbaren Straßenbeleuchtungen, eine lichtlose Nacht. Zum Glück regnete es nicht, windete nicht, nicht kalt, nein, Ende Oktober noch mild, man konnte ohne Mantel gehn. Merkwürdig fühllos dünkten wir uns – keine Erinnerung mehr an ein Körpergefühl. Nicht einmal wirklich Hunger hatten wir. Nur das Bewußtsein, daß wir jetzt – sieben vorüber – etwas zu Abend essen müßten. Eine schwere Holztür, die offenstand, lud uns ein, hellbeleuchtet der Eingang. Der Anschrift nach ein türkisches Lokal, kein Imbiß, nein, ein Restaurant, auf der anderen Straßenseite, in einem stattlichen Haus. Wir traten ein, ein Flur mit Garderobe, der sich auf das hellerleuchtete Lokal hin öffnete, das überfüllt war; vollbesetzt; Kellner eilten vorüber, Tabletts auf den Armen, Geschirr, Speisen – man schien uns weder zu sehen noch zu hören. Höchster Lärmpegel, Gaststättenlärm. Wir standen eine Weile da, im Flur, perplex, irritiert – so plötzlich unsichtbar geworden. Wie hinter einer Schallmauer.
Verärgert wandten wir uns ab; zu rasch ungeduldig geworden. Ein Fehler.
Lichtlose Nacht. Straßenkreuzungen, kein nennenswerter Verkehr. Bürogebäude. Geschäftshäuser. Ein Reisebüro, »Vom Reisewunsch zur Wunschreise« auf der erloschenen Schaufensterscheibe. Oder: »Vom Reisetraum zur Traumreise«.
Wonach fragen? Käme uns denn wer entgegen … Nach dem Neandertaler können wir nicht fragen. So plötzlich unsichtbar geworden wie wir sind. Nach dem Museum natürlich müßten wir fragen. Ein stattlicher Bau, soeben nach umfassender Sanierung wiedereröffnet, von nationaler Bedeutung, erbaut ursprünglich vom ersten Warenhaus-Architekten Deutschlands, der in Berlin das Wertheim und das Pergamon baute, bedeutende Dingversammlungen beide. Ursprünglich übrigens an der Zeughausstraße 1 gelegen, heute Friedensplatz 1, eine politisch motivierte Umbenennung mutmaßlich. Ein Zeughaus! Das Museum, das Warenhaus. Aber das Zeug in dem Museum ist nun mal eher unser Ding … denn wir müssen’s nicht haben, nein, die Dinge müssen nur dasein. Vorhanden, nicht zwingend zuhanden. Wo ist das Museum? Wir wären gerettet. Beim Neandertaler. Keine Chance beim ersten jungen Mann, dem wir begegnen, Schemen im Dunkel einer lichtlosen Passage: verstöpselte Ohren! Man hört uns nicht. Er nimmt wenigstens den einen Stöpsel aus dem Ohr, hat aber noch nie etwas vom Museum gehört und weiß nicht, wo der Luisenplatz liegt. Einzig das Teilchen, nach dem jetzt ein Kongreßzentrum benannt ist, scheint ihm vom Hörensagen bekannt – Darmstadion, sagt er unsicher, als müßt’s ein Stadion sein, und deutet vage mit der Hand in die Nacht: in dieser Richtung ungefähr … immerhin dies. So gehe ich nicht in die entgegengesetzte Richtung – doch so oder so: Gehen, lesen wir im nachhinein, bedeutet den Ort zu verfehlen. Wir sind an einem Unort, einem Nicht-Ort eher. Nirgends sind wir! Unser Museum aber kann durchaus geortet werden. Wir waren ja drin! Und haben’s nicht bloß erträumt. Der kleinen Ausstellung zur Geschichte der Fruchtbringenden halber waren wir drin, einen ganzen Morgen lang und anderntags wieder, verließen aber unsere Fruchtbringenden und ihre Geschichte bald und verloren uns in dem labyrinthischen Bau.
Im frisch renovierten Bau verloren wir uns, auf seinen mindestens fünf Stockwerken, Rampen und Treppen, in den Räumen zwischen den schweren Türen, die mit menschlicher Kraft kaum zu öffnen sind (dafür sind eben diese schwarzen Knöpfe da! zeigte man uns), aber auch in den Diskursen, könnte man sagen, verloren wir uns. In den historischen Diskursen, den kunsthistorischen, den ethnologischen, paläontologischen, anthropologischen, erdgeschichtlichen, vor allem aber in den Diskursen der Menschheitsgeschichte, also vornehmlich im Diskurs der Paläoanthropologie verloren wir uns und, überdies! bei der Frage, wie groß die Schnittmenge des kunsthistorischen Diskurses mit dem erdgeschichtlichen denn wäre: angesichts dieser wunderschön schillernden und liebevoll präparierten fossilen Reptilien & Insekten aus der Grube Messel. Aber nicht der Grube Messel wegen waren wir da. Die doch weltberühmtes Natur- und/oder UNESCOKulturerbe der Menschheit ist. Sondern der Fruchtbringenden Gesellschaft halber. Aus dem Bus der Fruchtbringenden Gesellschaft haben wir uns panisch in die Darmstädter Nacht geflüchtet und vorerst darin verloren, verirrt.
[…]
SINN UND FORM 2/2018, S. 258-268, hier S. 258-261
Habel, Sabrina
Der Kritiker und die Resignation, S. 269Mosebach, Martin
Der Aquarellblock als Tagebuch. Über die Malerin Elisabeth von Förster, S. 272Hensel, Kerstin
Der Einbruch der Nacht in den Morgen. Zu Wolfgang Hilbig, S. 274Lewitscharoff, Sibylle
"Menschliches Wesen / Was ist’s gewesen". Über Paul Gerhardt, S. 276Schulze, Ingo
Die Auflehnung gegen das Unausweichliche. Nachruf auf Silvia Bovenschen, S. 279
-
3/2018
Heft 3/2018 enthält:
Mosebach, Martin
Wiedersehen mit Rom, S. 293Kienlechner, Sabina
Ingeborg, ein letztes Mal, S. 308Ivanova, Mirela
In den Augen des Windes. Gedichte, S. 320Bürger, Christa
Emmy Hennings' Weg zu Hugo Ball, S. 322Georgi, André
Die Hand, S. 333Grünbein, Durs
Spreekanal. Gedichte, S. 340Lorenz, Carolin
Die Pantherfrau. Sarah Kirsch als Begründerin der Interviewliteratur in der DDR, S. 344Meckel, Christoph
Vor der Zukunft. Gedichte, S. 352Ruge, Eugen
Versuch über eine aussterbende Sprache. Dresdner Rede, S. 356Delius, Friedrich Christian
Hat der Humor seinen Ernst verloren? Imre Kertész und Jan Böhmermann, Jean Paul und die "heute-show", S. 373Poll, Wille
Kunst war sowieso nie meine Stärke. Gedichte, S. 390Klein, Georg
Arbeit am Blasator, S. 393Thier, Susanne
Revolution des Inhalts und der Form. Hundert Jahre Malik-Verlag, S. 403Weidle, Stefan
Ein Netzwerk unterirdischer Verbindungen. Laudatio zur Verleihung der Kurt-Wolff-Preise an den Elfenbein Verlag und die Edition Rugerup, S. 407Müller-Waldeck, Gunnar
Von Lappländern und Hebräern. Zur Schwedenreise Ernst Moritz Arndts, S. 412Köstler, Erwin
Intensität und Bedeutung. Zum Verhältnis von Musik und Übersetzung, S. 418Hanimann, Joseph
Übersetzer, die schicksalhaften Treuebrecher. Lobrede auf Simone Werle, S. 423