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1/2018
Heft 1/2018 enthält:
Prischwin, Michail
»Glücklich unsere Erben, die unsere Zeit nur lesen werden.« Aus dem Tagebuch 1930. Mit einer Vorbemerkung von Eveline Passet, S. 5Vorbemerkung Ich kann der Gesellschaft nur aus einem Abstand zu ihr in versunkenem Nachdenken nützlich sein.
1. Juni 1928 Wie soll man (...)LeseprobePrischwin, Michail
»Glücklich unsere Erben, die unsere Zeit nur lesen werden.« Aus dem Tagebuch 1930. Mit einer Vorbemerkung von Eveline Passet
Vorbemerkung
Ich kann der Gesellschaft nur aus einem Abstand zu ihr in versunkenem Nachdenken nützlich sein.
1. Juni 1928Wie soll man dagegen sein! Nur ein Verrückter kann sich unter die Lawine stellen und denken, daß er sie aufhält. Mir vormerken: In ein Umfeld gehen, wo aufgebaut und an etwas geglaubt wird.
28. Oktober 1929Die Revolution beraubt den Menschen seines individuellen Schicksals.
24. Dezember 1930Michail Prischwin (1873 –1954) ist dem Leser, in Rußland wie jenseits seiner Grenzen, vor allem als Kinderbuchautor bekannt und als »Sänger der russischen Natur« – ein Titel, den er Maxim Gorki verdankt. In den deutschen Sprachraum vermittelte ihn als erster Alexander Eliasberg, der 1914 im Münchener Georg Müller Verlag eine Auswahl früher Erzählungen vorlegte. Den Kulturvermittlern in der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR galt Prischwin, da offiziell zwar anerkannt, doch ideologisch wie stilistisch fern jedem sozialistischen Realismus, als probater Autor, um das deutschsprachige Publikum an die Sowjetliteratur heranzuführen; allerdings betrieb kein Verlag in Ost oder West kontinuierliche Werkpflege. In der DDR erschien noch das eine oder andere, meist aber wurde bereits Übersetztes neu herausgebracht. Prischwins einziger Welterfolg war und blieb »Ginseng. Die Wurzel des Lebens«, verfaßt 1932 / 33, erstmals erschienen 1934. Daß es einen zweiten – gleichwohl vom Naturschilderer nicht zu trennenden – Prischwin gibt, den Beobachter und Bedenker der Menschen und des Menschengemachten, entging der Öffentlichkeit. Und es mußte ihr entgehen: Der Autor, der seit 1905 Tagebuch schrieb, tat dies ab 1917 im verborgenen, auch im engsten Umfeld wußte bis zuletzt nur seine zweite Frau davon. Eine einbändige, thematisch geordnete Auswahl ohne Datumsangaben, die 1960 unter dem Titel »Nesabudki« (Vergißmeinnicht) erschien, konnte nicht – und durfte wohl auch nicht – das tradierte Bild korrigieren. Möglich machte dies erst die Perestrojka: Zwischen 1991 und 2017 wurden Prischwins Tagebücher in 18 Bänden mit mehr als 13 000 kleingedruckten Seiten ediert. Sie umfassen drei russische Revolutionen, den Großen Terror, den Zweiten Weltkrieg, das erste Jahr nach Stalins Tod und bilden ein Mosaik aus Alltagserlebnissen, Begegnungen mit berühmten Persönlichkeiten wie einfachen Menschen, aus Betrachtungen zu Literatur, Religion, Politik, Philosophie, aus Träumen und Selbstbeobachtungen, Naturschilderungen, Briefkonzepten, literarischen Entwürfen, Haushaltsfragen, Überlegungen zur Beziehung der Geschlechter etc. Vor allem aber verzeichnen die Tagebücher immer wieder kleine und kleinste Mutationen des politisch-gesellschaftlichen Lebens und deren Niederschlag im Alltag, im Individuum, im Zwischenmenschlichen, in der Sprache. Dieses gigantische diaristische OEuvre entsprang dem Willen, den eigenen Blick, das eigene Fühlen und Denken, die eigenen Wertvorstellungen, die eigene Sprache freizuhalten von den Korruptionen, denen viele aus mangelnder Widerstandskraft oder aus Angst erlagen – oder zu denen sie durch ihren Glauben an die Revolution verführt wurden. Auch Prischwin gelang es nicht, von den politischen und sprachlichen Topoi des neuen Regimes gänzlich unberührt zu bleiben. So notiert er am 14. November 1930: »Sechs Jahre habe ich an der ›Kette des Kaschtschej‹ [einem autobiographischen Roman] geschrieben in der Hoffnung, unser Land stünde vor einer Wiedergeburt, die ich als einträchtiges gemeinsames Schaffen eines guten Lebens verstand. Mein Vorgefühl hat mich getrogen, wie sich zeigt, ist der Weg bis zu einem ›guten‹ Leben in freiem Schöpfertum noch weit (…)« Zugleich endet der Eintrag mit der Feststellung, daß ihm »die ›Notwendigkeit‹ mit ihrem Realismus « jetzt näher sei »als die ›Freiheit‹ mit ihrer Illusion und Romantik«.
In den Jahren der Leninschen »Atempause« (der Neuen Ökonomischen Politik) und noch 1928 erlaubte sich Prischwin bei aller abständigen Skepsis Hoffnung. Es ist das Jahr, in dem der erste Fünfjahrplan zur Förderung der Wirtschaft in Kraft tritt, die Zeitschrift »Oktjabr« Scholochows »Der stille Don« und Ilf und Petrows »Zwölf Stühle« abdruckt, der wie Grigori Sinowjew und Dutzende andere linke und rechte Oppositionelle aus Politbüro und Partei ausgeschlossene Lew Trotzki nach Alma-Ata verbannt wird, Sergej Eisensteins Film »Oktober« in die Kinos kommt und Maxim Gorki nach siebenjähriger Abwesenheit erstmals wieder sowjetischen Boden betritt. Von Prischwin erscheinen die Bände 3 bis 6 einer auf sieben Bände angelegten Werkauswahl, die, noch ehe der letzte Band herauskommt, 1929 in die 2. Auflage geht. Seine immer wieder aufkeimende Hoffnung auf eine bessere Zukunft verdankt sich seinem früh in einer persönlichen Krise erworbenen Credo der Lebensbejahung, auch dann, wenn Wirklichkeit und persönliche Verzweiflung eher dessen Verneinung nahelegen (Suizid gedanken begleiten ihn bis ins Jahr 1940). Dem augenscheinlich Bösen, Katastrophischen, Sinnlosen einen Sinn abgewinnen, es nicht als das Äußere, Überwältigende, Andere zu betrachten, sondern es als Teil der eigenen lebensweltlichen Wirklichkeit durch teilhabende Beobachtung und distanzschaffendes Schrei ben ins tägliche Dasein zu integrieren – diese Haltung half ihm bereits, die Bürgerkriegsphase zu überstehen. Nach einem zweiwöchigen Gefängnisaufenthalt – man hatte ihn zusammen mit Führungspersonen von »Wolja Naroda« (Volkswille, einer Zeitung der Sozialrevolutionäre, für deren Literaturbeilage er schrieb) verhaftet – notierte er am 30. Januar 1918: »Jetzt ist klar, daß es unmöglich ist, im Namen der menschlichen Individualität gegen die Bolschewiki anzutreten: Der Bottich brodelt und wird bis zuletzt brodeln, man kann höchstens an den Rand des Bottichs treten und überlegen: ›Wie, wenn ich mich auch hineinstürzte‹?« Der Bottich ist bei Prischwin eine Metapher für persönlichkeitslose Räume, für die Geschichte und das kollektive ("östliche«) Wir.
Er selbst wird sich nicht hineinstürzen, sondern dicht am Rand des Bottichs stehenbleiben. Im Frühjahr 1918 zieht er wieder ins heimatliche Chruschtschowo, ein Dorf nahe Jelez im Gouvernement Orjol, wo er versucht, auf einem ererbten Stück Land, auf dem er ein Haus gebaut hat, als Lehrer, Jäger und Selbstversorger mit Frau und zwei Kindern durchzukommen. Doch die Mushiki verjagen ihn schon im Herbst: Es war die Zeit der »schwarzen Umteilung«, in der Landlose nach Gutdünken Enteignungen durchführten. 1920 / 21 darbt Prischwin als Lehrer in Alexino (Smolensker Gebiet), wo er im einstigen Adelssitz der Baryschnikows das »Museum des Gutslebens« einrichtet. Er hungert, geht auf die Jagd und läuft viele Werst in die Stadt, um für seine Dorflehrerration zu kämpfen. Was immer ihm begegnet, notiert er im Tagebuch: Natureindrücke, den Mushiki Abgelauschtes, in deren Dialekt sich Vulgarismen mit Biblischem und verdrehtem Bildungswortschatz ("Antilligenz«) mischen, die Gestik der Revolutionäre, den verunglückenden Sowjetsprech und die Gewaltexzesse der neuen lokalen Machthaber, häusliche Szenen, und dazu nicht selten christlich-apokalyptisch gefärbte Reflexionen über all dies. 1922 verdichtet er, was ihm in Chruschtschowo und Alexino widerfuhr, in wenigen Monaten zu einer schauerlich wahren Groteske, ganze Tagebuchpassagen finden nahezu unverändert Eingang in die Erzählung »Der irdische Kelch«, über die Trotzki, auch wenn er ihr »großen künstlerischen Wert« bescheinigt, das Todesurteil verhängt: »Ganz und gar konterrevolutionär«. Eine vollständige und unzensierte Fassung des Buches liegt erst seit 2004 vor.
Aber noch in den schwärzesten Phasen sucht und findet Prischwin den Augenblick des Innehaltens und Zurücktretens, der Schönheit, der Harmonie, des Aussetzens der jagenden Zeit: das Idyll. Das Idyll nicht als Flucht aus Gesellschaft und Geschichte (also als innere Emigration), sondern im Gegenteil als Rebellion: als beharrliches Erinnern an eine andere Dimension des Daseins – des Seins als solches. Das um so unbeirrter gepriesen werden muß, je mehr es bedroht ist. Er selbst spricht nicht von Idyllen, sondern von »phänomenischen« Notaten und Skizzen. Auch in seinen Romanen schreibe er letztlich »otscherki«, jene nur ungenügend mit »Skizze« übersetzbare Kleinform, die nah an realen Begebenheiten bleibt, sie aber derart verdichtet, daß ein verborgener Sinngehalt hervorgetrieben und das Geschehnis transzendiert, aus seiner Einzelfallhaftigkeit erlöst wird. Tatsächlich ist jedes Tagebuchnotat mal mehr, mal weniger sprachlich-stilistisch durchgestaltet, und die Diarien erscheinen im Ablauf der Tage merklich komponiert. So entsteht Eintrag um Eintrag ein fünfzig Jahre umspannender chronikalischer roman fleuve, dessen Protagonist durch eine Zeit grauenvoller Irrungen und Wirrungen geht, eine Zeit, die Tag für Tag, Jahr um Jahr von den Menschen gelebt wurde, vom einzelnen, der seine Hilflosigkeit, sein Ausgesetztsein erfährt, dem vielleicht eben nur diese eine Chance bleibt: einen Ort zu finden, den er freihalten kann von dem System reiner, vollendeter Tatsachen, die Zeit und Raum und Geist bis an den äußersten Rand füllen und füllen sollen.
Prischwin hat diesen Ort im diaristischen Schrei ben gefunden. »Der Kampf vom Lachen bis zum Schrei und den Tränen über die eigene Person wird für alle gebraucht – darin besteht mein Weg in der Literatur. Deshalb hat mich der im Wasser zappelnde Schmetterling beschäftigt: Das bin ich! Folglich muß der Schmetterling gerettet werden«, notiert er am 18. Juni 1937. Dieser Ort des Rückzugs, der Raum des diaristischen Schreibens, erweist sich auf dialektische Weise zugleich als derjenige Ort, an dem man sich auf die Zumutungen des Faktischen mit allen geistig-seelischen Konsequenzen einlassen kann und an dem sich andere Erkenntnisse gewinnen lassen als im »Bottich« (in den sich etwa ein Ilja Ehrenburg warf): Man erlebt sich – noch eine dialektische Volte – als hineinverwickelt, widersprüchlich, zerrissen, fehlgehend: »Im Politischen irre ich mich beständig, weil ich mir meine Urteile aus Material bilde, das mein Herz mir zuträgt, mein Verstand wagt nur im Verein mit dem Gefühl aufzutreten«, konstatiert er am 21. Juli 1929, »deshalb sind meine Urteile im Politischen stets kleinbürgerlich und unsicher.«
Deutlich wird diese Unsicherheit etwa in Prischwins zwiespältiger Haltung gegenüber den Mushiki, dieser Lumpenbauernschaft, die zwischen 1917 und 1922 zu einem plündernden und mordenden gesellschaftsfeindlichen Mob wurde. Ihm zog er, so brutal sie ihrerseits war, die bolschewistische Staatsmacht vor, schien sie doch ein Minimum an Ordnung zu garantieren. Als er 1928 / 29 in Sagorsk (Sergijew Posad) lebt und viel auf dem Land unterwegs ist, fühlt er sich erneut an die Zeit des Kriegskommunismus erinnert: »Dem Mushik ›die Freiheit geben‹«, vermerkt er am 21. August 1928, »bedeutet, ihm die Freiheit zur Zerstörung zu geben.« Gut ein Jahr später, am 1. November 1929, schreibt er: »Das äußere Bild erinnert sehr an 1918, damals allerdings wurde das Plündern mit der Revolution gerechtfertigt: ›Plündere den aus, der dich ausgeplündert hat‹, heute mit dem sozialistischen Aufbau der Zukunft. Damals saß auf jedem Posten ein überzeugter Revolutionär, heute nur noch ein Exekutivbeamter, Überzeugte gibt es nicht mehr. [durchgestrichen: Die Welt hat in der Geschichte alle Arten von Raub und Plünderung gesehen, aber so etwas, daß jeder Werktätige ausgeraubt wird zugunsten der faulenzenden ›Armut‹ und die Bürokraten mit dem Wort ›wer nicht arbeitet‹ … Widerlich, daran zu denken.]« Drei Tage zuvor hatte er notiert: »Selbst wenn es eine Akkumulation der Produktionsmittel, von Traktoren und anderen Maschinen gibt, so zahlt den Preis dafür die Bevölkerung durch Verarmung. Die Frage ist bloß, was zuerst eintritt: Machen die Maschinen die Armen glücklich und reich, oder zerstören die Armen in äußerster Verzweiflung die Maschinen? Warten sie oder nicht?«
Michail Prischwin betrachtete seine Tagebücher als sein Hauptwerk. Zu Recht: Sie sind Zeitchronik und Zeitroman in einem, sind durch die Wahrnehmung eines einzelnen gegangene und in unterschiedlichem Maße literarisch verdichtete Mitschriften der Ereignisse. Dieser einzelne – man kann es sich denken – ist zu keinem Zeitpunkt ein innerlich entschiedener oder gar sich offen bekennender Gegner des Regimes, doch ebensowenig ein Befürworter. Gerade das öffnet sein Ich auf all die anderen einzelnen, die unter den Bedingungen von Revolution, Krieg, Bürgerkrieg und Stalinismus lebten.
Der folgende Auszug stammt aus dem Jahr 1930, das am 5. Januar mit dem ZK-Beschluß »Über das Tempo der Kollektivierung und die staatlichen Hilfsmaßnahmen beim Kolchosaufbau « begann. Am 30. Januar folgte der Beschluß »Über Maßnahmen zur Liquidierung der Kulakenwirtschaft und zur Durchsetzung der Kollektivwirtschaft«, am 25. April der »Über die Konsolidierung der Situation in den Arbeitslagern«. In Sogorsk wurden im Januar die Glocken von den Kirchtürmen gestürzt. Prischwin hat dieses »Glockensterben « im Tagebuch und auch auf Fotos festgehalten. Er selbst gerät als Mitglied der Schriftstellergruppe Perewal in die Kritik. In Moskau wurde am 2. Februar eine Ausstellung zu Majakowski eröffnet, der gut zwei Monate später den Freitod wählte; Isaak Brodski malte »Lenin im Smolny«, und im Bereich der Literatur erschienen Arkadi Gajdars »Die Schule des Lebens«, Marietta Schaginians »Das Wasserkraftwerk«, Iwan Bunins »Das Leben Arsenjews«, Andrej Platonows »Die Baugrube« sowie, im Berliner Exilverlag Slowo, Vladimir Nabokovs Roman »Lushins Verteidigung«.
Eveline Passet
SINN UND FORM 1/2018, S. 5-27, hier S. 5-9
Ranga, Dana
Cosmos! Gedichte, S. 28Murawjowa, Irina
Die Gestrigen, S. 33Sobol, Michał
Herr Orkusz. Gedichte, S. 42Köpp, Ulrike
Neues Leben und Gemeinschaft. Zum Reformstreben in der Moderne, S. 46Die Stalinallee, jene für ihre Architektur bewunderte wie verhöhnte Prachtstraße in der östlichen Mitte Berlins, ist eine Chiffre für den (...)
LeseprobeKöpp, Ulrike
Neues Leben und Gemeinschaft. Zum Reformstreben in der Moderne
Die Stalinallee, jene für ihre Architektur bewunderte wie verhöhnte Prachtstraße in der östlichen Mitte Berlins, ist eine Chiffre für den hoffnungsvollen Kurs zum Aufbau des Sozialismus wie auch für die existentielle Krise der Deutschen Demokratischen Republik im Juni 1953. Der sozialistische Boulevard sollte Arbeitern und ihren Familien großzügige, lichte Wohnungen bieten, mit Ladenzeilen die industrielle Leistungsfähigkeit des Landes demonstrieren und den Bewohnern mit einer Vielfalt gediegener Konsumgüter ein gutes Leben verheißen. In der Vorstellung der Planer gehörten dazu neben Geschäften für Jenaer Glas, für Schuhe und Bekleidung auch eine großzügige Buchhandlung und zwei Reformhäuser. Deren Einrichtung war im Rat des Stadtbezirkes unumstritten. Ganz anders die Frage, ob man auch dem Verkauf von Antiquitäten und Pelzwaren stattgeben solle, galten diese doch als Luxusgüter und standen für eine Gesellschaft der sozialen Ungleichheit, welche die DDR als Gesellschaft der Gleichen überwinden wollte. An den Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Reformhäusern störte sich aber niemand, sie gehörten zum städtischen Leben und Einkaufen dazu wie Werbeanzeigen für Säfte oder Margarine aus der Reformsiedlung Eden bei Oranienburg. Die Ideen und Praktiken der um 1900 entstandenen Lebensreformbewegung waren inzwischen ganz selbstverständlich in den Alltag der Leute eingegangen. Auch für mich gehörten die Reformhäuser mit ihren braunen Holzregalen seit meiner Kindheit zum Inventar der Städte. Erst auf der Suche nach den Adern der Lebensreform in der DDR im Archiv stieß ich auch auf institutionelle Widerstände gegen diese Bestrebungen. Hinter den Kulissen gab es sogar den Versuch, den Gebrauch des Begriffs Reform für diese Handelseinrichtung zu unterbinden. Womöglich kam er von subalternen Mitarbeitern, die damit dem revolutionären Selbstverständnis der SED Genüge zu tun meinten. Bei dem Versuch sollte es dann aber auch bleiben.
Bei den Auseinandersetzungen um Praktiken der Lebensreform in den Nachkriegsjahren und der Frühzeit der DDR ging es immer auch um die Frage: Wie wollen wir leben nach diesem schrecklichen Krieg? Sein Ende wurde auch als Chance für einen kulturellen Neuanfang verstanden. Mit der Roten Armee kamen im Mai 1945 dessen Vorboten, die sowjetische Besatzungsmacht zirkelte den politischen Raum dafür ab: mit der Entnazifizierung der Behörden und Verwaltungen, mit der Bodenreform und der Enteignung der großen Unternehmen, die mit dem Krieg Gewinne gemacht hatten. Und ob die Deutschen sich nun als von den Faschisten Befreite fühlten oder als vom Feind Besiegte, sie nahmen diesen Raum ein und zeigten, daß selbst noch im radikalen historischen Bruch eine kulturelle Kontinuität waltet. Auch die Revolution von oben hat ihren Boden, der sie nährt.
Gleich im Sommer 1945 richtete der Magistrat von Groß-Berlin im Ressort Volksbildung eine Abteilung »Neues Leben« ein. Sie sollte »die Kulturarbeit des neuen Menschen« befördern. Mit Vorlesungen, Volkshochschulen und Ausstellungsführungen wollte sie den Berlinern geistige Anregung bieten. Tanz matineen, Gymnastik und Laienspielgruppen sollten für Unterhaltung und Entspannung der erschöpften Bevölkerung sorgen. Gesangs- und Sprechchöre wollte man auf die Beine stellen und mit ihnen die antifaschistisch-demokratische Politik des Magistrats unterstützen. Sogar um die Organisation von Reisen und Wanderungen wollte sich die Abteilung zusammen mit Jugend- und Tourismusvereinen kümmern. All diese Vorhaben erinnern an die Praxis der sozialdemokratischen Kulturarbeit in der Weimarer Republik. Der Mehrzahl der Berliner lagen freilich wohl die Unternehmungen weit näher, die sie mit der NS-Organisation »Kraft durch Freude« erlebt hatten. Diese aber hatte nur an das Freizeitkonzept der Arbeiterkulturbewegung vor 1933 angeknüpft, so wie nun auch die Antifaschisten, die zum Beispiel im Bezirk NO 55 die Bewohner zu einer ersten Silvesterfeier nach dem Krieg einluden. Man wolle das Jahr gemeinsam »in würdiger Form und froher Weise abschließen«, mit Freude und neuem Lebensmut. Die Einladung versprach ein kurzes Programm mit Rezitation und Gesang, ein Marionettenspiel mit dem Titel »Ein chinesisches Friedenslied« und Tanz in das neue Jahr hinein. Das Mehl und das Fett für die Pfannkuchen mußte allerdings jeder selber mitbringen.
Die Abteilung »Neues Leben« des Berliner Magistrats setzte auf alle, die trotz der Trümmerlandschaften wieder zu hoffen wagten. Mit Liederheften wollte sie die Gemeinschaft stärken, was schließlich not täte »beim nicht leichten Aufbauwerk «. Ein erstes Heft, »Lieder für Feier und Gemeinschaft«, erschien 1946. Es hob an mit »Freundschaft ist die Quelle wahrer Glückseligkeit«, einem Kanon von Beethoven, und ging weiter mit dem Volkslied »Die Gedanken sind frei« und dem Lied der Moorsoldaten, mit dem die Häftlinge des Konzentrationslagers Börgermoor ihr elendes Dasein zu überstehen versuchten. Der Grundton von Gemeinschaft erklang auch in den zukunftsgewissen deutschen Arbeiter und Jugendliedern wie »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« und in russischen Volksliedern. Ein zweites Liederheft hieß »Weisen von Abschied, Liebesfreud und Liebesleid«; der Verlag Neues Leben hatte sie offenbar sämtlich dem »Zupfgeigenhansl « entnommen, dem legendären Liederbuch der bürgerlichen Wandervögel. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte es Gymnasiasten und Studenten auf ihren kleinen Fluchten aus dem Alltag begleitet und ihnen geholfen, sich auf ihren Wanderungen als »neue Menschen« zu fühlen. Im »Zupfgeigenhansl« war demokratisches Liedgut über die Nazizeit hinweg aufbewahrt worden. Die ursprünglich darin enthaltenen Soldatenlieder hatte der Verlag allerdings nicht mehr abgedruckt. Den fröhlichen Marsch ins Feld zu besingen, danach war niemandem mehr zumute, schon nach dem Ersten Weltkrieg nicht und nun erst recht nicht mehr.
Wo sich 1945 in Ostdeutschland Hoffnung auf Gemeinschaft und ein neues Leben regte, reichte diese also bis an den Anfang des Jahrhunderts zurück. Der Soziologe Ferdinand Tönnies hatte den Begriff der Gemeinschaft 1887 in seiner Schrift »Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen« geprägt. Darin grenzte er die beiden sozialen Gebilde scharf voneinander ab. Er verklärte das naturwüchsige Leben in der traditionellen Dorfgemeinschaft zum Inbegriff harmonischen Daseins und sah die Gesellschaft als bloßes Nebeneinander entfremdeter Individuen. Tönnies hatte die mit den Gründerjahren sich rasant entwickelnde Industriegesellschaft vor Augen, die ihm allein auf »Egoismus«, auf »Begierde und Furcht« zu beruhen schien. Die Großstadt galt ihm »überhaupt als Verderben und der Tod des Volkes«. Seitdem entfaltete der Begriff der Gemeinschaft eine geradezu magische Kraft. Denn die Bewohner der großen Städte übernahmen ihn und übertrugen ihn auf ihre Bedürfnisse. Sie lösten ihn von seinem Ursprung, der dörflichen Zwangsgemeinschaft, und wendeten ihn auf Gemeinschaftsformen an, die sich innerhalb der kritisierten Gesellschaft eröffneten. Die in die Moderne Entlassenen erfanden sich ihre Gemeinschaft, wählten sie je nach Lebenslage, Interessen und Neigungen. Wie die Wandervögel, die Gymnasiasten und Studenten, die am Wochenende »auf Fahrt« gingen und dabei ihr Anderssein kultivierten und sich als Neue Menschen stilisierten. Oder wie die ehemaligen Tagelöhner und Mägde, die in die Städte gezogen waren, wo sie die Fabriken und Wohnverhältnisse als Fluch erlebten. Sie fanden mit ihresgleichen neue Zugehörigkeit, die Geselligkeit in der Kneipe, die Ausfahrt am Sonntag oder den solidarischen Zusammenhalt im Arbeitskampf um höhere Löhne.
Nicht selten war die Erkundung alternativer Lebensformen mit der Suche nach Antworten auf die »soziale Frage« oder »die Arbeiterfrage« verbunden, zeitgenössische Kürzel für die Mißstände der kapitalistischen Gesellschaft und die Hoffnung auf Besserung im Sinne des Sozialismus. Auch der Untertitel der ersten Ausgabe von Tönnies’ »Gemeinschaft und Gesellschaft«, der noch die Begriffe von »Communismus und Socialismus« enthielt, ist nur ein Indiz dafür, wie virulent sozialistische Vorstellungen waren und wie eng die verschiedenen politischen und kulturellen Bestrebungen im Ausgang des 19. Jahrhunderts zusammenhingen. Das Wissen darum ist freilich im 20. Jahrhundert verlorengegangen. Die geschichtlichen und sozialen Entwicklungen trennten sie, nicht zuletzt die großen Kriege. Und eine akademische Geschichtsschreibung, die dem Gang der Ereignisse politisch befangen, wenn nicht ideologisch verblendet nur auf bestimmten Pfaden folgt.
(…)
SINN UND FORM 1/2018, S. 46-60, hier S. 46-49
Rosenau, Christian
Helden sagen. Gedichte, S. 61Habbal, Rasha
Ich erlaube dir nicht, mich zurückzulassen, S. 65Antoon, Sinan
Die schmale Stelle am Tor. Gedichte, S. 75Demus, Jakob
Nachtschau, S. 78Stárková, Magdaléna
Die Nacht verteilt. Gedichte, S. 87Wegmann, Christoph
Der Kanzler und die Sängerin. Aus Theodor Fontanes »Musée imaginaire«, S. 90Theodor Fontane besaß nicht besonders viele Bilder, sein Kopf aber war voll davon. Voller Fresken, Graffiti, Denkmäler, Zeitungsillustrationen, (...)
LeseprobeWegmann, Christoph
Der Kanzler und die Sängerin. Aus Theodor Fontanes »Musée imaginaire»
Theodor Fontane besaß nicht besonders viele Bilder, sein Kopf aber war voll davon. Voller Fresken, Graffiti, Denkmäler, Zeitungsillustrationen, Spielkarten, Ofenkacheln mit biblischen Szenen und vielem mehr. 1819 geboren, wurde er Zeuge jenes Umbruchs, in dessen Verlauf Bilder die Schrift verdrängten und die Herrschaft über Wahrnehmen und Denken übernahmen.
Als Fontane sieben Jahre alt war, brachte der Vierfarbendruck die Lithographie in Schwung, und der Neuruppiner Bilderbogen, durch den der Knabe Theodor so vieles erfuhr, erstrahlte in farbigem Glanz. Als er zehn war, taten sich Joseph Nicéphore Niépce und Louis Daguerre zusammen, um das heliographische Verfahren zu verbessern. Mit dreizehn konnte er in der Wundertrommel die ersten Bilder laufen sehen, mit achtzehn die ersten hochwertigen Farbillustrationen bestaunen, mit vierundzwanzig die erste Illustrierte durchblättern. Dann kamen der Rotationsdruck und die Massenpresse auf, auch das Photonegativ, mit dem man von ein und derselben Aufnahme beliebig viele Abzüge herstellen konnte. Ab Mitte des Jahrhunderts errichtete man wie im Fieber in allen großen Städten Museen, Ausstellungssäle, Kunstgalerien und Rundgebäude für Panoramen. Litfaßsäulen und Plakatwände wurden montiert, die Bildergeschichten Wilhelm Buschs, Witzblätter und Kunstzeitschriften entstanden, Bilderschauen gingen auf Tournee. Als Fontane 1898 starb, gab es die Lichtreklame, die Photolithographie, den Rollfilm, den Bildtelegraphen und die Kinematographie; eigentlich alles, was das Auge begehrte. Und der Sprachmensch Fontane hat vieles davon mit wachem Interesse aufgenommen.
Der Bilderschatz, den Fontane im Verlauf der Jahrzehnte in seinem Gedächtnis ansammelte, wurde zu einem riesigen »Musée imaginaire«. Über 1500 Bildobjekte tauchen in seinen Romanen auf; nur etwa 300 davon sind Kunstwerke im engeren Sinn, die Mehrzahl stammt aus dem Alltagsleben, das der Erzähler mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit erkundet hat. In diesem imaginären Museum gibt es Abteilungen für Kinder und für Fromme, für Kenner von Karten, Globen und Modellen, für Liebhaber des Erotischen und des Panoptikums. Alle wichtigen Geschehnisse und Themen spiegeln oder konzentrieren sich in Bildern, mit Bildern lernen sich Figuren kennen und lieben, wegen Bildern zerstreiten und trennen sie sich.
Fontane war ein ausgesprochener Augenmensch, ja geradezu hypervisuell begabt. »Wir lernen mit den Augen am meisten«, erklärte er einmal seiner Frau, »es ist beständig tätig«. Auf sein Auge traf dies jedenfalls zu, es wurde zudem von einem phänomenalen Bildgedächtnis unterstützt. Als Fontane im Sommer 1880 an »Graf Petöfy« zu arbeiten begann, stützte er sich außer auf Kartenmaterial auch auf seine Erinnerungen an einen fünf Jahre zurückliegenden Wienaufenthalt, um die Schauplätze des Romans zu bestimmen. »Ich kenne jetzt in der Altstadt jede Gasse und weiß ganz genau, wo meine Personen wohnen«, berichtete er seiner Frau, nachdem er sich drei Tage in seine Erinnerungen und Tagebuchnotizen vertieft hatte. »Dies lokale sich Einleben bedeutet furchtbar viel; das andre findet sich schon, selbstverständlich wenn man seinen Stoff als Keim des Ganzen hat.« An anderer Stelle behauptete er, er könne sich etwas als »unverwischbares Daguerrotypbild« einprägen und unverändert behalten.
Überall fand er Bilder, auf denen etwas zu entdecken war, ein Detail, das seine Phantasie anregte – auf Friedhöfen und Rummelplätzen, in Wirtshäusern und Salons. Einmal, als er in einem sehr engen »Water-Closet« direkt vor seiner Nasenspitze die eingravierten Schweinigeleien von »talentvollen jungen Männern « inspizierte, fand er zu seinem Erstaunen darunter auch »die bekannte Figur des pythagoräischen Lehrsatzes« – eine Kombination, die sein »hellstes Lachen« hervorkitzelte. Er kannte keine Berührungsängste vor dem Gewöhnlichen oder gar Primitiven. In London besuchte er ebenso gern das Panoptikum mit den Wachsfiguren der Madame Tussaud wie die National Gallery. Wie ein Goldgräber wusch und siebte er Massen von Bildmaterialien, um die lauteren Stücke zu gewinnen, die für seine literarischen Anliegen brauchbar waren. So hat er seine Erzählkunst auch beschrieben, als »Dunkelschöpfung im Lichte zurechtgerückt«, denn in seinen Entwürfen sei stets »Dummes, Geschmackvolles, Ungeschicktes neben ganz Gutem«, und es gehe darum, dieses ganz Gute in mühsamer Arbeit »herauszupulen« und zu einem Gesamtbild zusammenzufügen.
Auf Reisen kaufte sich Fontane Ansichtskarten oder kleine Photoalben. Die Abteilung »Photographie« seines imaginären Museums umfaßt einige Dutzend Sammlerstücke, vor allem Visitenkartenbilder, Ansichtskarten und Porträtaufnahmen, die wichtigsten Photoformate im 19. Jahrhundert. Die massenhaft verbreiteten Visitenkartenphotos kamen ab 1860 auf. Brauchte Fontane eine solche Aufnahme, ging er wie alle andern ins Photostudio, allein oder mit Familie. Damals besaß fast niemand eine Kamera, die Kodak-Box kam erst 1895 auf den Markt. Fontanes erstes, bis heute erhaltenes Porträt stammt vom September 1863. Es handelt sich um ein Ganzkörperbild in Dreiviertelansicht: Der Vierundvierzigjährige ist in einen offenen Gehrock gekleidet und stützt den rechten Arm lässig auf eine Konsole; den schmalen Kopf erhoben, die feinen Haare nach hinten gekämmt, blickt er bestimmt und verträumt zugleich auf ein unsichtbares Objekt.
Auch Bismarck begab sich zuweilen ins Photostudio, einmal sogar ganz ohne politische Absicht. Der Kanzler begleitete eine attraktive junge Dame, und dabei entstand ein kleines Bild mit skandalöser Wirkung.
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SINN UND FORM 1/2018, S. 90-97, hier S. 90-92
Nolte, Paul
Handschrift und Helfer. Thomas Nipperdeys »Deutsche Geschichte«, S. 98Thill, Hans
Schafwinter. Gedichte, S. 112Kleinschmidt, Sebastian
Vom Unheil des Erkennens. Hartmut Langes erster Novellenband, S. 115Rothmann, Ralf
Dunkler Umriß – Kleist und das Glück. Dankrede zum Kleist-Preis 2017, S. 125Heinemann, Elke
Under Cover. James Kirkups Erzählung über Heinrich von Kleist und Thomas Pynchon, S. 128Ansull, Oskar
Aspekt einer schwierigen Identitätsfindung. Karl Emil Franzos, Walter Benjamin, Ludwig Strauß, Paul Celan, S. 134Krieger, Hans
»Zieh den Mondkork aus der Nacht!« Noch einmal Christine Lavant: ein Nachtrag zu Werk und Rang, S. 136
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2/2018
Heft 2/2018 enthält:
Appelfeld, Aharon
Am Rande unserer Stadt, S. 149Appelfeld, Aharon
»Deutsch sollte meine Sprache sein, sie wurde es leider nicht«. Ein Gespräch mit Achim Engelberg über Literatur, Vergangenheit und Gegenwart , S. 168ACHIM ENGELBERG: Etliche Autoren, die über den Völkermord an den europäischen Juden oder die Schrecken der Lagerwelt des 20. Jahrhunderts (...)
LeseprobeAppelfeld, Aharon
»Deutsch sollte meine Sprache sein, sie wurde es leider nicht«. Ein Gespräch mit Achim Engelberg über Literatur, Vergangenheit und Gegenwart
ACHIM ENGELBERG: Etliche Autoren, die über den Völkermord an den europäischen Juden oder die Schrecken der Lagerwelt des 20. Jahrhunderts schrieben, begingen Selbstmord, etwa Primo Levi oder Jean Améry. Andere wie Jorge Semprún brauchten einen zeitlichen Abstand, um von ihren Leiden erzählen zu können. Nach dem Tod von Imre Kertész sind Sie einer der letzten, die die Schoah in den Mittelpunkt ihres Werkes stellen.
AHARON APPELFELD: Mit Kertész war ich eng befreundet. Ich konnte kein Ungarisch und er kein Hebräisch, aber unsere gemeinsame Sprache war Deutsch, wir kamen beide aus der österreich-ungarischen Kultur. Primo Levis Werke und die der anderen habe ich gelesen. Sie waren älter als ich, zehn oder zwanzig Jahre. Ein beträchtlicher Unterschied. Ich war damals noch ein Kind und konnte keine Memoiren schreiben, dazu muß man bewußt erlebt haben, was geschehen ist. Deshalb stellte sich die Frage für mich etwas anders. Ich konnte nur Literatur schreiben, keine Erinnerungen. Ich fing mit Gedichten an, die aber keinen Wert haben, weil ich in meiner Heimatstadt Czernowitz nur ein Jahr zur Schule gegangen bin. Nach Palästina kam ich 1946, mit fast vierzehn Jahren. Ich konnte weder die Sprache, noch verfügte ich über Bildung. Und es war anstrengend, Hebräisch zu lernen. In einem Kibbuz, wo man uns zu Bauern machen wollte, schrieb ich erste Erzählungen. Ohne meine Eltern, ohne die Familie war ich ziemlich verloren. Vieles war mir fremd. Czernowitz war zwar keine große, aber eine schöne Stadt. Die Lyrikerin Rose Ausländer lebte in derselben Gasse wie ich, es gab außerdem viele Dichter, Schriftsteller, Künstler und eine deutschsprachige Universität. Die meisten Schüler auf dem Gymnasium waren Juden.
In Israel konnte ich mich nicht einfügen in dieses heroisierte, optimistische Leben, die ideologisierte Kultur. Ich trug an meiner Last. Dort aber hieß es: Vergeßt, laßt die Vergangenheit hinter euch, lebt in der Gegenwart. Ich wollte aber mit meinen Eltern leben, den Großeltern, den Bekannten. So geriet ich in Opposition zum damaligen Israel. Glücklicherweise fand ich mit Mitte Zwanzig meinen Vater wieder. Wir hatten beide lange befürchtet, der andere könnte nicht überlebt haben. Mein Vater war in Czernowitz ein tüchtiger Geschäftsmann gewesen, nun hatte er alles verloren. Ich hatte inzwischen auch studiert und gute Lehrer gefunden: Gershom Scholem, Martin Buber oder Samuel Bergman waren assimilierte Juden, die sich mit dem jüdischen Schicksal auseinandersetzten. Später wurden sie meine Freunde. Scholem war nicht nur Historiker, sondern auch Schriftsteller. Sein »Sabbatei Zwi. Der mystische Messias« ist große Literatur. Auch Buber war ein Meister.
ENGELBERG: Mittlerweile sind Sie selbst ein klassischer israelischer Schriftsteller.
APPELFELD: Aber damals war ich noch zu sehr mit der Vergangenheit verbunden. Ich schuf mir erst meine Welt, ich war eher ein deutscher Autor. Deutsch war ja meine Muttersprache.
ENGELBERG: Hatten Sie Mentoren? Wie äußerten sich Ihre Lehrer zu Ihrer Literatur?
APPELFELD: Buber war mein erster Leser. Ich war 27 oder 28 Jahre alt, als ich ihm eine Erzählung gab. Es ging um Leute, die die Schoah überlebt hatten und einsam und verloren nach Israel gekommen waren. Sie konnten hier weder mit ihrer Vergangenheit noch in der Gegenwart leben, sie hatten keine Zukunft. Buber gefiel das Faktische, daß es wenige Adjektive, keine Idealisierung und nichts Didaktisches gab. Ich kam aus der Kafka-Kleist-Tradition. Sie waren meine großen Meister. Ich las beide sehr langsam auf deutsch. Besonders Kafka war mir nah, weil er mit seinem Judentum kämpfte, ähnlich wie Jean Améry. Das Judentum mit seiner langen Geschichte verbindet uns.
ENGELBERG: Wenn Sie ein neues Buch beginnen, was steht am Anfang?
APPELFELD: Gefühle, Stimmungen, Bilder. Es sind Details zu unserem Haus in Czernowitz oder dem in den Karpaten, wo ich meine Großeltern besuchte. Das führt mich voran, Seite um Seite, Kapitel um Kapitel. Wenn ich ein Buch schreibe, habe ich eine Idee. Das heißt nicht, daß ich diese leicht definieren kann. Es beginnt mit etwas Kleinem, einem Tisch etwa, doch dann kommt die allgemeine Idee. Es ist eine Reise. Nehmen wir diesen Raum. Hier gibt es viele Sachen – die Bilder von meinem Sohn Meir hängen an den Wänden –, aber um ihn so zu beschreiben, daß er dem Leser vor Augen steht, brauche ich nur zwei Details. Diese muß man aber erst einmal finden. Ich bin kein nostalgischer Schriftsteller, aber ich liebe meine Figuren. Deren Vorbilder habe ich kennengelernt, während des Krieges und danach. Viele lebten und leben hier in Israel. Das ist die Quelle.
ENGELBERG: Ich las, daß Sie im Kaffeehaus schreiben. Ist das immer noch so?
APPELFELD: Seltener. Ich schreibe nur in Kaffeehäusern ohne rauschende Musik, davon gibt es immer weniger. Das ist aber die Bedingung für mich. Die richtigen Kaffeehäuser verbinden mich mit denen zu Hause in Czernowitz. Da gab es viele – wie in Wien.
ENGELBERG: Sie schreiben aber immer noch mit der Hand, anschließend mit der Maschine?
APPELFELD: Ich glaube, jeder Schriftsteller, vielleicht jeder Künstler sollte das Physische, das Sensuelle mit Papier und Handschrift empfinden. Ich schreibe alles zuerst mit der Hand, aber jetzt benutze ich keine Schreibmaschine mehr, sondern eine Frau kommt und ich diktiere und korrigiere gleichzeitig. Jedes Buch benötigt einige Fassungen. Die Sätze sollen schön sein.
ENGELBERG: Sie erschrieben sich eine Welt aus Worten, ein Werk von fünfundvierzig Bänden. Trotz mancher Kritik haben Sie Buch um Buch veröffentlicht. Wann kam der Durchbruch?
APPELFELD: Am Anfang gab es in Israel diese primitive Reaktion auf meine Literatur: »Du lebst noch dort, nicht hier.« Sie wollten den großen starken Juden. Ich hatte es schwer, bis sie begriffen, daß ich über Leute schreibe, die wie ich hier in Israel leben. Damals waren rund fünfzig Prozent der Bevölkerung Überlebende der Schoah. Der Durchbruch kam allmählich, vor allem nach der ersten englischen Übersetzung. Der renommierte Kritiker Irving Howe schrieb eine Rezension des Romans »Badenheim«, das Buch erschien auf der Titelseite der New York Times Book Review.
ENGELBERG: Howe war zwar in der New Yorker Bronx geboren, aber seine Eltern kamen aus Osteuropa, genauer: aus Bessarabien. Viele der Gründungsväter Israels stammen, politisch wie kulturell, aus dieser Region. Tel Aviv nannte man in den fünfziger Jahren auch »Lodz am Mittelmeer«.
APPELFELD: Es war nicht nur Lodz. Sie kamen aus verschiedenen Ländern. Viele waren Verlorene, sie tranken reichlich Wodka, spielten Karten, gingen zu Prostituierten. Es war eine Reaktion auf die Lager, aus denen sie kamen. Aber sie wurden zu meinen Helden.
ENGELBERG: Über zwanzig Jahre waren Sie Professor in Be’er Sheba, der Hauptstadt der Negev-Wüste, wo Sie noch einmal ein ganz anderes Milieu kennenlernten.
APPELFELD: Meine Vorlesungen waren gut besucht. Ich verglich die jüdischen Literaturen verschiedener Kulturen, wobei mich vor allem die deutsche interessierte, Kafka, Heine, insbesondere seine Prosa. Ich schrieb auch einige Aufsätze, etwa über Isaac Bashevis Singer, der rechtzeitig aus Polen in die Vereinigten Staaten ausgewandert war.
ENGELBERG: Er siedelte sein Werk in ähnlichen Gegenden an wie Sie, hat ähnliche Trennungen wie Sie erlebt. Seinen Sohn, der mit seiner Mutter nach Moskau, später nach Palästina emigriert war, sah er zwei Jahrzehnte lang nicht. Seine Nobelpreisrede hielt er 1978 auf Jiddisch.
Plötzlich ertönt eine Sirene. Wir stehen auf. Es ist Jom haSikaron, der Gedenktag an die gefallenen israelischen Soldaten und Opfer des Terrorismus, auf den der Unabhängigkeitstag folgt. Aharon Appelfeld ist sichtlich bewegt und bleibt die zwei Minuten, in denen der Ton zu hören ist, stehen.
APPELFELD: Letzte Woche war Jom haScho’a, der Gedenktag an die Schoah.
Heute nun dieser Tag. Das weckt viele Erinnerungen.
[…]
SINN UND FORM 2/2018, S. 168-175, hier S. 168-171
Berg, Yonatan
Totes Meer. Gedichte, S. 176Amiel, Irit
Leben (vorläufiger Titel), S. 180Zagajewski, Adam
Ein Tropenwald von Erinnerungen. Gedichte, S. 205Venclova, Tomas
Der Fürst und sein Zar. Briefe aus dem Exil, S. 209Manchmal denke ich, man sollte alle Länder der Welt in zwei Klassen einteilen – in Immigrations- und Emigrationsländer. Man könnte mir (...)
LeseprobeVenclova, Tomas
Der Fürst und sein Zar. Briefe aus dem Exil
Manchmal denke ich, man sollte alle Länder der Welt in zwei Klassen einteilen – in Immigrations- und Emigrationsländer. Man könnte mir entgegenhalten, dies sei eine unzulässige Vereinfachung, die darauf zurückführen ist, daß ich selbst sowohl Immigrant als auch Emigrant bin. Doch ich würde meine Ansicht verteidigen. Jeder weiß, daß die Vereinigten Staaten – ihre Stärke, ihr Wohlstand, ihre Kultur – vornehmlich, wenn nicht sogar ausschließlich von den Massen von Ankömmlingen geschaffen wurden, die frei zu atmen begehrten (um es mit den Worten der Inschrift der Freiheitsstatue zu sagen). Im Gegensatz dazu wurde Rußlands Kultur – nicht jedoch seine Stärke und seine nicht vorhandene Prosperität – in beinah demselben Ausmaß von Emigranten, von den bemitleidenswerten Verstoßenen jenes alten, pompösen Imperiums erschaffen. Dasselbe läßt sich im wesentlichen auch über Polen sagen und vermutlich auch über Litauen, mein Heimatland – sowie über alle Länder jener schwer zu definierenden Region namens Ost- oder bisweilen auch Mitteleuropa im Schatten des besagten Imperiums.
Die Emigranten dieser Länder kann man, wiederum, mindestens in zwei Gruppen einteilen. Die einen, wie Adam Mickiewicz und Alexander Herzen im 19. Jahrhundert und meine Zeitgenossen Czesław Miłosz und Joseph Brodsky, verlassen ihre Heimat für immer. Andere, wie Boris Pasternak oder Michail Bulgakow, werden zu inneren Emigranten. Die »innere Emigration« ist eine russische Spezialität. Selbst Alexander Puschkin war in einem gewissen Sinne ein innerer Emigrant. Er wollte immer ins Ausland reisen, bekam aber, wie sich leicht erraten läßt, niemals eine Ausreisegenehmigung. In seiner Verzweiflung verfiel er auf die seltsamsten Ideen: Er versuchte, sich einer russischen Delegation nach Peking anzuschließen, und meldete sich im russisch-türkischen Krieg sogar freiwillig zur Armee, nur um ein einziges Mal im Leben ausländischen Boden zu betreten. Es gelang ihm auch, doch da war der besetzte türkische Boden, wie er enttäuscht feststellte, bereits russisch geworden.
Viele Russen haben die Trennlinie zwischen innerer und echter Emigration überwunden, und manche von ihnen sind sogar zurückgekehrt, beispielsweise Marina Zwetajewa und Sergei Prokofjew, und es hat ihnen, milde ausgedrückt, nicht gutgetan. Im übrigen läßt sich auch keine klare Trennlinie zwischen beiden Formen der Emigration und dem Tod ziehen.
Dagegen gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen einer gewöhnlichen und einer aussichtslosen Tyrannei. Die letztere zeichnet sich durch totale Isolation und Abgeschlossenheit aus (was der Marquis de Sade sehr gut verstand). Länder, die ihre Grenzen auf Dauer schließen, rechtfertigen diese Entscheidung mit eindrucksvollen Mythen. Diese Mythen sind Hunderte Male widerlegt worden und trotzdem unglaublich lebendig. Sie erhalten sich nicht nur durch die Bemühungen der Regierungen, sondern auch durch die in den Gesellschaften vorherrschenden Meinungen. Meistens ist die Argumentation die folgende: Die Abkehr von der eigenen Gesellschaft (und sogar die Entscheidung für die innere Emigration) ist geistiger Selbstmord. Es ist ein nichtswürdiger Akt, der dem Betrug an der eigenen Frau oder, noch besser, an der eigenen Mutter gleichkommt. Es ist ein religiöses Verbrechen, die Ablehnung des wahren Glaubens. Emigration ist die Abwendung von gewissen mystischen Wahrheiten, deren Erkenntnis nur auf heimatlichem Boden möglich ist. Natürlich ist das Leben auf diesem Boden schwer, niemand wird das bestreiten, aber das eigene, von unendlichem Leid heimgesuchte Land im Stich zu lassen, ist unmoralisch und ehrlos. Der Mensch kann ohne die heimatliche Landschaft vor Augen nicht leben. Ein Schriftsteller kann ohne seine Muttersprache nicht existieren. Die menschliche Kreatur ist nicht von sich aus klug und anständig – sie ist ein untrennbarer Teil ihres heimatlichen Bodens, ein Tropfen Heimatblut, ein Rädchen im geistigen Getriebe der Heimat. Verstand und Anstand können ohne kollektive Volkseele nicht existieren. Der Mensch ist ein Embryo, der stirbt, wenn die Nabelschnur durchtrennt wird, die ihn mit dem warmen, starken Körper seiner Großen Mutter verbindet. Das Individuum existiert nicht, basta.
Selbstverständlich hat es Menschen gegeben, die diese Mythen bewußt oder unbewußt abgelehnt haben. Oder wenigstens mit ihnen gerungen haben wie Jakob mit dem Engel. Es gibt gute Gründe für die Behauptung, daß auf diese Weise – durch Ablehnung und Ringen mit diesem Mythos – das Beste entstanden ist, was die russische und osteuropäische Kultur hervorgebracht hat.
Über diese Menschen kann man unendlich viele Geschichten erzählen, die nicht immer interessant, aber meistens lehrreich sind. Zum Beispiel die Geschichte, wie Boris Godunow, jener relativ liberale – von Puschkin ein bißchen zu Unrecht in dem bekannten Drama verurteilte – Zar, zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine ganze Reihe junger russischer Aristokraten zum Studium ins Ausland schickte und kein einziger zurückkam. Das hatte, um es mit Ossip Mandelstam auszudrücken, einen sehr einfachen Grund: Es gibt keinen Weg zurück aus dem Sein ins Nichtsein. Die Konfrontation mit dem Sein jedoch war offenbar kaum zu verkraften, zumindest nicht für einige der jungen Männer. Einer von ihnen ging jeden Tag zu jenem Gebäude in London, in dem sich damals die russische Gesandtschaft befand, und rief aus sicherer Entfernung: »Ihr Moskowiter seid alle verdorbene Dummköpfe!« Später begann er zu stehlen und wurde entsprechend der englischen Rechtsprechung feierlich hingerichtet. Dies ist, leider, ein beständiges Schema, dem das Schicksal von russischen (und osteuropäischen)
Emigranten folgt.
Viel später, im 19. Jahrhundert, gab es Wladimir Petscherin, einen Philosophen und Dichter von unbestreitbarem (wenngleich nicht außergewöhnlich großem) Talent. Vom russischen Staat nach Europa entsandt, desertierte er und konvertierte sogar zum Katholizismus, trat in ein Redemptoristenkloster ein und starb mit achtundsiebzig Jahren in Dublin. Er war allmählich zu extrem konservativen Überzeugungen gelangt und organisierte sogar eine öffentliche Verbrennung von Büchern, die er für häretisch hielt, was einen großen Skandal auslöste. Manche behaupten, er sei der Prototyp des Großinquisitors der »Gebrüder Karamasow«. Zwei Verse von ihm seien hier erwähnt:
Oh, wie süß es ist, sein Heimatland zu hassen
Und ständig seinen Untergang herbeizusehnen!
Ich bin der Meinung, daß dies einer der originellsten – und, mag sein, auch furchtbarsten – Texte der Weltliteratur ist. Mich läßt er allerdings weniger über die Morallosigkeit eines Petscherin als vielmehr über ein Heimatland nachdenken, das zu solchen Versen inspiriert.
Aber die längste Emigrantengeschichte, die ich erzählen möchte, ist eine andere. Ihr Protagonist war zweifellos von größerer Weisheit als Petscherin und reifer als jener unglückliche junge Mann, der im London des 17. Jahrhunderts zugrunde ging. Er war ein Militär und Staatsmann sowie ein guter – wenngleich kein herausragender – Schriftsteller. Überdies war er der erste russische Emigrant, der es wagte, die Nabelschnur zur kollektiven Seele zu kappen und sich zu einem unabhängigen menschlichen Wesen zu entwickeln. Über vierhundert Jahre trennen uns von ihm. Sein Name war Fürst Andrei Kurbski. Kurbski war und ist in einem gewissen Sinne unser Patron – kein heiliger Patron (er war alles andere als heilig), sondern eine Art Vorvater: ein Mann, der vielfach mit denselben Problemen konfrontiert war wie wir und manchmal sogar dieselben Worte verwendete.
Diese Geschichte hat, genauer gesagt, zwei Protagonisten. Der andere ist sogar noch außergewöhnlicher. Es ist der Zar von ganz Rußland, der erste, der sich überhaupt als »Zar« bezeichnet, als Imperator. Im Westen ist er als Iwan der Schreckliche bekannt. Diese Übersetzung ist ein wenig ungenau, denn »grosnyj« bedeutet streng und furchteinflößend. Mit diesem Adjektiv bezeichnet man einen Vater, eine Naturgewalt oder eine Gottheit. Es wurde häufig auch auf Stalin angewendet. Einer verbreiteten Meinung zufolge bedeutete es, daß dieser Herrscher zwar furchteinflößend war, aber auch für seine treuen Untertanen gesorgt hat. Hier wollen wir ihn Iwan den Gestrengen nennen.
[…]
Aus dem Litauischen und Englischen von Claudia Sinnig
SINN UND FORM 2/2018, S. 209-218, hier S. 209-212
Popescu, Marius Daniel
Der Fliegenfotograf. Gedichte , S. 219Wiegler, Paul
Gabriele. Romanfragment (Sommer 1945). Mit einer Vorbemerkung von Gernot Krämer, S. 222Wiegler, Paul
Autobiographische Skizze, S. 241Othenin-Girard, Corinne
Permanente Exilantin. Gedicht, S. 245Zimmermann, Hans Dieter
Eine Zeitlang ist man auf der Welt. Erinnerungen an Franz Tumler, S. 247Schulz, Christiane
Mit dem Fluß treten die Augen über das Ufer. Gedichte, S. 255Geiser, Christoph
Der Neandertaler von Darmstadt, S. 258Das Auge Gottes, übrigens, war auch noch nicht im Bus. Ja, vielleicht war das säumige Auge Gottes überhaupt der Grund, warum der Bus, der sich (...)
LeseprobeGeiser, Christoph
Der Neandertaler von Darmstadt
Das Auge Gottes, übrigens, war auch noch nicht im Bus. Ja, vielleicht war das säumige Auge Gottes überhaupt der Grund, warum der Bus, der sich nach und nach mit immer mehr saumseligen Fruchtbringenden füllte, noch immer nicht losfahren konnte, weil das Auge Gottes, die Treppe des Staatstheaters beherrschend, noch immer jedes einzelne Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft auf seine Linse bannen wollte und damit den Abstieg all der Fruchtbringenden über die Treppe behinderte und verzögerte – während wir dasaßen, auf unserem Bänkchen am Fenster zur Nacht, eingezwängt zwischen den Stehenden, die Panische mir gegenüber und die Verhärmte. Sukzessive immer mehr eingezwängt, unaufhaltsam. Den Ehernen sah ich erst, als es schon zu spät war. So stolperte ich, bereits panisch, über die Füße der Linguistik … Panik, ja. Urplötzlich. Und nicht der Panischen halber, die ganz unpanisch da sitzenblieb, wo sie saß, und auch nicht der Verhärmten wegen. Die verhärmt so sitzenblieb, wie sie war. Ich muß da raus, und zwar sofort, war das einzige, was man von mir noch vernahm, heißt, einzig die Linguistik im grellen Kunstlicht, über deren Füße ich stolperte, vernahm’s mutmaßlich, stereotyp lächelnd, ehern und stoisch.
Aus dem hellen Licht des Fahrzeuginneren in die Nacht der Schatten da draußen stolperte ich, aus dem Licht der Fruchtbringenden in die Finsternis umherhuschender Schatten. Die Schatten wollten mich zurückhalten! Sie vermochten es nicht. Die Vorstellung plötzlich, der Bus fülle sich immer mehr, immer mehr Fruchtbringende drängten hinein, die Fruchtbringenden nähmen quasi überhand und der Bus kippe; die Handbremse löse sich und der Bus finge ganz sachte an, die abschüssige Straße herunterzurollen … Fahrer konnte ich keinen sehen; so gäbe es gar keinen Fahrer, der Fahrer stünde, seine Zigarette rauchend, neben dem Bus und würde zu spät bemerken, daß sich sein Fahrzeug voller Fruchtbringender unaufhaltsam in Bewegung setzt – nicht aufzuhalten, nein, bis ins Erdinnere womöglich – oder der Bus finge plötzlich an zu brennen. Explodiere! Von der Zigarette des Fahrers. Und wir säßen da, eingezwängt zwischen der Panischen und der Verhärmten, dem Ehernen und dem Aufrechten, dem Zwingenden und dem Nährenden, dem Ordnenden und dem Vielgekrönten, der Unterhaltenden und der Eifrigen, den Stehenden und den Sitzenden, den Übersetzern und den Übersetzten, den Preisträgern und ihren Lobrednern, den Spektabilitäten und den Magnifizenzen, dem Semantikdiskurs und dem Semiotikdiskurs, dem Strukturalismusdiskurs und dem Dekonstruktivismusdiskurs, und nirgends ein Hammer, das Fenster zur rettenden Nacht einzuschlagen … Die Nacht als Rettung, solange ich noch eine kleine Tür sehe, die offensteht … und kein Auge Gottes, nirgends.
Wie käme ich jetzt zum Staatsempfang in die Orangerie? Was soll ich in der Orangerie … ja, wo wäre die denn? Wo bin ich?
Diese Stadt, mit rätselhaftem Namen ungeklärter Herkunft (nach der aber ein chemisches Teilchen benannt ist), die ich seit drei Jahrzehnten kenne, ist nicht nur nachts leer. Von den Bomben zerstört, nach dem Krieg in der Annahme wieder aufgebaut, sie bräuchte ein System von Hauptstraßenzügen als Organismus, als bräuchte es Platz für vierspurige Autobahnen, ging die Mitte verloren; das Zentrum: eine Fiktion. Der Luisenplatz. Nichts als ein Name und eine Säule, als müßte sie das Zentrum markieren, umgeben von Warenhäusern, die nachts zu sind. Dingversammlungen hinter erloschenen Fenstern.
Wo bin ich? Heißt: Wo geht’s denn vom Staatstheater, dieser architektonisch zusammenhanglosen Betonstruktur aus Treppen, Rampen und Balken, frage ich, mausallein plötzlich nachts zurückgeblieben, zum Luisenplatz, dieser fiktionalen Mitte, oder, besser noch, wichtiger eigentlich, zum Welcome Hotel, respektive zum Hessischen Landesmuseum, gleich gegenüber unserem Hotel? Noch haben wir ja nichts gegessen nach zweistündiger Preisverleihung, und der Hunger ist doch immer der elementarste Antrieb. Zum Staatsbankett in der Orangerie aber würden wir niemals zu Fuß gelangen, wir würden sie – auch ein für sich isoliertes Zentrum in einem Park an den unscharfen Rändern dieser Stadt – niemals wiederfinden, und: kein Taxi, nirgends.
Auch wir wären geladen, zu den Fruchtbringenden gehörig auch wir. Wir?!
Mausallein. Gottverlassen. Dem Auge Gottes, dem löwenmähnigen, aus dem Blick geraten. Wollten wir’s nicht? Was sollen wir uns denn mit all den Geladenen am Buffet um die Happen und Häppchen und, an den langen Tischen, um den fruchtbringendsten Platz quasi balgen, den mindesten Anstand & Abstand wahrend? Was soll ich hier? Loslaufen zunächst, in die Nacht, notgedrungen richtungslos, aber nicht ziellos.
Eine Gaststätte wäre der Vernunft gemäß das erste Ziel; ein Gaststätten-Signal ausfindig zu machen, eine Leuchtschrift, die auf eine Gaststätte hinweisen würde, eine Bierreklame, eine stattliche Eingangstür, wie für Gaststätten gewöhnlich, erleuchtete Fenster, Butzenscheiben womöglich … nichts zunächst. Betonstrukturen im diffusen Licht, eher lichtlos eigentlich, kein Flutlicht von Neon oder Kandelabern, keine erkennbaren Straßenbeleuchtungen, eine lichtlose Nacht. Zum Glück regnete es nicht, windete nicht, nicht kalt, nein, Ende Oktober noch mild, man konnte ohne Mantel gehn. Merkwürdig fühllos dünkten wir uns – keine Erinnerung mehr an ein Körpergefühl. Nicht einmal wirklich Hunger hatten wir. Nur das Bewußtsein, daß wir jetzt – sieben vorüber – etwas zu Abend essen müßten. Eine schwere Holztür, die offenstand, lud uns ein, hellbeleuchtet der Eingang. Der Anschrift nach ein türkisches Lokal, kein Imbiß, nein, ein Restaurant, auf der anderen Straßenseite, in einem stattlichen Haus. Wir traten ein, ein Flur mit Garderobe, der sich auf das hellerleuchtete Lokal hin öffnete, das überfüllt war; vollbesetzt; Kellner eilten vorüber, Tabletts auf den Armen, Geschirr, Speisen – man schien uns weder zu sehen noch zu hören. Höchster Lärmpegel, Gaststättenlärm. Wir standen eine Weile da, im Flur, perplex, irritiert – so plötzlich unsichtbar geworden. Wie hinter einer Schallmauer.
Verärgert wandten wir uns ab; zu rasch ungeduldig geworden. Ein Fehler.
Lichtlose Nacht. Straßenkreuzungen, kein nennenswerter Verkehr. Bürogebäude. Geschäftshäuser. Ein Reisebüro, »Vom Reisewunsch zur Wunschreise« auf der erloschenen Schaufensterscheibe. Oder: »Vom Reisetraum zur Traumreise«.
Wonach fragen? Käme uns denn wer entgegen … Nach dem Neandertaler können wir nicht fragen. So plötzlich unsichtbar geworden wie wir sind. Nach dem Museum natürlich müßten wir fragen. Ein stattlicher Bau, soeben nach umfassender Sanierung wiedereröffnet, von nationaler Bedeutung, erbaut ursprünglich vom ersten Warenhaus-Architekten Deutschlands, der in Berlin das Wertheim und das Pergamon baute, bedeutende Dingversammlungen beide. Ursprünglich übrigens an der Zeughausstraße 1 gelegen, heute Friedensplatz 1, eine politisch motivierte Umbenennung mutmaßlich. Ein Zeughaus! Das Museum, das Warenhaus. Aber das Zeug in dem Museum ist nun mal eher unser Ding … denn wir müssen’s nicht haben, nein, die Dinge müssen nur dasein. Vorhanden, nicht zwingend zuhanden. Wo ist das Museum? Wir wären gerettet. Beim Neandertaler. Keine Chance beim ersten jungen Mann, dem wir begegnen, Schemen im Dunkel einer lichtlosen Passage: verstöpselte Ohren! Man hört uns nicht. Er nimmt wenigstens den einen Stöpsel aus dem Ohr, hat aber noch nie etwas vom Museum gehört und weiß nicht, wo der Luisenplatz liegt. Einzig das Teilchen, nach dem jetzt ein Kongreßzentrum benannt ist, scheint ihm vom Hörensagen bekannt – Darmstadion, sagt er unsicher, als müßt’s ein Stadion sein, und deutet vage mit der Hand in die Nacht: in dieser Richtung ungefähr … immerhin dies. So gehe ich nicht in die entgegengesetzte Richtung – doch so oder so: Gehen, lesen wir im nachhinein, bedeutet den Ort zu verfehlen. Wir sind an einem Unort, einem Nicht-Ort eher. Nirgends sind wir! Unser Museum aber kann durchaus geortet werden. Wir waren ja drin! Und haben’s nicht bloß erträumt. Der kleinen Ausstellung zur Geschichte der Fruchtbringenden halber waren wir drin, einen ganzen Morgen lang und anderntags wieder, verließen aber unsere Fruchtbringenden und ihre Geschichte bald und verloren uns in dem labyrinthischen Bau.
Im frisch renovierten Bau verloren wir uns, auf seinen mindestens fünf Stockwerken, Rampen und Treppen, in den Räumen zwischen den schweren Türen, die mit menschlicher Kraft kaum zu öffnen sind (dafür sind eben diese schwarzen Knöpfe da! zeigte man uns), aber auch in den Diskursen, könnte man sagen, verloren wir uns. In den historischen Diskursen, den kunsthistorischen, den ethnologischen, paläontologischen, anthropologischen, erdgeschichtlichen, vor allem aber in den Diskursen der Menschheitsgeschichte, also vornehmlich im Diskurs der Paläoanthropologie verloren wir uns und, überdies! bei der Frage, wie groß die Schnittmenge des kunsthistorischen Diskurses mit dem erdgeschichtlichen denn wäre: angesichts dieser wunderschön schillernden und liebevoll präparierten fossilen Reptilien & Insekten aus der Grube Messel. Aber nicht der Grube Messel wegen waren wir da. Die doch weltberühmtes Natur- und/oder UNESCOKulturerbe der Menschheit ist. Sondern der Fruchtbringenden Gesellschaft halber. Aus dem Bus der Fruchtbringenden Gesellschaft haben wir uns panisch in die Darmstädter Nacht geflüchtet und vorerst darin verloren, verirrt.
[…]
SINN UND FORM 2/2018, S. 258-268, hier S. 258-261
Habel, Sabrina
Der Kritiker und die Resignation, S. 269Mosebach, Martin
Der Aquarellblock als Tagebuch. Über die Malerin Elisabeth von Förster, S. 272Hensel, Kerstin
Der Einbruch der Nacht in den Morgen. Zu Wolfgang Hilbig, S. 274Lewitscharoff, Sibylle
»Menschliches Wesen / Was ist’s gewesen«. Über Paul Gerhardt, S. 276Schulze, Ingo
Die Auflehnung gegen das Unausweichliche. Nachruf auf Silvia Bovenschen, S. 279
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3/2018
Heft 3/2018 enthält:
Mosebach, Martin
Wiedersehen mit Rom, S. 293Mit fünfzehn Jahren habe ich Rom zum ersten Mal betreten, eine Schwester meiner Mutter lud mich ein; wir wohnten in einem kleinen Hotel nahe der Via (...)
LeseprobeMosebach, Martin
Wiedersehen mit Rom
Mit fünfzehn Jahren habe ich Rom zum ersten Mal betreten, eine Schwester meiner Mutter lud mich ein; wir wohnten in einem kleinen Hotel nahe der Via Nomentana und waren von morgens bis abends auf den Beinen, denn ich hatte die Absicht, »alles« zu sehen, und reiste auch in der Überzeugung ab, nun »alles« gesehen zu haben. Es dauerte noch einige Jahre, bis mir dämmerte, daß ich niemals »alles« in Rom würde gesehen haben, und brächte ich auch mein restliches Leben vorwiegend mit seiner Erforschung zu. Wer nach dem Krieg im westlichen Teil Deutschlands aufgewachsen ist, in unseren zerstörten und fade wiederaufgebauten Städten, der kam 1966 in ein Rom, das die scharfen Einschnitte der Modernisierung noch vor sich zu haben schien. Ich sah Papst Paul V. noch auf einem goldenen Tragsessel, der sedia gestatoria der republikanischen Konsuln, an mir vorüberschweben, getragen von acht in roten Damast gekleideten »sediarii«; die Kardinäle, die ihn begleiteten, trugen Hermelinmozetten um die Schultern und hatten ihre langen roten Atlasschleppen hochgeknöpft, so daß sie sich in ihrem Rücken bauschten. Da waren die radikalen Entscheidungen für einen Bruch mit der liturgischen Tradition schon gefallen, aber die alten Bilder wurden noch reproduziert, so wie von der Erde aus gesehen gewisse Sterne noch funkeln, deren Licht bereits erloschen ist. Rom war eine düstere Stadt in diesen Jahren, die Kirchen und Paläste waren braun-rot verputzt, Sonne und Wasser hatten diesen Putz fleckig gemacht, jede Wand glich einem Gemälde von Tàpies. In dieser braunen Dunkelheit schien die Stadt wie aus anderen Erdepochen in die Gegenwart hineinzuragen. Die barocken Paläste und die antiken Backsteinruinen waren dadurch nicht streng geschieden, sondern verschmolzen farblich miteinander. Daß Rom während der Herrschaft Mussolinis, die so lange schließlich noch nicht zurücklag, und schon vorher unter den Savoyer-Königen eine Reihe von rabiaten Modernisierungen hinter sich hatte, die den Vergleich mit dem Abriß des mittelalterlichen Paris unter Napoleon III. nicht scheuen mußten, war für mich in meinen jungen Jahren nicht spürbar. Ich erlebte die Stadt, als stehe in ihr, nach ungeheuren gewaltsamen Verwerfungen in vergangenen Jahrhunderten, die Zeit nun für immer still.
»Still« freilich nicht im Sinne von Lautlosigkeit. Bis zum Ende der achtziger Jahre gab es keine Bedenken in Rom, dem anwachsenden Verkehr in allen Straßen und Plätzen der Stadt Freiheit zu gewähren. Die engen Gassen des Marsfeldes waren von Autoschlangen blockiert, die sich manchmal erst nach Stunden auflösten. Wo freie Fahrt möglich war, rasten knallend die Motorräder, die Passanten drückten sich an die Hauswände. Der Verkehrslärm war allgegenwärtig, nur auf den Dachterrassen im siebenten Stock eines Palazzo verwandelte er sich zu einem Meeresrauschen. Lange waren die berühmtesten Plätze Roms – die Piazza del Popolo, die Piazza Navona, sogar der Petersplatz – vor allem Parkplätze. Das alles war nicht schön, aber es wirkte unbekümmert. Die Stadt wurde nicht unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie sie am besten von Reisenden besichtigt werden könne. Die alte Auffassung, daß eine Stadt ein Raum der Freiheit bis hin zur Anarchie, des ungeregelten Aufeinanderprallens vieler Kräfte sei, die ungesteuert in ein Zusammenwirken hineinfinden, das sich von staatlicher Gesetzlichkeit unterscheidet und dem Außenstehenden überhaupt undurchschaubar bleibt, die Stadt als harmonisches Chaos, sie war in diesem Rom noch zu finden, wenngleich die Urbs aeterna dabei war, in die Selbstvernichtung zu gleiten. Noch 1986, als ich im Ghetto meinen Roman »Westend« zu schreiben begann, waren die Plätze voller Abfall, streunten die Katzen, entleerten sich die Tauben, verstärkten die Straßenschluchten das Motorendröhnen zum Donner. Aber aus dem Erdendreck hoben sich die braunverkrusteten Riesensäulen in den pflaumenfarbenen Nachthimmel; die Stadt ächzte unter der Last ihrer Geschichte – für mich war eine Befreiung von dem verödeten Deutschland des Wiederaufbaus, eine Überwindung des großen historischen Bruchs mit dem Aufenthalt in römischen Mauern verbunden.
Über vergangene Zeiten zu sprechen geht oft auch mit Klagen über Verluste einher. Man muß vernünftig sein – so wie es war, konnte es nicht weitergehen. Rom hat sich seitdem verändert, und viele würden sagen, daß diese Veränderungen vorteilhaft waren. Überall in Europa sind die kleinen Geschäfte und Handwerkerateliers aus den Innenstädten verschwunden – warum nicht auch in Rom? Überall sind die kostbaren historischen Altstädte nicht mehr von den kleinen Leuten bewohnt, die sie einst in so unnachahmlicher Weise belebten. Wenn London auf den alten Markt von Covent Garden und Paris auf die Hallen verzichten dürfen, warum muß dann auf dem römischen Campo dei Fiori alles beim geräuschvollgemüseduftenden alten bleiben? Nach den Fußgängerzonen des Nordens, die unsere Stadtkerne in Einkaufszentren verwandelt haben, hätte man sich in Rom nicht sehnen dürfen? Warum nicht aufatmen, daß der gewalttätige Krach aus der Stadt verschwunden ist? Denn die alten Steine sind schließlich nicht verrückt worden. Wenn man durch die Gassen schlendert und nicht zu genau hinsieht, ist alles noch wie vor hundert Jahren – die Kulisse steht doch, auch wenn in den Läden nicht mehr Salat und Kartoffeln angeboten, sondern Jeans und Touristenschnickschnack verhökert werden. Die Kunsthistoriker haben inzwischen herausgefunden, daß das römische Braun-Rot, das der Stadt ihre Monumentalität verliehen hatte und das so großartig alterte, nicht der Farbigkeit des Barock entspreche – es sei erst von den Savoyer-Königen eingeführt worden. Seitdem wird überall, wo eine Kirche oder ein Palazzo zur Restaurierung ansteht, Weiß gemalt – ein schönes Weiß übrigens, ein leicht gebrochener Knochen- oder Elfenbeinton, der den Gebäuden die Massigkeit und Schwere nimmt. Aber war es nicht gerade diese Schwere, die der Stadt ihre in Zeitlosigkeit brütende Großartigkeit gab? Die Palazzi auf der Piazza Navona, der Palazzo Farnese, die Architektur rund um die Spanische Treppe, die Galleria Borghese, sie sind nun weiß oder doch gereinigt, und auch St. Peter wurde so gründlich abgewaschen, daß der Stein wie weißes Styropor aussieht. Die Plätze sind frei, die Autos vertrieben, der Tourismus findet kein anderes Hindernis mehr vor als sich selbst – in den wärmeren Jahreszeiten wälzen sich die Heerscharen in Freizeitkleidung hinter Führern mit emporgereckten Fähnchen und versperren sich gegenseitig die Sicht. Zwischen März und November sind die großen Museen, die Vatikanischen an der Spitze, unbetretbar – selbst streng demokratische Volksfreunde geraten im Massenandrang in der Sixtinischen Kapelle in elitäre Empörung. Wer weiß, wo man noch römisches Volksleben – »come una volta« – erleben kann, schweigt und verrät es nicht. Und wo sind die Katzen geblieben und die verwirrten alten Frauen, die ihnen an den Straßenecken einen Haufen Spaghetti mit Tomatensauce hingeschüttet haben – das war kein appetitlicher, aber ein sehr römischer Anblick, vor allem wenn an dieser Straßenecke die Trommel einer antiken Säule im mittelalterlichen Gemäuer steckte. Die Taubenschwärme werden hingegen von den Möwen dezimiert, die seit längerem in die Stadt vorgedrungen sind und mit ihrem scharfen Schnabel die erjagten Vögel wie Sardinenbüchsen aufschneiden.
Lange hat sich Rom gegen die Modernisierung gewehrt; schließlich ist sie doch angekommen. Für den Besucher hat das auch Vorteile: Es gibt viel weniger Streiks als früher – die paar Streiktage werden gewiß nur aus folkloristischen Gründen aufrechterhalten –, es gibt mehr Museen mit großzügigeren Öffnungszeiten, auch an die Leute im Rollstuhl wird überall gedacht. Die ganze Altstadt ist zu einem einzigen riesigen Restaurant geworden, das um die Piazza Navona herum erst um vier Uhr früh schließt.
Kein Raum für Rom-Romantik also mehr? Aber obwohl im Begriff Romantik der Name Rom aufgehoben ist, gehört sie eigentlich nicht nach Rom. Das Wunder Rom besteht weniger in seinen zahlreichen Untergängen als in seinen Auferstehungen. Die römische Symphonie ist nicht in Moll, sondern in Dur geschrieben – ganz wörtlich, denn Dur steht für jene Härte, die eine lange Dauer verleiht. Wer aus Sentimentalität – auf Moll gestimmt! – im einundzwanzigsten Jahrhundert das Rom der sechziger Jahre sucht, wird enttäuscht sein, wer einen Blick für die epochenübergreifende lange Dauer entwickelt hat, wird sie auch heute in Rom finden.
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SINN UND FORM 3/2018, S.293-307, hier S. 293-296
Kienlechner, Sabina
Ingeborg, ein letztes Mal, S. 308I Drei- oder sogar viermal in ihrem Leben kam Ingeborg Bachmann nach Rom, um hier eine Weile zu leben. Wir waren immer schon da: in den fünfziger (...)
LeseprobeKienlechner, Sabina
Ingeborg, ein letztes Mal
I
Drei- oder sogar viermal in ihrem Leben kam Ingeborg Bachmann nach Rom, um hier eine Weile zu leben. Wir waren immer schon da: in den fünfziger Jahren, als sie Rom zu ihrer »Wahlheimat« machte (in Wahrheit aber kam und ging wie ein Zugvogel), dann 1960, als sie und Max Frisch sich hier als Paar niederließen (für etwa zwei Jahre), und schließlich von 1965 bis zu ihrem Tod 1973, als sie nicht mehr nur sporadisch, sondern »fest«, wie wir, als Ausländerin und Exterritoriale in Rom lebte.
In allen Perioden ihres römischen Lebens kam sie uns besuchen. Wir wohnten in einer etwas verblichenen Jugendstil-Villa am Rande der Stadt, umgeben von einem großen, verwilderten Garten mit Gipsstatuen darin: Wenn man um die hochgeschossenen Buchsbaumhecken bog, stand man plötzlich vor Paulina Borghese, Cäsar, den Dioskuren. Viele deutsche Schriftsteller und Dichter kamen zu uns, früher oder später waren fast alle mal in Rom oder lebten sogar eine Weile hier. Manche besuchten uns nur einmal, andere kamen häufig, oder man traf sich zu Spaziergängen in der Campagna. Damals hätte ich mir nicht vorstellen können, daß Jahrzehnte später jemand fragen würde: »Wer war Ingeborg Bachmann?«, wie Ina Hartwig in ihrer »Biographie in Bruchstücken« von 2017. Für uns war sie einfach Ingeborg, oder manchmal auch: die Bachmann. Ich möchte noch ein paar Bruchstücke hinzufügen und bei dieser Gelegenheit einige Passagen aus einem Brief wiedergeben, den meine Mutter Toni Kienlechner an Ingrid Bachér schrieb, nachdem Ingeborg Bachmann gestorben war. Und vielleicht gelingt es mir am Ende zu erklären, warum man in Rom so viel leichter leben – und auch leichter sterben konnte als zum Beispiel in Wien, Berlin oder Zürich.
II
Ich war damals, als Ingeborg uns die ersten Male besuchte, noch ein Kind, dann eine Jugendliche, und meine Erinnerung ist entsprechend anders und dürftiger als die der Erwachsenen, die mit ihr über wichtige Dinge sprachen. Aber ich hatte, weil ich nichts zu sagen hatte, viel Zeit, sie zu beobachten, und ihr Eindruck auf mich war nicht minder stark als der auf die Erwachsenen. Ich habe ihre Verwandlung im Laufe der Jahre genau registriert: daß sie erst akkurat so aussah, wie wir uns eine »deutsche Dichterin« vorstellten, mit schlichtem, braunfransigem Bubikopf, daß sie dann, während wir Kinder heranwuchsen, immer schicker, blonder und »italienischer« wurde, à la mode, zuweilen bunt wie ein Papagei, andere Male schwarzschillernd wie Patty Pravo. Ich habe bemerkt, daß sie ab einem gewissen Zeitpunkt nur noch in vollkommener Aufmachung ihre Wohnung verließ, und immer seltener. Bei sich zu Hause, wo sie nur noch vertraute Personen und solche, die nichts zu sagen hatten, einließ, traf man sie nachlässig an, ungeschminkt, oft im Bett und immer verstört, fast panisch, aber hingebungsvoll freundlich und buchstäblich suchend nach Worten der Freundlichkeit. Mehrmals habe ich beobachtet, wie sie heiterer wurde, während meine Mutter an ihrem Bett saß und mit ihr sprach, wie sie nach einer Weile heraussprang, wegen eines kleinen »Whiskerl« für sich und den Besuch, Zigaretten lagen ohnehin auf dem Nachttisch. Dann, als sie wieder zu Leben gezogen war, wurde das Zusammensitzen aufgehoben. Die Ängste, die sie geplagt hatten, waren für diesmal vorüber.
Wenn sie uns besuchte, kam sie stets allein; auch in ihrer Zeit mit Max Frisch. Auch er besuchte uns gelegentlich, aber nie zusammen mit Ingeborg. Er kam, wenn sie verreist war, was häufig der Fall war. Ingeborg achtete sehr darauf, ihre Freunde und Bekannten zu separieren und sich nach Möglichkeit jedem gesondert zuzuwenden. Meine Schwester und ich beobachteten sie einmal unbemerkt, als wir sie zufällig über die Piazza di Spagna laufen sahen. Sie hatte eine auffällig schillernde, enge Hose an und schritt zielstrebig aus, die Haare waren streng nach hinten gekämmt zu einem hochsitzenden langen Zopf, der nicht ihrer war, und auch das Gesicht war merkwürdig verändert durch ein Paar künstlicher Wimpern, die ihr dickschwarz an den Augen klebten. Wir staunten. Das dort war unzweifelhaft Ingeborg, aber zugleich eine ganz andere Person als die, die wir kannten, bis hinein in ihre Bewegungen: Sonst bewegte sie sich eher zögerlich, mit kurzsichtiger Behutsamkeit, nichts Forsches oder Zielstrebiges schien ihr eigen. Es berührte uns merkwürdig, sie so verändert zu sehen, sie war offensichtlich eine Rollenspielerin, und in unserem noch halbkindlichen Alter kam uns das vor wie eine Unehrlichkeit, eine Art Betrug. Vielleicht stellten auch wir uns damals, ohne es recht zu begreifen, die Frage: Wer war Ingeborg Bachmann, wer war sie wirklich?
Wie naiv, ja töricht diese Frage tatsächlich war, zeigte sich in den Wochen, als sie im Sterben lag und ihre Freunde und Bekannten im Vorraum des Krankenhauszimmers unversehens zusammentrafen, etliche zum ersten Mal. Hier stellte sich heraus, daß sie für jeden eine andere war, und eine große Verwirrung erfaßte die besorgte Besucherschar. Es muß ihnen zumute gewesen sein wie nach einer Blendung, wenn die Augen sich langsam wieder an die Dunkelheit gewöhnen: dunkel war es, weil Ingeborg über jeden ihrer Schritte einen Schatten der Diskretion und Verschwiegenheit gelegt hatte; geblendet waren sie, weil sie jedem gegenübergetreten war, als sei er der einzige, Wichtigste, tatsächlich die einzig wichtige Begegnung in ihrer Welt. Das hat sie »hingekriegt«, und in dieser Antinomie der Beziehungen irrten ihre Freunde, Verwandten und Gefährten nach ihrem Tod herum, trafen sich, merkten, daß sie zu wenig und nur Widersprüchliches von ihr wußten, verstritten und verloren sich, teils für immer.
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SINN UND FORM 3/2018, S. 308-319, hier S. 308-310
Ivanova, Mirela
In den Augen des Windes. Gedichte, S. 320Bürger, Christa
Emmy Hennings' Weg zu Hugo Ball, S. 322»Nachdem ich dreißig Jahre lang gegangen war, bemerkte ich urplötzlich, daß ich mich in der Sackgasse des Irrtums befand.« Als Emmy Hennings (...)
LeseprobeBürger, Christa
Emmy Hennings' Weg zu Hugo Ball
»Nachdem ich dreißig Jahre lang gegangen war, bemerkte ich urplötzlich, daß ich mich in der Sackgasse des Irrtums befand.« Als Emmy Hennings kurz vor dem Ersten Weltkrieg Hugo Ball kennenlernt, ist sie fast dreißig Jahre alt. 1885 in Flensburg geboren, großgeworden ohne Schul- und Ausbildung, ist sie Dienstmädchen gewesen, Schauspielerin in einer Wandertruppe, als Siebzehnjährige verheiratet, mit zwanzig Mutter. Nach der Scheidung führt sie ein unstetes Nomadendasein, als Hausiererin, Gelegenheitsprostituierte, Animierfräulein, vagabundierende Balladensängerin, Kabarettistin schließlich in Berlin und München, drogenabhängig, halt- und heimatlos, mit rasch wechselnden Liebesbeziehungen. 1911 tritt sie zum Katholizismus über. Nach einem Gefängnisaufenthalt im Frühjahr 1914, dessen Hintergründe ungeklärt sind, emigriert sie mit Ball in die Schweiz, wo das Paar, mit dessen Namen wir heute das Cabaret Voltaire, also die Gründung des Züricher Dadaismus verbinden, in äußerster Armut lebt. 1919 und 1920 schreibt Emmy Hennings ihre beiden Bekenntnisbücher, »Gefängnis« und »Das Brandmal. Ein Tagebuch«. Nach ihrer Heirat 1920 leben Emmy und Hugo Ball meistens im Tessin, freundschaftlich unterstützt von Hermann Hesse, aber immer am Rand des Existenzminimums. 1927 stirbt Hugo Ball an Darmkrebs, wohl infolge jahrelanger Entbehrungen. Emmy hatte noch einundzwanzig Jahre zu leben.
Dreimal begegnet Wolfram von Eschenbachs Parzival auf seinen Umwegen zum Gral der trauernden Sigune, seiner Mutter Schwesterkind, als Pietà mit dem toten Geliebten im Schoß, als Baumheilige mit dem einbalsamierten Toten, als Klausnerin an seinem Grab: »Er vant ein klôsnaerinne, / diu durch die gotes minne / ir magettuom unt ir freude gap. / wîplicher sorgen urhap / ûz ir herzen blüete alniuwe, / unt doch durch alte triuwe.«
Der Anblick der trauernden Frau, die ihre irdische Liebe in Gottesliebe umgewandelt hat, um dem Toten die Treue zu halten, löst in dem mit sich und der Welt unbekannten jungen Ritter ein ihm ganz neues Gefühl aus: Mitleid. Parzivals Mitleid, das dem Gralskönig endlich die langersehnte Erlösung bringen wird, hat seinen Ursprung in der Leidensfähigkeit der Frau.
Emmy Hennings nimmt nach Balls frühem Tod mit der Veröffentlichung des von ihr zusammengestellten Bandes »Hugo Ball. Sein Leben in Briefen und Gedichten« (1929) als Autorin den Namen Ball-Hennings an. Über Hugo Ball schreibt sie drei Bücher: »Rebellen und Bekenner« (1931 / 32), »Hugo Balls Weg zu Gott« (1931), »Ruf und Echo. Mein Leben mit Hugo Ball« (1948, posthum veröffentlicht 1953). Es sind drei Versuche, die Trennung von dem geliebten anderen aufzuheben. Balls Tod hat sie ihrer genuinen Ausdrucksmöglichkeit beraubt. Sie könne »nicht mehr verspielt sprechen«, klagt sie 1927 in ihrem Tagebuch. Aber in dem Maße, wie sich von Buch zu Buch das Gewebe ihres Lebens mit Hugo Ball verdichtet, verwandelt sich ihre eigene Geschichte, so daß allmählich, rückwirkend, aus dem Irrweg ein Weg wird. »Wir leben das Leben der Toten, Seligen weiter, und es bewegt sich in uns«, schreibt sie in »Hugo Balls Weg zu Gott«. Wie die meisten Sätze Emmy Hennings’ ist auch dieser vieldeutig. Wenn wir der Beobachtung von Hans Richter trauen wollen, der sie sieben Jahre nach Balls Tod im Tessin besucht hat, drückt sich darin ein Gefühl des Selbstverlusts aus. »Sie führte mich in den Stockwerken herum, als lebte Ball noch. Alles war an seinem Platz. Balls Kleider hingen neben ihren, seine Bücher standen neben Emmys. Sie war, soweit wie möglich, hier ›in Gott mit ihm vereint‹, eine Eremitin.«
Nun konnte Richter schon in der Epoche des Züricher Dadaismus Hennings »ihre mystische Kindlichkeit so wenig glauben wie Ball seine abbéhafte Ernsthaftigkeit «. Jetzt, zwanzig Jahre später, ist er einer Trauernden begegnet, deren Trauer aber von einer anderen Ordnung war als der ihm zugänglichen. Das Leben Hugo Balls, das diese freiwillige Eremitin schreibend in sich bewegt, erfährt durch sie eine Verwandlung, deren Richtung die Schreibende selbst vielleicht noch nicht kennt, diese Trauernde, die keine Gewißheit hat außer dem Grund ihrer Liebe zu Hugo Ball und ihres Schreibens über ihn. Es war Mitleid mit einem Menschen, dessen furchtbare Armut, dessen äußeres Leben in einem unerträglichen Widerspruch zu seinem geistigen stand. »Hätte er nie eine Zeile geschrieben, auch dann wäre seine einmalige Existenz, gerade wie er sie geführt, bewundernswert.« ("Hugo Balls Weg zu Gott«) Indem sie schreibend das alte Gefühl des Mitleids in sich wachhält, wîplicher sorgen urhap, bekommt Balls Existenz einen Namen: Askese.
Man hat, nicht zu Unrecht, Emmy Ball-Hennings die »religiöse Überhöhung« ihrer Beziehung vorgeworfen, und die Asymmetrie in ihrer Darstellung ist in der Tat nicht zu übersehen. Die beiden 1938 und 1940 veröffentlichten autobiographischen Bücher, »Blume und Flamme« und »Das flüchtige Spiel. Wege und Umwege einer Frau«, lassen ihr Leben als einen Weg zu Ball erscheinen, dem Mann, dem sie sich vollkommen anvertraut, weil sie bei ihrer ersten Begegnung schon geahnt hat, daß sie »mit ihm beten konnte« ("Das flüchtige Spiel«). Die Frau, die auf ihr Leben mit Hugo Ball zurückblickt, weiß freilich selbst, daß sie dieses schönt. Die »Erinnerung ist eine rührende Dichterin, die alles Nebensächliche, Trübe möglichst unberührt läßt. Die Erinnerung hat recht, so vorzugehen, denn von mancher Qual, die das Dasein mit sich bringt, bleibt einmal nur die Frucht des Leidens, die Liebe. Alles andere ist nichts und wird einmal sein, als wäre es nie gewesen« ("Ruf und Echo«). Erinnerndes Dichten, das sich um biographische Genauigkeit nicht kümmert: Ball hätte darin Emmys Grazie erkannt. In der »Flucht aus der Zeit« hat er einen Satz aus einem Gespräch mit ihr festgehalten: »Die unverdaulichen Vorkommnisse in jedem Moment mit der Illusion konfrontieren: das ist der Triumph der Grazie.«
Wenn man aus einer anderen Perspektive als der der Wirklichkeitstreue diese Erinnerungsbücher liest, wenn man nicht wissen will, wie es eigentlich gewesen, sondern wie es erfahren worden ist, wird man ihnen einen eigenen Formwillen nicht absprechen. Es ist die Legende, eine »einfache Form«, der eine bestimmte »Geistesbeschäftigung« zugrunde liegt, die Imitatio, ein Erzählen, das Menschlichkeit und Heiligkeit miteinander verwebt.
Die Geistesbeschäftigung der Imitatio war Emmy Ball lieb und vertraut. Viele Monate lang hatte sie sich mit Hugo in die Acta Sanctorum versenkt, in der Stille ihres kleinen Hauses in Agnuzzo mit seinem verwunschenen Garten. Auf den Granitstufen ihrer Treppe, »vor uns der blühende Garten, in der Ferne der See und die Berge und nahe über uns die zartblauen Dolden der Glyzinien«, lesen sie zusammen in ihrem »paradiesischen Bilderbuch, dem die Heiligen entstiegen« ("Ruf und Echo«). »Das Bekanntwerden mit den Heiligengestalten (…) wirkte wie ein Lichtsturz auf uns ein.« Hermann Hesse, der den toten Freund als »einen schönen hageren Heiligen« beschrieben hat, beglaubigt in einem offenen Brief in einer umfassenden Geste die Erinnerung der Witwe. »Euer Leben, das Ihre und Hugos, wird bald zur Legende werden, man wird von ihm und von Ihnen wunderliche und tröstliche Sachen erzählen (…) und alles wird wahr und mehr als wahr sein.« Daß Hesse in diesem Brief Emmy Hennings mit Bettina von Arnim vergleicht, geschieht wohl nicht ohne Absicht. Beide Frauen stehen ihm für ein gleichsam überliterarisches Schrei ben. Indem sie sich selbst als Zeuginnen eines exemplarischen Lebens verstehen, nehmen sie ihre Marginalisierung in Kauf. Aber ihre Schriften, die nicht Werke sind, werden gebraucht – als Texte einer heimlichen ecclesia.
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SINN UND FORM 3/2018, S. 322-332, hier S. 322-324
Georgi, André
Die Hand, S. 333Grünbein, Durs
Spreekanal. Gedichte, S. 340Lorenz, Carolin
Die Pantherfrau. Sarah Kirsch als Begründerin der Interviewliteratur in der DDR, S. 344Meckel, Christoph
Vor der Zukunft. Gedichte, S. 352Ruge, Eugen
Versuch über eine aussterbende Sprache. Dresdner Rede, S. 356Delius, Friedrich Christian
Hat der Humor seinen Ernst verloren? Imre Kertész und Jan Böhmermann, Jean Paul und die »heute-show«, S. 373Poll, Wille
Kunst war sowieso nie meine Stärke. Gedichte, S. 390Klein, Georg
Arbeit am Blasator, S. 393Thier, Susanne
Revolution des Inhalts und der Form. Hundert Jahre Malik-Verlag, S. 403Weidle, Stefan
Ein Netzwerk unterirdischer Verbindungen. Laudatio zur Verleihung der Kurt-Wolff-Preise an den Elfenbein Verlag und die Edition Rugerup, S. 407Müller-Waldeck, Gunnar
Von Lappländern und Hebräern. Zur Schwedenreise Ernst Moritz Arndts, S. 412Köstler, Erwin
Intensität und Bedeutung. Zum Verhältnis von Musik und Übersetzung, S. 418Hanimann, Joseph
Übersetzer, die schicksalhaften Treuebrecher. Lobrede auf Simone Werle, S. 423
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4/2018
Heft 4/2018 enthält:
Gumpert, Martin
Lebenserinnerungen eines Arztes. Autobiographische Aufzeichnungen. Mit einer Vorbemerkung von Jutta Ittner, S. 437Augenzeuge der Wahrheit? Eine Vorbemerkung Erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod wurde der jüdische Arzt und Schriftsteller Martin Gumpert (...)
LeseprobeGumpert, Martin
Lebenserinnerungen eines Arztes. Autobiographische Aufzeichnungen. Mit einer Vorbemerkung von Jutta Ittner
Augenzeuge der Wahrheit? Eine Vorbemerkung
Erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod wurde der jüdische Arzt und Schriftsteller Martin Gumpert (1897–1955) als wichtiger Zeitzeuge entdeckt. Er gehört zu den Menschen, die gerade deshalb so interessant sind, weil sie ihr Dasein im Schatten großer Namen führten. Es bedurfte gründlicher Spurensuche, um herauszufinden, daß der Grünschnabel, der die Nächte im Café des Westens durchdiskutierte und bereits 1913 anonym oder unter dem Pseudonym »M. Grünling« tiefgefühlte pubertäre Gedichte u. a. in Franz Pfemferts »Aktion« veröffentlichte (so etwa »Durch Jungsein leergebrannt«, 1917), 25 Jahre später als der ägyptische Arzt und Schreiber Mai-Sachme in Thomas Manns »Joseph, der Ernährer« auftritt oder daß »Onkel Martin«, an den Klaus Mann seinen letzten, verzweifelten Hilferuf aus Cannes schickte, mit dem »doctor« identisch ist, den »Informant T3« als Liebhaber Erika Manns ausspionierte und dessen Akte das FBI bis heute nicht freigegeben hat. Gumperts Lebenswerk ist sowohl für die Literatur- und Kulturwissenschaften als auch für die Medizingeschichte eine Fundgrube. Thomas Mann beschreibt in seinem Vorwort zu Gumperts »First Papers« die Doppelexistenz von Arzt und Schriftsteller als aufs natürlichste in seiner Person vereinigt. (Gumperts berühmter Kollege Alfred Döblin betonte hingegen, der Dichter seines Namens sei dem Arzt eigentlich gar nicht bekannt.) In Mai- Sachme, Manns liebevoll-ironischem Porträt des Freundes, vermischen sich denn auch Literatur, Leben und Medizin in der Personalunion von Arzt, Autor und Protagonist. Mit Ausnahme seiner journalistischen Kurzprosa und historischen Romane wie »Hahnemann « oder »Dunant« kann Gumperts gesamtes literarisches Werk als autobiographische »Vitalreflexion« verstanden werden. So nennt Peter Sloterdijk den Versuch, mit den traumatischen Erfahrungen eines Lebens fertig zu werden, indem man in den Spiegel blickend das verletzte Bewußtsein betrachtet. Gumperts Aufzeichnungen erscheinen geradezu exemplarisch für viele seiner Zeitgenossen. Wie der Ich-Erzähler seines Romans »Der Geburtstag« hatte Gumpert »eine behütete Kindheit, (…) genährt aus den tiefen Quellen europäischer Gesittung und gestört durch die Ahnung des Grauens, das bevorstand. (…) Kerzen und Kuchen, Verständnis und Verwöhnung, bis das Nest in Flammen aufging und der Totentanz Europas begann«. Bis in die Einzelheiten gleicht auch sein politischer Weg dem vieler Berliner Künstler und Intellektueller: vom wohlbehüteten Sohn des assimilierten jüdischen Großbürgertums in die linke bürgerliche Jugendbewegung des Sprechsaals, vom kriegsbegeisterten Gymnasiasten zum Kriegsgegner und (nach seinem Einsatz im Fleckfieberlazarett von Feneraki) traumatisierten Kriegsheimkehrer, wurde der kaum Volljährige zum Beobachter der Revolution von 1918 / 19 und aktiven Mitglied der Sozialistischen Studentenpartei. Auch seine uns heute vielleicht ungewöhnlich erscheinenden literarischen Ambitionen heben ihn aus seiner Generation nicht heraus, sondern verbinden ihn mit ihr. Typisch auch sein Berufsweg: Studium der Medizin und Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten (eine der wenigen Juden zugänglichen Disziplinen), Sozialarzt im Wedding und private Praxis, bis erst die nichtjüdischen, dann die jüdischen Patienten ausblieben, selbst der Eiserne Halbmond für Dienste im Türkeifeldzug keine Ausnahmegenehmigung vom Berufs- und Publikationsverbot mehr garantierte und auch die letzte Hoffnung auf die »kultivierten, anständigen Deutschen« geschwunden war. Ausschlaggebend für den Entschluß zur Flucht war, daß der alleinerziehende Vater die Sicherheit seiner kleinen Tochter nicht mehr gewährleisten konnte; seine Frau war 1933 an Tuberkulose gestorben. Gumpert hatte nicht die Absicht, im Exil nur zu überwintern. Er machte größte Anstrengungen, in den USA heimisch zu werden, und im Gegensatz zu vielen Mit-Emigranten gelang das fast Unmögliche. Bereits im Oktober 1936, wenige Monate nach der Ankunft, eröffnete er eine Praxis in New York. In der Folgezeit baute er sich eine völlig neue Existenz auf. Nicht nur als Facharzt für Alterskrankheiten, sondern als Autor von medizinischen Ratgebern (so etwa »The Anatomy of Happiness« oder »You are Younger Than You Think«) wurde er zum »household name« und bestens bekannt sowohl den intellektuellen Lesern der liberalen Wochenzeitschrift »The Nation« wie auch dem breiten »Reader’s-Digest"-Lesepublikum und den Abonnenten seiner eigenen Zeitschrift »Lifetime Living«. Für jeden, der dank seiner humanistischen Schulbildung Latein und Französisch beherrschte, nicht aber die Sprache der »Koofmichs«, wäre das Überleben als Autor eine bewundernswerte Leistung gewesen. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren New Yorks grenzte es an ein Wunder, war doch das Zeitungs- und Buchwesen für Emigranten so verschlossen »wie ein Banktresor« (Gumpert). Seine unverkennbare Stimme, gespeist aus persönlicher Erfahrung, Wärme, Objektivität und ärztlicher Autorität, schuf ihm eine Nische im populärwissenschaftlichen Buchmarkt; aber auch Artikel allgemeinmedizinischer, politischer und psychologisch-philosophischer Art konnte Gumpert plazieren. Bereits der junge Arzt hatte seine Gedanken zu humanistischen Themen veröffentlicht ("Bildnerei eines Geisteskranken«, 1923). Jetzt nutzte er seine Informationsquellen zur direkten Stellungnahme gegen die Nazipropaganda mit »Health under Hitler« (1939), der Bloßstellung des Mythos vom »gesunden Arier«, die dank der Veröffentlichung im »Reader’s Digest« sehr weite Verbreitung fand. Neben Texten in »Lifetime Living« veröffentlichte er in seinem »neuen Leben« mehr als 80 Artikel (vergleiche dagegen 32 vor seiner Emigration), zuletzt den Artikel »How to grow old and like it« (1955), der unter dem Titel »Alt werden mit Vergnügen« im selben Jahr in der deutschen Ausgabe von »Das Beste aus Reader’s Digest« erschien. Welche Anerkennung er in der neuen Heimat gewonnen hatte, bezeugen nicht zuletzt die zahlreichen Nachrufe in so einflußreichen Publikationen wie »Newsweek«, »The Nation«, »New York Times«, »New York Sun« und »Herald Tribune« sowie im »Aufbau« der deutschsprachigen jüdischen Gemeinde. Gumperts autobiographisches Schaffen zählt zu den Versuchen einer Generation von Schriftstellern, ihre schicksalhaften Erfahrungen literarisch zu bewältigen. Wie viele seiner Zeitgenossen erfuhr er sein individuelles Los im Bewußtsein, daß ein zur Passivität Verurteilter dennoch als Zeuge auftreten könne und es sogar müsse. »Hölle im Paradies « (Stockholm, 1939) erzählt sein Leben von der Jahrhundertwende bis zur Emigration. »First Papers« (New York, 1941, in englischer Übersetzung veröffentlicht mit dem erwähnten Vorwort Thomas Manns) zeichnet die Lehrjahre in Amerika nach. Ein letzter Rückblick auf sein Leben wird Ende 1953 begonnen und im Juni 1954 abgebrochen. Diese Memoiren sind als Abbild der gelungenen Akkulturierung bereits in englischer Sprache geschrieben. Gumpert hat mit großem Ernst und großer Bescheidenheit an der Rekonstruktion seines Lebens gearbeitet, und er erweist sich als ein sensibler, zuverlässiger und absolut integrer Zeuge seiner Zeit. Daß es trotz – oder vielleicht wegen – aller Bemühungen um Objektivität so gut wie unmöglich ist, getreuer Augenzeuge der Wahrheit zu sein, erkennt er als erster an. Bereits 1939, ein Jahr nach Fertigstellung von »Hölle im Paradies«, bittet er seine Leser um Entschuldigung für seine »Irrtümer und Schwächen«. Das »merkwürdig unjüdische« ("Aufbau«) und irritierend unbeteiligt wirkende Buch stieß auf Befremden oder Unverständnis. Nicht anders bei seiner Neuauflage 1983 in der »Serie Exilliteratur «. Wie sind Aussagen zu erklären wie die folgende? »In der Tat bin ich in den 38 Jahren meines Aufenthaltes in Deutschland niemals und in keiner sozialen Schicht einem Antisemiten begegnet.« Wie ist der scheinbare Gleichmut zu verstehen, mit dem Gumpert die antisemitischen Auswüchse in seinem unmittelbaren Umfeld registriert, um dann doch seine Hoffnung auf »Goethes Kulturerbe« zu setzen? Angenommen, es handelt sich um einen blinden Fleck in seiner Assimilationsgeschichte – Gumpert ist ein überzeugter Vertreter der Assimilation –, warum reagiert der Einwanderer hypersensibel auf vergleichsweise harmlose Indizien für Antisemitismus in der neuen Heimat? Vollends verwirrend wird sein Urteil, wenn er beide Erfahrungen vergleicht. Toleranz, nicht Vorurteil bestimme die amerikanische Variante des Antisemitismus ("First Papers«). Anders als in Berlin zwar finde Segregation zwischen »gentile« und »Jew« auf allen Ebenen statt, auf dem Wohnungsmarkt, an den besseren Universitäten, im Patientenbereich, sogar in der Freizeit – jedoch nicht von Haß begleitet, sondern von Liebenswürdigkeit. Dem Erstaunen darüber, in Manhattan einem jüdischen Briefträger zu begegnen, folgt die »Ehrenrettung«, im protestantischen Preußen seien die beruflichen Barrieren durch Taufe zu überwinden gewesen. Wie immer sich Gumpert in seiner komplexen Mehrfachexistenz zurechtfand, in seinem letzten Rückblick verteidigt er sich fast zornig, er sei »a XXth century Jew, born in Germany, now an American, pursuing medicine and literature: I am alone responsible for what I make of this concoction« – er sei ein Jude im 20. Jahrhundert, in Deutschland geboren, nun amerikanisch, Mediziner und Literat und er allein sei dafür verantwortlich, was er mit dieser Mixtur anfange. Auf eine andere Art von blindem Fleck trifft der Leser, der sich Informationen über Gumperts persönliche Beziehungen verspricht. Wer auf Interna aus dem weitläufigen Freundeskreis hofft, auf Klatsch und Tratsch aus den wilden Vorkriegsjahren im Kreis um Franz Pfemferts Zeitschrift »Die Aktion«, aus der New Yorker Exil-Clique im Bedford Hotel und dem kalifornischen Refugium Pacific Palisades oder gar auf Intimes über die anekdotenreiche Familie Mann, wird bitter enttäuscht. Die Spurensuche führt über die Zeugnisse der Zeitgenossen immer nur zu Gumpert, nie umgekehrt. Er ist die Diskretion in Person. Daß er der engste Vertraute des Hauses Mann war, Katjas »lieber Freund Martin«, betreuender und auch Medikamente verschreibender Arzt Klaus Manns sowie langjähriger, hoffnungslos hoffender Liebhaber Erika Manns und noch zuletzt Begleiter Thomas Manns bei seinem ersten Besuch im zerstörten Deutschland, findet seinen Niederschlag im Briefwechsel der gesprächigen Familie, in ihren Tagebüchern und Büchern – 250 Erwähnungen allein in Thomas Manns Tagebüchern zwischen 1935 und 1952 – und spiegelt sich in mehreren literarischen Porträts. Gumperts letzte, hier erstmals in deutscher Übersetzung auszugsweise veröffentlichte Memoiren sind als eine noch komplexere Mischung von Aussage und Verschweigen zu verstehen; hier ist die »Wahrheit« oft nur zwischen den Zeilen zu erahnen. Die innere Befindlichkeit Gumperts spiegelt sich – wie das Leben in zwei Sprachen – in seinen Tagebucheinträgen: Er fühle sich »aufs Äußerste und Hilfloseste mißgestimmt, dann wieder competent, functioning, creative«. Ein Grund für seine immer häufigeren Phasen der Depression ist der Verlust vieler Freunde. Bei Kriegsende erforderte die jahrelang theoretisch diskutierte Frage eine konkrete Antwort: Rückkehr in eine kaum wiederzuerkennende Heimat oder nicht? Wie man sich auch entschied, man »desertierte sich selbst«. Bereits ab 1945 packten die ersten Freunde die Koffer. Im zunehmend rechtslastig und hysterisch werdenden Klima der fünfziger Jahre verließen immer mehr Weggenossen das amerikanische Exil. Wer von den New Yorker Emigranten zu den engen Freunden Gumperts zählte, ist schwer einzuschätzen. Zu seinem Patienten-, Bekanntenund Freundeskreis gehörten aber nicht nur etliche deutsche Autoren und Schauspieler, sondern auch viele namhafte Amerikaner, darunter Verleger und Politiker. Die Liste der prominenten Zeitgenossen, die er für sein (unveröffentlichtes) Buch »Breaking the Age Barrier« (Die Alters-Grenze durchbrechen) interviewte, ist ein Who’s Who der amerikanischen Gesellschaft der fünfziger Jahre, mit Ausnahme der politisch rechten Kreise. Die Gästeliste zu seinem 50. Geburtstag ergibt ein regelrechtes Literatenverzeichnis, aber im Tagebuch kommentiert er das Ereignis mit den Worten »no real friends« und zieht den Schluß: »bin ein alter, kalter Mann« (1947/ 48). Bereits im Juli 1946, nach seinem ersten Herzinfarkt, hatte Gumpert geschrieben »At last, I was an old man. At forty-eight« (dem zweiten Infarkt neun Jahre später sollte er erliegen). Alt mit 48? Seinen engen Freunden bleibt die Widersprüchlichkeit nicht verborgen. Erika Mann wehrt Äußerungen dieser Art als Zeichen der Furcht vor dem Tod ab. Katja Mann vermutet dagegen ein Spiel mit der Umwelt – der Freund mit dem Greisenlächeln sei viel zu lebenslustig, um glaubhaft zu sein –, und Thomas Mann wiederum meint, Gumpert warte darauf, ob die kindliche Vorstellung von einem Stadium der Reife und Autorität sich für ihn bewahrheiten werde, dabei schaue ihm das Kind aus den runden braunen Augen heraus, so träumerisch und vertrauensvoll wie eh und je. Er könnte damit genausogut den Erzähler von Gumperts Roman »Geburtstag« beschrieben haben: einen Menschen, der noch auf der Schwelle zum Alter zwischen Rationalität und Irrationalität schwankt. Es ist eine tragische Ironie, daß der wohl loyalste Neu-Amerikaner zuletzt der McCarthy- Politik zum Opfer fiel, die u. a. dazu führte, daß Lion Feuchtwanger als »chief literary Kremlin crawler« (literarischer Haupt-Kremlkriecher) gebrandmarkt wurde. Nicht nur zählte man Gumpert zur Gruppe der »communazis«, den suspekten politischen Emigranten aus Deutschland, er wurde auch überwacht. Wie nicht anders zu erwarten, findet sich jedoch keinerlei Hinweis darauf in seinen Aufzeichnungen. Erst ein Interview mit seiner Tochter Nina Parris (1994) warf Licht auf seine unselige Verstrickung in den umstrit- tensten Spionageprozeß der McCarthy-Ära. Der Übersetzer seines »Dunant«, Whittaker Chambers, spielte in den sogenannten Pumpkin Trials eine berühmt-berüchtigte Rolle als undurchsichtiger Ex-Kommunist und Kronzeuge der Anklage gegen Alger Hiss. Gumpert habe beweisen können, daß Chambers log – der Briefwechsel beider bezeugte Aufenthaltsorte und -zeiten –, und sei dazu auch bereit gewesen, erfuhr ich von seiner Tochter. Das FBI reagierte mit Drohungen und Repressalien. Er sei den Hexenjägern erlegen, die ihn »noch bis ins Krankenhaus« verfolgten. Gumperts Akte beim FBI wäre sicherlich auch ohne die Beziehung zu Chambers so umfangreich wie die seiner Emigrantenkollegen. Der Zugang zu seiner HUAC-Akte (House Un-American Activity Committee, Ausschuß für die Ermittlung von unamerikanischen Aktivitäten) ist nur über Umwege möglich. Ein Jahr nach dem Antrag auf Einsichtnahme erteilte mir das Justizministerium den Bescheid, zuvor seien 15 000 andere Anträge zu bearbeiten, für die 5,4 Millionen Seiten durchgesehen werden müßten. Gumperts einziger Hinweis auf diese letzte Zeit ist berührend: Im Tagebuch schreibt er, seine Allergie gegen Furcht, Haß, Machtmißbrauch und das Versagen der Öffentlichkeit sei wieder ausgebrochen. Vielleicht seien seine Ängste ein Zeichen dafür, daß er endlich »angekommen« und zu Hause sei. Eine solche Angst könne nur aus tiefer Verbundenheit und Liebe entstehen.
Jutta Ittner
SINN UND FORM 4/2018, S. 437-456, hier S. 437-441
Zeller, Eva Christina
Löwe und Seehund. Gedichte, S. 457Lehr, Thomas
Der Künstlerbesuch, S. 460Ich besuche mich wie einen Kranken, mit einem Blumenstrauß, einer Schachtel Pralinen, mit Äpfeln, Bananen, Orangen, einem neuen Buch. Doch nichts (...)
LeseprobeLehr, Thomas
Der Künstlerbesuch
Ich besuche mich wie einen Kranken, mit einem Blumenstrauß, einer Schachtel Pralinen, mit Äpfeln, Bananen, Orangen, einem neuen Buch. Doch nichts davon kann ich annehmen. Mein Gesicht scheint gegen eine Wand gepreßt, und wenn ich den Kopf heben will, um etwas zu sehen, muß ich ihn weit ins Genick biegen. Gute Besserung! rufe ich mir zu, bin mir aber nicht sicher, ob dieser Satz aus dem Mund des Besuchten oder dem des Besuchers kommt. Meine Arme scheinen nach unten zu hängen. Beim mühevollen Blick hinab kann ich etwas Unruhiges, sich matt Bewegendes erkennen, schwarzes Wasser anscheinend, auf dem sich nichts widerspiegelt. Ich besuche mich wie einen Freund, mit einer Flasche Rotwein. Auf dem Etikett ist zu lesen: Vorsicht! Enthält Gift der bittersten Stunden! Enthält Triumph! Die hängenden Arme scheinen mich eher zu stützen. Meine Hände greifen in den Fels einer Wand. Ich scheine eine Art Handstand zu machen. Allerdings berührt meine gesamte Vorderseite den Fels, so daß ich, wenn ich es recht bedenke, kopfüber, mit dem Gesicht zur Wand, abstürzen müßte, was jedoch nicht geschieht. Ich klebe an der Wand wie ein abwärts kletterndes Insekt. Der Krankenbesucher und der Freund, der ich mir zu sein versuche, bewundern meine Haltung. Du scheinst voranzukommen, sagen sie tröstend. Tatsächlich habe ich das Gefühl, daß sich das schwarze Wasser von mir entfernt, daß ich nicht stürze, nicht hinabgleite, sondern langsam und stetig aufwärts strebe. Nichts stimmt mich fröhlicher. Offenbar fürchte ich auch nichts mehr als dieses Wasser. Nur weil ich jederzeit in der Lage sein will, einen Blick darauf zu werfen, bewege ich mich auf eine solch groteske Weise nach oben. Ich besuche mich wie eine Geliebte. Da ist die Wand, sie reibt gegen mein Geschlecht. Was ich hinter mir gelassen habe, eine vertikale Kriechspur, ist alles, was von mir bleiben wird. Glücklicherweise ist es nichts Persönliches. Man könnte sagen, die Wand habe zuvor schon dieses Aussehen gehabt. Alles, was ich wollte, war, Teil des Steins zu werden. Ich besuche mich wie einen Irren. Niemand bewegt sich auf eine solche Weise fort, keiner versucht dem Wasser des Vergessens auf eine derart aufwendige, einzigartige und bizarre Weise zu entkommen. So scheint es mir wenigstens, in meiner selbstsüchtigen Isolation. Aber den Besuchern, die auf den Kähnen vorbeigleiten, bietet sich das gesamte Bild, wenn sie es wagen, sich von der Wand zu entfernen. Manche waren wohl so unvorsichtig, eine Hand oder einen Fuß in das Wasser zu halten, dessen stumpfe Oberfläche das Gegenteil eines Spiegels zu sein scheint. Große Gruppen von Amputierten stehen auf den Kähnen, klaglos, staunend. Es ist schwer vorstellbar, daß so viele den Fehler gemacht haben, ihre Gliedmaßen ins schwarze Wasser zu tauchen, da sie doch die Verluste der anderen direkt vor Augen hatten. Nicht nur Hände, Arme, Füße und Beine sind verschwunden, sondern auch Teile der Schultern, des Torsos. Bei einigen fehlt schon der halbe Kopf. Etwas wie Strahlung scheint von dem flüssigen Medium auszugehen, durch das sich die Kähne bewegen, und unerbittlich löscht es die Fahrgäste einen nach dem anderen aus. Ich besuche mich ein letztes Mal, nachdem ich – wie mir scheint, ein Leben lang – in der unendlich mühsamen Art einer kopfüber und rückwärts emporkriechenden Eidechse an Höhe gewonnen und an Kraft verloren habe. Meine Spur ist nichts als ein schwach glimmender Streifen am Fels. Ich dachte mir einmal, es müßte ein vertikaler silberner Balken sein, eine Klinge, ein Pfeiler, ein Turm. Kurz bevor ich loslasse und endlich genauso schrecklich hinabstürze wie befürchtet, sehe ich die anderen Künstler, gleichfalls rückwärts emporkriechend, zitternd an die Wand geklebt. Ich bin nicht weit genug gekommen in der Senkrechten, um einen guten Überblick zu haben. Nur von den Kähnen aus, auf denen sich unaufhaltsam das Löschwerk vollzieht und ein Zuschauer nach dem anderen zu Teilen und schließlich ganz eliminiert wird, ausradiert von der Schattenstrahlung, kann man das große Schauspiel der Kletterkunst genießen. Nur von dort sieht man Hunderte, gar Tausende von Künstlern, kopfüber, immer nur auf das schwarze Wasser starrend und nie auf den Nebenmann, grotesk an der Wand emporzucken. Lautlos fallen sie hinab, sobald ihre Zeit gekommen ist. Wenn sich die Besucher auf den Kähnen fragen, was die Kletterkünstler ihnen voraushaben, dann müssen sie nur an die grandiose Tiefe denken, die allein die Aufgestiegenen infolge ihrer lebenslangen Bemühung beim Hinabstürzen und Eintauchen ins Vergessen erreichen. Besonders Wagemutige und Glückliche, heißt es, gelangten sogar bis zum Grund. Von dort könnten sie, für Äonen auf dem Rücken liegend wie tote Kaiser, mit neuen, ungeheuren Augen versehen, zuschauen, wie sich die Kähne an der Oberfläche bewegten und mit welch anrührenden, arabesken Silberspuren ihre Kollegen von oben herab in die Namenlosigkeit einschlügen. Natürlich ertaucht kaum einer den Grund. Fast jeder treibt empor zu den Kähnen, wird von dort hinaufgezogen und verschwindet dann langsam, auf die übliche Art. Immerhin sieht er als gewöhnlicher Passagier und Teil des Publikums noch eine Zeitlang das wunderbare, erbarmungswürdige Bild, das die Kletterkünstler formen, und er könnte auf die Idee kommen, einen von ihnen zu besuchen wie einen Kranken, mit einem Blumenstrauß, einer Orange oder einem Buch.
SINN UND FORM 4/2018, S. 460-461
Mutis, Álvaro
Das letzte Antlitz, S. 462Karlauf, Thomas
Warum Stauffenberg? Die Motive des Attentäters und das Problem der Quellen, S. 475Meddeb, Abdelwahab
Der Traum von Samarkand. Gedicht, S. 487Beckford, William
Träume, Taggedanken und Wechselfälle des Lebens. Reise durch Deutschland (1780). Mit einer Vorbemerkung von Gernot Krämer, S. 491Vorbemerkung Mit einem einzigen Buch ist William Beckford in die Literaturgeschichte eingegangen, dem 1786 veröffentlichten orientalischen Roman (...)
LeseprobeBeckford, William
Träume, Taggedanken und Wechselfälle des Lebens. Reise durch Deutschland (1780). Mit einer Vorbemerkung von Gernot Krämer
Vorbemerkung
Mit einem einzigen Buch ist William Beckford in die Literaturgeschichte eingegangen, dem 1786 veröffentlichten orientalischen Roman »Vathek«, der nicht weniger als neunmal ins Deutsche übersetzt worden ist. Zu dessen Berühmtheit hat die exzentrische Gestalt des Autors sicherlich ebenso beigetragen wie die Legende, er habe ihn in einem drei Tage und zwei Nächte währenden Schaffensrausch niedergeschrieben (nach einer anderen Selbstaussage sogar in zwei Tagen und einer Nacht). Die anderen Werke Beckfords blieben gleichsam im Schatten dieses Romans, konnten aber zum Teil auch erst posthum im 20. Jahrhundert erscheinen. Als »England’s wealthiest son«, Englands reichsten Sohn, bezeichnete Lord Byron den Schriftsteller 1812 im ersten Gesang seines »Childe Harold«. Das galt dem märchenhaften, auf Zuckerrohrpflanzungen in Jamaika zurückgehenden Reichtum seines Vaters William Beckford des Älteren (1709 – 1770), eines wegen seines aufbrausenden Temperaments und seiner Unerschrockenheit selbst in Gegenwart des Königs »William Hurricane « genannten Whig-Politikers, Parlamentsmitglieds und zweimaligen Lord Mayors von London. Eine solche Laufba hn war auch dem einzigen ehelichen Sohn vorherbestimmt, der allerdings weder an Politik noch an standestypischen Betätigungen wie etwa dem Jagen Interesse fand. Mit zehn war er Halbwaise, die Erziehung lag – von der sittenstrengen, aus schottischem Adel stammenden Mutter Maria Hamilton überwacht – in den Händen des Hauslehrers Reverend Dr. John Lettice, der »Geschmack und Gefühl als Errungenschaften von minderer Bedeutung neben dem rechten Gebrauch des Verstandes « ansah, wie er 1773 an Premierminister William Pitt schrieb. Er zwang den Jungen etwa, einen Stapel seiner »orientalischen« Zeichnungen eigenhändig zu verbrennen, um vermeintlich schädliche Einflüsse zu neutralisieren. Für eine umfassende künstlerische Ausbildung durch angesehene Lehrer war dennoch gesorgt, besonders in Gestalt von Beckfords weitgereistem Zeichenlehrer Alexander Cozens (1717 – 1786), der seinen Geschmack entscheidend im Sinne einer frühromantischen Kunstauffassung prägte. Nicht umsonst zählte Beckford später zu den Förderern William Turners. In diesem Geiste veröffentlichte er 1780 anonym sein erstes (von Lettice mit einer so kurzen wie umständlichen Vorbemerkung versehenes) Buch, die satirischen »Biographical Memoirs of Extraordinary Painters«. Im Stil hagiographisch geschriebener Künstlerviten treibt er darin, mehr oder minder diskret auf prominente Zeitgenossen anspielend, Schabernack mit den erfundenen Malern Aldrovandus Magnus, André Guelph, Og de Basan, Sucrewasser von Wien, Blunderbussiana und Watersouchy. Der überraschende Erfolg führte bald zu einer zweiten Auflage, die Beckford zum Verdruß der Familie mit seinem Namen zeichnete. Andere Texte aus dieser literarisch produktiven Zeit, wie der Roman »The Vision« und mehrere Erzählungen, blieben zu Lebzeiten unveröffentlicht. Der Bildungsweg eines vermögenden Gentleman wäre jedoch kaum vollständig gewesen ohne die obligatorische Kavalierstour, die er im Juni 1780 in Begleitung seines Tutors Lettice antrat. Die Reise ging vom heimatlichen Wiltshire über Ostende durch Flandern und die Niederlande nach Deutschland und weiter zum eigentlichen Ziel Italien – zweitausend Kilometer in sechs Wochen, im Mittel knapp fünfzig pro Tag. Neben Kunstschätzen und Bauwerken galt Beckfords Interesse vor allem der Landschaft. Oft ließ er unterwegs halten, um Orte und Stimmungen, die seine Imagination besonders ansprachen, auszukosten. Den melancholischen Grundzug, der in seinen Aufzeichnungen vielfach zum Ausdruck kommt, sprach er einige Monate vor der Reise selbst ganz offen an, in einem Brief an Louisa Beckford (geborene Pitt), die sechs Jahre ältere Frau seines Cousins Peter, mit der er eine Affäre hatte: »Visionen umspielen mich, und in feierlichen Augenblicken verfalle ich in poetische Trance. Während ich mich in Träumen und zauberischem Schlummer verliere, gleiten meine Stunden flüchtig dahin. Ich habe niemanden, der mich aufwecken könnte – niemanden, der meine Gefühle nachempfinden könnte. Diejenigen, die ich liebe, sind abwesend. Einsam und verlassen suche ich Zuflucht in Luftgesprächen und rede mit Geistern, deren Stimmen im Sturmwind murmeln.« In Venedig, wo er einige Zeit verweilte, packte ihn die Leidenschaft für einen jungen Adligen der Vendramin-Familie. Seine Kusine und alsbald innige Vertraute Lady Charlotte Hamilton, die er in Neapel besuchte, bemühte sich redlich, ihm die Sache auszureden, indem sie ihn an seine familiäre und gesellschaftliche Verantwortung erinnerte. Daß er auf dem Rückweg erneut über Venedig reiste, konnte sie freilich nicht verhindern. Beckford, auf den in England das Korsett der Verpflichtungen und verdrießliche Angelegenheiten wie eine juristische Auseinandersetzung mit einem illegitimen Halbbruder warteten, bemühte sich, die Reise durch einen Aufenthalt in Paris zu verlängern. Am 14. April 1781 schrieb er von dort an Lady Hamilton: »Ich fürchte, ich werde nie (…) zu etwas anderem auf dieser Welt taugen als dazu, Melodien zu komponieren, Türme zu bauen, Gärten zu gestalten, altes japanisches Porzellan zu sammeln und Reisen nach China oder zum Mond zu beschreiben.« Eine weitgehend zutreffende Vorhersage, wie sich noch zeigen sollte. Wenig später kehrte er nach zehnmonatiger Reise doch heim auf das stattliche Landgut Fonthill bei Salisbury, das sein Vater im palladianischen Stil hatte erbauen lassen. Während seiner Grand Tour hielt Beckford Stationen und Eindrücke wohl nur stichwortartig fest, wie ein einzelnes erhaltenes Notizbuch erkennen läßt, benutzte seine Aufzeichnungen aber für die Niederschrift des Reisebuchs, das möglicherweise schon in Paris, vielleicht aber auch erst in Fonthill begonnen wurde. Der erste Absatz gibt den Ton vor: »Soll ich Ihnen meine Träume erzählen? – Rechenschaft davon zu geben, wie ich meine Zeit verbringe, ist, ich versichere es Ihnen, kaum besser. Oft schwebt mir feiner Nebel vor den Augen, und durch dieses Medium sehe ich so undeutliche und verschwommene Gegenstände, daß ihre Farben und Formen dazu angetan sind, mich in die Irre zu führen. Das ist ein seltsames Geständnis für einen Reisenden, sagen weise Leute; so einer wird schöne Berichte liefern von den fremdartigen Ländern: Seine Briefpartner werden von so kurzsichtigen Beobachtungen zweifellos großen Gewinn haben: – Doch halt, Freunde, einen Augenblick Geduld! (…) Wenn meine visionäre Art zu schauen — behagt, bin ich ganz und gar zufrieden.« Der mit dem Spiegelstrich angedeutete Adressat war allem Anschein nach sein Zeichenlehrer und Vertrauter, der aus Sankt Petersburg gebürtige Landschaftsmaler Alexander Cozens. Es wäre aber falsch, von »echten« Briefen zu sprechen, diese – im ganzen 18. Jahrhundert beliebte – Form ist hier eher eine literarische Fiktion mit einem imaginierten Briefpartner. Die Ausarbeitung, die sich bis ins Frühjahr 1783 hinzog, erfolgte in enger Zusammenarbeit mit einem Dritten, dem Reverend Samuel Henley, der die Funktion eines Anregers und kritischen Gegenübers oder, modern gesprochen, eines Lektors ausübte; übrigens der gleiche Henley, der 1786 Beckfords Vertrauen mißbrauchte und gegen dessen ausdrücklichen Wunsch eine unautorisierte englische Übersetzung des »Vathek« veröffentlichte, wodurch dieser sich genötigt sah, möglichst rasch die französische Originalfassung herauszubringen. An die Publikation der Briefe knüpfte er große Hoffnungen. So schrieb er Lettice am 31. August 1781: »Sie wissen, daß mein Herz am Erfolg meines Buches hängt und kein Genügen daran hätte, wenn dieses bloß als muntere, malerische Rundreise gerühmt würde.« Im Mai 1782 brach Beckford zu einer zweiten Reise nach Neapel auf, die Anlaß zur Aufnahme sieben weiterer Briefe ins geplante Buch bot. Die Equipage umfaßte neben Lettice einen Arzt, einen Cembalisten, einen Aquarellmaler (Cozens’ Sohn John Robert, der sich bereit erklärt hatte, Landschaften festzuhalten, die dem Auge seines Auftraggebers schmeichelten) sowie mehrere Diener. Die Route war mit jener der ersten Reise identisch. Ende März oder Anfang April 1783 war das Buch fertig gedruckt und gebunden, es wurde auch schon annonciert; aber plötzlich gab Beckford dem Druck seiner Familie nach, die die Veröffentlichung aus Sorge um ihren Ruf und die erhoffte politische Karriere des Sohnes zu unterbinden suchte. Die fünfhundert Exemplare wurden zum größten Teil verbrannt, nur ganz wenige behielt Beckford oder vertraute sie engen Freunden an. »Wie könnte ich mein Buch aus Träumen ertragen«, schrieb er Henley einige Monate später, »wenn ich bedenke, welche verdrießlichen Taggedanken es uns beschert hat? Wenn Sie gewillt sind, mich mit ihm zu versöhnen, so seien Sie versichert, daß Sie nicht minder mein zugewandter Freund wären, wie wenn Sie die zischenden Schlangen in Fonthill zum Schweigen brächten. Weder Orlando noch Brandimart wurden in verwunschenen Burgen je von Geistern und Dämonen so gequält wie William Beckford im eigenen Saal von seinen nächsten Anverwandten.« Die Erwartung, daß sich dieses Opfer für ihn auszahlen würde, erfüllte sich nicht. Zwar heiratete er 1783 Margaret Gordon, wurde Vater und zog im Jahr darauf ins Parlament ein, doch im Herbst 1784 nutzten politische Gegner Gerüchte über seine homosexuelle Beziehung mit dem sechzehnjährigen Adligen William Courtenay, um einen Sittenskandal zu entfesseln. Beckford hatte ihn bereits Jahre zuvor kennengelernt und war ihm rasch verfallen. »Ich merkte«, schrieb er am 22. Februar 1781 in bemerkenswerter Offenheit an die Tante des Jungen, »daß es eine Freude war, jemand anderen als sich selbst zu lieben, und empfand, daß es ein größerer Luxus wäre, für ihn zu sterben als für den Rest der Welt zu leben.« Ein gutes Jahr lang trotzte er dem Sturm, der in der Presse tobte, dann entzog er sich einer Situation, wie sie auf noch dramatischere Weise später Oscar Wilde erlebte, ging mit seiner Familie ins Exil und lebte fünfzehn Jahre auf dem europäischen Festland, vorwiegend in Frankreich und Portugal. Auch dort freilich nicht unbehelligt: Als seine Frau nach offenbar glücklicher Ehe im Kindbett starb, wurde in England verbreitet, dies könne nur an der rohen Behandlung durch ihren Mann gelegen haben, worauf die Bürger von Vevey ihrem Gast öffentlich bescheinigten, daß er sich stets als zärtlicher, liebevoller und fürsorglicher Gatte betragen habe. Nach seiner Rückkehr 1799 lebte Beckford zurückgezogen in Fonthill und entfaltete eine rege Bautätigkeit. Er ließ das Gut durch eine lange Mauer einfrieden, gestaltete den Landschaftspark um und errichtete anstelle des von seinem Vater gebauten Herrenhauses, das abgerissen wurde, in der Nähe als neuen Wohnsitz eine monumentale gotische »Abtei«. Siebzehn Jahre dauerte der Bau, bis zu 950 Arbeiter taten Tag und Nacht Dienst. Der alles überragende Turm in seiner Mitte, der u. a. die kostbare Bibliothek aufnahm, erhob sich bis in 90 Meter Höhe; zweimal stürzte er ein, zweimal wurde er wieder aufgebaut. Das Bauwerk gilt neben Schloß Strawberry Hill bei Twickenham (London) als maßstabsetzendes Exempel des Gothic Revival, der Neugotik, die alsbald von hier aus ihren Siegeszug antrat. Wie Fonthill Abbey war Strawberry Hill die Schöpfung eines Schriftstellers, Horace Walpole, und auch dieser war, wie Beckford, der Mann eines Buches, der gothic novel »Die Burg von Otranto« (1764). Die verschwenderische Bau- und Sammeltätigkeit des Hausherrn von Fonthill ließ sein Vermögen rasch dahinschmelzen, die aufkommende Rübenverarbeitung drückte die Nachfrage nach Zucker aus Jamaika, und auch Napoleons Kontinentalsperre tat das ihre. 1822 verkaufte Beckford die Abtei, wenig später auch einen Großteil seiner Kunstschätze, die sich heute in vielen Museen der Welt (darunter in Berlin) befinden. Die Abtei wurde nach und nach abgebrochen, die Steine dienten als Baumaterial für Gebäude in der näheren Umgebung; nur ein kleiner Teil der Anlage blieb erhalten. Beckford zog nach Bath und ließ sich bei Lansdown Crescent einen neuen Wohnsitz bauen, natürlich wieder mit einem Turm, wenn auch einem bescheideneren. Dort nahm er sich die immer noch unveröffentlichten Briefe über seine mehr als fünfzig Jahre zurückliegende Kavalierstour wieder vor, bearbeitete und kürzte sie und veröffentlichte 1834 das Buch »Italy with Sketches of Spain and Portugal«. Von allzu Persönlichem, allzu Schwärmerischem, wie es die frühere Version oft auszeichnete, ist es gereinigt; zweideutige, zu Mißverständnissen einladende Passagen wurden gestrichen oder redigiert; ergänzt wurden, wie der Titel schon verrät, Aufzeichnungen über Spanien und Portugal. An letztere knüpfte Beckford 1835 in einem weiteren Band an, den noch im gleichen Jahr auf deutsch erschienenen »Erinnerungen von einem Ausfluge nach den Klöstern Alcobaça und Batalha«. Die folgende Übersetzung – ein Auszug aus dem achten, mit ca. 45 Druckseiten weitaus umfangreichsten Brief – beruht auf der seinerzeit unterdrückten ursprünglichen Fassung, die erst seit 1971 in einer modernen Ausgabe vorliegt. Auf deutsch erscheint er hier zum ersten Mal.
Gernot Krämer
11. Juli Mögen diejenigen, deren Entzücken eine malerische Landschaft ist, sich an die Ufer des Rheins begeben und jene Straße nehmen, die wir von Bonn nach Coblentz einschlugen. An manchen Orten hängt sie wie ein Gesims über dem Wasser, an anderen windet sie sich hinter ragenden Klippen und gebrochenen Hängen entlang, beschattet von Wäldern und bedeckt von einer endlos wechselnden Fülle von Pflanzen und Blumen. Einige grüne Pfade führen durch diese Vegetation zu Felsengipfeln, die oft als Sockel von Klöstern und Burgen dienen, deren hohe Dächer und Türme über den Bergesklippen aufragen und die Reisenden mit einer grandiosen Erhabenheit beeindrucken, welche wohl bei weiterer Annäherung verschwinden mag. Da ich nicht wünschte, etwas von meinem günstigen Vorurteil zu verlieren, hielt ich mich in achtungsvoller Entfernung, wann immer ich meine Kutsche verließ, und ging lieber an den Ufern des Flusses entlang. Kurz bevor wir nach Andernach kamen, einer altehrwürdigen Stadt mit seltsamen, maurisch aussehenden Türmen, erblickte ich ein Floß, mindestens dreihundert Fuß in der Länge, auf welchem zehn oder zwölf Hütten errichtet waren und eine große Menge Menschen Holz sägte. Die Frauen saßen spinnend an ihren Türen, während die Kinder zwischen den Wasserlilien spielten, die am Rande des Stromes üppig blühten. Ein Rauch, der von diesen Wasserbehausungen aufstieg, verdeckte teilweise die Berge dahinter und fügte ihrer Wirkung nicht wenig hinzu. Alles in allem war die Szene so originell und amüsant, daß ich eine halbe Stunde dasaß und sie betrachtete, von einer Anhöhe aus, im Schatten einiger laubreicher Nußbäume, und ich wollte nur gar zu gerne ein bewegliches Dorf errichten, es mit meinen Freunden bevölkern und so dahinfahren von Insel zu Insel und von einer bewaldeten Küste des Rheins zur anderen. Würde Ihnen eine solche Exkursion gefallen? Ich müßte mich sehr täuschen, wenn Sie nicht unter den ersten wären, so die Schatten und Felsenvorsprünge erkunden würden, unter denen es uns entlangtriebe; doch glaube ich nicht, daß Coblentz, wo wir gezwungen waren, über Nacht zu logieren, sehr nach Ihrem Geschmack wäre. Es ist eine dürftige, schmutzige Ansammlung von vergipsten Häusern, mit Farbe gestreift und mit hölzernen Galerien versehen, im noblen Geschmack von St. Giles. Droben auf einem Felsen steht das Schloß des Kurfürsten, das durch nichts bemerkenswert scheint außer seiner Lage. Viele Blicke ließ ich diesem Gebäude nicht zukommen, während ich den Berg hinauffuhr, über welchen uns die Straße nach Mainz hinwegführte.
12. Juli Als wir den Gipfel erreicht hatten, sahen wir eine weite, unregelmäßig geformte Landschaft vor uns liegen und fanden uns im Weiterreisen zwischen vielen Wiesenhügeln, von Wäldern umgrenzt und rot vom Thymian. Diese Art der Aussicht erstreckte sich auf weite Meilen, und so stieg ich aus, ging auf dem Grasboden weiter und sog begierig die frischen Lüfte ein, die über das Kraut wehten, bis ich zu einem steilen Abhang kam, überwachsen mit Liguster und verschiedenen wuchernd blühenden Sträuchern; dort ruhte ich im Schatten, sammelte Blumen, lauschte den Bienen, beobachtete ihren Fleiß und verbrauchte einige müßige Momente mit großer Befriedigung. Ein wolkenloser Himmel und heller Sonnenschein machten mich recht abgeneigt, mich weiter fortzubewegen, aber die Reize der Landschaftsformen, die sich jeden Augenblick steigerten, zogen mich voran. Ich war nicht weit gegangen, ehe ein sich schlängelndes Tal aufging, von Felsen und Bergen eingeschlossen, die bis zu den äußersten Gipfeln von dichtestem Wald bedeckt waren. Ein breiter Fluß, der drunten an den Felsenklippen entsprang, spiegelte die sich herabneigende Vegetation und sah so ruhig und grasumwachsen aus, daß ich entschied, ihn besser kennenzulernen. Zu diesem Zwecke fuhren wir auf einem Zickzackwege ins Tal hinab und bewegten uns, so gut es ging, weiter am Ufer der Lahn entlang (denn so heißt der Fluß), worauf wir mit einem Male auf die Stadt Ems stießen, berühmt aus Gründen der Mineralogie; dort fanden wir sehr gute Unterkunft und richteten uns für ein Indianerleben in Wildnis und Bergen ein. Nach dem Abendessen wandelte ich auf einem ebenen Rasen am Flusse, um zu beobachten, wie der Mond durch eine ganze Welt aus silbernen Wolken fuhr, die über das Antlitz des Himmels verstreut lagen. Es war ein milder, freundlicher Abend: Ein jeder Berg warf seinen breiten Schatten auf die Flußoberfläche; Lichter flackerten weit entfernt in den Hügeln und brannten dann stille. Alles schlief, nur eine weibliche Gestalt in Weiß nicht, in deren Haar Glühwürmchen schimmerten. Sie ging lange trostlos hin und her: Manchmal hörte ich sie seufzen, und falls Erscheinungen Seufzer ausstoßen, muß dies wohl eine gewesen sein. Ich zog nach meiner Rückkehr tausend Erkundigungen ein, doch konnte ich keinerlei Auskunft zu dieser Gestalt und ihren leuchtenden Begleitern erlangen.
13. Juli Die reine Morgenluft lud mich zeitig in die Berge. Ich mietete mir ein Boot und ruderte etwa eine Meile stromabwärts, um an einer sanft abfallenden Wiese zu landen, die unten eine Höhe mit dem Wasser hatte und frischgemäht war. Heuhaufen lagen noch hier und dort unter den Baumgruppen, die auf allen Seiten dieses kleine abgeschiedene Paradies umrandeten. Welch ein Ort für ein Zelt! Ich könnte hier Monate kampieren, ohne seiner müde zu werden. Es verginge kein Tag ohne die Entdeckung eines neuen Felsvorsprungs, einer unbetretenen Grasweide, eines ungeahnten Tales, wo ich unter Wäldern und Felsschroffen weilen könnte, verschollen und vergessen. Ich gäbe Ihnen und noch zwei oder dreien den Schlüssel zu meinem Labyrinth – niemand sonst sollte um seinen Eingang wissen. Voll solcher angenehmer Träumereien wanderte ich durch die Uferwiesen und wußte kaum, wohin ich ging: Manchmal führte mich ein buntschimmerndes Insekt vom Weg ab, und noch öfter taten es meine eigenen sonderbaren Phantasien. Durch beiderlei Ablenkungen war ich ganz und gar verwirrt und hätte mein Boot nie wiedergefunden, hätte mir nicht ein alter deutscher Naturkundler, der in den Felsen Fossilien suchte, seinen Ort gewiesen. Als ich heimkam, war es schon spät, und ich nahm nun wahr, daß ich den ganzen Tag keine Erfrischung zu mir genommen hatte außer dem Duft des Heus und einigen Walderdbeeren – eine luftige Nahrung, werden Sie sagen, für jemanden, der noch keine Aufnahme ins Reich Dschinnistan gefunden hat.
14. Juli Ich habe soeben festgestellt, daß dieser Ort so voller Müßiggänger und Wasserschlucker ist, wie es Ihre Hoheiten von Oranien und Hessen-Darmstadt nur wünschen können, denn ihnen fällt der ganze Profit der heilkräftigen Quellen anheim. Ich möchte betonen, daß ich noch gestern gar nichts von alledem wußte, so sehr nahmen mich die Felsen und Wiesen in Anspruch; keine Chance, Karten- oder Billardspielern in jenen Einsamkeiten zu begegnen. Aber von beiden wimmelt es in Ems, wo sie von Ball zu Ball hüpfen und flattern, des kühnen Naturschauspiels in der Nachbarschaft unbewußt und völlig fühllos dessen Reizen gegenüber. Es kam ihnen nicht in den Sinn – ihnen doch nicht! –, kahle Felsen und Bergeszinnen zu bewundern, wo selbst der Herrgott sich verirren würde (wie ein grobschlächtiger Lümmel, mit Sternen und Orden geziert, mir gegenüber geistreich bemerkte). Auch waren sie nicht in der Lage, irgendein Vergnügen darin zu erkennen, daß man wie eine Ziege in den Felsklippen herumkletterte und dann in Wälder und Spalten hinabsprang, wohin die Sonne niemals drang – wo es keine Spieltische gab, wo keine mit jambon de Mayence garnierten Buffets warteten, wo einem keine Tabakspfeifen gereicht wurden und wo es nichts von den allergewöhnlichsten Genüssen gab, die man in den ordinärsten Gastwirtschaften antrifft.
All dem pflichtete ich mit vollkommenster Ergebenheit bei, ließ den Redner aber sogleich alleine, damit er einen Kreis ältlicher Damen und wettergegerbter Offiziere unterhalten könne, der sich soeben um ihn bildete. Kaum hatte ich dieser guten Gesellschaft den Rücken gedreht, als Monsieur l’Administrateur des bains, ein stattlicher pompöser Bursche, der in einer hohen deutschen Familie maître d’hôtel gewesen war, herantrat – offenbar eigens, um mich zu unterrichten, daß die Bäder die Ehre hätten, als Gast Fürst Orlow hier zu haben, »avec sa grande Maîtresse, son Chamberlain, et quelques Dames d’Honneur«. Daß seine Hoheit ferner hierhergekommen war, um sich von den mühseligen Aufgaben am Hofe zu Petersburg zu erholen, und daß Fürst Orlow hoffe, er könne bald wieder – grâce aux eaux! – auf die Ländereien zurückkehren, die eine gnädige Herrscherin ihm geschenkt hatte, um bei tadelloser Gesundheit ein Vater seines Volks zu werden. Indem ich Monsieur d’Orlow allen erdenklichen Erfolg wünschte, hätte ich die Gesellschaft am liebsten weit hinter mir gelassen, doch ein gewaltiger Regenguß hielt mich vom Aufbruch ab und zwang mich, auf meine Zimmer zurückzukehren. Der immer stärker werdende Regen verdeckte die Aussicht auf die Berge und verhängte das Tal mit solcher Düsternis, daß meine Lebensgeister um fünfzig Grad sanken; eine neblig-stickige Atmosphäre trug nicht wenig hierzu bei. Gegen Einbruch der Nacht nahmen die Wolken ein noch dunkleres, drohenderes Aussehen an. Der Donner rollte fürchterlich an den fernen Bergeshängen entlang, und an einigen Stellen stürzten Wasserbäche die Abhänge hinunter. Da es mir unmöglich war, drinnen zu bleiben, stellte ich mich in einen offenen Portikus und lauschte dem Rauschen des Flusses, das sich mit dem lauten Geräusch des fallenden Wassers vermengte. Hie und da ließ ein bläulicher Blitz die unruhige Oberfläche des Flusses sehen und zeigte auch zwei, drei ängstliche Frauen, die durch das Gewitter rannten und zu allen Heiligen des Paradieses um Beistand schrien. So standen die Dinge, als der Redner, der so brillant über die Nichtigkeit des Erkletterns von Bergen doziert hatte, unter dem Portikus Zuflucht suchte, sofort eine Unterhaltung anknüpfte und mich mit einer kläglichen Geschichte von Mordtaten regalierte, die sich kürzlich ereignet hatten, und zwar genau auf der Straße, der ich am nächsten Morgen folgen wollte. »Mein Herr«, sagte er, »Ihre Reiseroute ist gewiß sehr gefährlich, zur Linken haben Sie einen Abgrund, in den Sie beim geringsten Erschrecken Ihrer Pferde unweigerlich hinunterstürzen; zur Rechten hängt ein undurchdringlicher Wald herab, und dort, mein Herr, gibt es – das kann ich Ihnen versichern – Wölfe genug, um ein ganzes Regiment aufzuzehren. Ein wenig weiter, und Sie durchqueren ein ödes Waldstück, wo die Wege so tief und verworren sind, daß Sie von Glück sagen können, wenn Sie in zehn Minuten ebenso viel Schritt vorangekommen sind. Dort lauern die wildesten Banditen Europas, die wegen ihrer neulich erfolgten Proskription durch den Fürsten von Oranien so erzürnt sind und so desperat, daß Sie keine Gnade erwarten dürfen, wenn sie Sie angreifen. Wenn Sie sich morgen in diesen gefährlichen Bezirk wagten, dann würden Sie aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine Gruppe von Leuten stoßen, die soeben die Stadt verlassen haben, um nach den schrecklich zugerichteten Leichen ihrer Verwandten zu suchen, aber um Gottes willen! mein Herr! Lassen Sie sich nicht von müßiger Neugier verführen, in so gefahrvolle Landstriche vorzudringen, wie malerisch deren Erscheinung auch sein mag.« Ich gestehe, daß ich einigermaßen eingeschüchtert war durch eine so gefährliche Aussicht und nahe daran, meinen Plan zur Überquerung dieser Berge aufzugeben und statt dessen zurückzufahren und – weiß Gott, wo – außenherum weiterzureisen. Doch da es mir in den Sinn kam, daß ein solcher Schritt ganz unheroisch wäre, beschloß ich, meine Ängste der düsteren Stimmung des Augenblicks zuzuschreiben und der dadurch hervorgerufenen Niedergeschlagenheit. Es war fast neun Uhr, ehe mein freundlicher Berater abließ, mir Furcht und Schrecken einzujagen: Als ich mich dann frei sah, zog ich mich ins Bett zurück, erfüllt von nicht sehr angenehmen Eindrücken, und nachdem ich mich in der Erregung unruhigen Schlafes lang hin- und hergeworfen hatte, erhob ich mich am Morgen des 15. Juli um sieben, befahl die Pferde und brach ohne weitere Ungelegenheiten auf. Obwohl es nahezu die ganze Nacht hindurch gedonnert hatte, hing die Luft immer noch voll Nebeldunst, die Berge badeten in feuchten Wolken, und die Szenerie, die ich so bewundert hatte, war nicht länger zu erkennen. Am Rande des Steilhangs entlangfahrend, vor dem ich gewarnt worden war, entkamen wir nach etwa einer Stunde dieser Gefahr und querten den Hang eines ungeschlachten, heidekrautbestandenen Hügels, in ständiger Erwartung von Gegnern und Mördern. Ein Nebelregen hinderte, daß wir weiter als zehn Yards weit sehen konnten, und jede unförmige Eiche, jede Felsformation, der wir uns näherten, ließ uns an lauernde Spione oder riesenhafte Feinde denken. Einmal wirkte der Klang des Windes in den unsichtbaren Buchenwäldern wie ein Hilfeschrei, dann wieder ahmte das Prasseln eines Sturzbaches, den wir nicht sehen konnten, Musketensalven nach. In dieser mißtrauischen Weise durchreisten wir den Wald, der vor so kurzem die Szene von Angriffen und Raubzügen gewesen war. Schließlich kamen wir, nachdem wir einige ruhelose Stunden kreuz und quer die düsteren Waldwege abgefahren hatten, ins offene Tageslicht. Der Himmel hellte sich auf, ein mit Äckern und Wiesen bebautes Tal lag vor uns, und die Abendsonne, die hell durch den Dunst drang, warf einen fröhlichen Schein auf Kornfelder und schien bessere Zeiten zu versprechen. Ein paar Minuten, und wir langten sicher im Dorfe Wiesbaden an, wo wir in Ruhe und Frieden schliefen.
16. Juli Unsere Ängste waren nun ganz verflogen, und wir erhoben uns erfrischt und munter vom Schlaf, fuhren durch Mainz, Oppenheim und Worms und überquerten munter die Ebene, auf welcher Mannheim liegt. Die Sonne sank, ehe wir dort anlangten, und es war das milde Licht des aufgehenden Mondes, welches mich zuerst das breitgelagerte kurfürstliche Schloß sehen ließ und jene langen geraden Straßen und ordentlichen weißen Häuser, welche diese elegante Hauptstadt so sehr von fast allen anderen unterscheiden.
Eine große Zahl wohlgekleideter Menschen amüsierte sich mit Musik und Feuerwerk auf den Plätzen und offenen Anlagen: Andere Gruppen schienen, vor ihren Türen im Kreise in Gespräche vertieft, den heiteren Abend zu genießen. In fast jedem Fenster blühten Nelken, und wir konnten kaum eine Straße überqueren, ohne den Klang der deutschen Flöte zu hören. Eine Szene von so viel Glück und Muße gab den angenehmsten Kontrast zu den düsteren Befürchtungen ab, welche wir hinter uns gelassen hatten. Keine Stürme, keine schlimmen Abgründe konnten uns hier schrecken; keine Schlagetots oder gesetzlosen Räuber; um uns her nur Friede, Sicherheit und Zufriedenheit in ihrer reizvollsten Tracht.
17. Juli Trotz aller Ungeduld, jene herrliche klassische Region zu erreichen, die bereits jetzt – wie ich oft gesagt habe – die bessere Hälfte meines Geistes in Anspruch nimmt, war nicht daran zu denken, Mannheim unerforscht hinter uns liegen zu lassen, und so beschloß ich, diesen Tag den Sälen und Galerien des kurfürstlichen Schlosses zu widmen. Diejenigen, welche die Gemäldesammlung und die Elfenbeinskulpturen umfassen, bilden eine regelrechte Suite aus neun immensen Räumen, etwa dreihundertzweiundsiebzig Fuß lang, wohlproportioniert und einheitlich mit Holzintarsien ausgelegt. Jeder Raum hat breite Klapptüren, reichvergoldet und lackiert. Sieht man sie in perspektivischer Flucht, bieten diese Durchgänge den prächtigsten nur vorstellbaren Effekt. Nichts kann noblere Begriffe vom Raume geben als eine solche Enfilade von Salons, unverstellt von schwerem Mobiliar, wo die Blicke ohne Unterbrechung schweifen. Ich wanderte allein von einem zum anderen und wurde es niemals müde, die Vielfalt von Bildern zu betrachten, welche die Szenerie beleben und dem Besucher den höchsten Begriff vom Geschmack des Sammlers vermitteln. Als meine Neugier ein wenig gestillt war, verließ ich diese amüsante Reihe von Räumen mit Bedauern, besuchte die Bibliothek, welche der gegenwärtige Kurfürst zusammengebracht hat (ihr großer Umfang entspricht dem seiner anderen Sammlungen), und sah nach einer Besichtigung des übrigen Schlosses das Opernhaus, das sich rühmen darf, eines der ersten Orchester Europas beherbergt zu haben. Von dort kehrte ich sehr musikalisch gestimmt nach Hause. Ein ausgezeichnetes Cembalo sekundierte dieser Geneigtheit und beschäftigte mich bis spät in den Abend; da wurde ich müde, gab dem Einfluß des Schlafes nach und fand mich im Augenblick in ein weit entzückenderes Schloß versetzt als das des Kurfürsten, wo ich durch duftende, gelb beleuchtete Zimmer schweifte und mich mit keinen anderen als Albani und Claude Lorrain unterhielt, bis die Strahlen des Morgens in mein Zimmer drangen und meine Besuchsgefährten zwangen, flüsternd die Flucht zu den Schatten anzutreten. Ich muß sagen, daß es mir leid tat, Mannheim zu verlassen, obwohl alle meine Bekanntschaften dort solche mit leblosen Gegenständen waren. Die heitere Stimmung und großzügige Offenheit der Galerien würde schon auf Tage hinaus meinem Amüsement genügen; wie Sie wissen, könnte ich sie mir selbst mit Phantomen bevölkern. Vielleicht zehn Meilen aus der Stadt hinaus liegen die berühmten Gartenanlagen von Schwetzingen. Da äußerst warmes Wetter herrschte, waren wir froh, uns hier im Schatten ergehen zu können. Es gibt dort eine große Zahl von Springbrunnen, umgeben von Gebüsch, Dickicht und kühlen Nebenwegen, die zu Baumgärten mit Spalieren führen, an denen Kapuzinerkresse und Winden hochklettern. Verschiedene Trompeten- und Sumachbäume in voller Blüte verliehen der Szenerie große Üppigkeit, und als wir unter ihnen einhergingen, regte ein frischer Wind sanft ihre Wipfel. Die hohen Pappeln und Akazien, die in der Luft zitterten, warfen unzählige Schattenflecken auf die Rasenflächen dazwischen und ließen, ihre Äste bewegend, andere Wege dahinter sichtbar werden und ferne Fontänen, die sich über das Laub erhoben und im Sonnenlicht glitzerten. Nachdem wir eine große Zahl schattiger Alleen passiert hatten, die auf Tempel oder Statuengruppen gingen, folgten wir unserem Führer durch eine Art gewölbter Laube zu einer kleinen Lichtung im Walde, säuberlich gepflastert mit verschiedenfarbigen Kieseln. Auf der einen Seite sah man verschiedene Nischen und Alkoven, geziert mit Holz und poliertem Marmor, auf der anderen eine Voliere, und vorne stand ein wunderbarer Pavillon mit Bädern, Säulenveranden und Kabinetten, aufs Eleganteste und Luxuriöseste angeordnet. Der Gesang exotischer Vögel, die Frische des uns umgebenden Grüns, erhöht noch durch herabfallende Bäche, und jenes dubios poetische Licht, das durch dichtes Laub herunterdrang, so angenehm nach der Grelle eines schwülen Tages, ließen mich einige Zeit lang in einem Alkoven verweilen, wo ich Spenser las und mir vorstellte, ich sei nur einige Schritte von seinem See der Müßigkeit entfernt. Ich hätte noch gerne eine Stunde an diesem zauberischen Ruheplatz zugebracht, aber der Gärtner, dessen Geduld erschöpft war und der noch nie vom Ritter mit dem roten Kreuz und dessen Taten gehört hatte, zerrte mich fort zu einem sonnenverbrannten, verachtungswürdigen Hügelchen, von dem aus man auf einen gewundenen Graben hinabsah und das den Titel Jardin Anglois führen durfte. Etwas, das aussieht wie verfallene Kalkmeiler und verrottende Öfen, ist in amphitheatralischer Anordnung am Hang dieser gigantischen Erhebung zu sehen, und es sollen noch Efeu und ein Wasserfall und was nicht alles hinzukommen, wie mein Führer bemerkte. Ein einziger Blick auf diese Karikatur englischer Gärten genügte mir; ich ging dann beleidigt davon, da man mich aus meiner Ruhelaube verjagt hatte, und knurrte den ganzen Weg nach Enzweihingen vor mich hin, wo wir zu unserem Unglück unter Schweinen und Ungeziefer unterkamen, die sich in meinem Streit mit ihrem Heimatland wohl zu rächen wußten.
20. Juli Nachdem wir ein, zwei Poststationen hinter uns gebracht hatten, gelangten wir an eine grüne Heide mit vielen einzeln gelegenen Wäldern und Dörfern; die Donau zog majestätisch dahin, und die Stadt Ulm erhob sich an ihren Ufern. Die Wiesen in ihrer Umgebung waren übersät mit Linnen, das in der Sonne bleichte und auf die Barken wartete, die es den großen Fluß hinabbringen – in zehn Tagen nach Wien, und von dort durch Ungarn fort mitten ins türkische Reich hinein. Ich neidete den Kaufleuten fast ihre Reise, stieg hinab zum Rand des Stromes, verrichtete meine Gebete an den Flußgott, Vater Donau, und bat ihn, die Länder, die er durchfließt, von mir zu grüßen. Ich versprach ihm einen Altar und feierliche Rituale, sollte er meine Bitte erfüllen, und war sehr götzendienerisch, bis die Schatten, die auf der endlosen Ebene an seinem Ufer länger wurden, mich daran gemahnten, daß die Sonne bald gesunken sein würde und ich noch über fünfzehn Meilen vor mir hatte. Ich pflückte am Ufer eine purpurne Schwertlilie und steckte sie mir zu seinen Ehren an, und ich habe Grund zu der Annahme, daß mein frommer Sinn belohnt wurde, denn keine Fliege, kein Insekt wagte es den ganzen Abend hindurch, mich zu umsummen. Nie sah man einen helleren Himmel oder leuchtendere Wolken als die, welche nun unseren Horizont vergoldeten. Die Luft war mit dem Duft von Klee gesättigt, und auf zehn Meilen in die Weite erblickten wir nichts als ebene Flächen, wie emailliert mit Blumen und hie und da besetzt mit Eichenhainen, hinter denen eine lange Reihe von Bergen erschien, welche die Ferne und der Abend mit interessantem Azur färbten. Pater Lafiteau lehrt uns, daß im Inneren Amerikas viele solche weiten und blumigen Wiesenflächen liegen, zu denen sich die wandernden Indianerstämme ein- oder zweimal in jedem Jahrhundert begeben, um dort ihre Jagdrechte abzugrenzen und ihre feierlichen Tänze aufzuführen; und daß diese Versammlungen einen so tiefen Eindruck im Geiste dieser Wilden hinterlassen, daß die höchste Vorstellung von einem zukünftigen Glück, die sie sich machen können, im immerwährenden Genuß der Lieder und Tänze auf den grünen, endlosen Rasenflächen ihres Elysiums besteht. Inmitten dieser visionären Ebenen erhebt sich die Stätte Aneantsic, umringt von den Chören dahingegangener Häuptlinge, die im Takt des traurigen Speerklirrens springen, wenn die Waffen auf den Panzer der Schildkröte schlagen. Ihre liebsten Diener, lange auf Erden von ihnen getrennt, werden in dieser Ätherregion wieder mit ihnen vereint und schweben frei über den weiten ebenen Raum hinweg, wobei sie nun diese Gruppe geliebter Freunde mit Rufen begrüßen, nun jene. Sterbliche, die vom Tode neu in diese Welt aus reinem blauem Himmel und grenzenlosen Wiesen geführt werden, sehen die langverlorenen Gegenstände ihrer Zuneigung über das Gras näherkommen, bis man sich begegnet. Schwärme bekannter Vögel, denen manch eine irdische Jagd gegolten hatte, folgen nun wieder ihrer Bahn, während die Schatten der treuen Hunde drunten miteinander um die Wette zu laufen scheinen. Leises Murmeln und melodisches Klimpern füllen das ganze Rund, und wenn die neuen Bewohner vorwärts gehen, werden diese Töne immer lauter, bis die Abgeschiedenen der zauberischen Musik nicht länger widerstehen können und ekstatisch voranspringen, um sich dem ewigen Tanz anzuschließen. Etwas von dieser himmlischen Verzückung teilte sich mir mit, während mein Blick über die Ebene wanderte, welche sich in dem Maße zu weiten schien, in dem das Dämmerlicht einsetzte. Die Stunde des Zwielichts, für Beschwörungen günstig, ermöglichte es mir, daran zu glauben, daß sich die Geister dahingegangener Freunde nicht weit entfernt von den Wolken aufhalten mochten, die sich allem Anschein nach in der Ferne lagerten und die Oberfläche des Horizonts mit lebhaften Farben tingierten. Dieses Leuchten hing immer noch über der Landschaft, nachdem die Sonne schon verschwunden war; und in diesen friedvollen Momenten, da kein Laut außer dem Grasen des Viehs zu mir drang, stellte ich mir vor, daß aus dem goldenen Dunst gütige Blicke auf mich geworfen wurden, und ich schien dort den Anblick schwach umrissener Formen zu erhaschen, die mir einst so teuer waren, und glaubte sogar, in meinem Ohr wohlbekannte Stimmen klingen zu hören, die auf Erden längst schon verstummt waren. Als die warmen Farben des Himmels nach und nach verblaßten und die fernen Gehölze ein tieferes, melancholischeres Blau annahmen, war mir, als sähe ich eine Form, die Thisbe glich, rasch dahinschießen und manchmal in der Ferne anhalten und einen Blick voll Zuneigung auf ihren alten Herrn werfen, welcher besagen mochte: Wenn du dich einst deiner letzten unvermeidlichen Stunde näherst und die blassen Gefilde von Aneantsic sich vor dir erstrecken, dann will ich deinen Schritten vorangehen und sie sicher durch die wilden Labyrinthe geleiten, welche jene Welt von der unseren trennen. Ich war so eingenommen von dieser Idee und so voll der Erinnerung an diese arme zuneigungsvolle Kreatur, von deren elendem Ende Sie Zeuge waren, daß ich einige Minuten lang unsere Ankunft in Günzburg gar nicht wahrnahm. Als ich eilig zu Bett gegangen war, schien ich in meinem Schlummer die verbotene Grenze, welche unsere Erde von der Region indianischer Glückseligkeit trennt, zu überqueren. Thisbe lief behende vor mir her; ihre weiße Gestalt schimmerte unter dunklen Wäldern; sie führte mich auf eine unendlich weite Ebene, wo ich große Menschenmengen über zukünftige Ereignisse sprechen hörte. Was sich weiter begab, darf niemals mitgeteilt werden. Ich erwachte in Tränen und konnte kaum so viel an Lebensgeistern in mir finden, um mich auch nur umzusehen, bis wir mitten durch Augsburg fuhren.
21. Juli Wir dinierten und spazierten in der Abendkühle durch die berühmte Stadt. Die kolossalen Wandgemälde an den Mauern fast eines jeden bedeutenderen Gebäudes machten einen seltsamen Eindruck, angenehm wegen der Neuartigkeit. Nachdem wir eine Anzahl Straßen durchschritten hatten, die auf diese exotische Weise dekoriert waren, fanden wir uns plötzlich vor dem Rathaus an einer noblen Statue des Augustus, unter dessen Auspizien die Stadt gegründet worden war. Wohin wir uns auch wandten, unser Blick traf auf ein bemerkenswertes Gebäude oder auf einen Marmorbrunnen, in dessen Becken Skulpturen von Flußgöttern reichlich ihr Wasser ergießen. Diese stattlichen Brunnen und Bronzestatuen, die außerordentliche Größe und Höhe der Gebäude, die perspektivisch aufragenden Türme und das dorische Portal des Rathauses entsprachen in einigem Maße dem Begriff, den Montfaucon uns von der Bühnenszene einer antiken Tragödie gibt. Wann immer ein pompöser flämischer Maler versucht, Troja darzustellen, und im Hintergrund solche Palaststraßen zeigen möchte, wie sie in der Ilias beschrieben werden, läßt sich Augsburg oder eine ähnliche Stadt erkennen. Manchmal entdeckt man eine Ecke von Antwerpen, und es erhebt sich allgemein über einem korinthischen Portikus ein gotischer Kirchturm. Genau solch eine Verworrenheit kann man von dem Augustusdenkmal aus betrachten, unter dem ich stehenblieb, bis der Hauswart kam, der die Türen des Rathauses öffnen und mir dessen Pracht zeigen sollte. Ich sehnte mich sehr nach Ihnen, als ich eine Treppe von hundert Stufen emporstieg und durch ein Portal eintrat, das von hohen Säulen getragen und mit einem majestätischen Giebel bekrönt war. Im Weitergehen entdeckte ich fünf weitere Eingänge, alle ebenso großartig, über deren Krongesims sich goldene Figuren oder Schutzgenien lehnten, und ich sah durch eine Reihe von Fenstern, von denen jedes über dreißig Fuß hoch war und fast auf dem Marmorboden aufsaß, die ganze Stadt mit allen Dächern und Türmen zu meinen Füßen. Die Säulen, Gesimse und Paneele dieses beeindrukkenden Raumes sind einheitlich braun und golden, und die Decke, mit emblematischen Gemälden und unzähligen holzgeschnitzten Baldachinen geziert, wirft einen grandiosen Schatten. Alles in allem wäre ich nicht überrascht, wenn ein Bürgermeister in einem solchen Saal eine überwältigende Würde an den Tag legte. Ich muß gestehen, die Sache hatte auf mich eine ähnliche Wirkung, und ich ging die Treppe so pompös hinab, als wartete unten ein Triumphwagen auf mich oder als gäbe ich gleich der Königin von Saba eine Audienz. Es war, wie es sich traf, ein Feiertag, und halb Augsburg war auf dem freien Platz vor dem Rathaus zusammengelaufen; die größte Zahl der Leute, besonders die Frauen, trugen immer noch genau jene Tracht, die Wenzel Hollar in Kupfer gestochen hat. Mein Stolzieren beeindruckte diese schlichte Versammlung, die zurückwich, um mir den Weg freizulassen, und dies mit so viel stummer Hochachtung, als wäre ich wirklich der weise König Israels gewesen. Als ich nach Hause kam, wurde meiner Majestät ein fürchterliches Essen serviert. Ich schimpfte in unköniglicher Manier und überzeugte mich rasch davon, daß ich nicht länger Salomo war.
22. Juli Heil den Kurfürsten Bayerns! Denn sie haben so umfangreiche Tannenwälder in ihren Landen gepflanzt, daß der größte Teil der Straße von Augsburg nach München im Schatten liegt. Nächst der letztgenannten Stadt verändert sich die Landschaft, ich muß es sagen, nicht zu ihrem Vorteil. Statt üppiger Wälder und Wiesen erblickten wir eine ausgedörrte, langweilige Ebene, wo die einzige Abwechslung durch Felder schlaffer Gerste geschah, die von dürftigen schnurgeraden Wegen durchzogen wurden. Hie und da noch ein unbewegter Teich und manchmal ein Misthaufen als besonderer Reiz. Immerhin schließen die wilden Felsenberge Tirols die Aussicht ab, und zu ihnen mag sich die Phantasie flüchten und dort unter selbsterschaffenen Quellen und Lilien wandeln. Ich spreche mit Autorität, da ich schon das Vergnügen hatte, einen Abend in solch romantischem Stil vorwegzunehmen. Am nächsten Dienstag ist hier der große Jahrmarkt, mit Pferderennen und allen möglichen Festivitäten – eine Neuigkeit, mit der man mich nur allzubald bekannt machte, denn sobald wir in die Stadt einfuhren, rieten uns alle möglichen gutmütigen Leute, sie sofort wieder zu verlassen, da Kaufleute und Harlekine jeden Winkel mit Beschlag belegt hatten und eine Wohnung unmöglich aufzutun war. Die Gasthäuser waren in der Tat wie Bienenkörbe voll fleißiger Kreaturen, die ihre Waren durchsahen und zum Verkauf vorbereiteten. Doch erlangten wir trotz dieser Schwierigkeiten eine ruhige Wohnung.
23. Juli An diesem Abend wurden wir nach Nymphenburg gefahren, dem Landschloß des Kurfürsten, dessen Boskette, Wasserspiele und Blumenbeete der Stolz der Bayern sind. Die zentrale Terrasse glitzert über und über von goldenen Amoretten und glänzenden Schlangen, die aus allen Poren Wasser speien. Beete mit Mohn, Stockrosen, scharlachroten Lichtnelken und Blumen in den flammendsten Farben säumen die Wege, welche sich bis zum Horizont erstrecken; auf ihnen wimmelt ein Schwarm von Damen und Herren in festlich-bunten Kleidern. Die Gärten der Königin von Golkonda in einer französischen Oper sind kaum vielfarbiger und künstlicher. Unglücklicherweise war es ein schöner Abend, und die Sonne hatte solche Kraft, daß wir halb gebraten wurden, ehe wir die breiten Wege hinter uns lassen und die Gebüsche betreten konnten, welche eine sehr prächtige Eremitage kaum verbergen. Dort trafen wir Mr. und Mrs. T. und eine modische Gesellschaft von Bayern. Unter den Damen war Madame la Comtesse ich-weiß-nicht-wer, ein Geschöpf des ehrwürdigen Haslang, zusammen mit ihrer Tochter, Madame de –, welche die Ehre hat, den Kurfürsten in Ketten geschlagen zu haben. Nachdem diese Göttinnen in einen Wagen gestiegen waren, den man gemeinhin eine Carriole nennt, folgten die Sterblichen und erkundeten Weg um Weg und Pavillon nach Pavillon. Nachdem wir dann die Pagodenburg gesehen hatten, welche, wie man mir sagte, ganz und gar chinesisch ist, und Marienburg, das gewißlich ganz und gar Flitter ist, paradierten wir entlang einer Reihe von Fontänen in voller spritzender Tätigkeit, doch obwohl sie ihr Bestes taten (viele wurden eigens in Gang gesetzt), kann ich nicht sagen, daß ich sie besonders bewundert hätte. Die Damen waren sehr fröhlich gewandet, und die Herren – so proper, wie Degen, Haarbeutel und hübsche Mäntel sie nur machen konnten – sahen genau so aus wie die feinen Leute, die auf einem kolorierten Bilder bogen dargestellt sind. So gingen wir vornehm in der Orangerie umher, bis die Kutschen herbeifuhren und uns zu Mrs. T. brachten. Sogleich nach dem Essen fuhren wir wiederum aus der Stadt hinaus, zu einem Garten und Teehaus, wo alle Stände und Lebensalter vergnügt bis zum Morgen miteinander tanzen. Während die eine Gesellschaft agil im Walzer davonfegt, amüsiert sich eine andere in einer Ecke mit kaltem Braten und Rheinwein. Ist das erledigt, stürzt man sich ebenfalls unter die Tänzer, so stürmisch und lebhaft, wie ich es in Bayern kaum erwartet hätte. Nachdem die Tanzenden sich rundherum und rundherum gedreht haben (mit einer Geschwindigkeit, die für einen englischen Tänzer gänzlich unvorstellbar ist), wechselt die Musik in ein langsameres Tempo, und es folgen verschiedene Zickzack-Menuette, an denen alt und jung, grad und krumm, Adel und Plebs gleichzeitig teilnehmen, von einem Ende des Raums zum anderen. Unschlittkerzen zischen und stinken, Teller werden auf- und abgetragen, Köpfe werden gekratzt und alle erdenklichen Arten von Auftritten gehen im selben Augenblick vor sich; die Flöten, Oboen und Fagotte schnarchen und grunzen mit besonderer Betonung, einmal schnell, einmal langsam, wie es die Abwechslung gebietet, welche das Zeremoniell dieser buntscheckigen Versammlung zu regieren scheint, wo jeglicher Unterschied an Rang und Privileg vollkommen vergessen ist. Einmal in der Woche, und zwar eben sonntags, haben diese Räume geöffnet, und in der Regel ist der Montag schon ein gutes Stück fortgeschritten, ehe sie wieder leer stehen. Wenn gute Laune und grobe Fröhlichkeit alles sind, was die Menschen möchten, dann findet man sie hier in Vollendung, wenn auch auf Kosten der Zehen und Nasen. Beide diese Extremitäten meiner Person litten greulich, und es tat mir nicht leid, mich gegen ein Uhr morgens in eine reinere Atmosphäre zurückzuziehen.
24. Juli Der Brauch verdammte uns dazu, die Residenz zu besuchen; diese leuchtet grell mit Spiegelglas, Vergoldung und Samt. Die Kapelle ist klein, doch reicher als alles, was Krösus je besessen hat, da mag man mir sagen, was man will. Kein Winkel, der nicht von Gold, Diamanten und juwelenbesetzten Märtyrerfetzchen glänzt. Ich hatte die Freude, Amethyste und die reichsten Edelsteine mit Füßen zu treten – was, wie Sie sich erinnern werden, Apuleius für ein so hohes Glück hält. Ach! Ich war der Ehre ganz unwürdig und wäre lieber auf dem Gras der Berge gegangen. Der Mammon hätte den Blick nicht vom Fußboden gewandt; meiner schweifte bald ab und richtete sich dann auf St. Peters Daumen, der nicht ohne Eleganz gefaßt ist und von einem unbeholfenen Enthusiasten mit einigen der herrlichsten antiken Kameen verziert wurde, die ich je gesehen habe. Deren Gegenstände – Leden und schlafende Aphroditen – waren allerdings, dächte ich, für einen Apostelfinger ein wenig pagan. Aus diesem Schatzhäuschen wurden wir durch den öffentlichen Park in einen großen Saal geführt, wo ein Teil der Schleißheimer Bestände aufgestapelt ist, bis dort eine Galerie eingerichtet werden kann, um sie aufzunehmen. Es war eine große Gunst, daß man die Bilder, welche die Sammlung ausmachen, in diesem Zustand betrachten konnte – es war auch ein sehr unvollkommener, da an einigen der besten noch operiert wurde. Doch hätte ich um nichts auf der Welt den Anblick von Rubens’ Bethlehemitischem Kindermord versäumen mögen. Eine solche Ausdrucksgewalt des Schrekkens ist noch nie auf eine Leinwand gebracht worden, und Moloch persönlich hätte das Bild mit Befriedigung betrachtet. Nach dem Essen wurden wir durch die Kirchen geführt, und wenn Sie meiner umfangreichen Beschreibungen so müde sind wie ich der endlosen Wiederholung von Altären und Reliquiaren, dann möge der Herr sich Ihrer erbarmen! Doch Ihre Erlösung naht. Die Post geht bald ab, und morgen werden wir beginnen, die Felsen Tirols zu ersteigen. Haben Sie jedoch keine Angst vor irgendwelchen langatmigen Episteln von den Bergesgipfeln herab, es wird mich zu sehr ermüden, diese zu ersteigen. Eben nun, da ich eine Weile dagelegen habe, werde ich kokett und kritzle in bloßem Übermut fort. Welcher Exzesse ein solcher Korrespondent fähig ist, werden Sie bald beurteilen können.
Aus dem Englischen von Joachim Kalka
SINN UND FORM 4/2018, S. 491-507
Gosmann, Uta
Isles of Skye. Gedichte, S. 508Drzazgowska, Monika
Also, mein Herz, S. 511Real, Anna
Litanei von der Kindererholung. Gedicht, S. 525Seibt, Gustav
Herman Grimms »Goethe«, S. 533Pitzke, Christine
Überstunden in Weimar. Gedichte, S. 543Hartung, Harald
Unmöglich und leicht. Aufzeichnungen, S. 545Ziebritzki, Henning
»Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander«. Laudatio auf Michael Braun zum Alfred-Kerr-Preis 2018, S. 551Kirchmeier, Christian
Brecht, Musil und der Gesinnungsaufsatz, S. 557Röggla, Kathrin
Brechts Notizbücher, S. 559Loher, Dea
Ruft Mississippi! Dankrede zur Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises 2017, S. 564
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5/2018
Heft 5/2018 enthält:
Strauß, Botho
Joë Bousquet oder Die ungezügelte Passivität, S. 581Bousquet, Joë
Das Abendweh, S. 586Koepsell, Kornelia
Liebesgedichte, S. 596Kappacher, Walter
August in Rom, S. 599Wagner, Jan
Aus dem Munde des Altertums. Gedanken zu Winckelmann, Freiheit und Kunst, S. 608Buselmeier, Michael
Rote Steine. Gedichte, S. 617Weichelt, Matthias und Gernot Krämer
Ein Gespräch mit Cécile Wajsbrot über Stimmen, Erinnerungen und Literatur, S. 619Wajsbrot, Cécile
Tag und Nacht, S. 634Hensel, Kerstin
Rollfeld. Gedichte, S. 640Stroińska, Dorota
»Zu groß für die Deutschen«. Berlin als Ort der polnischen Literatur, S. 642Różewicz, Janusz
Słowacki in Versailles. Eine wahre Begebenheit. Mit einer Vorbemerkung von Bernhard Hartmann, S. 651Vorbemerkung: Janusz Różewicz – ein polnisches Leben (und Nachleben) Vor fast einem Vierteljahrhundert veröffentlichte der 72jährige (...)
LeseprobeRóżewicz, Janusz
Słowacki in Versailles. Eine wahre Begebenheit
Vorbemerkung: Janusz Różewicz – ein polnisches Leben (und Nachleben)
Vor fast einem Vierteljahrhundert veröffentlichte der 72jährige Tadeusz Różewicz ein Buch über seinen drei Jahre älteren Bruder Janusz, der im Zweiten Weltkrieg in der polnischen Heimatarmee gegen die deutschen Besatzer kämpfte und 1944 in Lodz von der Gestapo ermordet wurde ("Nasz starszy brat«, Unser älterer Bruder, Wrocław 1994). Der Band umfaßt dessen erhaltene Gedichte, Prosastücke, Briefe und Tagebucheinträge, Erinnerungen von Angehörigen und Wegbegleitern sowie dem Bruder gewidmete Gedichte von Tadeusz Różewicz. Die ungewöhnliche, weil auf den ersten Blick überaus heterogene Publikation zeichnet das bewegende, in vielen Aspekten durchaus repräsentative Bild eines Lebens in Polen vor und nach dem 1. September 1939.
Janusz Różewicz wurde am 25. Mai 1918 in Osjaków geboren, seine Kindheit und Schulzeit verbrachte er in Radomsko, einer Kleinstadt zwischen Lodz und Tschenstochau. In eigenen Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen anderer erscheint er als aufgeweckter, lebenshungriger und abenteuerlustiger junger Mann mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Bezeichnend für das gesellschaftliche Klima in der polnischen Provinz, in der die Brüder aufwuchsen – neben Tadeusz noch der jüngere Stanisław, später ein bekannter Filmregisseur –, ist eine Episode aus der Schulzeit: Janusz, dessen Familie sich das Schulgeld fürs Privatgymnasium vom Mund absparte, schilderte in einem freien Aufsatz die Not vieler Mitschüler, die aus noch ärmeren Verhältnissen stammten. Sein Polnischlehrer bewertete ihn mit »sehr gut«, was beide in Schwierigkeiten brachte, weil das konservative Kollegium sowohl den Schüler als auch den jungen Kollegen sozialistischer Umtriebe verdächtigte.
Nach dem Abitur leistete Janusz seinen Wehrdienst, die Ausbildung wurde durch den Einmarsch der Wehrmacht unterbrochen. Er schloß sich in Lodz der Heimatarmee, dem militärischen Arm des polnischen Untergrundstaates, an. Wegen seiner guten Deutschkenntnisse wurde er zu Missionen ins Reich geschickt. Dieser Teil seiner Biographie trägt in den Erinnerungen von Weggefährten Züge einer Agentengeschichte. So berichtet eine Heimatarmee-Kameradin, daß sich Janusz 1943 in Berlin fast verraten hätte, als er im Überschwang in einem Restaurant ein zu hohes Trinkgeld geben wollte. Bei einer Gestapo-Razzia in Lodz wurde er am 10. Juni 1944 verhaftet. Am 7. November wurde er mit anderen Untergrundkämpfern von der Gestapo erschossen, die Leichen wurden in einem Massengrab auf dem jüdischen Friedhof verscharrt. Im Rahmen einer Exhumierung im Oktober 1946 wurden die sterblichen Überreste identifiziert und anschließend auf dem Rochusfriedhof in Lodz feierlich bestattet.
Seit seiner Jugend interessierte sich Janusz für Literatur. Er schrieb Gedichte und Erzählungen, erhielt Auszeichnungen bei Schreibwettbewerben und korrespondierte mit Józef Czechowicz, einem großen polnischen Dichter der Zwischenkriegszeit. Janusz war es, der seinen jüngeren Bruder Tadeusz in die Literatur einführte, ihm Lektürehinweise gab und ihn zum Schrei ben anregte. Und auch in anderer Hinsicht war sein Einfluß prägend. In »Nur soviel« (SINN UND FORM 5/2011) erinnert Tadeusz sich, wie Janusz ihn angesichts seiner Sympathien für die Linke warnte: »Paß bloß auf! Neben der braunen Diktatur gibt es auch noch eine rote … eine ist so schlimm wie die andere … vergiß das nie … beide wollen uns vernichten …"
Der Tod des älteren Bruders markierte für Tadeusz Różewicz eine tiefe Zäsur. An Januszs letzten Heimatbesuch Ostern 1943 erinnert er sich in »Nur soviel« als an »das letzte Fest, an dem unsere Familie noch heil und ganz war«. Einen großen Teil seines Spätwerks widmete er dem Versuch, diesen Bruch mittels Rekonstruktion der Familie wenigstens literarisch zu heilen. Einige Jahre nach »Nasz starszy brat« erschien »Matka odchodzi« (Mutter geht, 1999), ein ebenfalls aus Texten verschiedener Autoren kompiliertes Erinnerungsbuch an die Mutter, die den Verlust des Ältesten ebensowenig verwand wie Tadeusz und Stanisław den Verlust des Bruders (der Vater ist in beiden Büchern kaum präsent). Die Veröffentlichung dieser beiden Bücher in deutscher Sprache war bis zu seinem Tod 2014 ein großes Anliegen Tadeusz Różewiczs, das mit »Mutter geht« (2009) bislang nur halb erfüllt werden konnte.
Gerade das Buch über den Bruder sah er auch als Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung. Im Vorwort zur geplanten deutschen Ausgabe schreibt er: »In Radomsko lebten Deutsche und Polen zusammen, wir hatten deutsche Schulfreunde. Diese Freundschaften waren stärker als die Propaganda, die schon vor 1939 in der deutschen Minderheit Abneigung und Haß gegen alles Polnische schüren wollte. Mit Kriegsbeginn fanden wir uns auf unterschiedlichen Seiten wieder. Nach dem Krieg (…) erfuhren wir von der Weißen Rose (…). Hans Scholl wurde 1918 geboren, im selben Jahr wie mein Bruder Janusz, Sophie Scholl 1921, im selben Jahr wie ich. Hans und Sophie Scholl, Christian Probst, Alexander Schmorell und andere kämpften ebenso wie wir gegen Hitler und starben 1943 einen ähnlichen Tod wie mein Bruder Janusz. Die Weiße Rose, uns und alle Menschen unserer Generation, die Widerstand leisteten, einte der Kampf gegen den Nationalsozialismus. Wir waren, über Grenzen und Nationalitäten hinweg, Geschwister im Geiste.«
Wenngleich das komplette Buch noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, sind wichtige Teile inzwischen auch dem deutschsprachigen Leser zugänglich. Sinn und Form publizierte die erwähnte Erinnerung Tadeusz Różewiczs, in Radomsko erschien im Mai 2018 anläßlich von Januszs hundertstem Geburtstag eine Ausgabe seiner Gedichte in polnischer, englischer und deutscher Sprache. Nun kommen zwei weitere Texte hinzu: eine Erzählung von Janusz Różewicz, die sein großes literarisches Talent zeigt, sowie eine Erinnerung von Stanisław Różewicz, der den Bruder noch einmal aufleben läßt, zugleich aber auch den Schmerz schildert, den der Verlust für die Familie bedeutete.
Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 5/2018, S. 651-655, hier S. 651-652
Różewicz, Stanisław
Wie ein graues Basrelief, S. 657Reinert, Bastian
Lauter lautloses Jetzt. Gedichte, S. 665Kempker, Kerstin
Einer muß wachen. Nachtstück, S. 667Rivière, Alain
Also ist alles gesagt. Gedichte, S. 672Stölzel, Thomas
Die Länge der Kürze, S. 673Ford, Ford Madox
Arbeiten mit Conrad, S. 674I Ich möchte ein für allemal mit dem Mythos aufräumen, ich hätte Anteil daran gehabt, Conrad Englisch beizubringen, auch wenn es auf den ersten (...)
LeseprobeFord, Ford Madox
Arbeiten mit Conrad
I
Ich möchte ein für allemal mit dem Mythos aufräumen, ich hätte Anteil daran gehabt, Conrad Englisch beizubringen, auch wenn es auf den ersten Blick plausibel scheinen mag, da er ein Ausländer war, der bis zu seinem Lebensende das Englisch eines Ausländers gesprochen hat. Doch was das Schrei ben betraf, war es anders. Wie ich vor kurzem andernorts bemerkte, konnte Conrad, sobald er einen Stift in die Hand bekam und nicht an eine Publikation dachte, so schnell, gewandt und fehlerfrei englisch schreiben, daß es mich jedes Mal erstaunte. Schrieb er jedoch für die Öffentlichkeit, lähmte ihn eine Art Lampenfieber, wodurch seine Konstruktionen häufig sehr unenglisch wurden.
In seinen Briefen ließ er sich gehen, ohne an den Sätzen zu feilen und ohne arrière pensée, verströmte sich in Bitten, Lästereien, endlosen und immergleichen Klagen, so daß der Eindruck einer schwachen, eher wehleidigen Persönlichkeit zurückblieb. Der Eindruck hätte verkehrter nicht sein können. Conrad war ein Mann, ein ganzer Kerl, wenn man so will, der sich mit unbeugsamem, beinahe unverwüstlichem Mut über enorme Widerstände hinwegsetzte. Und sein Mut war um so beeindruckender, als er von Geburt, Herkunft und Charakter ein unerschütterlicher Pessimist war. Seiner Ansicht nach war das Leben dazu bestimmt, tragisch oder in Banalität zu enden; Literatur war zum Scheitern verurteilt. Das waren seine choses données, seine einzigen Gewißheiten. Mit diesem Credo vor Augen mühte er sich unaufhörlich ab.
Und es war erstaunlich, welche Kleinigkeiten seine Lebenskraft wecken konnten. Ich erinnere mich, wie wir uns einmal stundenlang mit »Romance« plagten und er völlig verzweifelt war und alles, was ich vorschlug, mit bitterstem Spott abtat, dazu war er krank, bis über beide Ohren verschuldet und ohne einen Penny. Und wir waren zum völligen Stillstand gekommen – einer dieser Momente, wenn die Seele zum Atmen innehalten und selbst die Liebe sich erholen muß. Und Mrs. Conrad kam herein und sagte, die Stute habe von Postling Vents nach Sandling nur fünf Minuten gebraucht – denk dir, zwölf Meilen pro Stunde! Mit einem Mal war Conrad ein Matrose auf Landgang! Die Welt war herrlich; aus jeder übers Fensterbrett ins ebenerdige Zimmer nickenden Rosenknospe strömte Hoffnung. Wir würden einen Wagen nehmen und nach Canterbury fahren; die Stute sollte ein brandneues Hintergeschirr bekommen. Und in unglaublich kurzer Zeit – sagen wir drei Stunden – war mindestens eine halbe Seite von »Romance« geschrieben.
So ging es tagein tagaus, jahrelang – die Verzweiflung, das stundenlange Gejammer, und dann diese plötzliche Arbeitswut – die Wut, aus der eine sagenhafte Vertiefung wurde. Wir schrieben ganze Tage, halbe Nächte, den halben Tag oder die ganze Nacht. Wir kritzelten Passagen auf Papierfetzen oder an die Ränder von Büchern, reichten einander jene oder tauschten diese. Wir lachten lauthals über Passagen, die niemand anderem witzig erschienen wären; Conrad heulte vor Wut und ich seufzte über manch eine, die vielleicht niemand für so schlecht erachtet hätte wie wir. Manchmal widerten wir uns an, und dann ging jeder in sein Cottage – damals waren unsere Cottages nie weiter voneinander entfernt, als eine alte Stute uns an einem Nachmittag ziehen konnte. In diesen Cottages bereiteten wir weitere Entwürfe vor, und so fuhren wir hin und her mit Manuskriptbündeln unter den Dog-cart-Bänken. Wir fuhren durch die Sommerhitze, durch herbstliche Regengüsse, geblendet von Schnee im Winter. Aber immer, immer mit Manuskripten. Mein Gott, meine Finger kribbeln heute noch beim Gedanken daran, wie ich lange nach Mitternacht das Geschirr des triefnassen Pferdes löse – es im Stall abtrockne und den Wagen rückwärts in den Schuppen schiebe. Und dabei immer irgendeine unfertige Passage im Hinterkopf, das Grübeln darüber, wie eine abgenutzte Formulierung zu vermeiden wäre, die doch auf hypnotische Weise unvermeidbar schien.
II
Oft kam er in den Morgenstunden und saß, nachdem er die vielen Stufen zu meinem kleinen, gräßlichen Arbeitszimmer heraufgestiegen war, stundenlang unbeweglich, benommen und mit völlig ausdruckslosem Gesicht da. Ab und zu sagte er dann:
»Ich schaff’s nicht. Es ist unmöglich. Je suis foutu!« Dann erging er sich in fürchterlichen Tiraden gegen die englische Sprache. Es sei eine Sprache für Hunde und Pferde. Ungeeignet, menschliche Gedanken auszudrücken. Er habe den Versuch aufgegeben. Endgültig. Die verdammte Zeitung müsse ohne ihren verdammten Roman auskommen. Wen schere es denn? Niemanden.
Ich stand am Fenster und blickte auf London: eine graue Weite mit funkelnden Punkten. Von dort – im Westen der Stadt – konnte man das Greenwich Observatorium ganz im Osten sehen. Mit diesem Panorama vor Augen habe ich Conrad zum ersten Mal die Geschichte erzählt, aus der er den »Geheimagenten« machte.
Doch in jenen Momenten war mein Kopf ganz leer. Ich hörte einfach auf zu denken. Es gab wirklich nichts zu sagen. Englisch ist keine gute Sprache für Prosa. In literarischem Englisch läßt sich keine klare Aussage treffen. Damals zumindest ging es nicht, und ich bezweifle, daß es heute geht – in englischem Englisch. In amerikanischem Englisch geht es einigermaßen, aber nicht ohne vornehme Ohren zu schockieren. Conrads Englisch war allerdings literarisch. Ich hatte nichts, um ihn zu trösten.
Er behauptete, das letzte Wort des Fortsetzungsromans geschrieben zu haben. Ich brachte ihn zum Weiterschreiben, wie der Erpel die brütende Ente wieder zum Nest bringt, wenn sie die Eier verläßt. Ich las ihm seinen letzten Satz vor. Wenn das nicht half, nahm ich seinen Platz am Schreibtisch ein und schrieb einen oder zwei Sätze. Es gibt fünf Worte, die mich schaudern machen: The Silver of the Mine. Das ist der Titel des Teils von »Nostromo«, mit dem wir damals rangen.
Er stöhnte: »Nein, es hat keinen Sinn. Ich gehe nach Frankreich. Ich sag dir, ich werde mich als französischer Schriftsteller etablieren. Französisch ist eine Sprache, keine Ansammlung von Grunzlauten.«
Ich sagte: »›Nostromo‹ würde sich auf französisch wunderbar machen. Laß es uns skizzieren. Dann kannst du es ganz leicht ins Französische übertragen.« Die Krankenschwester kam herein: »Also wirklich, Mr. Ford, es ist Zeit für Sie, wieder ins Bett zu gehen.« Ich war erst eine Stunde auf.
Conrad mochte die Gesellschaft dieser Schwester. Aus unerforschlichen Gründen. Sie war flegelhaft. Sie sprach Cockney und hatte ein Gesicht wie ein Kamel. Unablässig entströmten ihm Worte, die ich kaum verstand. Conrad jedoch verstand sie. Er hatte auf dem Vorschiff mit Cockney-Deckarbeitern gedient. Er fragte sie nach ihren anderen Patienten. Das bot ihr einen Vorwand, um richtig loszulegen.
»Letzte Patient, den ich ’atte, war Lord Northcliffe. Hoff’, der is’ auf’n Beinen! ’At immer im Bett gelegen mi’m Telefon auf der Brust. Geflucht ’at er ins Telefon. Geflucht … scheußliches Zeuch … ’at er geflucht, wenn ich’n angezogen ’ab … ach, furchtbar. ’At die Schmerzen und’s Telefon verflucht. Und die ›Dily Mile‹. Diese Sprache – schrecklich. Dann als er starb: ›Schwester‹, sacht er zu mir, ›Schwester … wann immer Sie jemanden schlecht über mich reden hören, sagen Sie: ›Er ertrug seine Krankheit wie ein Christ und Gentleman.‹ … Patientin davor war ’ne alte Magd … vor ihr ’am se Schwingtüren ge’abt. Zwischen dem Treppenhaus von die ’Errschaften und’m Dienstaufgang … grüner Filz … Sie ’atte auf’m obersten Absatz gestanden. Ein Diener knallte ihr die grüne Filztür ins Gesicht. Da flog se mehrere Steinstufen hinab. Sie lag unten mit zerdeppertem Schädel und ’ervortretendem Gehirn. Die Diener legten ihr Zeitungspapier unter’n Kopf. Sie wollten die Treppe der Herrin schützen. Als der Wundarzt kam, konnte er auf ihrem Hirn den Abdruck der Zeitung lesen – ’nen Bericht über die Auflösung der Kunstsammlung des Ehrenwerten Matthew L. Oldroyd.«
Das war ihre Geschichte – eine von Hunderten. Oder vielleicht Tausenden. Ihr Erscheinen trieb mich jedesmal zur Verzweiflung. Es bedeutete, daß Conrad für Stunden nicht arbeiten würde. Und ich konnte es auch nicht. Ich brauche eine Weile Ruhe und Sammlung, ehe die Worte kommen.
Ich schlich nach unten und aß im Speisezimmer zu Mittag. Wenn ich zurückkam, arbeitete Conrad zufrieden an meinem Schreibtisch. Die Schwester mit den glanzlosen Augen und den ungekämmten Strähnen, die ihr aus der Haube hingen, war allen Patienten unliebsam. Conrad aber schien sie anzuregen. Er lauschte ihren sonderbaren Flunkereien stundenlang mit dem Ausdruck größter Anteilnahme und Ehrerbietung. Ohne sie wäre »Nostromo« vielleicht nie geschrieben worden. Oder Conrads nächstes Buch wäre in einem Pariser Verlag erschienen.
Aus dem Englischen von Laetitia Lenel
SINN UND FORM 5/2018, S. 674-677
Sweeney, Matthew
Die Eule. Gedichte, S. 678Kinsky, Esther
Weiße Räume – Lichtes Maß. Unsagbar und Ungesagt in der Übersetzung, S. 686Winkels, Hubert
Die kaum spürbare Umarmung der Toten. Laudatio zum Düsseldorfer Literaturpreis für Esther Kinsky, S. 699Grünbein, Durs
Das Pferdemassaker an der Autobahnmeisterei, S. 703Bormuth, Matthias
Der Maler Michael Triegel, S. 706Loschütz, Gert
Herburgers Lachen, S. 709Seit langem überlege ich, was das ist: ein glückliches Leben. Oder ein geglücktes. Sagt man: Ein Leben war glücklich, wenn einer erreicht hat, (...)
LeseprobeLoschütz, Gert
Herburgers Lachen
Seit langem überlege ich, was das ist: ein glückliches Leben. Oder ein geglücktes. Sagt man: Ein Leben war glücklich, wenn einer erreicht hat, was er sich in frühen Jahren vorgenommen hatte? Ist ein glückliches Leben also ein erfolgreiches? Oder ist es eins, in dem die glücklichen Tage überwiegen? Und: Welchen Zeitraum zieht man für diese Berechnung in Betracht? Welchen Lebensabschnitt? Nimmt man alle zusammen? Oder beschränkt man sich auf einen? Einen frühen? Einen mittleren? Den späten? Gar den letzten, der ja kaum jemals zu den glücklichen zählt? Nimmt man die letzten zehn Jahre, in denen bei Herburger ein Unglück zum anderen kam und – wie bei Hiob – das letzte das vorangegangene jeweils übertraf, müßte man wohl von einem sehr unglücklichen Leben sprechen. Was natürlich Unsinn ist.
Und doch … da ist das Abdriften aus der Mitte des literarischen Lebens an den Rand; der notgedrungene Wechsel vom großen zu immer kleineren Verlagen (deren Mut und Fürsorge ausdrücklich zu würdigen sind); die trotz unverminderter Produktivität kaum noch vorhandene Aufmerksamkeit von Kritikern und Lesern; da sind die ausbleibenden Einladungen zu Lesungen und Diskussionen oder auch nur zu einem Kneipenabend mit Kollegen.
Eine Weile versuchten wir, Hans Christoph Buch und ich, ihn wieder hineinzuziehen in den alten Freundeskreis. Wir riefen ihn an, er sagte zu und kam dann nicht. Meistens jedenfalls, neun von zehn Verabredungen gingen so aus, fast immer kam ihm im letzten Moment etwas dazwischen, manchmal teilte er uns den Grund dafür mit, in der Regel aber schwieg er sich aus oder gab so seltsame, eher literarischen als realen Mustern folgende Begründungen an, daß wir nicht wußten, was davon zu halten war. Dann ließ er eine Weile nichts von sich hören, bis er erneut anrief und sich über seine Vereinsamung beklagte.
Es war – wir wußten es, auch ohne daß er darüber sprechen mußte – schwer für ihn auszugehen. Das Geld, das fehlte; das aufeinander Angewiesensein der Gemeinschaft, in der er mit Frau und behinderter Tochter lebte und aus der er sich kaum fortbewegen konnte, ohne daß es wie Flucht aussah und ihm Schuldgefühle eingab. Nicht zu vergessen: Die erst Jahr für Jahr, dann Woche für Woche spürbar abnehmende Kraft und die damit wachsende Sorge um die Tochter, die Frage, was aus ihr werden würde, wenn sich die Eltern einmal nicht mehr um sie kümmern könnten. Also blieb er in der Enge der gar nicht kleinen, aber durch die Anzahl der alten, oft über Jahrzehnte mitgeschleppten Möbel doch eng gewordenen Blissestraße-Wohnung.
Und da waren die ein Leben lang mit Hilfe von Antidepressiva in Schach gehaltenen und sich dennoch immer wieder meldenden Ängste und Panikattacken, gegen die nur eins half: Schreiben, Schreiben, und wenn auch das nicht mehr half, größere Mengen von Antidepressiva, und wenn auch die versagten: die Flucht in die Klinik.
Einmal – es muß vor etwas mehr als zehn Jahren gewesen sein – saßen wir da, abends im Park einer dieser im Westend gelegenen Psychokliniken für Menschen, die mit ihrem Leben nicht mehr zurechtkamen, alte Menschen zumeist, denen in Gesprächs- oder Malgruppen wieder zu ihrer verlorengegangenen Mitte verholfen werden sollte. Es war im Herbst, eben dunkel geworden. Wir hockten draußen auf einer Bank und sahen durchs Fenster die Alten, Verlorenen durch den großen Vorraum in den Eßsaal schlurfen. Er sprach mit Aufmerksamkeit von ihnen, mit einem durch genaues Hinschauen geschaffenen Abstand, dabei durchaus liebevoll. Doch dann brach – trotz der Sedativa, mit denen er ruhiggestellt wurde – wieder dieses Gelächter aus ihm hervor, dieses aus dem Schrecken, der Angst oder der Angstüberwindung und Schreckensabwehr geborene Gelächter, das seit jeher zu ihm gehört hatte.
Wir sprachen über früher, die Zeit in Friedenau, in der Schwabinger Elisabethstraße, wo ich ihn nach seinem Umzug öfter besucht hatte, es war die Zeit, in der der zweite Band der Birne-Bücher vorbereitet wurde, wir lasen zusammen die Fahnen; die Zeit auch, in der er seine (dritte) Frau, dieselbe, mit der er noch zusammenlebte, gerade kennengelernt hatte (sie arbeitete beim Fernsehen und hieß damals seltsamerweise Gabi und nicht Rosemarie), über die Geburt der Tochter, das Laufen. Alles zog an uns vorbei, die lebenden und die schon toten Freunde. Als uns kalt wurde, standen wir auf. Ich brachte ihn zur Tür, und als ich danach zur Bushaltestelle am Spandauer Damm ging, dachte ich, daß es so enden würde, wie es nun geendet hat: in einer Katastrophe. Da im Grunde keiner der drei allein zurückbleiben konnte und sollte, blieb nur – ja was?
Einen der letzten, nun schon wieder ein Vierteljahr zurückliegenden Anrufe eröffnete er, fast übergangslos, mit den Worten: Erzähl mir was von deiner Frau, und nachdem ich zu berichten begonnen hatte, unterbrach er mich mit den Worten: Meine spricht nicht mehr mit mir. Zuerst glaubte ich, er wolle mir von einem Streit erzählen, aber dann sagte er, daß sie ihn nicht mehr erkenne. Wie, fragte ich. Er: Weil nun das eingetreten sei, wofür es seit langem Anzeichen gegeben habe – Demenz, das Schreckenswort. Sie sei dement geworden, endgültig, nicht zurückholbar.
Ich kannte Herburger seit den späten Sechzigern, also seit über fünfzig Jahren, und glaube, daß er sich trotz der vielen Veränderungen, die ein so langer Zeitraum mit sich bringt, gleich geblieben ist. Immer war da dieser abwartende, von der Seite auf einen gerichtete Blick, er beobachtete einen, wie um den Moment nicht zu verpassen, in dem er mit seinem Witz zuschlagen konnte. Immer aber auch diese Freundschaftsfähigkeit, ja, die Bereitschaft zum Aussenden von Freundschafts- und Liebesbekundungen sowie andererseits die auf Unabhängigkeit schließende Fähigkeit, Erwartungen zu enttäuschen, bzw. die Weigerung, ihnen zu entsprechen; und der Hang, das für selbstverständlich Genommene nicht für selbstverständlich anzusehen; seine von nervöser Energie gespeiste Lachbereitschaft, die Freude am Lästern. Er konnte auf eine Weise witzig und übermütig sein, daß es wehtat.
In den frühen Siebzigern wurde mir der Blinddarm entfernt, am Tag nach der OP kam er ins Krankenhaus, stellte sich ans Kopfende des Betts und riß einen Witz nach dem anderen, so daß ich aus dem Lachen nicht mehr herauskam, nur daß ich wegen der frischen Bauchnaht nicht lachen durfte und mich gleichzeitig, während ich nicht aufhören konnte zu lachen, vor Schmerzen krümmte. Ein anderes Mal klingelte er an der Haustür in der Bachestraße und rief, als ich hinausschaute, ohne sich um mögliche Mithörer zu scheren, lachend zum Fenster hinauf: Valium, Valium, ob wir ihm, da schon alle Apotheken geschlossen seien, mit Valium aushelfen könnten.
Er lebte damals, zusammen mit seiner (zweiten) Frau Ingrid und seinem kleinen Sohn Daniel, in der Friedenauer Handjerystraße, keine Minute Fußweg von der Niedstraße entfernt, in der Grass wohnte, und vielleicht fünf Minuten von der Dickhardtstraße, in der sich die Literarische Dependance des Luchterhand Verlags befand. Jeden Nachmittag (oder jeden zweiten) tauchte er dort auf, erschöpft aber aufgekratzt, und verkündete, daß er wieder zehn Seiten geschrieben habe, an einem Tag wohlgemerkt – was ich, da ich ihn noch nicht gut kannte, für völlig unmöglich hielt, für eine seiner liebenswürdigen Aufschneidereien, was sein Lektor aber, der an seinem eigenen Schreiben verzweifelnde Klaus Roehler, mit spöttischsaurer Miene benickte.
Es war die Zeit, in der »Jesus von Osaka« entstand, der (wenn ich mich richtig erinnere) erste Roman Herburgers, in dem er den gepflegten Realismus der bei seinem vorigen Verlag, Kiepenheuer & Witsch, erschienenen Bücher gründlich hinter sich ließ. Er streifte die Fesseln des mit der Wirklichkeit rückkoppelbaren Schreibens ab, um sich von nun an nie wieder an die Gesetze der Wahrscheinlichkeit gebunden zu fühlen. Wann immer es ihm nötig schien, ließ er Jesus inmitten einer Schar japanischer Mädchen auf Skiern einen dem Fujiyama nachempfundenen, tatsächlich aber im Schwäbischen liegenden Berg hinunterwedeln oder – wie im letzten Buch – Meerschweinchen zwischen den geöffneten Beinen einer Madonna genannten Frau Männchen machen und deren Schamhaare auszupfen, die sie dann in das Heu ihrer Nester flochten.
Die Wirklichkeit oder besser: die die Wirklichkeit abbildende Sprache war Spielmaterial, mit dem er je nach Laune umging. Das konnte gutgehen und die wunderbarsten Blüten treiben, aber auch so weit ins Ungefähre führen, daß man nicht umhinkam, ihm das eigene Unverständnis mitzuteilen, was er durchaus übelnahm, eine Weile jedenfalls, bis man wieder eine Nachricht von ihm auf dem Anrufbeantworter fand: Ja, wo steckst du denn, Hergottsacra?!
Die wird es nun nicht mehr geben.
So sehr ich den Menschen mochte, den Verrückten aus dem Allgäu, der nach dem Abitur in München an der Uni Sanskrit belegte, wissend, daß er das Studium nie zu Ende bringen würde, der es eigentlich auch bloß tat, um sich von den anderen, den im braven Nützlichkeitsdenken gefangenen Idioten, zu unterscheiden; der als früher Aussteiger in den Süden trampte, mal in Ibiza am Strand schlief, mal in Madrid die Nächte am Bahnhof verbummelte, der über Spanien bis nach Algerien gelangte, nach Oran, ehe er nach Europa zurückkehrte, nach Paris, wo er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt, also weitgehend mittellos durch die Lichterstadt trieb, als deutsche Variante der zur selben Zeit im New Yorker Greenwich Village herumspukenden Beatniks, bis er irgendwann Josef Breitbach traf oder bei ihm vorstellig wurde und daraufhin die Gelegenheit erhielt, für ihn zu arbeiten … (Als was? Sortierte er dessen Bücher? War er sein Sekretär? Erledigte er für ihn kleine Besorgungen? Ich habe es, wenn er, immer nur andeutungsweise, davon erzählte, nie wirklich verstanden. Aber warum, dachte ich später, hat er eigentlich nie den im Namen seines früheren Gönners eingerichteten Preis erhalten, der ihm eine Weile Luft zum Leben verschafft hätte?) … So sehr ich ihn also mochte, diesen frühen Herburger, der immer noch auch in dem späteren, in den sechziger Jahren längst im Literaturbetrieb angekommenen und bloß dem Anschein nach verbürgerlichten enthalten war, so zwiespältig ist mein Verhältnis zu seinem Werk, diesem gewaltigen Bücherberg, den er uns hinterlassen hat, diesem Buchstabengebirge, das künftige Germanistengenerationen zu durchqueren versuchen werden, bloß um sich in den Seitentälern und Gletscherspalten zu verlieren oder, sich schon in Gipfelnähe wähnend, doch noch abzustürzen.
Zwiespältig, ja, es läßt sich nicht leugnen, denn anders als seine Bewunderer, die in der Thuja-Trilogie noch immer ein utopisches Romanwerk sehen wollen, während es mir mit seinem romantisierend-unkritischen Blick auf die DDR als eine gewaltige Ansammlung von Irrtümern erschien und erscheint, schätze ich mehr die zurückgenommenen Erzählungen aus der »Eroberung der Zitadelle« oder den schönen Text »Hauptlehrer Hofer«, in denen er weniger aufs Gas drückt und mehr seinem Stoff vertraut. Aber das Überbordende war nun mal seine Sache, das Zuviel, das er sich eine Zeitlang im Vertrauen auf die Richtigkeit des ersten Einfalls wieder wegzustreichen oder zu verbessern weigerte.
Während ich ihm seine Unkontrolliertheit vorhielt, seinen – in der Lyrik vor allem – gelegentlich wild zusammengemixten, also nicht mehr entschlüsselbaren, einer Privatmythologie folgenden Metaphernsalat, warf er mir das genaue Gegenteil vor: Spontaneitätsmangel, Beckmesserei, Langeweile, Glätte. In einer Kiste auf dem Dachboden gibt es einen Ordner mit unserem frühen Briefwechsel, in dem dieser Streit abgelegt ist. Aus Übermut oder um ihm zu zeigen, wie leicht sich diese Art von Gedichten herstellen ließ, hatte ich einen Text verfaßt, ein ellenlanges, mit plattesten Reimen durchsetztes Poem, das seine damalige Schreibweise parodierte, woraufhin der Streit zwischen uns richtig in Fahrt kam – Schnee von gestern, aber damals, in den Siebzigern, mit einer Ernsthaftigkeit betrieben, als ginge es nicht um Worte, sondern ums Leben. Und so war es ja auch. Es ging und geht bei der Literatur, so wie wir sie verstanden / verstehen, um nicht weniger als das Leben.
SINN UND FORM 5/2018, S. 709-712
Zischler, Hanns
Die zurückgebliebene Spur. Nachruf auf Karl-Ernst Herrmann, S. 712
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6/2018
Heft 6/2018 enthält:
Dorfman, Ariel
Was sie gesehen hat, S. 725Hartmann, Annemarie
Eine Winterreise. Gedichte, S. 734Tulli, Magdalena
Wie Blätter im Teeglas, S. 737Ihre Krankheit war wie das Ende eines Imperiums. Die Armee zog sich zurück und verließ die in Zeiten vergangener Herrlichkeit besetzten (...)
LeseprobeTulli, Magdalena
Wie Blätter im Teeglas
Ihre Krankheit war wie das Ende eines Imperiums. Die Armee zog sich zurück und verließ die in Zeiten vergangener Herrlichkeit besetzten Brückenköpfe, die Statuen bröselten, die Säulengänge wurden von Unkraut überwuchert. Die Beamten des Kaiserreichs dachten nicht mehr an die Macht, sondern nur noch ans Überleben, an das Irdische, das heißt an das, was dem Körper am nächsten war, und durch die verlassenen Grenzposten drangen Fremde – Viren, Bakterien – und übernahmen die Herrschaft. Gegen Ende gab ich ihr jeden Vormittag eine Spritze. »Und wer bezahlt Sie?« fragte sie interessiert. »Meine Familie?« Sie war noch so geistesgegenwärtig anzunehmen, daß jemand bezahlen müsse, und hatte genug Überblick, um zu wissen, daß sie es nicht war. Außer ihrer Familie hatte sie noch eine Tochter, aber die hatte sie seit Jahren nicht gesehen. Ich nickte, ja, die Familie bezahlt. Ich wollte sie nicht mit Sensationen überraschen, die sie hätten beunruhigen können. Zum Beispiel damit, daß ich ihre Familie war. Außer mir kümmerten sich abwechselnd zwei Pflegerinnen um sie. Ich hatte möglichst zuverlässige Frauen ausgesucht, aber sie mochte sie nicht. Die ältere war ihres Erachtens zu apodiktisch, die jüngere machte immer ein Gesicht, als müßte sie sich beeilen. Von uns dreien mochte meine Mutter mich am liebsten. Aber für die Oberschwester hielt sie die Älteste. Als eine Tasse kaputtging, war sie besorgt, die Oberschwester könnte mich hinauswerfen. »Wir sagen ihr nichts«, entschied sie. So sah das Ende aus. Spritzen, Tabletten. Die Hoffnung nahm davon nicht mehr zu. Und der Anfang? Man könnte annehmen, daß am Anfang, bevor die Dinge kompliziert wurden – denn auf die eine oder andere Weise mußten sie kompliziert werden –, wenigstens für kurze Zeit eine ursprüngliche, unbefleckte Reinheit geherrscht habe, nach der man sich später das ganze Leben sehnen würde. Doch das Leben besteht aus lauter Fortsetzungen ohne jeglichen Anfang, aus alten, verknoteten Handlungsfäden, die wer weiß woher kommen und wer weiß wohin führen. Der Anfang ist dort, wo wir das Fähnchen hineinstecken – bis jemand es herausnimmt und anderswo hineinsteckt. Daß der Anfang eine Frage der Vereinbarung ist, kommt uns entgegen. Wir stecken das Fähnchen an den Ort, an den meine Mutter nach dem Krieg zurückgekehrt ist. Sie kehrte zurück ohne die geringste Idee, was sie mit dem plötzlich geretteten Leben anfangen sollte; erst später, nach Jahrzehnten, sollte sich herausstellen, daß das Leben nicht gerettet werden kann. Wir sprechen von einer Großstadt, weniger zerstört als andere, einer Stadt, die einst von morgens bis abends unermüdlich dem Geld hinterherjagte, das sie für atemberaubenden Flitter brauchte, für den Kauf von Wechseln, für Marmelade aufs Brot. Sagen wir – es sei Lodz. Viel weiß ich nicht von Lodz. Jedenfalls sollte nach dem Krieg die Vergangenheit – anders als die alten Mauern, die schwer zu bewegen sind – auch aus dieser Stadt entfernt werden. Nirgends in unserem Land sollte sie sich verstecken können, sie sollte verschwinden, ohne Fortsetzung. In jener Zeit wurde überall das alte, ausgebrannte Bühnenbild auseinandergenommen und eilig ein neues aufgestellt, das täuschende Ähnlichkeit mit Häusern, Brücken und Fabriken hatte. Die Illusion der Wirklichkeit war nicht von der Hand zu weisen. Man lebte recht ruhig vor diesem Hintergrund, vor allem wenn man die Ruhe mit dem Chaos verglich, das vor kurzem erst zu Ende gegangen war. Aber dieses Bühnenbild hatte nicht das richtige spezifische Gewicht. Es wog so viel wie Pappe. Schon ein stärkerer Windstoß brachte seine Existenz in Gefahr. Die Tageszeitungen schreckten mit der Stoßwelle einer Atombombe, die fähig wäre, uns zusammen mit den frisch errichteten Konstruktionen innerhalb von Sekunden von der Erdoberfläche zu fegen. Während man bei uns Pläne von Häusern und Brücken zeichne, so meldeten sie, arbeiteten andere schon an den Plänen ihrer Zerstörung. Aber warum hätten sie das tun sollen, und wozu? Weil das Zerstören in ihrer Natur lag und weil sie das letzte Wort haben mußten. Angeblich wollten sie an der Zerstörung auch noch verdienen, wie an allem, was sie in Angriff nahmen. Dort, weit weg von uns, zählte nämlich nur das Geld. Die Rollen waren verteilt: auf der einen Seite Herz und Verstand, auf der anderen lediglich Gier. Die anderen hatten drei Viertel der Welt und halb Europa unterworfen. Unser Land, nicht nach seiner Meinung gefragt, fand sich in der zweiten Hälfte wieder, die Tür war zugefallen und es gab kein Entrinnen. Jeder, der zu hoffen wagte, daß sich noch etwas ändern könnte, wurde verfolgt. Hoffnung war – natürlich – zu empfehlen, aber nicht diese Hoffnung. Wir sollten hoffen, daß sich nichts mehr ändern, daß es nur immer mehr Häuser, Brücken und Fabriken geben werde, immer besser im Boden verankert. Sie sollten unser gemeinsamer Stolz sein, das, wofür wir zu gegebener Zeit unser Leben opfern würden. Vorläufig mußten wir uns vorsichtig bewegen, um nichts umzuwerfen. Zuviel durfte man nicht erwarten. Der keinen Widerspruch duldende Ausdruck »man muß« dominierte in der Schule, beim Militär und im Kreißsaal. Der Zwang war unpersönlich und kam sozusagen von oben, woher genau, wußte keiner: Die Grammatik legte nicht offen, von wem die Forderung kam. Meine Mutter hatte ihre eigenen Gründe, sich von der Vergangenheit fernzuhalten, und sei es nur, daß die Vergangenheit sie nachts weckte und nicht mehr schlafen ließ. Um so besser, daß es keinen Platz für die Vergangenheit gibt, dachte sie wohl. An der Straßenecke war ein Postamt. Mutter sah an der Tür ein Schild – Mitarbeiter gesucht. Das Postamt stellte Mutter in der Sortierstelle ein, wo jedes Paar Hände gebraucht wurde. Nach dem Krieg flutete eine hohe Woge von Briefen durch unser Land. Vom Hauptstrom zweigten kleinere Flüsse ab, die nicht existierende, tote Adressaten suchten. Sie fahndeten nach denjenigen, die ihren Aufenthaltsort geändert hatten, die – aus freiem Willen oder auch nicht – in andere Städte oder sogar in den fernen Osten, womöglich nach Sibirien gezogen waren; in solch extremen Fällen gab sich der Brief allerdings schnell geschlagen. Man hielt sich an eine vertrauliche Liste von verdächtigen Empfängern und Absendern und fischte die gefährlichsten heraus. Die mußte man zur Seite legen und einem Mann im Ledermantel übergeben. Außer dieser Namensliste existierte jedoch auch eine Regel höherer Ordnung, eine, die Mutter vor dem Krieg zu Hause gelernt hatte. Wie durch ein Wunder hatte diese Regel überlebt, offenbar war sie feuerbeständig. Zu ihr gehörte das strikte Verbot, fremde Briefe zu öffnen, was im Dienst die Vertraulichkeit privater Post bedeutete. Mutter kam durcheinander. Sie wollte arbeiten, aber die widersprüchlichen Regeln verwirrten sie. Im Herbst flüchtete sie von der Sortierstelle auf die Universität, wo die Regeln noch nicht geändert worden waren. Sie hatte kein Abitur, obwohl sie es sicher geschafft hätte, wenn dort, wo sie die vergangenen Jahre verbracht hatte, Prüfungen stattgefunden hätten. Sie hatte Glück. Das Feuer hatte die wichtigsten Dokumente verzehrt, und nach den weniger wichtigen fragte niemand. Man mußte nur einen entsprechenden Antrag im Dekanat stellen und sich dann eine Bibliothekskarte, ein Heft und Bleistifte besorgen. Man mußte zwei hübsche Kleider besitzen, ein Kostüm, einen Wintermantel und Schuhe. Die Blusen mußten frisch gewaschen und ordentlich gebügelt sein. Man mußte die Fasson wahren. Abgesehen von anderen Gründen – Vernachlässigung hätte zu viel enthüllt.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
SINN UND FORM 6/2018, S. 737-748, hier S. 737-739
Hünigen-Schmidt, Ellen
Wie ein sich tröstendes Kind. Gedichte, S. 749Hamm, Peter
Langeweile mit Denkmälern. Ein unbekanntes Gedicht von Günter Grass und eine Erinnerung an den Dichter, S. 753Różycki, Tomasz
Der Typ, der die Welt gekauft hat. Gedichte, S. 760Thimm, Günter
Gestisches Übersetzen, S. 764Schleef, Einar
Herzkammern. Gedichte. Mit einer Vorbemerkung von Hans-Ulrich Müller-Schwefe, S. 775Vorbemerkung 1. »Stinkstiefel!« Mit diesem Ausdruck bedachte der zornige Jürgen Holtz einmal im Interview den Regisseur Einar Schleef. Die (...)
LeseprobeSchleef, Einar
Herzkammern. Gedichte
Vorbemerkung
1. »Stinkstiefel!« Mit diesem Ausdruck bedachte der zornige Jürgen Holtz einmal im Interview den Regisseur Einar Schleef. Die Wortwahl war drastisch, und sie brachte mich damals, als Lektor und dramaturgischer Berater an Schleefs Seite, gegen den Schauspieler auf; klar, ich nahm Partei. Dabei ließ sich so ein Ausbruch nachvollziehen. Der Regisseur konnte im Probenprozeß verbissen, kleinlich, ja gemein reagieren. Gentleman-Regie gehörte nicht zu seinen Möglichkeiten. Wenn etwas Sehenswertes entstehen sollte, mußte hart gearbeitet, mußten Konflikte (an denen es nie mangelte) durchgekämpft werden. Zum öffentlichen Bild des Regisseurs, Autors, Malers, Darstellers, Fotografen gehört das beeindruckende Volumen seiner Arbeiten, gehören Lautstärke und Eindringlichkeit. Im schärfsten Kontrast dazu nun der Ton dieser unveröffentlichten Gedichte. Die Haltung dessen, der hier von Sterben, Tod und Totenreich spricht, wirkt entspannt, gelöst, ja erlöst. Nachdem alles vorbei ist, läßt sich die Lage offenbar gelassen, leise, in einfachen Sätzen und Worten beschreiben. So, in dieser Verfassung, wäre der Künstler im wirklichen Leben gern gewesen, stelle ich mir vor. Aber – es ist gar nicht alles vorbei. Drüben, wie sich herausstellt, am anderen Ufer, geht es weiter, geht dasselbe von vorn los. Erlösung? Nicht mal im Tod ist sie vorgesehen.
2. Einige Wochen nach Schleefs Tod im Juli 2001 konnte ich seine Wohnung in der Nußbaumallee im Berliner Westend noch einmal besuchen. In der einen Ecke des großen Zimmers stand der Fernseher. Ihm gegenüber ein breiter, alter Holzstuhl mit Schnurbespannung und Armlehnen, davor auf dem Parkett eine Fernsehzeitschrift, aufgeschlagen der Tag vor dem Tod, meine ich, mit Anzeige einer Sendung über einen Frauenmörder, die mir auffiel, weil der Sangerhäuser Frauenmörder Fritz Schnubbe sozusagen zu Schleefs Inventar gehörte, nachzulesen im »Tagebuch«, und weil 1999 Thomas Braschs »Mädchenmörder Brunke« erschienen war; rechts und links vom Stuhl seine Schuhe, es waren wohl eher Schlappen. Er hätte gleich wieder, aus der Küche oder vom Klo, vom Telefon, aus dem Bett oder vom Computer kommend, Platz nehmen und hineinschlüpfen können. Ein einsames Ensemble – das vor meinen Augen auftauchte, als ich diese Gedichte las. In dreien ist von schwarzen Schuhen die Rede, die aufgegeben, aufs Wasser gesetzt werden und später, getrocknet, an Land erneut bereitstehen. Zu vernehmen ist eine bis dato unbekannte Stimme des Künstlers, elegisch, leise. In romantischer Tradition ist vom Ich und von dem anderen, »meinem Schatten«, die Rede, von fallenden Blättern, Abend, Mond, vom Sterben, von Charons Kahn und dem Land der Toten.
3. In Schleefs Welt sind Tote allgegenwärtig. 1971, kurz nachdem er in Ost-Berlin sein Bühnenbild-Studium abgeschlossen hat, stirbt der Vater. Über seinen Tod hinaus hält er die Mutter in Sangerhausen auf Trab. Nachzulesen im Romanmonolog »Gertrud« (sowie im Briefwechsel des Sohns mit der Mutter). Ihr Hadern, ihre Todes- und Grabphantasien – täglich läuft sie auf den Friedhof – sind, nachdem der Sohn schreibend in sie hineingekrochen ist, kaum mehr von dessen eigener Befindlichkeit zu unterscheiden. In West-Berlin seit 1976 wohnhaft, beschäftigen ihn die Toten an der Mauer, die Selbstmörder, die von der Autobahnbrücke in der Nähe seiner Wohnung springen, der Aids-Tod eines Freundes sowie der Tod der Alten in dem Heim, auf das er täglich aus seiner Küche blickt. (Ihnen ist das Kapitel »Altensilo« in dem Gedichtkonvolut gewidmet, aus dem die folgenden Gedichte stammen.) Nach seinem Zusammenbruch im Januar 2001 während der Proben zu Elfriede Jelineks »Macht nichts« übernimmt der drohende Tod in Schleefs Leben das Regiment, auch im »Tagebuch«, wo lange Einträge von ihm handeln.
4. Töten, Selbsttötung, Sterben haben viele seiner Werke infiziert, die Stücke »Mütter«, »Wezel«, »Salome«, seine Erzählungen, den Groß-Essay »Droge Faust Parsifal« – und eben auch die Sammlung »Herzkammern«, der die vorliegenden Gedichte entnommen sind. »Herzkammern« wurde nicht veröffentlicht. Schleef hat überhaupt keine Gedichte veröffentlicht. Einige frühe finden sich im zweiten Band des postum publizierten »Tagebuchs «, dem der Autor zugleich die Rolle einer Arche Noah verstreuter eigener Texte zugewiesen hatte. Um so erstaunlicher scheint mir, daß aus den »Herzkammern« auch dort nichts auftaucht. »Gertrud« kam 1980 heraus, »Zuhause« (mit hundert Fotos von Sangerhausen und Umgebung) 1981, der Erzählband »Die Bande« 1982, das Theaterstück »Wezel« 1983, »Gertrud 2« 1984. Offenbar fand Schleef in diesen Jahren auch noch Zeit für Gedichte. Oder waren sie früher entstanden? 1982 bewarb er sich mit den »Herzkammern« um einen Lyrikpreis. Gernot Krämer zog das Typoskript ans Licht. Von den 75 Gedichten wählte die Redaktion elf aus.
Hans-Ulrich Müller-Schwefe, Vorbemerkung zu Einar Schleef, Herzkammern. Gedichte
SINN und FORM 6/2018, S. 775-776
Jäger, Lorenz
Die Bewegung der Jugend. Über den Tod von Christoph Friedrich Heinle, S. 782Görner, Rüdiger
Beim Wiederlesen von »The Waste Land«. Gedicht, S. 788Brombert, Victor
Zwischen zwei Welten, S. 793Geisler, Eberhard
»Cervantes ist eigentlich immer jünger geworden«. Über den Autor des »Don Quijote« und seine geistesgeschichtliche Bedeutung, S. 804Eckert, Nora
Büchners ungeschriebene Theatertheorie, S. 816Strube, Rolf
»Meine Sache ist nur, Talent zu haben«. Eine vergessene Bühnenfigur Tschechows und die Folgen, S. 826Petrow, Wsewolod
Das Nichts. Drei Erzählungen, S. 835Aufenanger, Jörg
Arthur Adamov oder der Blick ins Nichts, S. 843Ette, Wolfram
Automaten des Glücks, S. 846I. Es gab in der Kindheit diese Kaugummiautomaten. Sie waren auf unserer Augenhöhe angebracht, dort, wo die Erwachsenen selten hinsahen, weil sich (...)
LeseprobeEtte, Wolfram
Automaten des Glücks
I.
Es gab in der Kindheit diese Kaugummiautomaten. Sie waren auf unserer Augenhöhe angebracht, dort, wo die Erwachsenen selten hinsahen, weil sich dort nichts für sie Wichtiges befand. Wie Schwalbennester klebten sie an den Häuserwänden, ein rotes oder blaues Metallgehäuse umgab eine Dose aus meist milchig gewordenem Plastik, die die begehrte, schlecht sichtbare Ware enthielt. Die Automaten funktionierten mit Hilfe eines Drehmechanismus. Man legte zehn Pfennig quer in eine dafür vorgesehene Öffnung. Dann ließ sich der Griff nach rechts drehen – schon das Knacken, mit dem die Münze die Sperrmechanismen löste, deren Widerstand sich der Hand mitteilte, bereitete Lust –, und unten, aus einer Art Maul, rollte das blaßfarbene Kaugummi heraus. Der Vorgang war risikobehaftet. Der Drehgriff war so angelegt, daß er manchmal zurückschnappte. Deswegen mußte die linke Hand helfen und den eher zu kleinen Griff festhalten. Die rechte Hand konnte dann umgreifen und die Runde vollenden. Wenn es mißlang, hatte man meistens Glück und die Münze war noch am Ort. In seltenen Fällen war sie durchgefallen. Dann hatte man verloren. Allerdings entsprach diesem Verlustrisiko eine komplementäre Chance. Ganz selten rutschten zwei Kaugummis durch. Unzählige Male versuchte ich, diesem Vorgang durch sachtes Hin- und Herbewegen des Griffs an der richtigen Stelle nachzuhelfen. Vergeblich: Die zufällige Lage der Kaugummis ließ sich nicht beeinflussen; das Glück mußte auf meiner Seite sein. Notwendig war es außerdem, die freie Hand unter das Maul zu halten, dessen Metallklappe oft ausgebrochen war. Sonst bestand die Gefahr, daß die Kaugummis aufs Pflaster fielen, in den Rinnstein rollten. Aber dann durchströmte mich die Süße – schoß mir verstörend ins Hirn, zog den Mund schmerzhaft in die Breite. Man mußte sich durcharbeiten. Das Äußere war hart und vertrocknet von der wer weiß wie langen Lagerung bei jedem Wetter. Erst nachdem man eine Weile gierig-verzweifelt auf der sonderbaren Masse herumgebissen hatte, wurde sie weich. Irgendwann aber war die Süße verschwunden. Was blieb, war die Erinnerung an diesen unerhörten ersten Zugriff, diesen mystischen und qualvollen Moment. Es gibt diese Automaten immer noch, meist mit Rostblüten und kleinen Aufklebern bedeckt. Verlottert wie in den sechziger und siebziger Jahren. Ein übersehenes Stück Wirklichkeit wie die Bordsteine und Gullis, an denen wir spielten, und die zugewachsenen Weltkriegsbrachen, auf denen wir uns herumtrieben, ohne daß uns jemand bemerkte. Aber sie führen mir vor Augen, daß ich selbst erwachsen geworden bin. Denn suche ich sie jetzt, diese mythischen Objekte an den Wänden, so übersehe ich sie häufig, und es ist meine Tochter, die mich auf sie hinweist. All das, was an sentimentaler Erinnerung daran noch vorhanden ist, ist jetzt überdeckt von Ekel und ungläubigem Staunen darüber, daß diese Automaten vom dichten Netz der deutschen Hygienevorschriften nicht erfaßt wurden. Wie alt mögen die Kaugummis sein, die man ihnen entnimmt – zwanzig Jahre? Und wieviel Chemie steckt in ihnen, damit sie überhaupt eßbar sind? Diesen Ekel gab es früher nicht. Was uns beschäftigte, war das Gefühl, in diesen Automaten etwas Entlegenes und Übersehenes, einen Schatz, ein überaus kostbares Fundstück entdeckt zu haben, das den Zugang zu einer anderen Welt versprach. Es ist erstaunlich, daß Joanne K. Rowling mit ihrer nachtwandlerischen Sicherheit für Stellen, an denen die Welt der Kinder an die Welt der Magie grenzt, dieses Requisit übersehen hat. Ist es von drei Automaten stets der mittlere, der einem den Zugang zur Parallelwelt eröffnet? Sind zwei Automaten synchron zu bedienen (so wie in »Jim Knopf und die Wilde 13« die dreizehn Türen im selben Augenblick geöffnet werden müssen, um das »Land, das nicht sein darf« untergehen zu lassen) und von wem? Kommt es darauf an, bestimmte Münzen einzulegen? Eignen sich dafür nur unbenutzbar gewordene Automaten, die aus dem Produktionskreislauf herausgefallen sind? Die Automaten mit den Kaugummis für zehn Pfennig waren der Standard. Es gab aber auch solche, in denen doppelt so große Kaugummis für zwanzig Pfennig verkauft wurden. Der Mechanismus sah genauso aus, war aber viel komplizierter. Denn es bedurfte zweier voller Umdrehungen, um den Fall des Kaugummis auszulösen. Die erste Münze mußte also irgendwo zwischengelagert werden. Wie ging das zu? Daran schlossen sich weitere Fragen: War das Doppel-Kaugummi wirklich genau doppelt so groß wie das einfache? Oder gar etwas größer? Oder womöglich kleiner? All dies beschäftigte mich und verhieß einiges. Um so größer war dann die Enttäuschung. Diese Kaugummis waren eigentlich zu groß. Es war schwer, sich durch ihre Schale zu beißen, und wenn es gelang, war der Mund mit einer erstickend großen Menge der zähen, immer geschmackloser werdenden Masse angefüllt, so daß nach kurzer Zeit der Kiefer höllisch schmerzte. Es war eine Versuchung, sich darauf einzulassen. Aber ihr nachzugeben wurde nicht belohnt. Ähnlich verhielt es sich mit der dritten Automatensorte, die für etwas mehr Geld – ich glaube, es waren fünfzig Pfennig – den Zauberspittel enthielt, nach dem die Kinder gieren. Ringe und Flummis; kleine Uhren mit fest aufgeprägtem Zifferblatt, die auf fünf vor eins eingestellt waren und also wenigstens zweimal am Tag richtig gingen; Anhänger für Halsketten und Armreifen und Miniaturtaschenmesser mit Blechklingen. Billigprodukte aus China, Vorläufer der Überraschungseier, Talmi und Straß, die das Leben im Kapitalismus erst schön machen. Dennoch stand auch hier der Glanz des Fernen und Geheimnisvollen, der sie umgab, im Mißverhältnis zu dem, was man bekam. Was sollte ich mit einem Plastikring, dessen metallische Oberfläche nach einem Tag schartig und durchscheinend wurde? Daß der Zauber der Ware faul sein konnte, wurde mir hier zum ersten Mal klar. Dennoch: Über die Jahre lohnte sich der Einsatz. Einmal gewann ich den Jackpot: ein kleines, messingfarbenes Feuerzeug, das mit Haushaltsbenzin zu befüllen war. Ich hatte es hinter der zerkratzten, in diesem Fall auch noch vergitterten Scheibe erspäht. Darauf richtete sich meine Sehnsucht, und der Moment, in dem ich es nach vielen Versuchen in Empfang nahm, war durchdrungen von Unglauben. Jahrelang habe ich es mit mir herumgetragen, gehegt und gepflegt und die innenliegende Watte erneuert. Mit dem Beginn der Pubertät ging es verloren – wie so vieles. Die Kaugummis für zehn Pfennig blieben sich aber immer gleich, bis heute. Es sind die Elementarteilchen einer Welt, die aus Zucker und süßem Saft besteht: No-name-Produkte, die sich keiner Marke zuordnen lassen. Ich kannte niemanden, der sie nicht begehrt und nicht von Zeit zu Zeit einen Teil des Taschengelds dafür geopfert hätte. Es waren klassenlose Süßigkeiten. Das scheint sich geändert zu haben. In den bürgerlichen Vierteln sind die Kaugummiautomaten kaum noch zu finden. Sie wurden offenbar abmontiert. Sind sie zum Vergnügen der Ausgeschlossenen geworden, der kleinen kahlrasierten türkischen und arabischen Jungen, die alleine oder allenfalls von ihren großen Schwestern begleitet auf der Straße herumlungern? Ist es das Brot der Armen, das letzte Versprechen für ein übergewichtig gewordenes Proletariat? Aber ich sehe niemanden mehr an diesen Automaten, auch keine Kinder. In der DDR, so höre ich, konnte man diese Automaten nicht finden. Typisch. Was uns auffiel an unserem häßlichen sozialistischen Geschwister, war genau das: das Pragmatische, Überrationale, Graue und Nüchterne; das Fehlen des magischen Zaubers der Ware, der für uns von solchen Automaten ausging. Dabei war es nicht der Zauber der Marke, es war nicht der Nimbus, mit dem insbesondere die Fernsehwerbung einzelne Produkte umgab, die deswegen im Osten fast noch größere Verehrung genossen als bei uns. Nein, es war das Rätsel der automatischen Produktion, der Zauber, mit dem der Kapitalismus sich selbst umgab, das fast religiöse Versprechen der Rationalisierung. Wir kannten das aus dem Märchen vom Tischleindeckdich. Irgendwann, so ahnten wir, würden die Maschinen alles selbst produzieren, inklusive ihrer selbst und des für sie notwendigen Geldes. Uns erwartete die Wiederkehr des Paradieses, in dem wir nicht arbeiten und kein Geld verdienen mußten, sondern einfach nur die Hand unter die immer gefüllten Automaten zu halten brauchten. Vielleicht ist die DDR in Wirklichkeit daran zerbrochen, daß sie mit diesem Zauber nicht aufwarten konnte, daß sie aus der Sicht von uns West-Kindern nichts versprach und nichts verhieß. Bei uns dagegen stellten die Automaten eine Art Vorgeschmack aufs Schlaraffenland dar, von dem wir freilich ahnten, daß es nicht kommen würde. Wir sahen ja unsere Eltern, sahen sie arbeiten, empfanden ihre schlechte Laune oder doch zumindest ihre Zeitnot. Die Automaten des Glücks konnten sie nicht sehen. Den fernsten, sich in der Unwirklichkeit einer nachträglichen Phantasie verlierenden Horizont dieser Erinnerungen bildet ein Automat, der sich im mittlerweile abgerissenen Freibad meiner Kindheit befand. Dieser Automat enthielt Pommes frites. Die meisten, denen ich davon erzähle, glauben mir nicht, meine Kindheitsfreunde können sich nicht erinnern, eine längere Recherche im Internet ergab nur wenig. Aber es hat offenbar solche Automaten gegeben, aus denen man sich für fünfzig Pfennig oder eine Mark, ausgelaugt und hungrig vom ständigen Wechsel zwischen dem Spiel an der Sonne und im überchlorten Wasser, die nahrhafte und fettige Ware zog. Das waren keine Süßigkeiten, sondern richtiges Essen, das von einer Maschine auf magische Weise zubereitet wurde. Eine Stadt, in der an jeder Ecke diese und ähnliche Automaten aufgestellt worden wären, das war die Stadt der Träume, das war die Stadt der Zukunft.
II.
Man kann wohl sagen, daß diese Phantasien sich nicht erfüllt haben. Was jetzt das Straßenbild der Städte dominiert, sind kaum die Vollautomaten mit ihrer illusionären Verheißung einer ohne den Menschen auskommenden Produktion. Es sind die ubiquitären Freßbuden und Schnellrestaurants: all die Tempelstätten des expandierten Dienstleistungssektors, in denen das Proletariat von heute kaputtgemacht wird. Ganz offensichtlich sind diese fleißigen, nach Möglichkeit jungen und attraktiven Menschen, von denen wir uns bedienen lassen, die Automaten, die noch weniger Pflege und Unterhaltung bedürfen als die von früher. Das Glück, das mir aus der Erinnerung an die Automaten der Kindheit zuströmt, speist sich aus der Utopie der von Menschen gemachten, sich selbst verschenkenden Natur – etwas, das es nicht gibt, das Perpetuum mobile. Die Wirklichkeit von uns Erwachsenen sieht anders aus. Wir sind Automaten des Unglücks – reduziert auf eine Funktion. Und wenn die Kosten des Unterhalts zu hoch werden, ersetzbar durch Hundertausende, die dasselbe besser und billiger machen, bis sie ihrerseits ausgetauscht werden. Die Verwandlung des Menschen in einen Automaten ist Grund und geheimes Ziel unserer Epoche, wieviel an Eigensinn sich auch dagegen regen mag, wieviel Kreativität und Erfindungsreichtum in der Anpassungsleistung frei wird, ja sie in gewisser Weise sogar ermöglicht: Der von Marx unter dem Titel der Entfremdung analysierte Subjekttausch von Mensch und Maschine ist die Dominante des gesamten Prozesses. Die Maschine, so heißt es in den »Ökonomischphilosophischen Manuskripten«, wendet den Menschen an, er wird zum Anhängsel der Maschine, zu Zahnrad, Baustein, Platine, wird zur Unterroutine eines von selbst laufenden Programms. Dabei ist es unerheblich, ob es sich wortwörtlich um einen maschinellen Produktionsprozeß oder um ein Geflecht von Normen oder Verwaltungsvorschriften handelt, die die einzelnen auf ihre Teilleistung für das Ganze reduzieren. Aus dieser Sicht ist es einerlei, ob ich am Band stehe, reduziert auf einen einzigen Bewegungskomplex, ob ich hungere, um meinen Körper den Erwartungen meines Vorgesetzten und des zahlenden Publikums anzupassen, oder ob ich als Journalist, Schriftsteller oder Wissenschaftler meine Sätze so mit Textbausteinen fülle, daß sie, vor allem Inhaltlichem, meine Zugehörigkeit zur Gruppe derer, die in meiner Branche das Sagen haben, bekunden. Sicherlich bietet das Dienstleistungsgewerbe besonders unangenehmes Anschauungsmaterial. In einer gesellschaftlich vollständig akzeptierten Weise sind die Körper derjenigen, die in den Handyshops, den internationalen Freßbuden, teilweise sogar schon an Tankstellen und Spätshops arbeiten, zur Ware geworden. Wer nicht gut aussieht, kommt gar nicht erst rein; wer zu alt wird, fliegt raus. Aber »Dienstleister« sind wir alle. Das Phänomen hat weite Teile der totalitär werdenden Gesellschaft erfaßt, die Arbeit – weniger als Produktion denn als »Dienst« begreift. Mit schwindelerregender Dynamik hat sie das widerständig-produktive Wechselverhältnis von Mensch und Welt, Subjekt und Objekt umgeformt in Hingabe, blindes Funktionieren, rituellen Vollzug. Der ökonomische Erfolg der einzelnen hängt davon ab, wie sehr sie sich damit zu identifizieren in der Lage sind; wenn es darüber hinaus gelingt, etwas für sich selbst abzuzweigen, um so besser. Wem das nicht möglich ist, der hat es schwer. Diese Transformation vollzieht sich mit Wissen und Willen der meisten Beteiligten, und sie wird abgestützt vom ideologischen Mainstream. Seele, Geschlecht, Individualität, Sprache und Hautfarbe – das sind alles vorkapitalistische Rückstände, ein Erdenrest, zu tragen peinlich und hoffentlich bald beseitigt. Gleich sind wir nur als Automaten, als Roboter in Markenkleidung, trainierte Körper, die sich dem computergenerierten Idealmaß annähern, Niemand und Jedermann, am neuen Smartphone die Summe unserer Funktionen: Einkommen, soziale Verknüpfungen und Dinge, denen wir anhängen, die die anderen haben oder nicht. Die Automaten des Glücks waren den Menschen nicht ähnlich, und im Zwischenraum dieser Differenz lagerten die Phantasien, die uns beglückten. Sie waren kleine, unansehnliche Ausschnitte aus einer Welt, die zu der unsrigen ergänzend, bereichernd, luxurierend hinzutrat. Wenn Menschen zu Maschinen werden und Maschinen zu Menschen, droht der Zwischenraum sich so zu verengen, daß für die Träume vom Glück, die zu einem Teil schon das Glück selbst sind, kein Platz mehr bleibt.
SINN und FORM 6/2018, S. 846-849
Randig, Christina
Ferdinand Hardekopf als Übersetzer, S. 850Werner, Nadine
Benjamins »Bratapfel«. Einblicke in die Arbeit an der »Berliner Kindheit um neunzehnhundert«, S. 853