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1/2015
Heft 1/2015 enthält:
Herrmann-Neiße, Max
Die Kellnerin.
Mit einer Vorbemerkung von Klaus Völker, S. 5I. Am Samstag Vormittag ging der Lokomotivführer Gustav Finger wieder in den Dienst. Zuerst hatte man beim Frühstück tüchtig Grund gelegt, wenig (...)
LeseprobeHerrmann-Neiße, Max
Die Kellnerin
I.
Am Samstag Vormittag ging der Lokomotivführer Gustav Finger wieder in den Dienst. Zuerst hatte man beim Frühstück tüchtig Grund gelegt, wenig dazu gesprochen, daß der ersprießliche Vorgang nicht unnötigerweise gestört würde, auch war man ohnehin noch morgendlich maulfaul, zur unternehmungslustigen Wachheit des Tages nicht bereit. Hatten sich also die beiden Eheleute wie zwei faule, dampfende Massen einander gegenüber gelagert, der Mann auf dem Sofa, hemdsärmlig, vor sich auf rotbeblümter Tischdecke den tiefen Teller voll Aufgewärmtem, Suppe, Fleisch, Gemüse von gestern Mittag zu einem Brei verkocht, dicke Bissen Brotes nun noch hineingebrockt und das Rauchende dann in sich geschaufelt, an der anderen Seite des Tisches Frau Bertha, zottlige Haare unfrisiert um das frisch geaschte, verdunsene Gesicht, die Augen kindlich blöde blinzelnd, mit weißgestärkter, knallender Untertaille vorläufig die schaukelnden Rundlichkeiten garniert, die prallen nackten Arme auf der Tischplatte breit aufgelümmelt, Kaffee schlappernd, eine Semmel in die Flüssigkeit tunkend und das triefende Gebäck mit Geschmatz ins Maul sich pappend. Über dem Ganzen der Dunst warmer, eben erst verlassener Betten, Küchengeruch, Schweiß der Nachtruhe und des Tages und der Haussegen. Die beiderseits stier, als habe man eben erst vor, wirklich hinzusehen, und nur spärlich, stockend, in großen Zwischenräumen quält sich aus dem Gähnen, Schnaufen, Kauen, Sichräkeln ein belangloses, mißtöniges Hin und Her von Geräuschen, der träge Versuch einer Art Gespräch: »Die Klosen hatte gestern schon wieder ein neues Kostüm und einen neuen Hut! Das kann der Mann doch von seinem Bissel Heizergehalt garnicht schaffen! Das geht doch wohl nicht mit rechten Dingen zu, da steckt was dahinter, das kannst Du mir glauben! Man munkelt ja auch schon lange Verschiedenes. Der Stadtrat Bulze soll beteiligt sein …« – »Und er selber, der Klose, treibts auch auffällig: er lebt über seinen Stand hinaus. So geht doch kein Heizer angezogen! Da müßte ich als Lokomotivführer wer weiß wie nobel gekleidet sein! Er sumpft auch die Nächte durch, wenn er frei hat. Und in Lokalen, wo unsereins weiß Gott doch nicht hingehört, im ›Schwan‹, im ›Kaiserhof‹, in Liebigs Hotel. Dann liegt er besoffen und kommt nicht zum Dienst!« Und allerlei Landläufiges vom Wetter, von den Preisen, von Zeitungsneuigkeiten, von Hochzeiten, Taufen und Sterbefällen. Bis Finger einmal auf seine Uhr sieht, »Verpucht, nu ist’s aber Zeit!« jappst, eine letzte Ladung Fraß hinunterjagt und schwerfällig aufsteht, sich vollends zurechtzumachen. Indessen streicht die Frau Frühstücksbrote, füllt die Kanne mit Kaffee und verstaut alles im schwarzen, hölzernen Handkoffer. Finger, in Uniform, die Mütze auf dem Kopfe, nimmt den Kasten, klatscht der Seinen zum Abschied wohlwollend derb auf die gewichtige Hinterfront und gibt, schon in der Tür, noch Aufträge: »Vergiß nicht, den Zivilanzug in Ordnung zu bringen, die Schuhe zum Besohlen zu tragen, meine Kragen zu plätten, die grauen Socken zu stopfen, schreib der Schwägerin zum Geburtstage, dann schickt sie auch was vom Schweineschlachten, und bezahl morgen früh die Miete, Geld laß ich dir soviel da, daß du auskommst. Na dann, Adieu!« Und die Holzstiegen herunter stapft sein gewichtiger Schritt.
Auf der Straße gibt sich Finger einen besonderen Ruck, stramm und zielbewußt, wie man als pflichtgetreuer Beamter zum Dienst geht. Dreht sich auch noch einmal um, richtig, guckt ihm seine Bertha wie üblich aus dem Fenster nach, er winkt hinauf, nicht zu enthusiastisch, sonst bilden sich die Frauenzimmer wer weiß was ein und die Leute auf der Gasse lächeln womöglich über ihn, eher etwas streng, wie der Lehrer zum Schüler, der in die Ferien geht, »Mach deine Hausarbeit ordentlich, und gutes Betragen bitt’ ich mir aus!«, mahnend: »Wir sprechen uns wieder! Ich werde streng prüfen!«, aber das Weib läßt ihren immer noch schlecht verwahrten Busen in der knallenden Untertaille fast auf den Bürgersteig fallen, winkt wie verrückt, als gälte es einen Abschied auf Tod und Leben, girrt noch etwas nach, was er garnicht mehr dem Wortlaut nach verstehen kann, fuchtelt und wabbelt. Wo die Wilhelmstraße endet, biegt er um die Ecke, grinst, nimmt den Kurs nicht mehr weiter zum Bahnhof, schwenkt leichten Tritts, wie auf Kommando »Rührt euch!« schmunzelnd in Mutter
Böhms Frühstückstube.
Als Finger vom Hausflur aus die Tür öffnet, die in den dumpfen, am Tag fast dunklen Raum führt, der hinter der Wittfrau Böhm Laden, »Kolonial- und Delikateßwaren«, liegt, schallt es ihm entgegen: »Hurra, der Seemann ist da!« – »Hast du doch Wort gehalten, Gustav!« – »Na, da setz dich mal ran! Und Mutter Böhm, noch’n Doppelstöckigen!« Finger gibt zurück: »Wenn ich sage, ich komme, dann komm’ ich auch, und wenn alle Stricke reißen! Ich werde doch an Ottos Geburtstag nicht fehlen!«, und eh er Platz nimmt, geht er auf den vierschrötigen Bullenbeißer, der in der Mitte der Kumpane thront, zu und entledigt sich seiner Gratulation: »Na, Otto, da wünsch ich Dir noch weitere 45 Jahre, und daß es immer so gut geht, wie bisher, du weißt schon, wie ich’s meine, jedes Jahr einen neuen zukünftigen Rekruten für die deutsche Armee! In alter Frische!« Und wie er ihm die Hand schüttelt, grölen schon alle im Chorus: »Hoch soll er leben! Hoch soll er leben! Er lebe hoch!« und dann lachen sie sich erst mal gründlich eins, kippen die vollen Schnapsgläser, wischen sich die Bärte und setzen sich aufs neue in Positur. »In diesem Sinne hab ich dir auch ein kleines Geschenk mitgebracht«, und Finger übergibt ein Päckchen, man drängt sich neugierig in die Nähe, als Otto es auszupacken beginnt. Eine papierene Umhüllung nach der andern ist abzuschälen, es nimmt gar kein Ende, Otto wird allmählich ungeduldig, die andern amüsieren sich königlich, und wie man schon meint, das Päckchen bestehe überhaupt nur aus papierenen Hüllen ohne Inhalt und die Fopperei gelungen nennen will, kommt doch zuletzt noch ein kleinwinziger Gegenstand zum Vorschein und erweist sich zum allgemeinen Gaudium als ein Stehaufmännchen. Mit gemachter Entrüstung, im Grunde doch geschmeichelt, gebärdet sich das Geburtstagskind Otto Bulze da, und schon lenkt Finger ein: »Na, nichts für ungut, Otto, ich hab dir auch was Reelles mitgebracht«, und wirft ein größeres Paket auf den Tisch, das dabei von selbst sich öffnet und eine Menge Wellwürste herausfallen läßt. »Mein Schwager Linka in Riemertsheide hatte doch Schweineschlachten, da hat er mir was abgelassen!« – »Dein Schwager soll leben! Mutter Böhm, nehmen Sie mal gleich die Schweinerei an sich und braten Sie sie uns mal draußen, da hätten wir gleich was Wurschtiges zum Verbeißen beim Trinken, aber die Emma soll sie nicht anbrutzeln lassen!« – »Nu, sage mal, Gustav, wie hast du die Würschte bloß vor Deiner Ollen in Sicherheit gebracht? Und vor allem, wie hast dus angestellt, dich heut früh zu drücken und hierher zu kommen? Da ist sie doch sonst immer mächtig hinter dir her, daß Du erst wieder loskommst, wenn es richtig zum Dienst geht!« – »Dies mal hab ich sie doch bemogelt. Ich sagte, ich müßte den Vorzug fahren, der ginge um 11Uhr15 vormittags; nu denkt sie, ich gondle längst in der Welt rum, dabei fängt mein Dienst erst wieder abends um 11 an.« – »Ein toller scheinheiliger Knabe, der Gustav! Der schwindelt mit der unschuldigsten Miene!« – »Was brauchen die Weiber auch alles zu wissen!« – »Und daß da draußen Schweineschlachten war, davon hat sie erst überhaupt keine Ahnung. Ich ging gestern Nachmittag raus nach Kartoffeln, da sagte mein Schwager, er hätte geschlachtet, er hätte vorzeitig schlachten müssen, das Schwein hatte sich’s Bein gebrochen, da ließ ich mir gleich ein paar Würste einpacken, die hab ich zuhause nicht weiter gezeigt. Meine war froh, daß ich Kartoffeln mitbrachte und überdies noch ein paar Pfund Äpfel.«
Den Bulze wurmt jetzt doch plötzlich die weiter nicht böse Anspielung von vorhin, er empfindet sie auch selbst nicht als böse, aber er muß sich halt rächen, und fragt nun: »Wie steht’s denn überhaupt bei euch, Gustav, ist immer noch nichts Kleines in Aussicht? Ihr müßt mal dem Storch bissel Zucker hinstreuen, er findet wohl so den Weg nicht zu euch?« Diesmal geht das Gepruste auf Fingers Kosten los, das eiserne Figürchen, das er dem Bulze zum Spottgeschenk machte, muß nun sogar gegen ihn selbst herhalten, wird ihm als löbliches Beispiel vorgewiesen, und er wüßte kaum, wie sich wehren, erschiene nicht in diesem Augenblick der Teller mit den gebratenen Würsten und wäre nun fürs nächste durch Mundlecken, Schmatzen, Würgen, anerkennendes Gerülps, nachher schwer Aufatmen, sich lüften, in den Zähnen stochern und mit der Zunge im Maul herum scheuern jeder vollauf beschäftigt. Fand zuerst das Geburtstagskind, Otto Bulze, seines Zeichens Geldbriefträger, die Sprache wieder, denn er hatte schon ein reichliches Festfrühstück zu Haus hinter sich, brauchte sich also bei den Würsten nicht mehr so lange zu verweilen, und fragte, indes er mit den Augen zwinkerte: »Und wer zahlt nun die nächste Runde Winschelburger? « Wollte Gustav Finger in der Seligkeit seines Freiheitsgefühles schon »Ich« sagen, als von der andern Ecke des Tisches her der Küster der Garnisonkirche, eine Feldwebelvisage mit Kaiserwilhelm-Vollbart trompetete: »Ich schlage vor, wir knobeln sie aus!« Wäre es der Reihe nach weitergegangen, daß jeder in der Runde einmal zum Bezahlen drankam, so hätte er jetzt dergleichen tun müssen; als gewesener Sergeant im Nassauern erfahren, wußte er solchen Zumutungen geschickt auszuweichen und war noch stets gratis dabeigewesen. Dafür stellte er bei solchen Festivitäten im Vertilgen desto mutiger seinen Mann, und er, der sonst stundenlang bei einem kleinen Biere saß, soff, fraß und qualmte für Zehn, wenn es auf Regiments Unkosten ging. Beim Würfelspiel hatte er zumindest wenigstens die Chance, zu gewinnen, und im übrigen die Fertigkeit, dem Glück ein wenig aufzuhelfen. Und da noch einige andere Kumpane um ihre Spendierpflicht ebenso herumzukommen hofften, die sich freilich nicht getraut hätten, so offenkundig dem an sie gerichteten Appell sich zu entziehen, fand der Vorschlag Anklang. Und als die fette Frau Böhm schwerfällig davonwatschelte, den ledernen, abgegriffenen, fettigen Würfelbecher zu holen, hemmte sie der Geldbriefträger erst noch einmal in ihrem Lauf mit der Weisung: »Erst geben Sie aber noch mal jedem eine Zigarre aus der Aurora-Kiste, Sie wissen schon! Standesgemäß zu 10 Pfennig!« Denn er seinerseits wußte, was er sich als Geburtstagskind schuldig war, das durch die Anwesenheit so vieler lieber Saufkumpane geehrt wurde; die heut getrunkenen Biere kommen sowieso auf seine Rechnung, er hatte extra ein Fäßchen Helles anstecken lassen, und wenn er nun noch jedem einen Glimmstengel spendierte, hatte er getan, was offiziell von einem noblen Gastgeber erwartet wurde, sein Beitrag zu dem heutigen Beisammensein war damit erledigt, und er konnte dann dem weiteren Verlauf des Tages mit dem ruhigen Gewissen eines Menschen entgegensehen, der das Geschäftliche, soviel auf seinen Teil kam, beglichen hatte. Von dem drallen Dienstmädchen, die zur Feier des Tages heut nach unten beordert war – der schiefschultrige Kommis und die beiden spitalgesichtigen, rothändigen Stifte bedienten draußen das Ladengeschäft –, wurden inzwischen die Teller und Bestecks abgeräumt, die Bierseidel neu gefüllt, wobei es nicht ohne allerlei mehr oder minder handgreifliche Zwiste abging, die das vom Lande stammende Mensch in Erwägung der später abfallenden Trinkgelder mit einer gewissen derben Jovialität quittierte. Dann wurde also gewürfelt, und die anzügliche Natur gewisser Würfeltouren wie »Ums Loch, ins Loch«, »Semiramis mit Hängetitten« brachten es von selbst mit sich, daß die Unterhaltung in ein sozusagen frivoles, ja ohne Umschweife gemeines Fahrwasser geriet. Mutter Böhm kannte und respektierte dieses Stadium, verschanzte sich hinterm Ladentisch, beorderte das Dienstmädchen oben in die Küche, ließ die Lehrlinge die gewünschte Zufuhr an Alkohol besorgen und begnügte sich damit, von da ab das Verzehrte doppelt anzukreiden. Denn sie wußte erfahrungsgemäß, jetzt oder nie sei für sie ein lohnender Profit zu machen.
[…]
SINN UND FORM 1/2015, S. 5-40, hier S. 5-12
Böhme, Thomas
Der Erinnerung geht der Sauerstoff aus.
Gedichte, S. 41Redaktion »Sinn und Form«
Berichtigung zu »Der arme Spitzel« (3 /2014, S. 307 ff.), S. 43NDiaye, Marie
Unablässig daran denken, S. 44Loschütz, Gert
Vom Schreiben über verlassene Orte, S. 54Zwei Schreib-Orte Einmal wohnte ich auf einer Insel in einem wunderschönen Haus, das ein Freund gemietet und mir für die Zeit, in der er es (...)
LeseprobeLoschütz, Gert
Vom Schreiben über verlassene Orte
Zwei Schreib-Orte
Einmal wohnte ich auf einer Insel in einem wunderschönen Haus, das ein Freund gemietet und mir für die Zeit, in der er es nicht brauchte, überlassen hatte. Es lag in einem großen Garten, in dem Äpfel, Wein und Aprikosen wuchsen. Dreimal in der Woche kam ein Gärtner, kippte einen Schalter neben der Terrassentür herunter, und schon schoß aus überall am Boden versteckten Düsen das Wasser. Es war im Frühsommer, Juni, so heiß, daß ich mich, wenn ich arbeiten wollte, in das kühlste Zimmer des Hauses zurückzog. Es lag im Erdgeschoß. Ich saß an einer Geschichte, einer Novelle, die ich zu Hause begonnen hatte und an der ich dort weiterschrieb. Wenn ich aufschaute, sah ich meine Frau und eine Freundin, die uns begleitete, im Liegestuhl am Swimmingpool. Und wenn ich den Blick wieder senkte, las ich die Sätze, die ich grade in die Maschine getippt hatte:
»Es schneite immer heftiger. Der Schnee blieb liegen und bildete bald eine geschlossene Decke über dem Asphalt … Die Straße führte durch ein Waldstück. Hier und da sah ich im Licht der Scheinwerfer junge Birken, die unter der Last des Schnees umgeknickt waren. Der Scheibenwischer schabte über das Glas, und die Reifen surrten.«
Ich erinnere mich so gut daran, weil ich mir der Absurdität der Situation völlig bewußt war: draußen das südliche Paradies, brüllende Hitze, zwei junge Frauen im Bikini – und innen, am Schreibtisch, eine deutsche Winterlandschaft, Schneetreiben, und eine Erzählfigur, die so gestört war, daß sie sich einen toten Gegenstand, einen Computer, zur Frau umdenken mußte.
Ein anderes Mal saß ich im siebten Stock eines Hochhauses in der Nähe des Washington Square. Diesmal war es nicht ein Swimmingpool, auf den ich schaute, sondern das Flachdach einer Schwimmhalle, auf dem ein Sportplatz angelegt war, ein mit Maschendraht eingezäuntes Basketballfeld. Dahinter sah ich die Häuserzeile der Mercer Street und über dieser die oberen Geschosse der Häuser am Broadway mit den auf hohen Spinnenbeinen stehenden Wassertanks auf den Dächern. Es war im Herbst, die Zeit der langen Sonnenuntergänge, die die Straßen in ein unwirkliches rotes Licht tauchten.
Ich war für drei Monate in New York, auch diesmal hatte ich eine Geschichte dabei, die ich zu Hause begonnen hatte und an der ich dort weiterarbeiten wollte: die ersten sechzig Seiten eines Romans, daneben viele Notizen, Beschreibungen des Ortes, an dem die Geschichte angesiedelt war, und Portraits von Leuten, die darin vorkamen. Sie war so gut vorbereitet, daß ihr der Ortswechsel nicht das geringste anhaben konnte. Dachte ich. Doch dann zeigte sich, daß das ein Irrtum war. Nachdem ich wochenlang versucht hatte, wieder in sie hineinzufinden, habe ich sie beiseite gelegt und bin bis zu meiner Abreise mit dem Schreibheft rumgerannt, um, wenn schon nicht mit dem Roman, dann doch wenigstens mit einem Vorrat von Notizen nach Hause zu kommen. Ich bin kreuz und quer durch die Stadt gefahren, meistens aber war ich zu Fuß unterwegs, blieb, wenn mir etwas auffiel, stehen und trug es in mein Heft ein, während ich gleichzeitig wußte, daß ich nie etwas davon verwenden würde. Oder zumindest nicht gleich, sondern erst nach einer Weile, einer Art Schamfrist. Über diese Stadt war so oft geschrieben worden, daß jeder weitere Versuch eines plausibleren Grundes bedurfte als bloße Anwesenheit.
Zwei Beispiele: das erste zeigt, daß die Umgebung nicht den geringsten Einfluß aufs Schreiben hat. Das zweite genau das Gegenteil.
Nun könnte man sagen, daß die Wirklichkeit New Yorks bedrängender war als die der Ferieninsel. Und daß dies der Grund dafür sei, warum es gelang, an der einen Geschichte weiterzuarbeiten und an der anderen nicht. Mag sein. Wichtiger aber ist, denke ich, etwas anderes: Die Ferieninsel konkurrierte mit einem erfundenen Ort, New York aber mit einem konkreten. Die Orte der Novelle waren eine namenlose Kleinstadt und ein Dorf irgendwo in Deutschland, der Ort des abgebrochenen Romans aber hatte einen Namen und seinen Platz auf der Landkarte, es war ein bestimmter Ort in der Nähe von Frankfurt, den ich so gut kannte, daß ich ihn zu Hause beim Schreiben vor mir gesehen habe und nun, in New York, nicht mehr sah.
Der erfundene Ort ließ sich überallhin mitnehmen, der konkrete nicht: er war trotz der mitgebrachten Notizen an die Erinnerung gebunden, und diese war durch den Ortswechsel beschädigt worden.
Soll das heißen, daß es zwar keine Bedingung, aber ein Vorteil ist, wenn man in der Stadt, über die man schreibt, wohnt? Daß man durch ihre Straßen gehen, ihre Häuser betrachten, ihre Geräusche hören und ihre Luft atmen kann? Keineswegs. Und doch ist klar, daß jeder Ort (und erst recht jeder Ortswechsel) seinen Tribut fordert. Das heißt, bei mir ist es so.
Ost-West-Passage
Daß es – für die Literatur – kein Vorteil sein muß, wenn Wohn- oder gar Herkunftsort und literarischer Ort identisch sind, zeigt sich schon daran, daß die schönsten und eindringlichsten Bücher über Orte, Städte und Landschaften nicht selten von Autoren geschrieben wurden, die diese verlassen haben – in der Regel nicht freiwillig, sondern unter dem Zwang der Umstände, die mal Krieg, mal Vertreibung, mal Flucht, mal unerträglich gewordene Enge heißen. Vier Gründe, von denen jeder seine Zeit hat, was nicht bedeutet, daß sie wie die Jahreszeiten nacheinander auftreten müssen.
Ich denke, zum Beispiel, an das Danzig von Günter Grass, an die Memellandschaften von Johannes Bobrowski, an das Mecklenburg von Uwe Johnson, an die Mark Brandenburg von Helga M.Novak, aber auch an das Dublin von James Joyce. Allen, scheint es, hat die Sehnsucht nach ihrem Ort die Erinnerung geschärft, womit weniger die Erinnerung an Ereignisse gemeint ist als vielmehr die an Gerüche, Farben, Geräusche, Spracheigentümlichkeiten, Landschaftsformationen, an eine bestimmte Vegetation, eine bestimmte Architektur, eine bestimmte Anordnung der Häuser und Straßen zueinander und – nicht zu vergessen – an ein bestimmtes Licht.
Dies zusammen ist es, was einen Ort ausmacht und sich einem in Kindheit und früher Jugend mit einer solchen Schärfe in die Netzhaut, ins Gehör, in die Geruchs- und Geschmacksnerven einbrennt, daß es noch für den Erwachsenen das Maß der Dinge darstellt. Das ist bei allen so, freilich, aber bei denen, zu deren Beruf das Erinnern gehört, vielleicht noch ein bißchen mehr. Man sieht es daran, mit welcher Ausdauer sie beim Schreiben an ihren verlassenen Ort zurückkehren.
»Das Becken des Mediterranean Swimming Club, zwanzig Meter lang, achtbahnig, ist vielleicht geräumiger als das der ›Mili‹ in Jerichow, in dem Gesine Cresspahl schwimmen gelernt hat, das Kind, das ich war …«, heißt es in Band 2 der »Jahrestage« von Uwe Johnson. Oder: »So bedeckt wie heute morgen über dem Hudson war der Himmel im Sommer vor 24 Jahren über Ribnitz und dem Saaler Bodden, als die Paepckes ihre letzten Ferien anfingen.«
Das ist nicht nur das Muster, nach dem sich das Erinnern in Romanen richtet, sondern das des Erinnerns überhaupt. Eine winzige Beobachtung, ein Geruch, ein bestimmtes Licht reichen aus, um es in Gang zu setzen. Und die Richtung, in die es geht, steht fest: es ist die des verlorenen Ortes. Durch das Weggehen hat er bei Johnson (wie bei Grass und Novak) ein Gewicht erhalten, das er sonst nicht hätte, er ist von so zentraler Bedeutung, daß ohne ihn das Werk selbst nicht denkbar wäre. Auch wenn von anderem die Rede ist, ist die Rede doch immer auch von ihm.
Noch einmal Johnson: »Erinnerung baut an: sagen die, die noch einmal zurückgegangen sind. Dahin zurück darf ich nicht. Das ist weit von hier. Das ist mehr als 4500 Meilen entfernt, und mehr, noch nach acht Stunden Flug muß man dahin gehen, bis man in die Nacht gerät, und kommt nicht an.«
Grass, Johnson, Novak haben in vielen Städten gewohnt. Und es ist, nehme ich an, kein Zufall, daß sie sich, älter geworden, wieder Orte zum Wohnen ausgesucht haben, die ihren Herkunftsorten vergleichbar sind: Bei Johnson war es zuletzt eine Insel in der Themsemündung; Novak, die in Deutschland nicht mehr leben mochte, zog nach Polen; und Lübeck, wo Grass heute lebt, ist Danzig sicherlich ähnlicher, als es Berlin oder Wewelsfleth waren.
Es gibt ein Wort, um das ich immer einen großen Bogen gemacht habe, nun benutz ich es doch: das Wort Heimat. Faßte man den Begriff der Heimatliteratur weiter, als man es gewöhnlich tut, und nähme ihm den Geruch des Engen, Spießbürgerlichen, Trivialen, der ihm anhaftet, ließe sich die These aufstellen, daß der Heimatverlust geradezu die Voraussetzung für die Entstehung großer Heimatliteratur ist. Denn: Die Entfernung vom eigenen Ort bedeutet ja nicht nur Verlust, sondern auch Zuwachs von Erfahrung, Kenntnis und, geht es weit genug weg, Welthaltigkeit, was wiederum den Blick auf den verlassenen Ort verändert und vielleicht erst den Abstand schafft, der es erlaubt, ihn in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zu erfassen.
»Fremdheit als die Bedingung für genaue Beschreibung, Heimat-Literatur aus Heimatlosigkeit geboren«, hat das der Trondheimer Germanist Bernd Neumann, über Johnson nachdenkend, genannt. Dennoch: Mit wie viel Schmerz diese aus dem Verlust gewachsene Literatur erkauft wird – davon erhält man eine Ahnung, wenn man liest, was Helga M. Novak anläßlich eines Besuchs in ihrer Kindheits- und Jugendlandschaft in einem Gedicht festgehalten hat. Es war die Zeit, in der die Mauer noch stand und man über Friedrichstraße nach Ostberlin einreiste, und es war, da das Tagesvisum nur für das Territorium der Hauptstadt galt, eine verbotene Reise, denn sie führte über deren Grenzen hinaus: »von Grünheide nach Fangschleuse 2 km …« Und dann heißt es:
»Gedränge im Bus dampfende Raglanärmel
es riecht nach angeschossenem Wild …
links verbirgt sich der Wupatzsee
unter Entenfedern rechter Hand der Wacholder
wie ein betrunkener Zimmermann mit Pelerine
gleich falle ich auf die Knie
und bitte die Frau neben mir
bevor sie ganz verdunstet
alle Kleider mit mir zu tauschen
bis runter zum Liebestöter Strumpfhalter
einfach alles zu wechseln
damit ich fürderhin mein Leben friste
in einem Nest wie Fangschleuse z.B.
unauffällig
wie der Schatten des Wacholders bei Nacht?«
Das ist keineswegs ironisch, dahinter steckt der ernste Wunsch, bleiben zu dürfen. Freilich wird – das Fragezeichen am Gedichtende weist darauf hin – auch erwogen, um welchen Preis das geschähe: den der Unsichtbarkeit, des Einverständnisses und der Unterordnung. Das Fragezeichen ist es, das den Grund für das Weggehen und den für das Nichtzurückkommen- bzw. Nichtbleibenkönnen benennt.
Heimatliteratur – wäre der Begriff nicht zu einem Synonym für etwas geworden, das sich vornehmlich in Heftchenformat an den Ständern der Supermärkte findet oder als paarig gereimte Gedichte und vergangenheitsselige Anekdoten in den Sonntagsbeilagen von Regionalzeitungen, zählte ich das Gedicht von Helga M. Novak ebenso dazu wie die Danzig-Romane von Grass oder die Jerichow-Romane von Johnson.
[…]
SINN UND FORM 1/2015, S. 54-65, hier S. 54-58
Vesper, Guntram
Der Torweg, S. 66Hensel, Kerstin
Die toten Aromen der Zeit. Gedichte, S. 81Große, Jürgen
Melancholie und Trauer.
Zur Philosophie der Stimmungen im Werk Ciorans, S. 83Koepsell, Kornelia
Melancholische Sonette, S. 97Petrow, Wsewolod
Erinnerungen an Michail Kusmin und
Anna Achmatowa. Mit einer Nachbemerkung von Oleg Jurjew, S. 100Cagliostro Man mußte in den vierten Stock eines großen Petersburger Hauses in der ruhigen Spasskaja-Straße, die allerdings schon lange (...)
LeseprobePetrow, Wsewolod
Erinnerungen an Michail Kusmin und Anna Achmatowa
Cagliostro
Man mußte in den vierten Stock eines großen Petersburger Hauses in der ruhigen Spasskaja-Straße, die allerdings schon lange Ryleew-Straße hieß. Man mußte dreimal die Klingel der Gemeinschaftswohnung drücken. Dann öffnete sich die Tür, und dahinter entstand eine magische Atmosphäre. Hier wohnte ein Mensch, der Cagliostro ähnelte – Michail Alexejewitsch Kusmin.
Er war einer der Bewohner einer zugemüllten und engen Gemeinschaftswohnung der dreißiger Jahre. Außer Kusmin und seinen Angehörigen wohnte dort eine menschen- und kinderreiche jüdische Familie, deren Mitglieder zwei unterschiedliche Nachnamen trugen: Die einen waren Shpitalniks, die anderen Tschernomordiks. Manchmal kroch eine füllige ältere Jüdin, die wohl leicht schwerhörig war, zum Telefon im Flur heraus und schrie laut in den Hörer: »Hier ist die greise Tschernomordik!« Aus irgendeinem Grund stellte sie sich ihren Gesprächspartnern genau so vor, obwohl sie nicht älter als fünfzig oder fünfundfünfzig zu sein schien. Und einmal hörte Kusmin leisen Gesang hinter der Nachbarstür. Kinder sangen, vermutlich im Kreis aufgestellt und sich an den Händen haltend: »Wir sind Shpitalniks, wir sind Shpitalniks!« Kusmin fand, daß das für sie ein Akt der Selbstbehauptung angesichts der Wirklichkeit war. Außerdem wohnte dort ein stotternder dicker Mensch namens Pipkin. Er bat die Nachbarn aus irgendeinem Grund, ihn Jurij Michajlowitsch zu nennen, obwohl er in Wirklichkeit einen ganz anderen Vor- und Vatersnamen hatte. Wenn man seiner Bitte nachkam, fing er aus Dankbarkeit an, auch Jurij Iwanowitsch Jurkun mit Jurij Michajlowitsch anzureden. Wieso er diesen Vorund Vatersnamen so sehr mochte – ob aus Pietät gegenüber J. M. Jurjew oder aus anderen Gründen – ist ungeklärt geblieben.
Manchmal kamen aus der Nachbarwohnung junge Georgier namens Wirsaladse hierher, um zu telefonieren. Kusmin nannte sie beharrlich Weselidse.
Der Hausmeister aus der Riege der ehemaligen Fähnriche, eine Lieblingsfigur J. I. Jurkuns, der ihn oft gezeichnet hat, empfand Verehrung für den Beruf des Schriftstellers. Er pflegte zu sagen, daß an dem Haus irgendwann eine Marmortafel hängen würde mit der Aufschrift: »Hier wohnten Kusmin und Jurkun, und der Hausmeister schikanierte sie nicht.« Wie man sieht, rechnete er auch für sich mit einem Anteil am Nachruhm.
Schräg gegenüber, in der früheren Nadezhdinskaja, hatten einmal Freunde von Kusmin gewohnt, die Briks. Und auch das Schild »In diesem Hause lebte Majakowski« gab es schon.
Kusmin beteuerte, daß er Gemeinschaftswohnungen möge: Dort sei es nicht so langweilig. Allerdings muß er, denke ich, bei aller Umgänglichkeit und Leutseligkeit seines Charakters, bei all seiner freundlichen Leichtigkeit, doch unter der Enge und dem Mangel an Ruhe in dieser nicht langweiligen Wohnung gelitten haben. Er belegte zusammen mit Jurij Iwanowitsch Jurkun zwei Zimmer mit Fenstern zum Hof. Eines davon war ein Durchgangszimmer – eben jenes, wo Michail Alexejewitsch arbeitete und wo sich das Leben hauptsächlich abspielte. Kusmin und die Seinen schrieben, zeichneten, musizierten dort. Dort empfing man die Gäste. Die Shpitalniks, Pipkin, die Wesilidses und die Tschernomordiks durchquerten das Zimmer manchmal auf dem Weg zur Küche. Das zweite Zimmer war das Refugium der alten Veronika Karlowna, der Mutter Jurkuns. Gäste hatten dort keinen Zutritt. In Kusmins Zimmer stand ein weißes Klavier, das absichtlich leicht verstimmt war, damit es wie ein Cembalo klang. Zwischen den Fenstern stand ein kleiner Schreibtisch mit einer dicken Glasplatte; darüber befand sich ein Bücherregal mit der Gesamtausgabe von d’Annunzios Werken, den Michail Alexejewitsch mochte, wofür er sich ein wenig schämte.
Über den Büchern hing eine alte Ikone des heiligen Georg. Es gab eine Couch, ein paar Stühle und einen riesigen Wandschrank, der mit Büchern und Ordnern vollgestopft war, in denen die Zeichnungen und vielfältigen Sammlungen J. I. Jurkuns aufbewahrt wurden. Auf den runden Eßtisch pflegte man den Samowar zu stellen. Das Leben war offen vor den Gästen ausgebreitet. Jeden Tag von fünf bis sieben kamen welche. Sie erschienen ohne Einladung und konnten Bekannte mitbringen. Michail Alexejewitsch saß vor dem Samowar und goß allen Tee ein. Manchmal sagte er, sein Samowar werde irgendwann zu einer literaturgeschichtlichen Reliquie werden und in ein Museum kommen. Dazu kam es nicht. Nach der Verhaftung J. I. Jurkuns verschwanden alle Besitztümer Michail Alexejewitschs spurlos. Lediglich ein Amateurfoto ist erhalten geblieben, das Kusmin vor dem Samowar zeigt. Nach dem Tee setzte er sich ans Klavier und spielte meistens Mozart oder Debussy, und in seltenen Fällen sang er mit halber Stimme. Von den Gästen wurde dabei keine Gebetsstille verlangt; sie unterhielten sich lautstark weiter.
Im Frühling 1933 brachte mich der Maler K. E.Kostenko, mein Arbeitskollege im Russischen Museum, in dieses Haus. Wir kamen zur Empfangszeit, zwischen fünf und sieben. Am Tisch saß schon eine ziemlich große Gesellschaft. Michail Alexejewitsch stand beim Samowar. Mit ihm empfingen Jurij Iwanowitsch Jurkun, jugendlich und schön wie Dorian Gray, und Olga Nikolajewna Gildebrandt-Arbenina, Jurkuns Frau, die Gäste. Ich habe mich mit beiden bald darauf angefreundet. Von den Menschen, die ich an jenem Tag am Teetisch bei Kusmin traf, erinnere ich mich an den Dichter Konstantin Waginow, den Dichter und Übersetzer Benedikt Lifschitz sowie an Boris Sergejewitsch Mosolow, den Freund der Dichter, den Gumiljow, Pjast, G.Tschulkow und Wjatscheslaw Iwanow kannten und mochten. K. E.Kostenko und ich wurden an jenem Tag schon eingeladen, an jedem beliebigen Tag von fünf bis sieben Uhr vorbeizukommen.
[…]
Aus dem Russischen von Daniel Jurjew
Mit einer Nachbemerkung von Oleg JurjewSINN UND FORM 1/2015, S. 100-112, hier S. 100-102
Schuller, Wolfgang
Melvin Lasky und die Kultur im
Kalten Krieg. Eine Spuk- und Skandalgeschichte, S. 113Decker, Gunnar
Hoffnung ist Gefahr.
Die DDR-Intellektuellen und die sechziger Jahre, S. 119Buselmeier, Michael
Wir Renegaten.
Dankrede zum Gustav-Regler-Preis, S. 127Pietraß, Richard
Der verwaiste Spaten.
Meine Begegnung mit Seamus Heaney, S. 130Schindel, Robert
Oder niemand weiß es.
Dankrede zum Heinrich-Mann-Preis, S. 135Delius, Friedrich Christian
Der Stolz der Akademie.
Gruß an »Sinn und Form«, S. 138Ein Abend von und mit »Sinn und Form«. Es ist also auch eine, ja, was eigentlich, eine Institution zu begrüßen, die nicht leicht zu fassen (...)
LeseprobeDelius, Friedrich Christian
Der Stolz der Akademie Gruß an Sinn und Form
Ein Abend von und mit »Sinn und Form«. Es ist also auch eine, ja, was eigentlich, eine Institution zu begrüßen, die nicht leicht zu fassen ist, die selten im Rampenlicht steht, eine ehrwürdige, quicklebendige, weithin wirksame literarische Stimme, nein, eine schwer definierbare Summe von Stimmen. Die Zeitschrift »Sinn und Form« ist kein Sprachrohr der Akademie der Künste, aber sie erscheint unter dem Dach der Akademie der Künste – und wirkt als derzeit beste deutsche literarische Visitenkarte weit über Berlin und Brandenburg hinaus, vermutlich bis zu unseren Antipoden an irgendeiner Universität in Neuseeland. Diese Zeitschrift ist der Stolz der Akademie, unverzichtbar für Leute mit der Kernkompetenz Wort abseits des Mainstreams. Der Stolz der Akademie, gerade weil sie es nicht leicht hat, trotz steigender Auflage, im Gegenwind des vulgärbetriebswirtschaftlichen Effizienzdenkens zu segeln.
Manche werden sagen: Kennen wir doch seit Jahren, seit Jahrzehnten, »Sinn und Form«, im sechsundsechzigsten Jahr, eine anständige, vielseitige Zeitschrift, ja, aber vielleicht heute doch ein bißchen altmodisch. Erlauben Sie, daß ich dem Vorurteil altmodisch, wenn es denn negativ gemeint sein sollte, entschieden widerspreche.
Natürlich lebt die Zeitschrift immer noch von ihrem Mythos, der mit dem Namen Peter Huchel verbunden ist. Der Mythos gründet, vereinfacht gesagt, auf Huchels programmatischem Satz aus dem Jahr 1949: »Wir werden uns nicht uniformieren.« Ein Satz, der damals mit unverschämtem, also angemessenem Selbstbewußtsein die Kulturpolitik der SED in die Schranken wies. Was einst gegen die Partei gemünzt war, galt unter Sebastian Kleinschmidt für die schwierige Übergangsperiode nach dem Ende der DDR und gilt heute für den gnadenlosen Markt. Mit dem Unterschied, daß wir uns alle auf diesem Markt tummeln und daß es auch ein wenig von uns abhängt, wer hier scheitert oder triumphiert. Aber eins steht fest – wer sich heute an den Satz hält: »Wir werden uns nicht uniformieren «, der ist alles andere als altmodisch, sondern vielmehr gegen die allgemeine Uniformierung der Gegenwart und der Zukunft schon recht gut gerüstet.
Uniformierung droht heute von vielen, insbesondere von zwei Seiten. Zum einen wird der Aberglaube geschürt, Literatur habe ihre Existenzberechtigung dadurch zu beweisen, daß sie sich noch mehr der Unterhaltungsindustrie und der Kriminalromantisierung der Welt anzupassen habe. Zum zweiten der Aberglaube, nur das, was heute elektronisch gelesen werde, was digitale Schreibweisen präsentiere, habe noch Zukunft. Nichts gegen E-Books und die technischen Errungenschaften, die den Zugang zu Büchern erleichtern, aber es ist ziemlich belanglos, wieviel Prozent der Bücher in Zukunft mittels Papier oder Silizium oder sogenannter Wolken ihre Kundschaft erreichen. Entscheidend ist, ob auf dem Umweg über Algorithmen neue ästhetische Formen entstehen, die der Uniformierung widerstehen – und da sieht es bislang noch ziemlich dürftig aus.
Die Zeitschrift »Sinn und Form« ist also unverzichtbar, solange die Kulturindustrie aus simplen Renditegründen gegen zwei kulturelle Errungenschaften kämpft, gegen Sinn und gegen Form. Deshalb sind die Debatten um Sinn und um Form nicht von gestern, sie sind von morgen.
Was zeichnet eine gute literarische Zeitschrift aus? Sie dient keiner Ideologie und keiner literarischen Richtung, das versteht sich. Ihr soziales Netzwerk gründet seit Jahrzehnten auf der Freundschaft zu Qualität und zu freiem Denken. Die Redaktion einer solchen Zeitschrift fördert den produktiven Austausch unter lesenden, denkenden Menschen. Außer dieser erfüllt sie keine Erwartungen. Im Gegenteil, sie ist für Überraschungen da. Ihre Leser sind nicht darauf angewiesen, in ihren Meinungen, ihrem Weltbild bestätigt zu werden. Sie müssen keine Anbiederung fürchten. Wer, wenn nicht die Redaktion einer solchen Zeitschrift, erinnert mit Erzählungen, Gedichten, Essays, Reden daran, was das ist oder sein kann: Niveau. Sie operiert mit den feinsten literarischen Kriterien. Sie liefert selten Antworten, sie treibt die Fragen weiter. Sie belehrt und erfreut mit klugen Gedanken ihre Leserschaft, vorzugsweise gerade dann, wenn diese es nicht erwartet. Sie blickt, zumindest potentiell,
in jede Ecke der Welt, auf alle Weltliteraturen. Auch im neusten Heft wieder, dessen Vielfalt ich hier gar nicht wiedergeben kann.
Verzeihen Sie, meine Damen und Herren, heute mußte »Sinn und Form«, stets bescheiden und nobel zurückhaltend, einmal besonders begrüßt und gepriesen werden.
SINN UND FORM 1/2015, S. 138-139
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2/2015
Heft 2/2015 enthält:
Roblès, Emmanuel
Die kabylische Nachtigall, S. 149Paterson, Don
Der Schauder in der linken Hand. Gedichte, S. 156Brombert, Victor
Entering Germany. Die Schlacht im Hürtgenwald 1944, S. 159Hyvernaud, Georges
Karl, S. 168Grzebalski, Mariusz
Der grüne Schnee. Gedichte, S. 173Jirgl, Reinhard
Es mußte sein, S. 175Beyer, Marcel
Der Schnitt am Hals der Heiligen Cäcilie, S. 185Schlaffer, Heinz
Die Vorzüge der »Leiden des jungen
Werthers«, S. 195Leicht ist es, Goethes »Werther« ein vorzügliches Buch zu nennen, schwer jedoch, diese Vorzüge zu bestimmen. ›Vorzüge‹ soll wörtlich (...)
LeseprobeSchlaffer, Heinz
DIE VORZÜGE DER »LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS»
Leicht ist es, Goethes »Werther« ein vorzügliches Buch zu nennen, schwer jedoch, diese Vorzüge zu bestimmen. ›Vorzüge‹ soll wörtlich heißen, daß dieses Werk vergleichbaren Werken, in diesem Fall anderen Liebesromanen, vorzuziehen sei. Immerhin wird, was zunächst als subjektives Geschmacksurteil erscheint, durch die Geschichte der Gattung selbst bestätigt: Nachdem »Die Leiden des jungen Werthers« veröffentlicht waren, haben sämtliche früheren Liebesromane, von Heliodors »Schöner Charikleia« bis zu Rousseaus »Neuer Heloise«, bei Schriftstellern wie bei Lesern, an Interesse und Ansehen verloren. Seitdem hat sich eine neue Art von Liebesroman gebildet, der Wertherische, und dies – zum Erstaunen des deutschen Literaturhistorikers – vor allem bei französischen Autoren. Sie berufen sich auf ein Vorbild, das in der deutschen Literatur, von kurzlebigen Reaktionen und Imitationen abgesehen, keine Nachfolge fand. Nichts Geringeres als die Autorität Goethes unterband in Deutschland eine Fortführung des Modells, das sein »Werther« geschaffen hatte. Sein zweiter Roman, »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, ist dem ersten entgegengesetzt. Der tödliche Wahn Werthers, der allein aus der Liebe sein Glück ziehen wollte, weicht, bei den Interpreten der »Lehrjahre« mehr noch als bei seinem Autor, einem pädagogisch verwertbaren Konzept von Kunst und Bildung. Die herausgehobene Stellung »Wilhelm Meisters« in der deutschen Literatur- und Bildungsgeschichte konnte auch durch Goethes Rückkehr zu einer tödlich verlaufenden Liebesgeschichte in seinem dritten Roman, den »Wahlverwandtschaften«, nicht erschüttert werden. Der Bildungsroman, nicht der tragische Liebesroman, wurde vom deutschen Bürgertum als einer seiner Grundtexte anerkannt. Die Genealogie dieser spezifisch deutschen Gattung ließ man mit Wielands »Agathon« und Moritz’ »Anton Reiser« beginnen und bis zu Thomas Manns »Zauberberg« oder Hesses »Glasperlenspiel« reichen. Bildung aber ist der Liebesleidenschaft nicht förderlich. Deshalb wurde »Werther« ein folgenreiches Ereignis in der Geschichte des französischen, nicht jedoch des deutschen Romans.
In den »Fragmenten einer Sprache der Liebe« hat Roland Barthes seine leidvollen Erfahrungen der Liebe unter achtzig Stichworten rubriziert. Die Mehrzahl der kurzen Kapitel zitiert Sätze oder reflektiert Geschehnisse aus den »Leiden des jungen Werthers«. Diese »Fragmente« ergeben einen auf das Leben angewandten Kommentar zu Goethes Roman, den Barthes gar nicht als Roman behandelt, sondern als glaubwürdiges Dokument eines jungen Mannes, als »Stimme des Unheilbar-Liebenden«. Den Briefen Werthers entnimmt ihr betroffener Interpret Einsichten in Entstehung und Verlauf einer meist einseitigen, selten erwiderten Liebe. Sie kann so beginnen: »Aus dem Wagen steigend, erblickt Werther zum ersten Mal Lotte (in die er sich verliebt) im Türrahmen ihres Hauses (sie schneidet den Kindern Brot: eine berühmte, oft kommentierte Szene): wir lieben zunächst ein Bild. Denn an der Liebe auf den ersten Blick muß gerade das Zeichen ihrer Plötzlichkeit haften (das mich unverantwortlich macht, dem Schicksal unterworfen, schwärmerisch, hingerissen): und von allen Objektzusammenstellungen ist es das Bild, das sich offenbar am besten dazu eignet, ›zum ersten Mal‹ wahrgenommen zu werden: (…) das Bild heiligt das Objekt, das ich lieben werde.« Barthes verzichtet darauf, die Namen Wetzlar, Buff, Kestner zu erwähnen, damit die unmittelbare Wirkung und fortdauernde Wahrheit des »Werther« nicht durch den Rekurs auf historisch-biographische Umstände beeinträchtigt werde. Ausgelöscht sind die zweihundert Jahre, die zwischen Werthers Briefen und Barthes’ Fragmenten liegen. Ausgelöscht sind auch alle Liebesromane vor »Werther«. Als dieser erschien, beherrschten Richardsons »Clarissa« und Rousseaus »Neue Heloise« die Vorstellung der Leser von dem, was Liebe sei. Zweihundert Jahre später zitiert Barthes den Roman Richardsons gar nicht, den Rousseaus ein einziges Mal, »Werther« jedoch mehr als fünfzigmal. Eine solche Bevorzugung beruht nicht auf einer privaten Vorliebe; vielmehr bestätigt sie die anhaltende Verehrung des berühmtesten deutschen Romans in der französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Goethes Buch von 1774 hat eine Epoche des Liebesromans beendet und eine neue eröffnet.
Selbst politische Gegner wie Napoleon und Madame de Staël waren sich in der Verehrung dieses Romans einig, der »Die neue Heloise« in den Schatten stellte. Im Kapitel »Werther und Don Juan« seiner Aufzeichnungen »Über die Liebe« nennt Stendhal bereits ungescheut Saint-Preux eine »platte Person«, die, anders als der phantasievolle Werther, gar nicht zum Liebhaber in einem Roman tauge. Der Erzähler von Nervals »Sylvie« erkennt sich am Ende seiner Erinnerung an eine versäumte Liebe als »Werther, doch ohne Pistolen«. In Flauberts »Lehrjahren des Herzens« verweist die Hauptfigur auf ihren berühmten Vorgänger: »Ich verstehe die Werther« – offensichtlich gab es mittlerweile mehrere –, »die nicht ernüchtert sind, wenn Lotte Butterbrote streicht.« (Im deutschen Original fehlt die Butter auf dem Brot.) Zum Lieben braucht man keine Heroine, und man muß auch selbst kein Held sein. Diese Einsicht der französischen »Werther"-Leser fand in Deutschland keinen Anklang: Werthers empfindsamer, unmännlicher Charakter hat hier manchen Männern mißfallen. Sie hörten bereits aus Werthers Vorspruch zur zweiten Auflage die passende Losung für deutsche Jünglinge heraus: »Sei ein Mann und folge mir nicht nach.« Goethe meinte: nicht in den Tod; die Pädagogen weiteten den Ratschlag aus: auch nicht zur Liebe. Friedrich Engels nannte Werther einen »schwärmerischen Tränensack«. Roland Barthes hingegen berichtet freimütig, daß ihn, nicht anders als Werther, ein unglückliches Liebesverhältnis zum Weinen bringen könne.
In Werther entdeckten die französischen Schriftsteller den Prototyp des modernen Subjekts, das den Ansichten der anderen, den gesellschaftlichen Umgangsformen, dem göttlichen oder gottlosen Weltplan nicht zustimmt und sich eine eigene Welt erträumt. Goethes skeptischer Blick auf die Gesellschaft wie auf den einzelnen hatte die soziale, psychische und intellektuelle Genese von Werthers Illusion freigelegt. Dieser Analyse folgt der französische Desillusionsroman; dabei deckt er weitere Fehlgriffe der Liebesphantasie auf, auch bei weiblichen Protagonisten. Weniger ihre Liebe zu Männern als Langeweile und die Lektüre trivialer Romane treiben Emma Bovary zum Ehebruch und in den Tod. Frédéric Moreau hält sein Dasein für verfehlt, weil er Madame Arnoux nicht zum Ehebruch bewegen kann und sich mit Monsieur Arnoux’ Mätresse begnügen muß. Ältere Liebesromane hatten immer nur die Frage gestellt, wie man eine Frau erobert; Constants »Adolphe « jedoch stellt die nicht weniger lebensnahe Frage, wie man eine Geliebte wieder loswird. Von Goethes Roman lernten seine Nachfolger die Methode, durch Beobachtung des eigenen Verhaltens und Bewußtseins die monströse Wahrheit aufzuspüren, die sich unter dem glückverheißenden Wort ›Liebe‹ verbirgt.
SINN UND FORM 2/2015, S.195- 204, hier S.195-197
Büttner, Peter O.
Federschreiben in Zeiten der Aufklärung. Hypochondrie, Onanie, Tinte, S. 205Krause, Thilo
Nur ein paar Vögel. Gedichte, S. 211Schock, Ralph
»Eine andere Wahrnehmung der Welt«.
Ein Gespräch über Gedichte mit Jan Wagner, S. 214RALPH SCHOCK: Ihr neuer Gedichtband »Regentonnenvariationen« ist vor einigen Monaten erschienen. Ich habe Sie in Frankfurt während der Buchmesse (...)
LeseprobeSchock, Ralph
»EINE ANDERE WAHRNEHMUNG DER WELT« Ein Gespräch über Gedichte mit Jan Wagner
RALPH SCHOCK: Ihr neuer Gedichtband »Regentonnenvariationen« ist vor einigen Monaten erschienen. Ich habe Sie in Frankfurt während der Buchmesse daraus lesen hören und gedacht, das ist ein Autor, mit dem ich gern über Dichtung sprechen würde. Ihre literarische Karriere hat aber gar nicht mit einem Lyrikband begonnen.
JAN WAGNER: Bevor mein erstes eigenes Buch herauskam, habe ich unter anderem Charles Simic übersetzt, einen amerikanischen Dichter mit Belgrader Wurzeln, und wie so viele junge Lyriker eine Zeitschrift herausgegeben, besser gesagt, ein Objekt zwischen Zeitschrift, Buch und Kunstgegenstand – eine Literaturschachtel.
SCHOCK: Können Sie diese Literaturschachtel beschreiben?
WAGNER: Von 1994 bis 2003 haben wir elf Ausgaben gemacht. Der Titel »Die Außenseite des Elementes« ist im Grunde eine Art sprachliches Ready-made, nämlich der Aufkleber, mit dem Glaser die Außenseite einer Fensterscheibe bekleben, also die Wetterseite. In der DIN-A4-Pappschachtel befindet sich eine gedruckte Loseblatt-Sammlung mit Lyrik aus aller Welt, im Original und in Übersetzung, aber auch Prosa, Zeichnungen, Radierungen und so weiter. Durch den Verzicht auf Heftung und Seitennumerierung waren die Leser eingeladen, selbst die Reihenfolge zu bestimmen: das Lieblingsgedicht nach oben zu legen, vielleicht sogar eine Zeichnung, die sie besonders mochten, herauszunehmen, zu rahmen und an die Wand zu hängen. Mit anderen Worten: Es war eine nichthierarchische Publikation, bei der die Käufer in den Gestaltungsprozeß eingebunden werden sollten. Das Ganze zum Selbstkostenpreis und gewissermaßen als literarische Hommage an Marcel Duchamp und seine Schachtelkunst.
SCHOCK: Sie haben auch Arbeiten von Lyriker-Kollegen herausgegeben. Beachtung fanden zum Beispiel die 2003 erschienene Anthologie »Lyrik von Jetzt« und der einige Jahre später veröffentlichte Nachfolgeband.
WAGNER: Beide Bücher habe ich mit Björn Kuhligk herausgegeben. Es war der Versuch, die Lyrik unserer Generation zu sammeln. Wir wußten ja, wie aufregend das war, was in der deutschsprachigen Poesie geschah. Nicht zu Unrecht ist gesagt worden, daß der Reichtum an großartiger Lyrik seit Mitte der neunziger und erst recht in den letzten zehn Jahren seinesgleichen sucht, daß es vielleicht seit dem Frühexpressionismus keine solche Vielfalt individueller Stimmen mehr gegeben hat. Wenn man das selbst erlebt und sieht, wer in den Cafés und Kneipen liest, wer in den kleinen Zeitschriften, von denen es ja wimmelt, publiziert, hat man den Wunsch, es einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, die in der Regel gar nichts davon ahnt.
SCHOCK: Sie wurden 1971 in Hamburg geboren und haben dort und in Dublin und Berlin Anglistik studiert. Sind Sie in einem literarischen Elternhaus aufgewachsen?
WAGNER: Ich bin in einem Haus mit einer großen Bibliothek aufgewachsen, und meine Eltern haben mich schon in frühester Kindheit zum Lesen ermuntert. Zuerst waren das vor allem Romane, die Lyrik kam dazu, als ich vierzehn, fünfzehn war, und hat mich regelrecht zum Glühen gebracht. Emily Dickinson hat einmal geschrieben: »Wenn es sich anfühlt, als würde Deine Schädeldecke abgehoben, dann weißt Du, es ist Poesie.« Und das geschah mir zum Beispiel mit den Frühexpressionisten Georg Heym, Georg Trakl, besonders aber mit englischsprachigen Dichtern. Der erste, der mich so begeistert hat, daß ich dachte: So würde ich die Sprache auch gern beherrschen, als eine Magie zweiter Ordnung, war Dylan Thomas, der berühmte walisische Dichter, der auch eine wunderbare Stimme hat. Eine Freundin beschrieb sie einmal als »a rich old fruity portwine of voice«, als volle, fruchtige Portweinstimme, was es sehr gut trifft. Ich habe seine Stimme, seine Gedichte und auch sein Hörspiel »Unter dem Milchwald« gehört und war hin und weg.
SCHOCK: Sie sind mit Ihren Veröffentlichungen außerordentlich erfolgreich, sind Mitglied mehrerer Akademien, wahrscheinlich fast überall eines der jüngsten, Ihre Gedichte wurden in allen wichtigen Anthologien gedruckt, die Liste der Ehrungen und Preise bei Wikipedia ist beinahe länger als Ihr biographischer Eintrag. Können Sie als Lyriker auskömmlich leben?
WAGNER: Ich bin in jedem Fall beglückt und wurde reich beschenkt, gar keine Frage. Das ändert aber nichts an der Faustregel, daß man von Lyrik nicht leben kann. Niemand, der ein geregeltes Auskommen haben möchte, sollte darauf hoffen, das mit dem Schreiben von Gedichten erreichen zu können. Das ist, anders als bei Romanen, im Grunde unmöglich, und viele befreundete Dichterentscheiden sich deshalb ganz bewußt für einen Brotberuf. Sie sind zum Beispiel Buchhändler, arbeiten beim Rundfunk oder an einer Universität. Es ist möglich, als freier Lyriker zu leben, wenn man verschiedene Einkünfte hat, in meinem Fall etwa durch eigene Bücher, durch Lesungen in Buchhandlungen oder Literaturhäusern, durch Übersetzungen und Rezensionen. Doch selbst dann ist man darauf angewiesen, ab und zu ein Stipendium zu bekommen, das einem ein halbes Jahr oder länger Sicherheit und Unabhängigkeit schenkt.
SCHOCK: Haben Sie angesichts all der Ehrungen und Preise eine bestimmte Strategie, um nicht abzuheben, um auf dem Teppich zu bleiben?
WAGNER: Mein Teppich ist so gut verlegt, daß ich die gar nicht brauche, und es ist auch kein fliegender Teppich. Es mag banal klingen, aber für mich ist das Gedicht das Entscheidende. Ich bin erstaunt und beglückt, daß meine Texte so positiv aufgenommen werden, aber was mich wirklich glücklich macht, ist das Gelingen eines Gedichts. Ich glaube, so geht es allen, die Gedichte schreiben. Das liegt an der Wichtigkeit, die man der Sprache beimißt, dem Wunsch, all ihre widerstrebenden Elemente – das Musikalische, die Semantik, die Metaphern, die Paradoxien – auf engstem Raum zu vereinen, zum Klingen zu bringen und etwas zu schaffen, das dem Diktum von Emily Dickinson entspricht, das zu einer anderen Wahrnehmung der Welt führt, zu einer Explosion im Kopf. Der Wunsch, das zustande zu bringen, ist so groß, daß er das Hauptaugenmerk beansprucht.
SCHOCK: Diesen Anspruch haben Sie in dem wunderbaren Gedicht »giersch« exemplarisch eingelöst. Können Sie erzählen, wie so ein Text zustande kommt? Giersch ist ja eigentlich ein Unkraut. Manche Leute essen ihn auch als Gemüse. Haben Sie das mal probiert?
WAGNER: Nein, ich bin auch kein Gartenbesitzer, aber ich habe mir sagen lassen, daß er gut schmeckt. Man kann Suppe daraus machen, Salat, auch Quiche, was mir gut gefällt, weil Quiche und Giersch – als Giersch-Quiche – eine wunderbare Wortkombination ergibt. Jeder Gärtner liebt und haßt den Giersch, aber man kann unmöglich so viel davon essen, daß der Garten gierschfrei wird. Ich saß einmal als einziger Balkonbesitzer unter lauter Kleingärtnern, die sich über ihre Gierscherfahrungen austauschten und jammerten und stöhnten. Als Unbeteiligter konnte ich mich ganz auf das Wort Giersch konzentrieren, in dem wunderbarerweise schon die Gier enthalten ist, die ihn ausmacht. Ich ließ mich von dem Gespräch wegtreiben und begann über die Laute dieses Wortes nachzudenken. So kam es zu dem Gedicht. Wenn man es zum ersten Mal hört, wird man vielleicht nicht merken, daß es eine klassische Form bedient. Es ist ein Sonett, allerdings ein unterwandertes oder, wie es sich für den Giersch gehört, ein überwuchertes. Die Klangstruktur des Wortes sprengt mit ihrem sprachlichen Wurzelwerk die Form, bricht sie auf und überwuchert das ganze Gedicht.
SINN UND FORM 2/2015, S. 214-228, hier S. 214-216
Neumann, Peter Horst
In Muzot bei Rilke. Gedichte, S. 229Bürger, Peter
Die Wirklichkeit des Werks. Zur Ästhetik Rainer Maria Rilkes und Lou Andreas-Salomés, S. 232Buch, Hans Christoph
Als werde ein Buch erwartet. Erinnerungen an den Literaturbetrieb (I), S. 2421 »Ein Schriftsteller ist eine Person, die sich der Illusion hingibt, es werde ein weiteres Buch von ihr erwartet.« Diese Definition der (...)
LeseprobeBuch, Hans Christoph
ALS WERDE EIN BUCH ERWARTET Erinnerungen an den Literaturbetrieb (I)
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»Ein Schriftsteller ist eine Person, die sich der Illusion hingibt, es werde ein weiteres Buch von ihr erwartet.« Diese Definition der literarischen Tätigkeit stammt von Reinhard Lettau, der seine »creative writing"-Seminare in Kalifornien mit den Sätzen zu eröffnen pflegte: »Wer von ihnen interessiert sich für Kriminalromane oder für Science Fiction? Alle, die sich gemeldet haben, verlassen sofort den Saal, denn ich unterrichte nur Literatur!« Damit waren Kleist und Kafka gemeint, sowie drei oder vier Werke der Weltliteratur: Von »Werthers Leiden« über »Heinrich von Ofterdingen« bis zu »Peter Schlemihls wundersamer Geschichte«. Qualität war Reinhard Lettau wichtiger als Quantität, und seine eingangs zitierte Formel ist nicht nur witziger, sondern auch zutreffender als viele akademische Definitionen, weil sie den neuralgischen Punkt benennt, an dem sich spontanes Schreiben vom Beruf des Schriftstellers scheidet. Bekanntlich ist das zweite Buch das schwierigste, weil der angehende Autor seine Unschuld verloren hat – so wie der Jüngling in Kleists Marionettentheater, der beim Blick in den Spiegel die eigene Grazie entdeckt. Eine bestürzende Einsicht, die das Weiterschreiben erschwert oder unmöglich macht.
»Ein Schriftsteller ist eine Person, die sich der Illusion hingibt, es werde ein weiteres Buch von ihr erwartet«: In dieser Formulierung ist auch die Möglichkeit enthalten, daß mit dem Schreiben Schluß sein könnte, weil dem Autor nichts mehr einfällt, weil das Publikum sich von ihm abwendet oder weil der Tod ihm einen Strich durch die Rechnung macht. Aber ich will die Geschichte nicht vom Ende her erzählen, sondern von Anfang an. Der Einfachheit halber beginne ich bei mir selbst.
2
Im Herbst 1963 erhielt ich von einem mir unbekannten Absender einen Brief mit folgendem Wortlaut:
München, den 29. Sept. 1963
Sehr geehrter Herr Buch,
falls Sie auf der diesjährigen Tagung der Gruppe 47 sich an den Lesungen beteiligen wollen, sind Sie zu dieser Tagung herzlichst eingeladen. Die Tagung beginnt am 24. Oktober (Anreisetag) und ist bis zum 28. Oktober. Die Lesungen beginnen am Freitagfrüh um 10 Uhr.
Ort: Saulgau (Württemberg) im Hotel Kleber-Post. Sie können sich ein Zimmer direkt im Hotel bestellen. Bitte geben Sie mir aber Bescheid, ob Sie kommen oder nicht. Mit den besten Grüßen bin ich unbekannterweise
Ihr
Hans Werner Richter
Dieser Brief sollte mein Leben verändern, aber das ahnte ich damals noch nicht. Ich war neunzehn Jahre alt und hatte kurz zuvor am Bonner Beethoven-Gymnasium Abitur gemacht. Zwar wußte ich, was die Gruppe 47 und wer ihr Vorsitzender war, aber von Hans Werner Richter hatte ich keine Zeile gelesen, und die mit seinem Namen verbundene Nachkriegsliteratur ließ mich kalt – das Wort »Kahlschlag « beschrieb die Sache nur allzu genau. Von meinem ersten selbstverdienten Geld hatte ich mir die bei Schocken Books und S. Fischer erschienene Gesamtausgabe der Werke Franz Kafkas gekauft und von der ersten bis zur letzten Seite durchgelesen – nein, durchgeackert. Auch die beiläufigste Bemerkung in Kafkas Briefen und Tagebüchern war mir wichtiger als Koryphäen der Gegenwartsliteratur wie etwa Martin Walser und Günter Grass, dessen »Blechtrommel« ich abgeschmackt fand. Ich weiß nicht, was mir damals mehr mißfiel: der barock verschnörkelte Stil des Romans oder sein Programm der Vergangenheitsbewältigung, das mir wie die Negativfolie der Kriegserlebnisse erschien, mit denen unser Deutschlehrer uns in der letzten Stunde vor den Ferien langweilte. Erst Jahre später wurde mir bewußt, wie einseitig und ungerecht mein apodiktisches Urteil gewesen war – Ausdruck des Absolutheitsanspruchs einer Jugend, die sich nicht an der vorigen Generation orientiert, sondern an der vorvorigen: Bekanntlich verläuft die Traditionslinie nicht gerade, sondern im Zickzack, und die literarische Erbfolge geht nicht vom Vater auf den Sohn, sondern vom Großvater auf den Enkel oder vom Onkel auf den Neffen über.
Neben der Heiligen Dreifaltigkeit Franz Kafka, Robert Walser und Robert Musil duldete ich keine anderen Götter in meinem Bücherregal – mit einer Ausnahme: Peter Weiss, selbst Kafka-Epigone, dessen autobiographische Romane ich heimlich unter der Schulbank las. In den Osterferien 1963 trampte ich nach Stockholm, um dem Autor von »Fluchtpunkt« und »Abschied von den Eltern« meine Aufwartung zu machen. Seine experimentelle Prosa »Der Schatten des Körpers des Kutschers« erschien mir damals unüberbietbar. Das war kein bloßes Geschmacksurteil, sondern eine bewußte Vorentscheidung, weil das Wie des Schreibens mir wichtiger war als das Was: Thema, Sujet, Handlung, Fabel, Stoff oder wie immer man es nennt. Selbst im Zeichen der Politisierung, als platter
Inhaltismus an die Stelle des Formalismus der sechziger Jahre trat, hielt ich an dieser ursprünglichen Erkenntnis fest, die ich in der Folgezeit zwar partiell revidieren, aber nie zurücknehmen mußte – sie hat mich dauerhaft immunisiert gegen jede Art von Agitprop und vordergründigem Engagement.
Die Begegnung mit Peter Weiss verlief so, wie Henry James in seinen »Stories of Writers and Artists« Pilgerfahrten junger Talente zu berühmten Kollegen schildert: Den Erwartungen ihrer ungebetenen Besucher werden sie zwar nie gerecht, doch zuweilen lassen sie mit einer eher beiläufigen Bemerkung eine reiche Saat aufgehen. Peter Weiss empfahl mir Rolf Hochhuths »Stellvertreter « und »Schwierigkeiten beim Häuserbauen« von Reinhard Lettau, den ich sofort in mein literarisches Pantheon aufnahm, während ich mit Hochhuths Stück nicht viel anfangen konnte: Erst später begriff ich, daß sein »Stellvertreter « bei Peter Weiss’ »Ermittlung« Pate gestanden hatte und indirekt auch beim Marat-Sade-Buch, aus dem Weiss vorlas, als ich ihn im Herbst 1963 bei der Tagung der Gruppe 47 wiedersah. Aber ich bin dabei, den Ereignissen vorzugreifen.
Im Frühjahr 1963 hatte ich meine ersten Schreibversuche an den Suhrkamp Verlag geschickt: Epigonale Kurzgeschichten im Orbit von Kafka und Peter Weiss, die ich im Schulunterricht oder in den großen Ferien, während ich bei der Bonner Post Nachtdienst schob, ersonnen, auf holzfreies Papier getippt und ohne große Hoffnung in einen Din-A-4-Umschlag gesteckt hatte. Zu meiner Überraschung erschienen einige meiner Texte in einer Anthologie junger Autoren, und bald darauf erhielt ich den eingangs zitierten Brief von Hans Werner Richter, den der Herausgeber Martin Walser – vielleicht war es auch der Verleger Siegfried Unseld – auf mich aufmerksam gemacht hatte.
Ich war der jüngste Teilnehmer der Tagung und wußte selbst nicht, wie mir geschah. Damals, im Herbst 1963, machte ich mir noch keine Aufzeichnungen; erst Jahre später brachte ich meine Erlebnisse in Saulgau zu Papier, in einer Erzählung, die ich im Frühjahr 1966 in Princeton vorlas, wo Peter Handke das Sterbeglöckchen für die Gruppe 47 läutete. Hier ein Ausschnitt aus dem als Fortschreibung von Flauberts »Erziehung der Gefühle« konzipierten Text:
»Einzeln oder in kleinen Gruppen kamen sie durch die Tür: Verleger und Mäzene, Journalisten und Kritiker, Schriftsteller aller Altersgruppen und Couleurs; Veteranen, die Dutzende von Literaturen überdauert hatten, neben Rekruten, denen der erste Bart ums Kinn stand; der Verkannte Seite an Seite mit dem Überschätzten; das Wunderkind im Gespräch mit dem Geheimtip; die verkrachte Existenz Arm in Arm mit der nationalen Institution. Die Anzüge, von weitem, bildeten eine einzige dunkle Masse, unterbrochen hie und da durch das Weiß eines Kragens, den Farbtupfer einer Krawatte; die grauen Haare, die Brillen waren zahlreich; dazwischen leuchtete ein blanker Schädel, und die Gesichter, gerötet oder sehr blaß, trugen Spuren einer unausrottbaren Müdigkeit. Ich habe zehntausend Mark Schulden und rauche Opium, sagte eine junge Dichterin, eine Sphinx mit schwarzlackierten Fingernägeln und totenblassem Gesicht: Lesen Sie?«
Der Name der Sphinx war Gisela Elsner, und ihre Frage ergab nur im Kontext der Gruppe 47 einen Sinn, denn das Verb »lesen« ist transitiv und wird normalerweise nur mit Akkusativobjekt gebraucht. Ich trug eine Kurzgeschichte über eine archäologische Ausgrabung vor, die buchstäblich im Sande verläuft. Während ich las, sah ich aus den Augenwinkeln, wie der in der ersten Reihe sitzende Marcel Reich-Ranicki die Stirn in bedenkliche Falten legte und sein Nebenmann Walter Jens sich die Haare raufte, was nichts Gutes verhieß. Dabei war ich mir sicher gewesen, daß mein Text preiswürdig war – nicht aus Überheblichkeit, sondern aus jugendlicher Unkenntnis. Der kurz zuvor von Leipzig nach Tübingen übergesiedelte Ernst Bloch deutete das Vorgelesene als Produkt spätbürgerlicher Dekadenz, die mit eisernem Besen ausgefegt werden müsse, und beförderte mich mitsamt meinem Manuskript auf den Müllhaufen der Geschichte. Hans Mayer hielt ein extemporiertes Kolleg, in dem er meinen Text literarhistorisch einordnete, und Reich-Ranicki – vielleicht war es auch Walter Jens – dekretierte, die Geschichte tauge nichts und sei für denkende Menschen eine Zumutung, während Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass von gewolltem Leerlauf sprachen, der sie an Slapstick-Komödien und absurdes Theater erinnere. Aber anstatt Ankläger und Verteidiger Revue passieren zu lassen, zitiere ich lieber noch einmal aus der unter dem Eindruck des Gruppentreffens entstandenen Erzählung:
»Der Kritiker A. empfand ein gewisses Unbehagen. Der Kritiker B. verstand nur zu gut das Unbehagen des Kritikers A. Welche Unwahrscheinlichkeiten, Verrenkungen und schreienden Übertreibungen! Ganz im Gegenteil, rief ein anderer: Ich finde das alles viel zu platt und prosaisch; wenn wir noch mehr solcher Texte bekommen, wird die Literatur zum bloßen Abklatsch der Wirklichkeit! Der Kritiker C. faßte die Äußerungen der Kritiker A. und B. mit denen ihres Kontrahenten zusammen und deutete sie als Symptome möglichen Verhaltens gegenüber dem Vorgelesenen. Man dürfe jedoch nicht vergessen, daß der Text mit verschiedenen Ebenen arbeite; auch seien Autor und Erzähler scharf voneinander zu trennen; die Frage sei nur, ob die Ebenen zu einer künstlerischen Einheit verschmolzen seien; andererseits enthalte der Text konstruktive Möglichkeiten, die der Autor nicht voll ausgeschöpft habe. Der Kritiker A. verwahrte sich dagegen, als Symptom betrachtet zu werden; man habe seine Ausführungen falsch referiert; und er wiederholte alles, was er schon einmal gesagt hatte …
Ein Verlagschef hatte eine ganz andere Geschichte gehört als seine Vorredner; er wollte sich erklären, da begann zwischen den Stühlen ein Hund zu bellen, und seine Worte gingen unter in allgemeinem Gelächter.«
So ähnlich, in Rede und Gegenrede, lief die Tagung ab, bis der Herbergsvater Hans Werner Richter die Diskussion mit einem Machtwort beendete: »Ich denke, damit ist alles gesagt!«
SINN UND FORM 2/2015, S.242- 252, hier S.242-246
Wajsbrot, Cécile
Echos eines Spaziergangs in der Künstlerkolonie, S. 253Krämer, Gernot
Literatur als geteilte Erfahrung. Laudatio auf Cécile Wajsbrot, S. 267Wysocki, Gisela von
Einer, dem der Kragen zu eng wurde. Über Christoph Willibald Gluck, S. 270Kudielka, Robert
Sternbilder, Atem und Stimme. Über Eugen und Nora Gomringer, S. 275Cziesla, Wolfgang
Die Geburt des Firwitzes, S. 278
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3/2015
Heft 3/2015 enthält:
Koeppen, Wolfgang
Gleich Kanonen hämmert Gas!
Unveröffentlichte Gedichte, S. 293Müller-Waldeck, Gunnar
Ein expressionistischer Dichter
namens Wolfgang Koeppen, S. 300Die Antwort des Bertolt Brecht – befragt nach dem Einfluß des Expressionismus auf seine frühe Dichtung – ist berühmt. Sie war verächtlich und (...)
LeseprobeMüller-Waldeck, Gunnar
EIN EXPRESSIONISTISCHER DICHTER NAMENS WOLFGANG KOEPPEN
Die Antwort des Bertolt Brecht – befragt nach dem Einfluß des Expressionismus auf seine frühe Dichtung – ist berühmt. Sie war verächtlich und lautete: »Gab’s damals in Augsburg nicht«. (Daß es diesen Einfluß gleichwohl gab, steht auf einem anderen Blatt!) Sein acht Jahre jüngerer Bewunderer Wolfgang Koeppen hätte nicht so lakonisch über sich und seine Geburtsstadt sprechen können. Zum einen war der literarische Expressionismus für ihn die Eintrittspforte in die Literatur, zum andern gab es ihn in Greifswald durchaus. Genauer: Es hatte ihn gegeben, wenn auch nicht im Sinne einer Gruppe oder Schule.
Der Jurist und elegante Kabarettdichter Walter Serner erwarb hier den Doktortitel, Oskar Kanehl, der Linksexpressionist, erregte 1913 als Germanistik-Doktorand mit seiner Zeitschrift »Der Wiecker Bote« Anstoß. Richard Huelsenbeck, der Dadaist, studierte an der pommerschen Universität Medizin, Werner Schendell Philosophie; Gustav Sack, der dem Expressionismus nahestehende Skandalautor, und auch Paul Meyer, der Dichter und spätere Rowohlt-Lektor, hatten als Greifswalder Studenten begonnen. Das alles geschah freilich in Koeppens frühen Kinderjahren. Zudem ging es den meisten angehenden Autoren mehr um die Erlangung eines Brotberufs als um den Ausritt ihres Pegasus. Mit Ausnahme der Kanehlschen Zeitschrift dürften in Koeppens Jugendzeit kaum noch Spuren all der schriftstellerischen Ambitionen vorhanden gewesen sein. Aber als er »Mädchen für alles« am Greifswalder Theater wurde, war zumindest noch ein Nachhall spürbar. Der enthusiastische Expressionismusjünger mußte an der städtischen Bühne jedoch bald ernüchternde Erfahrungen machen: Er hatte dem Intendanten Emanuel Voß vorgeschlagen, »Gas« von Georg Kaiser zu inszenieren. Der konservative Theatermann und Wagner-Sänger konterte die kühnen Pläne des schüchternen Vorpommern mit dem Gegenangebot einer Art Hilfsassistenz. Ausschlagen konnte dieser die Stelle nicht: Wer Geld braucht, greift nach jedem Strohhalm. Aber natürlich wurde der jugendliche Träumer nicht um visionäre Menschheitsentwürfe gebeten, sondern gefragt: »Wo stand der Tisch bei der letzten Probe?«
Der geborene Leser Wolfgang Koeppen hatte sich früh dem Expressionismus angenähert, angeregt vielleicht durch seinen Ortelsburger »Onkel« Theodor Wille (zur Eheschließung mit Koeppens Tante Olga war es nicht gekommen, Wille hatte die Schwestern Maria und Olga als Baumeister der Greifswalder Klinik kennengelernt) oder zumindest durch dessen umfangreiche Bibliothek. Hinzu kam das, was Koeppen später sein »Leben gegen die Norm nannte«. Er, der als Neunjähriger zu Kaisers Geburtstag auf der Schulfeier patriotische Verse rezitieren mußte, rächte sich später durch die Lektüre einer für kaisertreu Empfindende völlig unbrauchbaren Lyrik, eben der expressionistischen. Das frühe Faible für diese Dichtung war freilich noch Spiel, betrieben von einem wohlversorgten Bürgersohn. Koeppens Biographie glich der vieler expressionistischer Dichter: Aus besserem Hause stammend (der Nenn-Onkel war Leiter des königlich-preußischen Hochbauamtes, und den Makel von Koeppens unehelicher Geburt dürfte die Anstellung der Mutter beim Fast-Schwager weitgehend vergessen gemacht haben), versehen mit einer soliden Gymnasialbildung. »Das fing alles so gut und anständig an«, sagte er später nicht ohne Ironie über sich und seine Dichterkollegen.
Aus dieser sicheren Höhe stürzte der junge Mann hinab in die harte Greifswalder Realität: Hierhin ging die Mutter 1919 zurück, vermutlich wegen Spannungen in der »Kleinfamilie«. Das Gymnasium mußte aus Kostengründen gegen die ärmliche Bürgerschule eingetauscht werden, die gediegenen Ortelsburger Wohnverhältnisse gegen ein enges Dachstübchen, die Zugehörigkeit zu »besseren Schichten« gegen den Ruch der Unterprivilegierten. Koeppen kehrte in den Ferien wiederholt zurück, heuerte 1923 für kurze Zeit auf einem Finnlanddampfer an und setzte zwischendurch auch den Schulbesuch in Ortelsburg fort.
In diesem räumlichen Hin und Her entsteht in Greifswald 1924 an zwei Apriltagen die Szenenfolge »Gleichnis«, die Koeppen als eine Art Auftragswerk der Ortelsburger Freunde bezeichnet und offenbar im Sommer in diesem Kreis zur Aufführung bringt. Es handelt sich um ein Verkündigungsdrama über den standhaften Christus und den satanischen Verführer, der ihm die Macht über die Welt anbietet, und bezieht sich auf Matthäus 4/ 1–11: »Nochmals nahm ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg, zeigte ihm alle Königreiche der Welt samt ihrer Herrlichkeit und sagte zu ihm: ›Dies alles will ich Dir geben, wenn du dich niederwirfst und mich anbetest.‹ Da antwortete ihm Jesus ›Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: Den Herren, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen‹«. Koeppens Teufel will Christus verführen, Macht über andere Menschen auszuüben, doch dieser bekennt sich, anders als der biblische Gottessohn, weniger zu seinem Vater als eben zu den Menschen, für die er den Opfertod auf sich nimmt. Der Einfluß von Franz Werfels religiösem Verkündigungspathos auf diese Verse liegt nahe. »Ich sah die Not der Menschen, sah ihre Angst, ihr suchend Irren – und fühlte und ahnte! – In die Einsamkeit ging ich und fand – Licht! In mir! Strahlend, brennendes Licht! Allerkenntnis – riesiger höchster Schatz mein! Die Erkenntnis trieb, unwiderstehlicher Ruf: Hilf – Gib – Zeige! Da ging ich lehren. Von Güte, sprach ich zu Menschen, von großer Liebe, von allem was rein und edel war …"
Der Duktus ist spröde, ein Gemisch aus feierlich-bildreicher Prosa und ebensolchen Versen, die Reime holpernd und scheinbar naiv, an großen Gefühlen, sprachlichen Kostbarkeiten und bedenklichen Bildern ("Rausch in Blut und Rosen«) herrscht kein Mangel. Das Vorbild der Mysterienspiele schimmert durch, wobei wohl einem sentimentalen Eindruck vorgebeugt werden sollte, der durch den im Nebentext verfügten Einsatz einer »entfernte(n) Geige – traurig und schwer« aufkommen konnte. Denn ein expressionistischer Gag taucht die Szenerie gleichzeitig in ein verfremdendes Licht: Taschenlampen und Fahrradlaternen, mit denen die Darsteller ihr Gesicht aus dem Halbdunkel herausmodellieren sollen, sind vorgeschrieben. Rasch wird deutlich, daß es nicht um eine religiöse Botschaft geht, sondern um einen Aufschrei gegen die alles beherrschende Macht des Geldes. Mögliche Alternativen gibt es allerdings nur im Sinne des Hasencleverschen »Christus"-Gedichts von 1913: »Sei, Mensch, zur Hilfe der Menschen bereit.«
Den ganzen Text durchzieht eine reiche expressionistische Farbsymbolik: Weiß ist die Farbe Christi, weiß sind die Hände der Maria, weiß die Rosen der Liebe, rot hingegen ist das Märtyrerblut, aber auch das Teufelsgesicht ("grell rot und sehr beweglich«). Schwarz steht offenbar für die Kirche, die der Autor als zweifelhafte Institution ins Bild setzt: Christus wirft schon zu Beginn das dunkle Übergewand ab und erstrahlt in weißem Licht, der Teufel »trägt einen schwarzen Talar und sieht wie ein Pfarrer aus«.
Zum Schluß, als der stark an Goethes Mephisto erinnernde Teufel seine Niederlage eingestehen muß, wartet Koeppen mit einer gewitzten Pointe auf: Der Böse entwickelt umgehend eine neue Geschäftsidee: »Die Lehre muß in starre Form und Angst muß sein …«, sagt er abgehend und gewissermaßen die weltliche Macht der Kirche begründend, während Christus das Schlußwort hat, in welchem er dem fortdauernden Dualismus von Gut und Böse seine Botschaft der Liebe entgegenhält: »Ewig wird Böses sein und kreisen. Aber ich bin flammend Mal und Ziel. Aufruf – Gleichnis.« Keine Frage, daß aus dieser Christusgestalt auch der junge Autor selbst spricht. Das im trüben Greifswalder April entstandene Stück für seine Freunde ist auch eines des Heimwehs nach dem verlorenen Paradies Ortelsburg und der Auflehnung gegen den Materialismus der Welt. Aber immer noch handelt es sich um literarische Spiegelfechtereien, um bloßes Spiel, denn seine Verhältnisse sind zwar nicht glänzend, aber doch gesichert, und Christi Opfertod bleibt ein gesucht heroisches Bild – jenseits persönlicher
Erfahrungen.
Das ändert sich im November 1925. Ein Tumorleiden löscht das Leben der Mutter aus, und die Not greift nun unvermittelt nach dem neunzehnjährigen Osram-Hilfsarbeiter Wolfgang Koeppen, der inzwischen in Berlin lebt. Im Winter 1925/26 versucht er sich in der Hauptstadt durchzuhungern und die große Erschütterung zu verarbeiten. Die komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse zu »Onkel« und Tante verbieten ihm Bettelbriefe. Er ist auf eigene Erfolge aus. So entstehen zwischen November 1925 und Frühjahr 1926, vermutlich in Berlin, eine Reihe expressionistischer Gedichte, in einer Mischung aus lateinischer Schrift und Sütterlin auf Schulheftpapier mit Rechenkästchen geschrieben und von Koeppen mit Faden geheftet, die er vergebens an verschiedene Adressen, an Zeitschriften und Verlage schickt. »Knospen Staubblüten Schrei« schreibt er auf das Titelblatt. Das Werdende, das Befruchtende, das Aufbegehrende: ein ganzes expressionistisches Programm in drei Worten, geschrieben in einer Zeit, in der der Expressionismus schon von der Tagesordnung verschwunden war. Der Debütant war ein zu spät Gekommener. Trotzdem darf die Ablehnung der Zeitungen und die Tatsache, daß Koeppen nie auf sein Frühwerk zurückkam, nicht das letzte Wort über diese Dichtungen sein, zumal sie – bzw. der Expressionismus – sein Schreiben lebenslang beeinflußten: »In jedem Werk der Literatur, der Kunst ist Expressionismus als Geburtshelfer zu finden«, schreibt der Siebzigjährige bekenntnishaft.
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SINN UND FORM 3/2015, S. 300-308, hier S. 300-303
Rang, Florens Christian
Abrechnung mit Gott.
Pädagogik und Bildung. Vorbemerkung von Anne Weber, S. 309Demus, Klaus
Gezeitengangs tiefes Atemholen. Gedichte, S. 319Szentkuthy, Miklós
Marginalien zu Casanova.
Alfons von Liguori (1696–1787), S. 322Alfons von Liguori (1696–1787) Der Heilige Alfons starb im Alter von einundneunzig Jahren, doch das Schreiben hatte man ihm, nachdem er unzählige (...)
LeseprobeSzentkuthy, Miklós
MARGINALIEN ZU CASANOVA
Alfons von Liguori (1696–1787)
Der Heilige Alfons starb im Alter von einundneunzig Jahren, doch das Schreiben hatte man ihm, nachdem er unzählige Bücher und Briefe verfaßt hatte, aus gesundheitlichen Gründen bereits als Dreiundachtzigjährigem verboten; zwar gab es nichts, das ihm leichter gefallen wäre als das Formulieren, nie mußte er auch nur das Geringste korrigieren, Gedanken und Gefühle prasselten nur so aus ihm heraus, mal im schlichten, mal im barocken Stil, wie unablässiger Regen, doch hinter seinem unvergleichlichen Stilempfinden tobten große Leidenschaften, Gefühle der Trauer und der Freude über Gottes Schicksal, die Seele und den unenträtselbaren Körper des Menschen, das Ziel der Geschichte oder deren inakzeptable Ziellosigkeit. Scholastik, Freudsche Entdeckungen, Marxsche Beobachtungen, existentialistische Verzweiflung zerrissen förmlich seinen Körper und seine Seele, wie das geflügelte Biest des Schicksals die Leber des Prometheus, er war voller Ungeduld und Angst, die seine Beine zittern ließen und seinen Verstand in Schwindel versetzten, Angst, es könnte bald zu spät sein, das Summa summarum seines Gottesporträts, seiner Geschichtsbeobachtung und seiner Untersuchung über Natur und Seele zu Papier zu bringen. Und gerade, als seine Lieblingsthemen im schwankenden Verhältnis der Fragen und Antworten zu einer endgültigen Reife gelangt waren, verbot man ihm das Schreiben.
Diese gutgemeinte hygienische Maßnahme wurde ihm von mehreren Seiten nahe gelegt: einmal fütterte er eine Taube aus einer Konservendose auf dem Fenstersims seiner Zelle, aber die Taube wollte gar nicht essen, sie setzte sich auf seine Schulter, und Alfons, in sündiger Unbescheidenheit, glaubte, der Heilige Geist in persona sei gekommen, um ihm als Muse Inspiration einzuhauchen – das mit dem Heiligen Geist wäre auch kein Problem gewesen, nur war er nicht gekommen, ihn zu inspirieren, sondern um mit seinem Schnabel nach Alfonsens Schreibfeder zu schnappen und zwischen den Laubkronen des Klostergartens hindurchfliegend diese wie einen Silberpfeil der Venus den tanzenden Jungfrauen des katholischen Parnaß’ als Geschenk darzubringen. Ein anderes Mal erschien ein halbes Kardinalskollegium in seinem eisgrauen Studio, lauter lila Oberbischöfe (eng aneinandergedrängt, wie verwelkte, aber immer noch geliebte Blumensträuße oder Tulpen im Eisschrank auf dem Flur), um ihm das Schreiben zu verbieten, aber das waren eher scharlachfarbene Tartuffes: nicht Alfonsens Gesundheit interessierte sie, sondern seine politisch gefährlichen Thesen – natürlich hatten sie auch verkleidete Doktoren mitgebracht, die den gesammelten Blödsinn langer Zeitalter aufzählten – sie schlugen ohnehin vor, Alfons zu exkommunizieren (nicht einmal therapeutischer Weitblick wirkte hier, wie man sehen kann), denn er beschäftigte sich mit den phantastischsten Eigenschaften des gesamten Körpers und der tiefsten Seele, und Körper wie Seele standen (ihrer Meinung nach) gänzlich außerhalb der philosophisch umgrenzten Kreise der Medicina.
Alfons hatte auch bemerkt, daß die besondere geistige Anspannung in seinem Organismus späte Versuchungen hervorrief, in seiner Phantasie erblühten wie in tausendundeiner Nacht Sünden aus vor langer Zeit abgelegten Beichten, die Erinnerungen der Jugend erschienen ihm wie die gesunden Pickel einer krankhaften Pubertät auf seiner Seele, so daß der (wie gemeine Lexikonschreiber es auszudrücken pflegen) »Beichtvater aller Beichtväter« selbst zur Beichte ging. Aber keiner traute sich diese sancta operatio durchzuführen, bis er schließlich – daß ihm das bis dahin nicht eingefallen war! – mit gesenktem Kopf, das Kinn an die Brust angewachsen, zu einem seiner größten Feinde ging, der sich voll luziferischer oder hades-kasernenhafter Wollust die Sünden des alten Alfons anhörte und ihm mit unbeschreiblicher Freude das Schreiben verbot. Da er sich »in diesem speziellen und typischen Fall« nicht durch das Beichtgeheimnis gebunden sah, zerrissen sich bald die Höflinge in den Spiegelpalästen des Königs von Neapel in geistlosen Klischee-Witzen das Maul über den alten exhibitionistischen Satyr.
Als er noch schreiben durfte, wurde sein Kopf so heiß und schmerzte so sehr, und es schwindelte ihn dermaßen (möge der Teufel diese gar nicht so seltene Verbindung aus glänzender raison und allen möglichen gemeinen Morbiditäten holen), daß er sich eine gekühlte Marmorplatte gegen die linke Schläfe drücken mußte, mit Hilfe einer Konstruktion, die eine Nonne ersonnen hatte. Die Platte hatte er aus der prunkvollen Antikensammlung Papst Benedikts XIV. erhalten, sie stammte aus einer antiken Villa und stellte jene Szene dar, in der Orpheus seine Frau in der Unterwelt zurücklassen muß – jeder Gedanke eines Denkers ist eine Frau, die er für immer in der Unterwelt zurücklassen muß –, es versteht sich von selbst, daß Alfons seinen Kopf nicht an die Seite mit dem Relief preßte. Im übrigen besaß er mehrere dieser schläfenkühlenden Marmorplatten, und als er sie (nachdem ihm das Schreiben verboten worden war) in einer Ecke übereinander stapelte, meditierte er über jede einzelne, auf gehörige symbolische Weise, wie es sich für einen Philosophen und Dichter geziemte und wie man es auch von Kachelofensetzern erwarten kann, und änderte das zu Ändernde: Als er dies getan hatte, trotzte er brummend der diebischen Taube, dem aus Kardinälen bestehenden politischen Wanderzirkus und dem zynischen Verleumder und sagte wie ein echter Römer: »Leben muß man nicht, schreiben muß man.« Er ließ eine sehr alte und sehr intellektuelle »Nonne« kommen (bis hierher ist die Charakterzeichnung recht erschreckend), aus der jedoch die himmlische und die irdische Liebe und »heilig-sexy« Züge quasi an engelhaften Linealen entlang strahlten und – Psst! Psst! Psst! – diktierte ihr in einer Waldkapelle in großer Heimlichkeit, und zwar keineswegs irgendeine wahre oder verlogen-schäbige Boccaccio-Novelle, davon konnte gar keine Rede sein, soll es auch nicht. Obwohl, etwas gab es da schon … aber nicht in dem eben angedeuteten Sinne. Und dieses »Etwas« war Folgendes (unsere Geschichte zielt nicht auf eine Pointe ab, wir können also getrost das Ende mehrerer Romane verraten): Diese Nonne war keine andere als jene Prinzessin, die Alfonsens Vater »vor hundert Jahren« für seinen Sohn als Frau auserwählt hatte. Aus der Heirat wurde allerdings nichts, wie wir gleich sehen werden, und die Prinzessin wurde zu seiner erbitterten Feindin (der Grund dafür war vermutlich am wenigsten Eifersucht), und nun war sie wieder da, eine falsche Nonne in falschen Kleidern, aber die verlorene Zeit, »le temps perdu«, war ihre beste Maskerade. Ihr also diktierte Alfons seine Erinnerungen, aus denen der hier vorliegende Abriß erstellt wurde.
Alfons und Casanova lebten, wenn mein greiser Kopf wie gewöhnlich nicht wieder schlechtmöglichst rechnet, zweiunddreißig Jahre parallel. Als Casanova geboren wurde, war Alfons bereits neunundzwanzig Jahre alt – nach Alfonsens Tod lebte Casanova noch elf Jahre. In Italien trafen sie unter den unterschiedlichsten Umständen aufeinander, die Erinnerungen des einen gingen oft im Kopf des anderen herum, und wenn dies auch nicht immer so geschah, wie das Brevier das verlangte, werden wir eben im Dienste der symbolischen Lehre die Jahre ein wenig vor und zurückschieben. Das hat weder etwas mit historischen Irrtümern zu tun, noch mit billigem Kommerz-Anachronismus, noch mit Lügen – wie auch der weitfliegende, verschwenderisch hin und her irrende Duft des Maiholunders und des Jasmins weder Lüge noch stumpfsinniges Parfümkaleidoskop sind, der Holunder selbst bleibt an seiner Stelle, als stichhaltiges Positivum (falls jemand ein Liebhaber von so etwas ist) und der umherstreifende Holunderduft ist auch in den weitest entrückten Gegenden immer noch – Holunder.
Casanova lebte im böhmischen Schloß des Grafen Waldstein, in Dux, zwischen 1785 und 1798 als »Hof«-Bibliothekar, das waren die letzten dreizehn Jahre seines Lebens, vom sechzigsten Lebensjahr bis zu seinem Tode. Er war zu Recht Bibliothekar, denn wie ihr aus der unten folgenden heiligen Lektüre ersehen könnt, war Casanova (natürlich mit einer gewissen Sankt-Orpheischen Übertreibung) ein Intellektueller des 18. Jahrhunderts: viel interessanter denn als sexuell und sonstwie ausgerichteter Chamäleon-Abenteurer. Daß der Graf wiederum nicht ausschließlich vom Geschichtenschreiber, Philosophen und Mathematiker Casanova angezogen war, kann man gleichfalls annehmen. Einsam war er durchaus, er arbeitete an seinen Memoiren, vieles schrieb er nie auf, auch vom Geschriebenen ging die Hälfte verloren – der akademische Historismus benutzt diese Passagen gerne als Säulenfüße für breitkrempige Thesen, was sich natürlich fundamental von unserer Methode unterscheidet. Nun geht er auf die siebzig zu. Die Bibliothek besteht teilweise aus riesigen barocken Kirchenschiffen, Theater- und Ballsälen mit sich schlängelnden Balkonen, bis zum Himmel reichenden Fenstern mit Blick zum Park, zentnerschweren Samtvorhängen, die sich wie aus Füllhörnern ergießen, und fliegenden Deckenfresken mit einer Mixtur aus theologischen und mythologischen Motiven – die Bücher sind fast unsichtbar, sie ähneln winzigen Orgeln oder Panflöten hinter Seifenblasen-Glastüren. Andererseits besteht die Bibliothek aus intimen kleinen Boudoirs, lustvollen Tête-à-tête-Zimmern des Geistes, statt Wänden sieht man nur das üppige Funkeln der Bücher. Letztere erinnerten Casanova an die Liebe, erstere an Thronsäle im Vatikan oder bei Kaiserinnen. Er arbeitet gerade in einem großen Saal, bei enormer Hitze, mit freiem Oberkörper, doch zwischen den perlenden Schweißtropfen trägt er den Orden vom Goldenen Sporn um den Hals. (Wurde dieser auch ursprünglich um den Hals getragen? Was interessierte ihn das, den alt gewordenen Eremiten in seinem Versailler Spiegelsaal?) Den goldenen Sporn hatte er vom Papst bekommen, und er ist für das Brevier deswegen wichtig, weil auf dem Orden neben dem Malteser Kreuz und dem Sadismus symbolisierenden Sporn auch das Bildnis des Heiligen Silvester I. zu sehen ist – seine Biographie wiederum wird zu Beginn des siebten Kapitels unseres Gebetsbuchs zu lesen sein. Casanova interessierte sich unter Voltaireschen Gesichtspunkten für den Heiligen Papst Silvester, denn dieser wurde (im 4. Jahrhundert) beinahe vom Schlag getroffen und wie ein Batzen Lehm gegen die bronzene Tür der Peterskirche geschleudert (sie war schön grün angemalt), als er sah, daß die Heilige Kaiserin Helena, die das Kreuz Christi zurückerobert hatte, während ihrer langen Reise durch den Orient beinahe zur bekennenden Jüdin geworden war und Europas Glauben auf diese Weise um ein Haar der jüdische geworden wäre und die Peterskirche zu einer Synagoge. Casanova wünschte in der Hitze nicht zu lange über die Alternativen Vorsehung oder Nonsens nachzusinnen, er betrachtete lieber jenes schöne, in die Wand eingelassene Marmorrelief, das er vom Kardinal Aquariva geschenkt bekommen hatte, zusammen mit einem prächtigen Amt, doch aus letzterem war er schon am nächsten Tag entlassen worden, und zwar wegen der Ungehörigkeit seiner routinemäßigen Vergnügungen, die er während der Einweihung des Reliefs begangen hatte.
Das Relief wird im Katalog des Grafen Waldstein (den Casanova aufs sorgfältigste überarbeitet und kommentiert hatte) unter dem Titel »Musikalische Unterhaltung « geführt, dabei verbergen sich darin neben hellenistischem Rokoko-Charme die ältesten Mythen über den Tod und die Orgien, von denen Alfons in seinem tiefenpsychologischen, für Beichtväter gedachten Werk »Theologia Moralis« geschrieben hatte, sie seien in Menschen, in Kindern, in geheimnisvollen Tieren und mysteriösen Blumen, bei Urvölkern, ja sogar in katholischen Riten und selbst den höfischen Etiketten heute noch spielend leicht aufzuspüren – von den sogenannten Neurotikern ganz zu schweigen –, sie leben fort und sind nur hinter spinnwebdünnen Leichentüchern oder verlogenen Eisenmasken verborgen.
Auf dem Relief ist ein intimes Bacchanal dargestellt – mit einem Bett, einem beieinanderliegenden Paar, einer Hetäre mit Mandoline, einem homosexuellen Leier-Gott in der unmißverständlichen Pose eines käuflichen Jünglings, ein neapolitanischer Zitronen-Zyniker, mit einer beinahe die Schönheit von Büstenhaltern erreichenden Brust. Casanova brach in Lachen aus, als er seinen kommentierten Katalog über die Interpretationen der antiken Welt schrieb, die totgeborene Wiederbelebung derselben in verschiedenen Epochen Europas, von der Zirkus-Renaissance über die Nervenkranken-Romantik, das puritanische Moralisieren bis zur biedermeierhaft-bourgeoisen Psychoanalyse. Die annehmbarste Form des Epigonentums fand er in einigen Wasserspeiern gotischer Kathedralen und in der manieristischen Rokoko-Kunst seines eigenen Jahrhunderts, obwohl ihn die ewige ungeschickte Gegenüberstellung von Kunst, Religions-Vergleich, Mythos und Rationalismus »en gros« langweilte (Wen nicht? Wann nicht? Wo nicht?).
[…]
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
SINN UND FORM 3/2015, S. 322-334, hier S. 322-326
Eigner, Gerd-Peter
Schlangen und Betschwestern. Gedichte, S. 335Stevenson, Robert Louis
Charles d’Orléans, S. 339D’Orléans, Charles
Balladen, S. 364Xianliang, Zhang
Die Geschichte vom alten Xing
und seinem Hund, S. 367Stiggas, Yannis
Atemübungen. Gedichte, S. 389Segal, Ron
Die Frau im Pappband, S. 392Schoch, Julia
Das erfüllte Leben, S. 396Bettinger, Martin
Wenn der Vater nicht stirbt, S. 400Nikolić, Jovan
Letzte Worte, S. 405Die Kindheit Wie groß ist die Welt, wenn du klein bist. Die Menschen, der Hund, die Bäume und der Fluß. Der Himmel so fern und die Wolken ein (...)
LeseprobeNicolić, Jovan
LETZTE WORTE
Die Kindheit
Wie groß ist die Welt, wenn du klein bist. Die Menschen, der Hund, die Bäume und der Fluß. Der Himmel so fern und die Wolken ein so schöner und angenehmer Anblick, der ein unbestimmtes, aber grenzenloses Vertrauen zum Leben gibt. Die ganze Welt war vollständig hier, neben mir: meine Mutter, mein Vater und alle, die sich um mich kümmerten. Diese Welt, das waren auch unser Haus, mein Zimmer, darin mein Bett, mein Kopfkissen und meine Träume, grünes Gras und Blumen in der Ecke des Hofes, der Hund, ein Paar Katzen und mein Spielzeug. An gewissen Tagen, die vor Licht strahlten und unsere sonst so ruhige Straße mit Lärm füllten, hörte ich Gespräche zwischen Erwachsenen in einer mir vollkommen unverständlichen Sprache, und ich merkte mir erste bedeutende Wörter: Geburtstag, Neujahr, Weihnachten … Wie schön war es, ein Kind zu sein, jeder neue Tag war – ein Fest! Ich unterhielt mich mit meinen Spielsachen; sie waren kleine Schauspieler in meiner Fantasiewelt. Ich lehnte bunte Kasperle, steife Soldaten, lackierte Pferde und Artillerie ab. Ich mochte das Emaille im Auge der Puppen, Wangen, die vor Schminke glühten, prunkvolle Spitzen, goldene Kleider, geschmückt mit Federn und funkelndem Geschmeide … Eine große Aufregung überkam mich, wenn ich jemanden erblickte, der so alt war wie ich, aber kurzgeschnittenes Haar hatte. Dieser Jemand schaute mich an, blinzelte mit den Augen, redete und spielte mit mir bis zum späten Nachmittag. Ich sagte mir: Mit dieser Puppe werde ich immer spielen, auch wenn ich groß bin!
Der erste Spaziergang auf der Donaupromenade zeigte mir das Wunder der Bäume, die friedlich am Fluß standen. Auf ihren Zweigen saßen Vögel, und auf den Zweigen, die sich im Fluß spiegelten, saßen Fische. Auf einem Karneval sah ich einen Löwen. Mein Vater versicherte mir vergeblich, es sei nur ein Schauspieler, der sich als Löwe verkleidet habe, und lud mich ein, seinen Schwanz zu berühren. Starr vor Angst, traute ich mich nicht. Beim ersten Mal im Zoo sah ich viele Tiere in Käfigen. Die Gitter dämpften meine Angst vor den riesigen Elefanten, Giraffen, Zebras, Krokodilen, Nashörnern, Bisons, Affen und Löwen … Danach glaubte ich noch lange, daß hinter den Gittern in Wirklichkeit als Tiere verkleidete Schauspieler lebten, die abends, nachdem der letzte Besucher gegangen war, ihre Kostüme ablegten, Anzüge anzogen und nach der anstrengenden Arbeit nach Hause gingen, um sich zu erholen und in Ruhe mit ihren Familien Abendbrot zu essen.
Aus dem Serbischen von Zuzana Finger
Schuld
Ich entsinne mich, daß mich der Taxifahrer in diesem Traum zu einem unbeleuchteten Hauseingang brachte. Da ich kein Bargeld bei mir hatte, bat ich ihn, auf mich zu warten, bis ich Geld aus der Wohnung geholt hätte. Widerwillig stimmte er zu. Glauben Sie nicht, daß ich diesen Trick nicht kenne, aber egal, ich traue Ihrer Physiognomie. Mit eingeschaltetem Zähler wartete er in seinem Taxi. Ich lief die spiralförmige Treppe hoch, sperrte die Wohnung auf, nahm ein Bündel Geld aus der Schublade und wachte auf!
Ohne böse Absicht betrog ich den Mann, der mir sein Vertrauen geschenkt hatte!
Jetzt verfolgt mich der Gedanke, daß sich ohne Unterlaß und in halsbrecherischer Geschwindigkeit die Schuld auf dem geträumten Taxameter, das vielleicht bis heute läuft, vergrößert. Wenn der Taxifahrer noch immer auf mich wartet, ist die Schuld inzwischen so sehr angewachsen, daß ich sie unter keinen Umständen begleichen kann. Ebensowenig wie all das, was ich nach den Gesetzmäßigkeiten meines Karmas hätte begleichen müssen, aber durch Faulheit und Fahrlässigkeit unterlassen habe. Wer garantiert mir, daß ich mich nicht irgendwann im Traum im selben Taxi wiederfinde? Würde der Fahrer die vertrauenerweckenden Gesichtszüge aus dieser Nacht Ende November 1994 wiedererkennen?
Was kann er alles von mir verlangen, damit ich meine Schuld bei ihm begleiche? Es beruhigt mich einigermaßen, daß ich beim Schlafengehen immer einen Amulett-Lederbeutel mit ein paar Münzen um den Hals trage. Nur der Teufel mag wissen, ob mich nicht ein dreiköpfiger Zerberus vom Rücksitz anknurrt oder der Taxifahrer auf den Namen Charon hört.
Letzte Worte
Auf der Jagd nach Flecken und Schlampereien. Mit der Zunge befeuchtete er die Finger, las sorgfältig Brösel, Papierfetzen und jeglichen Unrat vom Boden auf. Mit dem Finger fuhr er über die polierte Oberfläche der Zimmermöbel und betrachtete gründlich seine Fingerkuppen, ob sich Staubspuren daran fänden. Fettige Verneblungen glatter Flächen rieb er weg, putzte bereits Geputztes, räumte das Geschirr vom Tisch und die unordentlich verteilten Kleidungsstücke von den Stühlen, sammelte unter dem Bett vergessene Socken und Unterwäsche ein, schrubbte mit dem Schwamm das Spülbecken, stapelte die Kleider im Schrank erneut um und faltete die Handtücher im Badezimmer quadratisch zusammen.
Er tauschte den Aschenbecher nach nur einer Zigarette aus, stellte die Schuhe im Flur der Größe nach auf.
Jede Nacht ließ er das Tor unverschlossen, einen Fensterflügel offen, das Licht blieb bis zum Morgengrauen an. Er schlief mit dem Telefon neben dem Kissen, dazu leise Musik und einige aufgeschlagene Bücher auf dem Boden.
Eines Morgens, als er eine Tasse Kaffee trank, zwang er sich aufzustehen, um die Hemden an der Leine umzuhängen, ihre Ärmel mit Wäscheklammern zu verbinden, weil ihm schien, daß sie zu weit voneinander entfernt an einer halbleeren Leine hingen …
»Das kann ich gerade noch ertragen«, waren die ersten Worte, mit denen er seine Frau aus der Entbindungsklinik empfing, als ihre Tochter geboren wurde, »daß du etwas zur Welt bringst, was dein Geschlecht hat. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, daß ein männliches Wesen sein Geschlechtsorgan durch deine Vagina bringt.«
»Was, wenn ich einen Jungen empfangen hätte?«
»Dann wäre unser Sohn durch einen Kaiserschnitt geboren worden!«
Beim Sterben, als sie neben seinem Bett saß, nahm er ihre Hand, als wolle er um Vergebung bitten. Sie beugte sich leicht vor. Um Luft kämpfend, röchelte er: »Dir steht ein Haar aus der Nase.«
Gute Nacht
Vor der beginnenden Dunkelheit, wenn alle Pflichten im Haus getan sind und das Fieber des in die Nacht mündenden Tages abklingt, senken sich die Schatten in Hof und Garten auf die Bäume und Blumen, auf das daniederliegende Gras, und Düfte steigen auf. Durch die spaltbreit geöffneten Fenster spüren wir einen Kältestrom, und seltene Geräusche erfüllen die Stille. Jeder liegt in seinem Bett. Mutter als letzte, nach einem inbrünstigen, auf Knien verrichteten Gebet vor der Ikone der Muttergottes.
Wir sehen zu, wie der Widerschein der Flammen im Ofen die Zimmerdecke leckt. Im schwärzlichroten Rahmen der Ofentür knistern die Funken, und hier und da fällt Glut heraus, die der Vater mit drei bespuckten Fingern eilig zurück in die Feuerstelle wirft.
Auf dem zitronengelben Boden bleiben Glutspuren, schwarze Löcher wie erloschene Sterne.
Der Reihe nach sagen wir einander »Gute Nacht«, als ob wir uns für kurze Zeit trennten, als ob wir irgendwohin gingen, jeder auf seinem eigenen Weg.
Und alles wird auf einmal taub.
Mich überkommt ein wohliger Schauer, weil ich auch diese Nacht durch zauberhafte Traumlabyrinthe gleiten werde.
Aber ich fürchte die dichte Dunkelheit und die Einsamkeit in meinem riesigen eisernen Bett.
Ich lausche, wie die Möbel knarzen und wie das Haus auf dem Fundament arbeitet. Vereinzelt fernes Bellen. Das fließende Blut pocht in den Ohren. Vater und Mutter bereden sich flüsternd. Plötzlich denke ich an ihren Tod. Der Großvater sagte, daß jeder Mensch sterblich sei. Was mache ich ohne Vater und Mutter?
Schweigend zittere ich und schlucke das Weinen hinunter, um mich nicht zu verraten. Ich halte mich am Saum der schweren Decke fest, unter der ich nur die Nase hervorstecke, damit ich – noch bevor mich der Traum auslöscht –, nicht im dunklen Fluidum der Traurigkeit versinke, mit der ich von Geburt an beschenkt bin.
Sagt man, wenn man stirbt, auch »Gute Nacht"?
[…]
Aus dem Serbischen von Dagmar Vohburger und Dragoslav Dedović
SINN UND FORM 3/2015, S. 405-408
Bredekamp, Horst
Das lange Halbjahrhundert.
Rede zur Eröffnung von Klaus Staecks Berliner Ausstellung, S. 409Frahm, Thomas
Idealismus und Verranntheit.
Vom Übersetzen aus kleinen Sprachen, S. 412Krieger, Hans
Ungarettis Unermeßlichkeit.
Überlegungen zu einem alten Übersetzungsproblem, S. 419Hörner, Wolfgang
Der fliegende Hans.
Nachruf auf Hans Stilett, S. 420Kinsky, Esther
Franz Hessel - Dichter - Übersetzer - Flüchtling, S. 423
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4/2015
Heft 4/2015 enthält:
Jahnn, Hans Henny
Hamburger Ansprache 1946. Mit einer Vorbemerkung von Sandra Hiemer, S. 437Aus den Tiefen der Archive. Eine Vorbemerkung Der Schriftsteller und Orgelbauer Hans Henny Jahnn verbrachte die NS-Jahre auf der dänischen (...)
LeseprobeJahnn, Hans Henny
HAMBURGER ANSPRACHE 1946
Aus den Tiefen der Archive. Eine Vorbemerkung
Der Schriftsteller und Orgelbauer Hans Henny Jahnn verbrachte die NS-Jahre auf der dänischen Ostseeinsel Bornholm. Er war kein Emigrant im eigentlichen Sinne, und doch hatte sein Rückzug vor allem politische Gründe. So ist es nicht verwunderlich, daß er unmittelbar nach Kriegsende wiederholt den Wunsch äußerte, in sein Land zurückzukehren, das er zuletzt 1941 besucht hatte. Im August 1945 schrieb er seiner Schwägerin Sibylle Harms: »Ich möchte allerdings nach Deutschland zurück. Nachdem der Nationalsozialismus beseitigt ist, möchte ich vor niemand etwas voraus haben und ganz zur besiegten Nation gehören.«
Das Leben auf Bornholm, das bis April 1946 von den Sowjets kontrolliert wurde, gestaltete sich für Deutsche immer schwieriger. Jahnn litt unter den Feindseligkeiten seiner Nachbarn. Seine Arbeit als Orgelsachverständiger und Orgelbauer, die er während des Kriegs für die Kopenhagener Orgelbaufirma Frobenius immerhin noch hatte ausüben können, wurde so gut wie unmöglich. Obendrein besaß er keine finanziellen Mittel. Die dänischen Behörden hatten sein Bankkonto gesperrt und sein Vermögen beschlagnahmt. Erst im April 1946 bekam er wieder Zugriff auf sein Geld.
Eine Einreisegenehmigung oder Arbeitserlaubnis von der britischen Militärregierung in seiner Heimatstadt Hamburg erhielt er aber vorerst nicht. Für die Kontrollbehörden war Jahnn nicht eindeutig als politisch Verfolgter einzustufen, da er während der deutschen Okkupation Dänemarks und auch Bornholms Kontakt zur Besatzungsmacht hatte. Schließlich waren das dänische Justizministerium, das Außenministerium und das Finanzministerium mit seinen Angelegenheiten befaßt.
Seine Hamburger Freunde und Weggefährten aus dem kulturellen Leben vor 1933 setzten sich vehement für ihn ein und bemühten sich, den Briten Jahnns Bedeutung klarzumachen und seine Opposition zum Nationalsozialismus zur Geltung zu bringen. Wichtige Fürsprecher waren der Schriftsteller Heinrich Christian Meier, der als Delegierter des Komitees politischer Gefangener im Kulturrat wirkte, und der Journalist Erich Lüth. Beide hatten bereits in den zwanziger Jahren im Kartell Hamburger Künstlerverbände mit ihm zusammengearbeitet.
Lüth war 1946 zum Leiter der Staatlichen Pressestelle ernannt worden. Er veröffentlichte in der Hamburger Freien Presse vom 7. August 1946 einen Brief an Jahnn. Einige Tage später erschien Meiers Artikel über den »Dichter auf der Insel«. Lüth war es auch, der am 2. August an den Präsidenten der Hamburger Bürgerschaft schrieb: »Noch hat Jahnn Schwierigkeiten, die Einreisegenehmigung zu bekommen. Es bedarf wohl eines an ihn ergehenden offiziellen Rufes, um diese Genehmigung über die auf Bornholm sitzenden literarisch verständnislosen englischen Militärstellen zu erwirken.«
Außerdem mobilisierte Jahnn weitere Personen. So setzte sich der Verleger Henry Goverts für ihn ein, indem er an den dänischen Konsul in Hamburg schrieb. Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, zu dem Jahnn wegen seiner landwirtschaftlichen Experimente Kontakt aufgenommen hatte, wandte sich an die Hamburger Behörden. Selbst die vom Hamburger Senat offiziell gebilligte Einladung, im September die Gedächtnisausstellung zum ersten Todestag des Malers Heinrich Stegemann zu eröffnen, führte jedoch nicht zu einer raschen Visumserteilung. Erst im Oktober 1946 erhielt Jahnn die Papiere für einen sechswöchigen Aufenthalt in Deutschland.
Entscheidenden Anteil an der Einreiseerlaubnis der britischen Militärregierung hatte der Beschluß des »Kulturrats der Hansestadt Hamburg«, Jahnn zum Ehrenmitglied zu ernennen. Im Rahmen einer Sitzung am 14. November 1946 im Rathaus sollte die Urkunde überreicht werden. Der Kulturrat war im Herbst 1945 von den britischen Besatzungsbehörden initiiert worden, um den Wiederaufbau und die Entnazifizierung des kulturellen Lebens zu unterstützen. Seine Hauptaufgabe war in den ersten Monaten die Prüfung der politischen Zuverlässigkeit einzelner Personen, erst nach und nach beschäftigte er sich mit kulturpolitischen Fragen. Die Organisation war ein Dachverband für zeitweise über sechzig Verbände und Vereine. Auch der von Jahnns Freunden im Januar 1946 gegründete Bund zur Erneuerung Ugrinos, der an seine 1935 aufgelöste Glaubensgemeinde Ugrino anknüpfen sollte, gehörte dazu.
Ein Bericht im »Hamburger Echo« vom 16. November 1946 ("Kulturrat ehrte in Hamburg verdiente Künstler«) enthält einen Hinweis darauf, daß Jahnn bei der Ernennung eine Rede hielt, auch in seiner umfangreichen Korrespondenz dieses Jahres berichtet er von der Arbeit daran. Das Manuskript galt bisher als verschollen. Im Zuge der Herausgabe von Jahnns Briefen an seine Ehefrau stieß ich überraschend darauf.
Die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg erwarb 2010 für den von ihr verwalteten Jahnn-Nachlaß ein umfangreiches Konvolut mit weitgehend unbekannten Familienkorrespondenzen aus Privatbesitz. Darunter die Briefe Jahnns an seine Frau Ellinor, die wohl zu den unerhörtesten der gesamten Liebesbrief-Literatur gehören. Der Verlag Hoffmann und Campe entschloß sich, eine kleine, sorgfältig kommentierte Auswahl daraus zu veröffentlichen, die 2014 unter dem Titel »Liebe ist Quatsch« von Jan Bürger und mir bearbeitet und herausgegeben wurde.
Alles begann mit der Sichtung der Briefe im Handschriftenlesesaal der Bibliothek. Aufmerken ließ mich ein Satz in einem Brief vom 22. Oktober 1949: »Ich war an einem dieser Tage bei dem Buchhändler Felix Jud.« Für mich war das ein besonderer Moment, denn seit einigen Jahren arbeite ich als Kunsthistorikerin und Buchhändlerin in der Hamburger Buch- und Kunsthandlung Felix Jud. Bis dahin wußte ich nicht, daß sich die beiden je begegnet waren. Da wir den Brief in unsere Auswahl aufnehmen und kommentieren wollten, stellte sich die Frage, ob ein über das Treffen hinausgehender Kontakt bestanden haben könnte.
Parallel dazu sichtete ich das Firmenarchiv der Buchhandlung, um eine Publikation zu ihrer Geschichte vorzubereiten. Und hier fand ich einen weiteren Hinweis: In einem Interview zum 50. Jubiläum der Hamburger Bücherstube, das der damalige Kommunikationschef des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Alexander U. Martens, 1973 mit Felix Jud geführt hatte, berichtet dieser von seinem Wirken in der unmittelbaren Nachkriegszeit: »Ich wurde Präsident des Kulturrats, der Vereinigung aller kulturschaffenden Verbände und Institutionen, und hatte so ziemlich alle Ehrenämter, die man überhaupt haben konnte. Und dann galt es, guten Freunden wie John Jahr, Axel Springer und Ernst Rowohlt die ersten Nachkriegslizenzen zu ergattern.« (Jud bleibt Jud. Ein Gespräch mit Felix Jud aus Anlaß seines Doppeljubiläums. Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, Nr. 92, 20. November 1973)
Juds Funktion im Kulturrat war mir nicht bekannt gewesen, und nun fragte ich mich, ob er daran beteiligt war, Jahnn nach Hamburg zurückzuholen. Von der Entscheidung erfuhr Jahnn durch einen Brief des Geschäftsführers des Kulturrats Hermann Lobbes vom 22. August 1946: »Wenige wären berufen wie Sie, durch Rat und Tat an der Neuerweckung des deutschen Kulturlebens mitzuwirken und kaum ein Anderer derjenigen, die während der letzten 13 Jahre sich genötigt sahen, in innere oder äußere Emigration zu gehen, wäre im Hinblick auf seine innige, nie abgerissene Verbundenheit mit unserer Stadt und aus intimster Kenntnis der Besonderheit ihrer eigenständigen Entwicklung besser geeignet als Sie, den ortsbedingten Ansprüchen ihrer kulturellen Struktur bei der Neubildung des künstlerischen Lebens Rechnung zu tragen. (…) Der Kulturrat hofft, daß Sie sich dazu verstehen diesen Ruf anzunehmen, und daß Sie recht bald die Möglichkeit erhalten werden, in einer feierlichen Plenarsitzung des Kulturrats das Wort zu drängenden Problemen der deutschen Kulturpolitik zu nehmen.«
Am 29. Oktober 1946 antwortete Jahnn: »Seitdem ich Ihren Brief in Händen halte, sind manche grauen Spinnweben von meinem allmählich sehr einsamen Dasein in Dänemark weggewischt worden. (…) Mehrmals habe ich versucht, mein Bewegtsein, meine Dankbarkeit auszudrücken, daß man meiner in meiner Vaterstadt gedacht hat und mich in das Ehrenpräsidium des Kulturrates berufen hat. Meine Ungeschicklichkeit, meine Faulheit und die plötzliche Turbulenz meiner Tage zeitigten nur ein paar Entwürfe, deren Dummheit darin bestand, daß sie sich, aus wahrscheinlich nichtigen Ursachen, nicht vollendeten. Heute indessen, da meine Reise nach Deutschland feststeht, wo ich ein Wiedersehen mit der geliebten heiligen Stadt Hamburg (mag sie auch zerstört sein, mag ich selbst sie oft – und vielleicht sogar mit Recht – beschimpft haben) ahnend empfinde, will ich wenigstens mein Ja niederschreiben und mit ein paar Zeilen das Vertrauen, das man mir schenkt, damit entgelten, daß ich verspreche, für meine enge und weitere Heimat das Pfund, das mir als Erbteil gegeben ist, nützlich anzuwenden.«
Schon mehrmals seit Erhalt der Einladung hatte Jahnn die Sache in seiner Korrespondenz erwähnt. So schreibt er an seinen Freund Ludwig Voß am 12. September: »Du wirst inzwischen auch wohl erfahren haben, daß mich der Kulturrat zu seinem Ehrenpräsidenten berufen hat, und daß ich aus diesem Anlaß in Hamburg zu Fragen der deutschen Kulturpolitik sprechen werde.« Und am 25. Oktober heißt es: »Möglicherweise gelingen mir auch meine Vorträge, so daß ihr Inhalt klar hervortritt. Endlich gibt es vielerlei Geschäftliches zu regeln.«
An Heinrich Christian Meier schreibt Jahnn am selben Tag: »Wenn auch der Inhalt von drei Vorträgen, die ich zu halten gedenke, festliegt, so habe ich sie noch nicht ausformen und in die Maschine bringen können. Freilich gibt es für diese Unterlassung auch eine sehr zu billigende Hemmung: ich möchte die Trümmer gesehen haben, einen Teil davon, um die Kraft des Unmittelbaren mitzubekommen. Einschließlich meines Orgelvortrages dürften vier grundverschiedene Reden herauskommen, die, wenn sie gelingen (was ich also noch nicht weiß), [man] in einem kleinen Buch zusammenfassen könnte. (Nur wenn sie es verdienen.)"
Die Briefe belegen also Jahnns Arbeit an einer Rede zur offiziellen Ernennung. Die Formulierung im ersten Brief an Voß, er sei »Ehrenpräsident« geworden, zeigt, daß er noch unsicher mit dem Titel war. Einen Ehrenpräsidenten gab es nicht. Jahnn wurde, wie der Komponist Fritz Jöde, der Maler Karl Hofer, der Bildhauer Gerhard Marcks und der Intendant Erich Ziegel, ins »Ehrenpräsidium« berufen. In der Geschichte des Kulturrats ein einmaliger Vorgang, denn für Einzelpersonen war eine Mitgliedschaft nicht vorgesehen, und bis zur Auflösung des Kulturrats 1949 wurden keine weiteren Personen in dieser Form geehrt. Welche Gründe dafür ausschlaggebend waren, ist bisher nicht untersucht worden.
Erst nach dem Hinweis auf die Funktion von Felix Jud im Kulturrat betrachtete ich erneut und eingehender das im Jahnn-Nachlaß befindliche und dem Briefwerk zugeordnete Konvolut »Kulturrat«. Tatsächlich fand ich nun neben der Korrespondenz mit Lobbes seinen auf den 14. November 1946 datierten Mitgliedsausweis, der von Jahnn und dem Vorsitzenden unterzeichnet war. Der schwer lesbaren Unterschrift des letzteren hatte ich bei unserer Durchsicht für die 1994 erschienene Briefausgabe keine Bedeutung beigemessen. Nun allerdings, da ich das Firmenarchiv sichtete, konnte ich sie identifizieren: Es ist die von Felix Jud! Des weiteren befindet sich im Konvolut das Protokoll der »9. Vollversammlung des Kulturrates am 16. Januar 1947, 16 Uhr im Phönixsaal des Rathauses «. Das Protokoll vermerkt eine Rede des neuen Kultursenators Ludwig Hartenfels und Juds detaillierten Jahresbericht über die bisherige Tätigkeit des Kulturrats, in dem es heißt: »Hans Henny Jahnn, der 1933 aus Deutschland emigrierte Hamburger, hielt anläßlich seines Besuches in seiner alten Vaterstadt eine bemerkenswerte Ansprache vor den Mitgliedern des Kulturrates, deren Wortlaut heute vervielfältigt vor Ihnen liegt.«
Es mußte also ein Manuskript der Ansprache gegeben haben. In Jahnns Nachlaß fand es sich allerdings nicht. Die darin verwahrten und auf 1946 datierbaren Redeentwürfe können erst im Anschluß an seine Rundreise durch Deutschland entstanden sein, da er in ihnen auf seine Reiseerlebnisse Bezug nimmt. Ein Problem bei meinen Recherchen zum Kulturrat bestand darin, dessen Archiv überhaupt ausfindig zu machen. Eine Darstellung seiner Geschichte liegt bislang nicht vor. So folgte ich einem Hinweis in Nikolaus Tillings Untersuchung zum literarischen Leben der Nachkriegszeit auf einen Zusammenhang zwischen Kulturrat und Staatlicher Pressestelle und stieß im Hamburger Staatsarchiv auf eine Akte »Kulturrat (Entnazifizierung)« aus dem Bestand der Kulturbehörde sowie auf eine Akte »Schriftsteller und Dichter« aus dem Bestand der Staatlichen Pressestelle. In dieser findet sich ein nicht durchgängig chronologisch abgelegtes Konvolut zu Hans Henny Jahnn. Es enthält mehrere Briefe Jahnns an Lüth und den damaligen Bürgermeister Max Brauer sowie Lüths Korrespondenz mit Dritten über Jahnns Anliegen. In einem unveröffentlichten Brief vom 12. Dezember 1946 an Lüth bezieht sich Jahnn auf eine gemeinsame Unterredung am Vortag. Es folgen die drei Blätter der ersten Ansprache. Wahrscheinlich wurde das Typoskript als Anlage versendet, worauf Jahnn in seinem Brief allerdings nicht eingeht. So bleibt unklar, ob er selbst oder einer der zahlreichen Freunde, die ihn in Hamburg unterstützten, es in den Briefumschlag gesteckt hat. Desgleichen, wann, wo und von wem das Typoskript angefertigt wurde. Häufig besorgte Jahnn die maschinelle Abschrift seiner stets handgeschriebenen Texte nicht selbst, sondern betraute Familienmitglieder und Freunde damit. Auf der Fotografie, die seinen Auftritt dokumentiert, ist nicht zu erkennen, ob es sich bei den vor ihm liegenden Papieren um die Typoskriptfassung handelt. Handschriftliche Notizen sind jedenfalls nicht überliefert. Vermittelt durch Heinrich Christian Meier wohnte Jahnn während seines Aufenthalts im Hotel Winterhuder Fährhaus, dessen Inhaber Otto Friedrich Behnke ihm sein Büro zur Verfügung stellte, so daß er dort eine Schreibmaschine benutzt haben könnte. Da er Hamburg wenige Tage nach der Veranstaltung wieder verließ, um Freunde und Verwandte zu besuchen, ist allerdings auch denkbar, daß diese Fassung während der Reise entstand, denn der Brief an Lüth mit dem beigefügten Typoskript wurde erst nach Jahnns Rückkehr am 12. Dezember geschrieben.
Ebenso wie die Rede ist auch die Fotografie als echtes Fundstück zu bezeichnen. Sie war bisher nicht mit dem Hamburger Kulturrat in Verbindung gebracht worden, weil sie im Deutschen Literaturarchiv Marbach auf 1948 datiert und mit dem Vermerk »PEN-Club« archiviert wurde. Im Katalog zur 1995 gezeigten Marbacher Ausstellung »Konstellationen. Literatur um 1955« wurde sie erstmals publiziert. Jan Bürger, der die Fotografie entdeckte, vermutete auf Grund des Gemäldes an der Wand hinter dem Redner, welches den großen Brand von 1842 zu zeigen scheint, daß die Versammlung im Hamburger Rathaus stattgefunden haben könnte. Tatsächlich habe ich bei meiner Recherche herausgefunden, daß es sich um eine Darstellung der brennenden Katharinenkirche während der Operation Gomorrha 1943 handelt.
Die sitzende Person links neben Jahnn konnten wir als Felix Jud identifizieren, der niemals Mitglied im PEN-Club gewesen ist. Die Aufnahme, so die einzig mögliche Schlußfolgerung, muß während der Plenarsitzung des Kulturrats am 14. November 1946 entstanden sein, die nachweislich im Phönixsaal stattfand, der den Hamburger Feuerkatastrophen gewidmet ist. Höchstwahrscheinlich ist sie das einzige Bilddokument von Jahnns erstem Auftritt und Aufenthalt in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine kritische Kommentierung dieses bedeutsamen historischen und biographischen Dokuments muß an anderer Stelle erfolgen. Hier ging es zunächst einmal darum, vom Finderglück in den Tiefen der Archive zu berichten.
Sandra Hiemer
SINN UND FORM 4/2015, S.437-447, hier S.437-441
Combe, Sonia
Die Leerstelle. Über Erinnerungen und Polizeiakten, S. 440Wedde, Ian
Der Rettungsschwimmer, S. 448Horn, Eva
Air Conditioning. Die Zähmung des Klimas als Projekt der Moderne, S. 455Ankunft in Changi Airport, Singapur. Ich betrete eine luxuriöse Teppichlandschaft mit großen Orchideeninseln, kühl und geordnet, die Abfertigung (...)
LeseprobeHorn, Eva
AIR CONDITIONING Die Zähmung des Klimas als Projekt der Moderne
Ankunft in Changi Airport, Singapur. Ich betrete eine luxuriöse Teppichlandschaft mit großen Orchideeninseln, kühl und geordnet, die Abfertigung verläuft zügig. Dann öffnen sich die Glastüren nach draußen. Es sind nur ein paar hundert Meter bis zum Taxistand. Ich trete in etwas ein, das nicht Luft, sondern ein kompaktes Medium zu sein scheint. Etwas, das sich zwar atmen läßt, aber meinen Körper wie eine Art Gelee umschließt. Durch diese feucht-heiße Dichte zerre ich mein Gepäck, ungeduldig, eilig, zunehmend kurzatmig und mit pochendem Schädel. Ich schwitze und werde innerhalb von Minuten schlapp und dumpf, der Kopf dröhnt, Finger und Gesicht sind geschwollen. Als ich mich schließlich ins klimatisierte Taxi fallenlasse, schnappe ich nach Luft und genieße einen Moment lang die trockene Kälte auf meinem nassen Körper. Erst dampfe ich noch die angestaute Hitze aus, dann wird die Haut im kalten Luftstrom schnell ungesund klamm. Eben noch einem Hitzekollaps entronnen, krame ich jetzt mit kühl-feuchten Gliedern benommen nach einer Jacke.
In dieser frösteligen Luft, mindestens 10 Grad Celsius unter der Außentemperatur, so weiß ich einige Wochen später, verbringt man heute in tropischen Städten den Großteil seiner Zeit. Nutzt man das Geflecht der U-Bahn-Schächte und Shopping-Malls, kann man Singapur, wo das ganze Jahr um die 30 Grad Celsius und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit herrschen, weitgehend in klimatisierten Zonen durchqueren. Ist man doch einmal »draußen«, muß man lernen, was jeder Bewohner Singapurs, so eilig er seinen Geschäften nachgehen mag, verinnerlicht hat: Schatten suchen, Mittagszeit vermeiden, nicht zuviel essen – und vor allem: sich langsam bewegen. Aber den Rest der Zeit verbringt man in Klimakapseln bei knapp 20 Grad und künstlich getrockneter Luft, immer eher zu kühl als zu warm. Und dort kann man sich genauso hektisch bewegen, wie man es aus den Arbeitswelten von Berlin, London oder New York gewohnt ist.
Der Aufstieg dieser Stadt in drückend warmem Klima zu einem der wichtigsten Wirtschaftszentren Südostasiens wäre nicht denkbar ohne eine Technologie, die es erst seit weniger als hundert Jahren gibt: Air conditioning. Nicht zufällig nannte der Singapurer Publizistik-Professor Cherian George seine Heimatstadt die »Air Conditioned Nation«, und natürlich gilt das gleiche für etliche andere Metropolen wie Dubai, Shanghai, Bangkok, Mumbai oder die sich mit Rentnern füllenden Großstädte des amerikanischen Sun Belt von Florida bis Kalifornien. Dabei wurde Air conditioning Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst nicht zur Erhöhung des menschlichen Komforts entwickelt. Die ersten Klimaanlagen dienten hitze- und feuchtigkeitsempfindlichen Produktionsprozessen, wie Druckverfahren oder Fleischverarbeitung. In den zwanziger Jahren zog die Klimaanlage in die amerikanischen Kinos und Kaufhäuser ein, die in der erstickenden Sommerhitze unter starkem Kundenschwund litten. Seit den fünfziger Jahren erobert die Klimatechnik von den USA aus die Privathaushalte und Großraumbüros der ganzen Welt. In Singapur geht über die Hälfte aller verbrauchten Energie in Kühlanlagen. In den USA haben nur noch fünf Prozent der neueren Bauten keine zentrale A/C. Indien und China sind explodierende Wachstumsmärkte für Klimatechnologie, und selbst in Mitteleuropa gibt es praktisch keine neueren Hochhäuser mehr, die keine Klimaanlage besäßen. Stan Cox, der ein Buch über den Siegeszug des Air conditioning in den USA geschrieben hat ("Losing our Cool«, 2012), schätzt, daß heute eine Trillion Kilowattstunden Strom jährlich für Kühlung verbraucht werden. Niederländische Forscher erwarten gar eine Verzehnfachung dieses Verbrauchs bis 2050. Auch in Deutschland boomt der Einbau von Klimaanlagen nicht nur in öffentlichen Gebäuden wie Krankenhäusern; seit den Hitzewellen von 2003, 2006, 2010 und 2013 werden sie auch zunehmend in Privathäusern installiert.
Air conditioning erfüllt einen der ältesten Menschheitsträume: eine Welt ohne Hitze oder Kälte, ohne Regen, Schnee oder Schwüle, ohne Staub und Wind. Die künstliche Klimatisierung erzeugt einen Raum ohne Wetter und ohne Temperaturextreme, eine Sphäre ohne meteorologische Überraschungen und saisonale Rhythmen. Sie temperiert einen Raum gemäß der immer schmaler werdenden menschlichen Komfortzone. »Gerade richtig«, wie es im englischen Märchen von »Goldilocks« heißt, weder zu warm noch zu kalt, weder zu naß noch zu trocken. Natürlich heißt das nicht notwendig Kühlung. Menschheitsgeschichtlich bedeutete das Projekt einer Temperierung der Umgebung zunächst, sich schützende Behausungen zu suchen oder zu bauen, eher Kapseln der Wärme als der Kühle. »Insulation« nennt das Peter Sloterdijk und sieht darin die grundlegende Geste eines menschlichen In-der-Welt-Seins, das sich lebbare »Sphären« schafft, in denen es vor feindlichen oder unangenehmen Einflüssen geschützt ist. Kleidung wird hergestellt, um ein wärmendes Mikroklima um die Haut zu legen. Steinhäuser erzeugen eine Modulation des Wohnklimas, indem sie sommers kühlen und winters Wärme speichern. Mit dem Übergang zum Ackerbau beginnt der Mensch schließlich, auch die ihn umgebenden Landschaften zu verändern. Er bewässert Felder, rodet Wälder oder legt Feuchtgebiete trocken, um darin wohnen, Pflanzen anbauen und Vieh halten zu können. Aus nassen Wäldern werden Steppen und Felder, aus Schwemmgebieten fruchtbares Ackerland, mit Folgen für deren Klima. Schon Johann Gottfried Herder bestimmte 1784 den Beginn jeder Kultur als Modulation des Klimas durch den Menschen: »Nun ist keine Frage, daß, wie das Klima ein Inbegriff von Kräften und Einflüssen ist, zu dem die Pflanze wie das Tier beiträgt und der allen Lebendigen in einem wechselseitigen Zusammenhange dienet, der Mensch auch darin zum Herrn der Erde gesetzt sei, daß er es durch Kunst ändre. Seitdem er das Feuer vom Himmel stahl und seine Faust das Eisen lenkte, seitdem er Tiere und seine Mitbrüder selbst zusammenzwang und sie sowohl als die Pflanze zu seinem Dienst erzog, hat er auf mancherlei Weise zur Veränderung desselben mitgewirkt. Europa war vormals ein feuchter Wald, und andre jetzt kultivierte Gegenden waren’s nicht minder: es ist gelichtet, und mit dem Klima haben sich die Einwohner selbst geändert.« (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit II, Buch 7)
Nicht nur prägt das Klima den Menschen, sondern er ändert sich selbst, indem er das Klima ändert und seinen Lebensformen anpaßt. Was sagt Air conditioning über uns? Der Mensch schafft sich seine Welt, indem er für sich komfortable Atmosphären schafft. So beginnt das Anthropozän – jene Epoche, in der der Mensch seinen unauslöschlichen Abdruck in den geologischen Schichten der Erde hinterlassen hat – vielleicht nicht erst, wie Paul Crutzen vorgeschlagen hat, mit der industriellen Revolution, die um 1800 durch die Dampfmaschine ihren Aufschwung nahm. Seit ihrer Seßhaftwerdung nach der Eiszeit ändern Menschen Landschaften und ihr jeweiliges Mikroklima durch Kulturtechniken. Zivilisation beginnt als Herstellung einer dem Menschen zunehmend angepaßten, von ihm bearbeiteten und genutzten Natur. Klima-Kontrolle ist damit nicht ein Produkt der Komfortgesellschaft des 20. Jahrhunderts, sondern Kern des zivilisatorischen Projekts, sich von den Fährnissen der Natur zu befreien, gerade da, wo sie sich uns nicht als greif- und gestaltbares Ding, sondern als flüchtige Atmosphäre zeigt. Diese Atmosphäre umfängt und durchdringt uns unausweichlich. Die Überraschungen des Wetters und der unerbittliche Gang der Jahreszeiten sind seit alters her Inbegriff dessen, was der Mensch weder planen noch beeinflussen kann. Das Wetter ist eine Bühne der Götter und ihrer Launen, das Klima eine Kraft, die Körper und Geist der Menschen prägt. Oder wie Herder schön wortspielerisch formulierte: »das Klima neigt«. Hitze neigt uns zur Schlaffheit, Kälte zur Bewegung. Schon Hippokrates wußte um den starken Einfluß klimatischer Faktoren auf Körper und Geist, auf Lebensweise und Krankheiten an einem gegebenen Ort: die Winde, die dort wehen, Böden, Wasserquellen, Temperaturen, ungute Dämpfe oder Feuchtigkeit, die Bedeutung der Jahreszeiten. Wer die Wirkungen des Klimas nicht kennt, versteht weder die Prozesse des menschlichen Körpers noch die Eigenheiten und Unterschiede zwischen den Gesellschaftsformen in verschiedenen Klimazonen. So gesehen ist Klima das, was einen Ort von anderen unterscheidet und die Eigenart der Menschen wie ihre Lebensform an einem gegebenen Ort bestimmt. Der Rechtsphilosoph Montesquieu dachte diesen Gedanken im 18. Jahrhundert weiter, als er die Gesetze und sozialen Institutionen der verschiedenen Zivilisationen auf das Klima bezog, in dem sie angesiedelt waren ("Vom Geist der Gesetze«, 1748, XIV. Buch). Hitze, so meinte er, mache den Körper schlaff und den Geist feig und träge, rege aber auch die Phantasie und erotische Begierden an. Kälte dagegen mache straff, stark, kühn, gesetzestreu und phantasielos, aber auch relativ unempfindlich gegen sinnliche Reize. Also brauchten Völker heißer Zonen andere Gesetze und Regierungsformen als die Bewohner kalter Zonen. Institutionen wie Polygamie, Sklaverei oder Despotie im hitzedurchwirkten Orient, die kältegewöhnte Europäer meist höchst befremdlich finden, verstand Montesquieu als Reaktionen auf das heiße Klima. Eine Erfindung wie die romantische Liebe begriff er als ein Mittel, die erotisch unlustigen Nordeuropäer doch noch zur Fortpflanzung anzuregen.
[...]
SINN UND FORM 4/2015, S.455-462, hier S.455-458
Piglia, Ricardo
Ein Fisch im Eis, S. 463Grünbein, Durs
Artischocken. Gedichte, S. 475Zapperi, Roberto
Goethe als Geschichtsschreiber von Florenz, S. 481Jaccottet, Philippe
Und dennoch, S. 490Stoessel, Marleen
Der siebte Sinn oder die Zwölf ist ein Löwe. Erfahrungen mit Synästhesie, S. 497Synästhesie – ein Wort so luftig wie ein seidenes Gewebe, rötlich schimmernd, Y und I sticken etwas Gold und Gelb hinein. Ein schönes, (...)
LeseprobeStoessel, Marleen
DER SIEBTE SINN ODER DIE ZWÖLF IST EIN LÖWE Erfahrungen mit Synästhesie
Synästhesie – ein Wort so luftig wie ein seidenes Gewebe, rötlich schimmernd, Y und I sticken etwas Gold und Gelb hinein. Ein schönes, rhythmisch ausschwingendes Wort – selbst das Ä, meinen Ohren empfindlich, fügt sich mit einem bläulich-lila Streif harmonisch in das zarte Klanggebilde ein. Alle Vorsilben mit Syn oder Sym haben diese gelbrot-goldene Tönung. Eingedunkelt und kompakt gerundet erscheint sie in dem Wort Symbol. Härtere Kontur wiederum gewinnt die Silbe in Symmetrie, wo dem Wort nichts Gewebeartiges mehr eigen ist – auch der Goldton des Y hat sich im Doppel-M seiner Mitte förmlich eingedickt zu einem Braun-Orange, bevor die Wortform im anlautenden grünstichigen Tr der dritten, jetzt hart-gelben Silbe sich scharf abgrenzt, konturiert und dann auflöst.
Silben, Wörter, Namen, Buchstaben sind seit je Farb- und Klangereignisse für mich, manchmal stofflich fühlbar in Form, Haut, Textur und Gestalt. Ebenso Wochentage, Monatsnamen, Jahreszeiten sowie Zahlen und ihre Einheiten, die Jahrhunderte oder Dekaden. Und immer Stimmen, Instrumente, manchmal auch Töne, einzelne Phrasen, Intervalle oder der Nachhall eines Musikstücks, bevor der Applaus das Klangbild zerbricht. Auch der Geschmackssinn ist betroffen: Nahrungsmittel, Getränke und Gerüche lösen stets mehr oder weniger starke Farb- und Formvorstellungen auf meiner inneren Leinwand aus, auch sie oft von stofflich-taktiler Qualität.
Wie wunderbar ein Rotwein, in dessen samtener Tiefe die Zunge den zarten rötlichen Reflexen nachzuspüren vermag. Sind diese Reflexe zu groß, zu hell und zu grell, hat der Wein die gewünschte Fülle und Reinheit nicht. Die Geschmacksknospen verschließen sich, die Blume des Weins verwelkt, ehe sie blühen konnte. Und wie das Kosten und Schmecken ist natürlich auch das Kochen ein synästhetisches Geschehen, ein Komponieren mit Farben und Aromen, wobei das klangschöne aschblaue Wort Aroma ja alles einschließt: Geschmack und Würze und Duft.
Schwingung – das ist das Zauberwort, das »Sesam, öffne dich!« zur synästhetischen Erfahrung, welches den phantastischen Schatz aufschließt, der aus dem »Mitempfinden«, dem Zusammenfall, Zusammenklang verschiedener Sinne, ihrem Miteinanderschwingen geboren wird. Ein Schatz voller Poesie, eine eigene Welt voller Reichtümer, die keiner Drogen bedarf. Diese ererbte Gabe ist ein Geschenk, das mir lange Zeit nicht bewußt, sondern selbstverständlicher Begleiter jeglicher Wahrnehmung war.
*
Nehmen wir die Zahlen. Natürlich sind das Wesen, Wesenheiten, kleinere oder größere »Persönlichkeiten« mit Farben und Charakter, mir mal mehr, mal minder sympathisch. Sie sind Realien, Realitäten, keine Abstraktionen – weshalb mir der alte philosophische Universalienstreit immer unverständlich blieb. Wie die Buchstaben, so sind auch die Zahlen ein Kosmos für sich, und manche teilen miteinander einzelne Farben und Tonwerte. Die 1 ist eine anthrazitfarbene, leicht aufgerauhte, aufrechte Gestalt, schmucklos und sehr ernst, als spüre sie die Verantwortung als Anführerin der ihr folgenden Zahlenherde. Die 2, von sanftem Ocker mit einem Schimmer Rosé darin, schwimmt versonnen dahin wie eine Ente. Die 3 ist lilienfarben, sehr rein, sehr heilig, sonntäglich. Obwohl der Duft von Lilien mir Atemnot bereitet, wirkt in der 3 nur ihr milde strahlendes Blütenweiß. Die 4 – eine wichtige Lebens- und lange meine Lieblingszahl – ist tief blau, veilchenblau. Zum Quadrat gefügt, präsentiert sie sich in akkurat rechtwinklig stählernem Schwarzblau. Im lebendigen Geschwisterquartett wiederum, lockerer gefügt als im strengen Quadrat (drei Brüder, als vierte ich), leuchtet sie in ihrem tiefen, dunklen Brüderblau.
Übergehen wir die freundliche strumpffarbene 5, die wie ein behaglicher Wollsocken ist, sowie die silbrige, immer auf Erfolg und Gewinn ausgerichtete 6 und kommen zu meiner absoluten Lieblingszahl, der 7. Wann sie die 4 ausgestochen hat oder ob sie schon immer, wie ich vermute, neben ihr herlief, weiß ich nicht. Die 7 ist grün. Wiesengrün. Paradiesisch grün. Metaphysisch grün. Sie läßt sich, trifft man nur den Zauberton, wunderbar mit dem dunklen Blau kombinieren. Auch wenn es mir eine Weile so schien, 4 und 7, Dunkelblau und Wiesengrün, konkurrieren nicht, so wenig wie die Veilchen mit der Wiese, in deren feuchten Gründen sie ihrer Entdeckung harren. Vom vierblättrigen Kleeblatt, dessen geheime Winkel Kinderwissen sind, zu schweigen.
Natürlich gibt es noch mehr Lieblingszahlen, die es auch nur sein können, weil einige andere es nicht sind. So habe ich ein schwieriges Verhältnis zur 8. Sie ist magentafarben – eine Farbe, die, zu grellem Pink gesteigert, mir ein wirkliches Ärgernis ist. Sie beleidigt die Sinne, tut mehr als nur den Augen weh. Die 8 als solche aber bewahrt ohne derartige Steigerung eine gewisse Zurückhaltung, ihr blauroter Mischton hält auf Abstand, nie weiß ich, ob sie mir wohlwill oder nicht. In ihrer Doppelung, sprich 88, oder in weiterer Vervielfachung intensiviert sich die Farbe, und je dunkler, desto angenehmer, ja vornehmer wird sie. Die 9 ist ebenso faszinierend wie unheimlich. Fast schwarz, ist sie die Todeszahl.
Tod und Vollendung. Schwarze Verhüllung. Transzendenz. Ein Rest von Blau wirkt noch darin. Daher die Faszination. In der 19 aber hat sie alles Transzendente verloren, hier erscheint sie nur noch negativ. Diesseitig, ohne jeden Farbenhof, unansehnlich in ihrem abgeschabten stumpfen Schwarz, erinnert mich die Zahl an die physische Seite des Todes. Auch als Primzahl, durch nichts als sich selber teilbar, vermag die 19 ihr Ansehen nicht zu verbessern. An jedem 19. August erlebe ich überdies atmosphärisch, an Licht und Geruch den Übergang zum Herbst, noch ehe ich mir des Datums bewußt geworden bin. Ein Abschied. Die 10 wiederum trägt einen mittelgrauen Anzug, kleines Karo, ein Bürotyp, korrekt, freundlich-beflissen, ein bißchen langweilig. Immerhin hat er, sprich sie, die Null im Gepäck, die nicht zu unterschätzen ist. In ihrer Tarnkleidung ist die 10, Begründerin des Dezimalsystems, wichtiger, als sie erscheint. Keine Dekade, kaum eine Maßeinheit ohne sie. Die 11 indessen ist sehr geheimnisvoll: ein hauchdünnes weißgraues Gespinst, an dem die Elfen und Feen, die Nebel, Gespenster und Geister weben. Märchenhaft. Ich mag sie gern. Mit dem Karneval hat sie in meinen Augen nichts zu tun – das wäre viel eher Sache der schrägen, spottlustigen 13.
Die 12 ist eine weitere Lieblingszahl, mit einer weiteren Lieblingsfarbe: dem Goldbraunbronzeton. Die ocker-roséfarbene 2 hat sich hier gewissermaßen vergoldet, vergrößert, gewölbt und gerundet – statt des schwimmenden Entleins lagert hier majestätisch: ein Löwe! Zugleich ist bei der 12, mehr als bei den anderen Zahlen, der Unterschied wichtig, ob sie sich als Ziffer oder als Wort präsentiert. Im Klang sind beide gleich, als Ziffer jedoch erscheint mir die 12 nur goldbraun, wie ein schön gebackenes Brötchen. Als ausgeschriebenes Wort aber ist die Zwölf der Löwe: dahingelagert mit seinem schweren Rumpf und dem mächtigen Kopf mit der Mähne, der sich um den Wortleib schmiegende Schweif mit der krausen Quaste läuft sinnfällig aus im grau-lila Buchstaben F. Zwölf: ein hoch sich wölbendes und zugleich in sich ruhendes Wort. Goldbraun, mähnen stolz, majestätisch – von löwenhafter Evidenz.
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SINN UND FORM 4/2015, S.497-508, hier S.497-499
Killert, Gabriele Helen
Gieriger Mund, gieriges Brot, S. 509Stückemann, Frank
Ein britischer Verlaine. Der Dichter Ernest Dowson, S. 512Dowson, Ernest
Bleiches Bernsteinlicht, S. 521Hensel, Kerstin
Der hochgelehrte Kauz. Begegnung mit Karl Mickel, S. 526Damm, Sigrid
Gerettete Lebenstage sind Schreibtage. Erinnerungen an Eva und Erwin Strittmatter, S. 534Titze, Marion
Der Geschmack der Liebe. Für Christoph Meckel, S. 555Roth, Patrick
Wie zu lesen sei oder Begegnung mit Herrn K., S. 557Hartwig, Ina
Berenbergs Zeitkapsel, Hinkes Sternstunde. Laudatio zum Kurt Wolff Preis, S. 559Völker, Klaus
Mitgefühl, aber keine Einfühlung. Nachruf auf Gert Voss, S. 565Grass, Günter
Was der Mann geleistet hat. Über Alfred Döblin, S. 567
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5/2015
Heft 5/2015 enthält:
Eich, Günter
Das Wolburg-Fragment (1945).
Mit einer Vorbemerkung von Axel Vieregg, S. 581Vorbemerkung Am 25. April 1946 schrieb Günter Eich an Karl Krolow, der ihn anscheinend um einen Prosa-Beitrag für ein »eigenes (...)
LeseprobeEich, Günter
Das Wolburg-Fragment (1945). Mit einer Vorbemerkung von Axel Vieregg
Vorbemerkung
Am 25. April 1946 schrieb Günter Eich an Karl Krolow, der ihn anscheinend um einen Prosa-Beitrag für ein »eigenes Zeitschriften-Projekt« gebeten hatte: »Ansonsten hätte ich noch einen Dramenakt aus einem aufgegebenen Stück. Schreiben Sie mir, ob es überhaupt in Frage kommt, dann würde ich es überarbeiten. (Es ist eine erste Niederschrift. Prosa. Zeithintergrund: Inflation.)« Zur Veröffentlichung und damit Überarbeitung kam es nicht. Auch wurde das Fragment, dessen Bedeutung von den Herausgebern damals nicht erkannt worden war, wie einige andere Texte auch, weder in die erste Ausgabe von Eichs Gesammelten Werken (1973) noch in die revidierte Ausgabe von 1991 aufgenommen und geriet so in Vergessenheit.
Erst beim Wiederlesen, nach der auf die Neuausgabe folgenden Debatte um Eichs Leben 1933–1945, erschloß sich mir der Stellenwert des Textes: als Wendepunkt und Neubeginn von Eichs Schaffen in der Stunde Null, die hier tatsächlich als solche erfaßt und faßbar wird. Es ist nach Eichs berühmtem und höchst konkretem Gedicht »Inventur« aus demselben Jahr eine Inventur auf einer anderen, parabelhaften Ebene: Wo war ich? Wo stehe ich? Wo will ich hin? Daß er diese Selbstbefragung auf den schwankenden Boden der Inflationszeit verlegt, ist eben jenem Schweigegebot geschuldet, das der Text zum Thema hat: Von der Gegenwart des Jahres 1945 zu sprechen und damit die »dunkle« Vergangenheit des Protagonisten als die eigene offenzulegen, war Eich nicht möglich. Wie er überhaupt sein Privatleben weitgehend abschirmte und Fragen zum Biographischen als irrelevant zurückwies. Wieviel mehr galt das für eine Zeit, in der schmerzende, wohl auch peinliche Erinnerungen frisch und die Berührungsängste groß waren – hinter der Zurückhaltung steckte auch Rücksichtnahme, wie sich zeigen wird. Dazu kommt, daß in den ersten Nachkriegsjahren eine Druckgenehmigung seitens der Alliierten nur mit dem berüchtigten »Persilschein« möglich war, in dem manches ungesagt bleiben bzw. beschönigt werden mußte. Es war Hermann Kasack, der Eich die Gefälligkeit erwies. Das Schweigen – Beschweigen und Verschweigen – wurde dann zu einem Grundkonsens der frühen Bundesrepublik.
Selbstbefragung und Schweigegebot wurden von Eich noch ein weiteres Mal zum Thema gemacht, und zwar in dem Hörspiel »Die gekaufte Prüfung« von 1950, von dem noch zu sprechen sein wird. Wieder ist der Boden, auch der moralische, schwankend. Nun sind es die Schwarzmarktjahre, und die Hauptfigur heißt noch einmal Wolburg. Eich hatte den Namen mit Bedacht gewählt: er erscheint unter seinen Vorfahren. In dem hier erstmals abgedruckten, im Manuskript unbetitelten Fragment geht es um einen Mann, dessen Vergangenheit ihn ins Gefängnis bringen könnte und der daher seine Identität aufgeben und, als vermeintlich »verlorener Sohn«, in die Haut eines anderen schlüpfen muß. Er »schämt sich« zwar seiner Lüge und / oder seiner Vergangenheit, will aber sein Möglichstes tun, um dem hehren Bild zu entsprechen, das »Vater« Fahrwasser und »Schwester« Anna von ihm haben. Er will diejenigen, die ihn »Sohn und Bruder nennen, nicht enttäuschen«. Dieser Satz wurde auf dem letzten Blatt des Manuskripts zwischen den Zeilen eingefügt. Er meint das Entscheidende: den Vorsatz, einen Neuanfang zu machen, den Versuch einer Rehabilitierung. Mit der Unterschrift, die »Wolburg« am Ende leistet, zieht er einen Schlußstrich unter seine frühere Existenz. Seine Zukunft gründet er damit allerdings auf eine Lüge, denn er weiß: »Ich kann nicht mehr zurück.«
Eichs Plan war wohl, wie die Notizen zu weiteren Akten zeigen, daß Wolburg am Ende die Wahrheit zugeben und damit zu seiner Vergangenheit stehen muß, er aber dann soweit geläutert und in »seiner« Familie angekommen ist, daß ihm verziehen wird. Die autobiographischen Züge sind nicht zu übersehen: In einer Art Wunschbiographie verschmelzen zwei Orte, zwei Familien. Zum einen der Ort von Eichs früher Kindheit, das Straßendorf Arenzhain bei Finsterwalde in der Niederlausitz, wo sein Vater einen Gutshof mit Ziegelei gepachtet hatte. Mit dem Kaleidoskop der Erinnerungsfetzen in seinem langen Gedicht »Ziegeleien zwischen 1900 und 1911« setzte Eich dieser Kindheit später ein Denkmal. Zum anderen der Ort der Niederschrift, Geisenhausen in Niederbayern, wo Eich Ende 1944 im Haus der Spenglerfamilie Schmid eine Zuflucht gefunden hatte, die ihm – nach den Jahren in der verhaßten Armee – eine beglückende Geborgenheit, eine »Familie« zurückgab. In einem Brief vom 16. Dezember 1945 an Jutta Raschke, die Frau seines Dresdner Freundes Martin, der als Kriegsberichterstatter an der Ostfront umgekommen war, liest sich das so: »Als die Entlassungen begannen, wählte ich Geisenhausen. Wohin sollte ich? Ich wußte von niemandem. So bin ich nun seit Anfang Juli wieder bei Schmids, wie vordem als Soldat. (…) Frau Schmid, eine Witwe mit sechs Kindern, ist eine fromme Frau von unbeschreiblicher Gutmütigkeit. Ich werde wie ein Sohn behandelt.« Unter diesen sechs Kindern war auch eine Anna, die der Anna im Fragment ihren Namen gegeben haben mag.
In seiner umfassenden Studie »Am Rande der Welt. Günter Eich in Geisenhausen 1944–1954« zeichnet Roland Berbig ein Bild dieses ungewöhnlichen Zusammenlebens. Er kann zeigen, wie Eich in dieser seinen Erfahrungen in der Großstadt Berlin, beim NS-Rundfunk und in der Armee so völlig entgegengesetzten Umwelt »Lebensfreude« und damit auch die Schaffensfreude zurückgewann. Auch diesem Ort setzt Eich ein Denkmal im Gedicht. Den ersten Entwurf von »Geisenhausen« legte er auf einem unpaginierten Blatt dem Wolburg-Fragment bei und unterstrich so noch einmal, daß beides zusammengehört:
Das Gras auf dem Turmgesimse
erzittert beim Glockenschlag
Der Zeiger der Uhr läuft schneller
unter dem Dohlengewicht.Das Fragment ist bisher übersehen und daher auch nirgends ausgewertet worden. Somit fehlte ein aufschlußreiches Zwischenglied in einer ganzen Reihe von Selbstbefragungen Eichs, das für eine stimmigere Deutung späterer Texte Beweiskraft hat. In dem Fragment hatte er keine Lösung für Wolburgs Gewissensqualen gefunden, eine Absolution, die er für den späteren Verlauf geplant haben könnte, bleibt aus. Zwei Jahre später greift Eich die Figur wieder auf. In einem Brief an Jürgen Eggebrecht schreibt er 1947: »bin eben über einem ausgewachsenen [Hörspiel] (ein Zeit- und Schwarzhandelsthema)«, brauchte dann aber noch einmal zwei Jahre, um es abzuschließen. Nur ist aus dem an »Günter« anklingenden Namen Walter Wolburg nun ein Martin Wolburg geworden. Scham und Gewissensqualen sind geblieben, ebenso das Schweigen als Option.
»In Zeiten, in denen es uns gut geht, sind gewisse Grundsituationen, in denen der Mensch über sich selbst zu Gericht sitzt, rar geworden«, heißt es in der Vorbemerkung zu dem Ende 1949 überarbeiteten Hörspiel »Die gekaufte Prüfung«. Mit ihm beginnt, einige Kindersendungen nicht eingerechnet, die Reihe der großen Hörspiele, die Eich nach dem Krieg berühmt machten. Und es steht nicht von ungefähr am Anfang: Das Hörspiel schildert die Situation des Studienrates Martin Wolburg, der – um in Hungerzeiten mit seiner Familie zu überleben – käuflich geworden ist und einem schwachen Schüler zum Abitur verhilft, der ihn mit Schwarzmarktwaren besticht. Der erste Tag des neuen Schuljahrs bricht an, in seinen Alpträumen fühlt sich Wolburg moralisch verurteilt, im Wachen gesteht er, daß er »etwas zu bereuen« habe, und meint: »Vielleicht werde ich rot vor Scham, wenn ich vor der Klasse stehe«. Eich läßt offen, wie er sich verhalten sollte: schweigen und weiterarbeiten oder die Schuld öffentlich eingestehen und damit in Schimpf und Schande aus dem Beruf ausscheiden. Statt dessen forderte er den Zuhörer auf, er selbst solle »wie ein Richter das Urteil sprechen«. Die Hörer – einige tausend Zuschriften! – erteilten Wolburg die Absolution.
Roland Berbig kann berichten, daß Eich, ehe er das Hörspiel an den Rundfunk schickte, die Familie Schmid befragte. Es ist nicht überliefert, wie der »Testlauf« ausging, doch es zeugt schon von der subtilen und verschmitzten Hintergründigkeit, die sein späteres Werk kennzeichnet, daß er ein wohlwollendes Urteil über Martin Wolburg ausgerechnet von denen erhoffte, die er als Walter Wolburg »nicht enttäuschen« wollte.
Eichs »Vorbemerkung« schließt mit den Worten: »Die Situation unsres Hörspiels aber, so alltäglich sie damals gewesen sein mag, hat Gewicht und verweist auf Fragen, mit denen wir noch nicht fertig geworden sind.« [Hervorhebung A. V.] Noch nicht fertig geworden war er auch mit der Frage nach der Schuld. Er wurde nie damit fertig, denn sie verjährt nicht: »Geschichte gilt nicht, / wir wollen schuldig bleiben«, schrieb er in dem späten Gedicht »Sklaveninsel« für den Band »Nelly Sachs zu Ehren«. Und in seinem Alptraum hört Martin Wolburg: »Der Angeklagte verdient den strengsten Spruch. Er wird verurteilt, weiter zu leben.« Nämlich mit der Schuld.
Es ist – jenseits aller Kollektivschuld und Kollektivscham – auch die Frage nach dem, was Eich als seine eigene Schuld und Scham empfand. Denn nur vordergründig geht es in »Die gekaufte Prüfung« um die Schwarzmarktzeit, ebenso wie es in dem Wolburg-Fragment nur vordergründig um die Inflationszeit ging. Worum es vor allem geht, ist Eichs Mitwirken im Rundfunk der NS-Zeit, speziell bei der weitaus beliebtesten, bekanntesten und mit 75 Sendungen umfangreichsten Funkserie des Dritten Reiches, dem »Deutschen Kalender. Monatsbilder vom Königswusterhäuser Landboten«, die von 1933 bis 1940 zur besten Sendezeit lief. Brauchtum, Volkstum, Volksgemeinschaft – Hans-Ulrich Wagner charakterisiert die Reihe in einer äußerst kritischen Untersuchung wie folgt: »Die KWL-Sendungen sind ein Aushängeschild des NS-Rundfunks: sie preisen eine völkische Ideologie«, und zitiert aus einer Rundfunkzeitschrift vom April 1940: »So wandert der ›Landbote‹ auch im Krieg weiter durchs Funkland und führt die Städter zur völkischen Urheimat – zum Acker und zum Bauern«. (Wagner, »›Der Weg in ein sinnhaftes, volkhaftes Leben‹. Die Rundfunkarbeiten von Martin Raschke«, in: Wilhelm Haefs, Walter Schmitz, Hgg.: »Martin Raschke (1905–1943) Leben und Werk«. Dresden 2002) Der Ende 1939 als Funker und Fahrer zur Luftwaffe eingezogene Eich war an den letzten Sendungen nicht mehr beteiligt.
Wie sehr Eich den Vorgaben der NS-Rundfunkoberen folgen mußte, aber auch, wie widerwillig er es tat, zeigen seine Briefe aus dieser Zeit. Am 25. November 1933 schrieb er an seinen Freund Adolf Artur ("Addi«) Kuhnert: »Den Königswusterh. Landboten mache ich übrigens mit Martin zusammen. Ich habe es schon so satt – aber bei diesen Zeiten.« Im selben Brief schreibt er, warum er trotzdem die Arbeit fortsetzt: »Oh diese verfluchte Villa an der Ostsee!« Unüberhörbar die Ironie: Es war nur ein bescheidenes Holzhaus mit Grundstück an der Pommerschen Küste, finanziell aber war es eine Falle.
Martin, das war Martin Raschke, der schon genannte Dresdner Freund und Herausgeber der kurzlebigen (1929–1932) »Zeitung der Jungen Gruppe Dresden«, später »Die Kolonne. Zeitschrift für Dichtung«, die zahlreichen jungen Autoren wie Peter Huchel, Horst Lange, Elisabeth Langgässer, Theodor Kramer und auch Eich ein Forum geboten hatte. Mit ihm wechselte sich Eich Monat um Monat bei der Arbeit am Landboten ab. Raschke kaufte sich von seinem Honorar später eine Biedermeier-Villa in bester Hanglage in Dresden-Loschwitz. Man geht wohl nicht fehl, wenn man in »Martin Wolburg« die Verschmelzung von Raschke und Eich zu einer Figur sieht, wenn also der Sündenfall des Käuflichwerdens nur parabelhaft am Beispiel des Studienrates verhandelt wird. Was dahinter aufscheint, ist die Abhängigkeit beider Autoren von einem Geldgeber, von dem Eich sich innerlich zunehmend distanzierte, dem Raschke aber bis zu seinem Ende auch ideologisch verpflichtet blieb. Wenn Wolburg sich fragt, ob er noch einmal vor seine Klasse treten könne, ohne »rot vor Scham« zu werden, so vernimmt man darin auch Eichs Frage, ob er noch einmal ohne Scham vor seine Leser / Hörer treten dürfe.
Nicht zu bezweifeln ist, daß er mit seiner Stellung im NS-Rundfunk haderte. So schreibt er am 18. Juni 1936 an Kuhnert: »Ich sehe ein, daß meine Bemühungen ein Schriftsteller zu sein, d. h. ein brauchbares Glied der menschlichen Gemeinschaft, vergeblich sind. Ich meine nicht des Geldes oder des Erfolges wegen – das habe ich ja beides bis zu einem gewissen Grade gehabt und kann es weiter haben. Aber ich werde nie und nimmer glücklich sein in dieser Rolle, das Verbogene in diesem Lebenszustand hält mich ewig in schlechtem Gewissen.« [Hervorhebung A. V.] In seinem im selben Jahr entstandenen Hörspiel »Radium« gibt er diesem schlechten Gewissen in der Figur des Chabanais (nach dem 1946 geschlossenen Pariser Bordell) Gestalt, der sich als »Hausdichter« und »Reklamemann « bei einem verbrecherischen, mit Radium spekulierenden Unternehmen verdingt. Wird Martin Wolburg wegen seiner hungernden Familie käuflich, so Chabanais wegen der teuren Behandlung seiner krebskranken Frau. Das Radium, das als Therapiemittel zunächst segensreich schien, wird jedoch zum Fluch, als sich seine tödliche Wirkung auf die ahnungslos mit ihm umgehenden Arbeiterinnen herausstellt. Eine schreckliche Ernüchterung erfaßt ihn: »Ja, die Kälte kriecht mir ins Herz, der eisige Zweifel, ob es das Göttliche war, wofür ich schrieb.«
Wie es möglich war, daß dieses so mutige Hörspiel ("daß keiner vergißt, wie die Welt voll Sünde und Bosheit ist«) im September 1937 vom Reichssender Berlin ausgestrahlt werden konnte, bleibt ein Rätsel. Jeder für Zwischentöne empfängliche Hörer muß die Parallelen zum Regime gespürt haben. Vielleicht gab es deswegen auch keine Wiederholung, obwohl sie vorgesehen war. Chabanais flieht in den afrikanischen Urwald. Eich bleibt in Berlin und begibt sich, da er wegen einer Wohnung im »Alten Westen« »horrende Schulden« hat (an Kuhnert, 21. April 1937), erneut in die verwünschte Abhängigkeit. Mit dem von der NS-Presse hochgelobten anti-englischen Propaganda-Hörspiel »Rebellion in der Goldstadt« von 1940 beendete Eich seine erste Rundfunkkarriere. Er war nicht stolz darauf.
Hat er nun geschwiegen, wie es das Wolburg-Fragment und »Die gekaufte Prüfung« nahezulegen scheinen? Ilse Aichinger, seine Frau, kleidete Eichs Scheu vor seiner Vergangenheit in ein Paradox:
»Aber er erzählte wenig. Auch was er seinen Kindern berichtete – von seiner frühen Zeit, von seinen Reisen, sollte sie nicht unsicher machen. Möglicherweise hörten sie diesen Erzählungen deshalb um so lieber zu, weil er nicht von ihnen verlangte, ihm zu glauben. Im Sinne der Gedichtzeile ›Alle wissen, daß Mexiko ein erfundenes Land ist‹. So kommt das Wissen wieder ins Spiel. Und die Möglichkeit, ihm zu entgehen.« ("Was ich weiß«. Eröffnungsgruß zur Potsdamer Günter-Eich-Ausstellung, Der Tagesspiegel, 28. März 2000)
Offen hat er nie gesprochen, sich statt dessen in »Erzählungen« versteckt. So hat er seine Rolle im NS-Rundfunk stets heruntergespielt und in einer autobiographischen Notiz von 1946/47 die Jahre zwischen 1932 und 1939 schlicht ausgelassen. Gerade sie aber werden zum Resonanzboden seines Nachkriegswerks. Verführbarkeit und Schuldigwerden, oder Schuld und Leiden anderer auf sich zu nehmen, um sie zu teilen oder zu mildern, Sühnen und Dienen sind die immer wieder variierten Themen seiner Hörspiele nach dem Krieg. Und so offenbart er sich doch – in Gleichnissen, die nun allerdings in hohem Maße »unsicher machen«, einem den vertrauten Boden unter den Füßen wegziehen: sei es im Persönlichkeitstausch der reichen Ellen mit der armen Camilla in »Die Andere und Ich« (1951), sei es in der die Schuld auf sich nehmenden Spiegelfigur des Idealisten, der den Verlockungen des Geldes erliegt ("Zinngeschrei«, 1955), sei es im Dienst an den Leprösen in »Das Jahr Lazertis« (1953) oder im Teilen des Leidens der Verdammten in »Festianus, Märtyrer« (1958). »Radium« war das Vorspiel, mit »Die gekaufte Prüfung« beginnt eine exemplarische Trauerarbeit. Nur weil er an sich selbst die »Grundsituation« erfahren hatte, »in der der Mensch über sich selbst zu Gericht sitzt« und sein Schuldigwerden reflektiert, konnte Eich jene Gestalten schaffen, die seinen Nachkriegsruhm begründen. Erst aus der Einsicht heraus, daß er mit seinen mehr als 160 Rundfunkarbeiten das »Dritte Reich« gestützt hatte, gewann Eichs berühmte Forderung: »Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt« ihre beschwörende Kraft. Der Schritt vom frühen zum reifen Eich vollzieht sich symbolisch im Wolburg-Fragment.
Axel Vieregg
Heinrich Fahrwasser, Ziegeleibesitzer
Richard, sein Sohn
Anna, seine Tochter
Walter Wolburg
Paul Kuntschaft, Faktotum
Wilhelm Nowak, GutsbesitzerDie Handlung spielt im Jahre 1923 in der Mark Brandenburg
Portier
Kellner
DameBegonnen am 30. Oktober 1945
1. SZENE
(Vorraum eines kleinen Hotels. Portier über Bücher gebeugt. Kuntschaft in einem Sessel schlafend.)
PORTIER: Sechzig Millionen Mark Trinkgeld an einem Abend und man soll Vertrauen in die Welt haben! Wo geht das hin? Das geht in die Hölle gradewegs. Und der da schläft. Der schläft, während die Welt zur Hölle fährt! Wie kann man da schlafen! He! He!
KUNTSCHAFT (verschlafen): Ja was, was ist. Ist er gekommen?
PORTIER (betroffen): Er ist nicht gekommen, das ist es. Er ist nicht gekommen und die Welt bleibt verdammt.
KUNTSCHAFT: Wovon reden Sie? Ich meine Herrn Fahrwasser von Zimmer 12!
PORTIER: Die Welt geht unter und Sie meinen Herrn Fahrwasser von Zimmer 12. Die Menschen sind sonderbar.
KUNTSCHAFT: Ich meine, ob er schon zurückgekommen ist?
PORTIER: Niemand ist gekommen.
KUNTSCHAFT: Wecken Sie mich bitte, wenn er kommt. Ich bin müde.
PORTIER: Ich wundere mich immer, daß man in einer solchen Zeit schlafen kann. Ich kann nicht schlafen.
KUNTSCHAFT: Ich bin seit 24 Stunden unterwegs. Und es ist nachts um zwei.
PORTIER: Ich fürchte immer, daß mir die Posaune das Trommelfell zerreißt mitten im Schlaf.
KUNTSCHAFT: Davor habe ich keine Angst. Ich war Militärmusiker.
PORTIER: Außerdem: Ich habe es Ihnen schon gesagt. Sie dürfen da nicht schlafen. Das geht über meine Befugnisse. Ich bin Portier, nichts weiter.
KUNTSCHAFT: Wenn die Welt untergeht, kommt es auf die Befugnisse nicht mehr an.
PORTIER: Also glauben Sie es auch, daß sie untergeht! Die Zeichen sind zu deutlich. Allein dies: 60 Millionen Mark Trinkgeld an einem Abend!
KUNTSCHAFT: Das ist die Inflation. Es steht in der Zeitung. Das hat nichts mit Herrn Jesus zu tun. Morgen früh können Sie sich ein Brötchen kaufen für Ihre 60 Millionen.
PORTIER: Und sollten das keine Zeichen sein? Sie sehen zu wenig in den Himmel. Tagsüber in den Wolken sind schon besondere Figuren und die Sonne geht unter phosphorgrün oder violett. Mir fällt es auf die Brust wie mit Zentnern, daß wir soviel Zeit versäumen. Wachet, spricht der Herr, denn die Seele sündigt im Schlaf.
KUNTSCHAFT (seufzend): Er hat es mit seinem Geschwätz erreicht, daß ich munter werde.
PORTIER: Geschwätz! Wie können Sie sagen »Geschwätz«! Wer sind Sie, daß Sie das sagen dürfen!
KUNTSCHAFT (verbeugt sich): Paul Kuntschaft aus Arenzhain, Kreis Calau, Niederlausitz.
PORTIER: Nichts sind Sie. Ein Sünder sind Sie wie wir alle, Sie und ich und Herr Fahrwasser.
KUNTSCHAFT: Herr Fahrwasser – was wissen Sie von Herrn Fahrwasser?
PORTIER: Ich weiß, daß er ein Sünder ist! Oder was halten Sie davon, daß jemand das Mittagessen als Frühstück nimmt, wie? Was noch am meisten wie Arbeit aussieht, ist, daß er am Nachmittag auf den Straßen herumläuft und die Leute angafft. Aber sowie es dunkel wird, dann hat er seine liebste Beschäftigung gefunden – ich weiß nicht, in was für Spelunken er herumsitzt, aber wenn er ins Hotel kommt, um Mitternacht oder gegen Morgen, dann riecht das ganze Treppenhaus nach Schnaps, daß ich den Ventilator anstellen muß. Was denken Sie, was das Strom kostet!
KUNTSCHAFT: Es hat aber den Vorteil, daß man die Liederlichkeit in Kilowattstunden ausdrücken kann.
PORTIER: Ein alter Mann und so dem Trunk verfallen! Wo hat er das Geld her? Ziegeleibesitzer, heißt der Eintrag. Brennt er die Taler aus Lehm? Täte er nicht besser heimgehen an seinen Ziegelofen?
KUNTSCHAFT: Sie haben einen Portiersverstand, der reicht nicht für alles aus. Herr Fahrwasser ein Säufer, eine Idee zum Einrahmen! Wenn in Arenzhain jemand ein Säufer ist, dann bin ichs!
PORTIER: Dann ist es also die Großstadt, die verträgt nicht jeder. Er hätte zu-hause bleiben sollen.
KUNTSCHAFT: Denken Sie, er ist zum Vergnügen in Berlin?
PORTIER: Natürlich denke ich das. Ich habe noch nicht bemerkt, daß er arbeitet.
KUNTSCHAFT: Ihre Beschränktheit bringt mich in Wut, Herr.
PORTIER: Seine Arbeit ist die Ziegelei. Wer besorgt denn die Ziegelei?
KUNTSCHAFT: Ich zum Beispiel, wenn Herr Fahrwasser nicht da ist. Gewiß, manchmal ist er wochenlang weg, wenn er eine Spur hat.
PORTIER: Eine Spur.
KUNTSCHAFT: Ja, eine Spur. Eine Spur von seinem Sohn. Er sucht seinen Sohn, wenn Sie es wissen wollen. Es ist kein Geheimnis.
PORTIER: Wo hat er ihn verloren? War er im Krieg?
KUNTSCHAFT: Davongelaufen ist er, als er noch ein Junge war. Sicherlich wird er im Krieg gewesen sein. Was weiß ich!
PORTIER: Aber jedenfalls lebt er, das weiß Herr Fahrwasser, nicht wahr?
KUNTSCHAFT: Garnichts weiß er. Und ich bin sicher, daß Richard längst tot ist. Alle glauben das, nur Herr Fahrwasser nicht. Aber er hängt so daran, man darf ihm den Glauben nicht nehmen.
PORTIER: Das müßte ja schon über zehn Jahre her sein.
KUNTSCHAFT: Es dürften bald zwanzig sein.
PORTIER: Mein Gott, der arme Herr Fahrwasser! Ich habe den Splitter in seinem Auge gesehen. Ich schäme mich. Kann ich nichts für ihn tun?
KUNTSCHAFT: Sie werden seinen Sohn auch nicht finden.
PORTIER: Ich weiß es. Er wird Hunger haben, wenn er kommt. Ich stelle ihm ein kaltes Geflügel aufs Zimmer. Ja, das tue ich. Er soll eine Freude haben. Und ich tue eine gute Tat und hoble damit meinen Balken kleiner.
KUNTSCHAFT: Hobeln Sie sich lieber das Brett vorm Kopf ab! – Aber es ist et-was Wahres dran an seinem Geschwätz. Wir versäumen die Zeit, Herr Fahrwasser, wir versäumen die Zeit! (Er geht auf und ab.) (Fahrwasser tritt durch die Eingangstür.)
KUNTSCHAFT: Herr Fahrwasser!
FAHRWASSER: Geh, ich will dich nicht sehen.
KUNTSCHAFT: Herr Fahrwasser, Ihre Tochter schickt mich.
FAHRWASSER: Ich will nicht, hörst du! Was schert mich meine Tochter! Biete mir meinen Sohn als Tausch für sie! Ich gebe sie dreimal her!
KUNTSCHAFT: Das heißt einen Engel verfluchen.
FAHRWASSER: Was scheren mich Engel! Meinen Sohn will ich, nichts weiter!
KUNTSCHAFT: Gut, suchen Sie weiter nach Ihrem Sohn, wenn Sie die Mittel dafür aufbringen. Der Zahlungsbefehl von Ihrem Freund Nowak ist da.
FAHRWASSER: Nowak, einen Zahlungsbefehl? Das ist nicht ernst gemeint.
KUNTSCHAFT: Sie können sich jetzt schon ausrechnen, wann die Ziegelei versteigert wird.
FAHRWASSER: Es gibt ein einfaches Mittel dagegen.
KUNTSCHAFT: Sie wissen, daß Anna Nowak nie heiraten wird.
FAHRWASSER: Es ist ihre Sache. Ich mische mich nicht herein.
KUNTSCHAFT: Aber es wäre Ihnen recht, wenn sich Ihre Tochter verkaufte.
FAHRWASSER: Es ist mir gleichgültig.
KUNTSCHAFT: Herr Fahrwasser, alle Schwierigkeiten ließen sich leicht beheben. Wenn Sie dawären und dablieben, gäbe Ihnen der oder jener einen Kredit und Sie könnten Herrn Nowak befriedigen. Die Ziegelei kann das tragen, wenn Sie da sind. Es fehlt dem Betrieb der Kopf.
FAHRWASSER: Ich bin aber nicht mehr da und ich will auch nicht mehr da sein, wenn ich ohne meinen Sohn bin.
KUNTSCHAFT: Ihr Besitztum geht zugrunde, Herr Fahrwasser.
FAHRWASSER: Laß es zugrunde gehen, ich brauche keinen Besitz! Ich bin es müde.
KUNTSCHAFT: Aber Sie brauchen Geld, um Ihren Sohn zu suchen. Wenn Sie die Ziegelei verlieren, fehlen Ihnen die Mittel.
FAHRWASSER: Ich kann auch als Bettler meinen Sohn suchen.
KUNTSCHAFT: Und wenn Sie ihn finden, was wollen Sie ihm geben?
FAHRWASSER: Erst muß ich ihn finden, und wenn darüber alles zugrunde geht. Ich gehe nicht mehr unverrichteter Dinge zurück wie so oft. Ich bin es leid, ich will nicht mehr. Und wenn ich darüber zum Bettler werde und meine Tochter zur Hure, ich will nicht mehr, hörst du, ich will nicht mehr! Gib dir keine Mühe, Paul, du machst mich nicht weich. Paul, ich bin müde, grenzenlos müde! (Er geht die Treppe hinauf.)
KUNTSCHAFT: Herr Fahrwasser!
PORTIER (der herabkommt): Gute Nacht, Herr Fahrwasser. Und wenn Sie noch Hunger haben – ich habe Ihnen ein Nachtmahl auf den Tisch gestellt. Ein Hühnerbein, delikat, zart! Schlafen Sie gut!
FAHRWASSER (entfernt): Gute Nacht.
PORTIER: Nun?
KUNTSCHAFT: Gut, er wird seinen Sohn bekommen. Bis morgen früh hat er ihn.
PORTIER: Tatsächlich? Wie mich das freut. War die Spur richtig?
KUNTSCHAFT: Herr Fahrwasser hat die Sache nur falsch angepackt. Das liegt daran, weil er zu wenig über der Sache steht. Sehen Sie, bei mir liegt das ganz anders! Du lieber Gott – daß ich nicht eher daran gedacht habe! (Er geht hinaus.)
PORTIER: Wohin denn jetzt mitten in der Nacht?(Vorhang)
ZWEITE SZENE
(Bar von schäbiger Eleganz. Im Vordergrund Tische in abgeteilten Kabinen. Musik und Tanz, die eben enden. Richard und eine ältere Dame nehmen an einem Tisch im Vordergrund Platz.)
DAME: Ah, mir wird vom Tango immer ganz heiß.
RICHARD: Aber Liebling, so ein ruhiger, gemessener Tanz!
DAME: Und wenn du Liebling sagst, wird mir noch heißer. Nicht der Tanz ist daran schuld. (Sie trinken) Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, heute böse mit dir zu sein.
RICHARD: Aber warum, um Himmels willen?
DAME: Ist das eine Art, daß ich Mauerblümchen sein muß? Habe ich dich jemals schlecht bezahlt?
RICHARD: Wie? Hat sich keiner meiner sechs Kollegen deiner angenommen?
DAME: Kollegen! Du weißt, daß ich nur mit dir tanzen will!
RICHARD: Entschuldige, aber dieser – dieser Herr ließ mich nicht los.
DAME: Er hatte ja einen prächtigen Vollbart. (Sie lacht) Zu komisch sah er aus.
RICHARD: Er drückte mir dies in die Hand.
DAME: Ein veritables Goldstück.
RICHARD: Damit ich ihm helfe, seinen Sohn zu finden.
DAME: Seinen Sohn? Das ist ja zu komisch.
RICHARD: Er hat ihn mir genau beschrieben. Aber die Beschreibung war völlig veraltet.
DAME: Wieso? Woher weißt du das?
RICHARD: Trotzdem hat er eine gute Nase gehabt, als er sich an mich wandte. Ich hätte ihm etwas sagen können, aber ich hatte keine Lust dazu.
DAME: Du kennst also diesen verlorenen Sohn wirklich?
RICHARD: In der Tat, ein bemerkenswerter Zufall. Prost! Es war nämlich mein Vater, und ich bin selber dieser verlorene Sohn. (Die Musik beginnt. Er erhebt sich und verbeugt sich leicht vor ihr. Sie gehen zur Tanzfläche ab.) (Kuntschaft kommt herein und setzt sich an einen anderen Tisch. Ein Kellner kommt.)
KELLNER: Wünschen der Herr Sekt oder Wein?
KUNTSCHAFT: Kognak.
KELLNER: Ein Kognak, bitte sehr!
KUNTSCHAFT: Nicht ein Kognak, sondern eine Flasche Kognak.
KELLNER: Erwarten der Herr noch jemand?
KUNTSCHAFT: Meinen Sie, ich schaffe die Flasche nicht allein? Aber Moment, eigentlich erwarte ich wirklich noch jemanden. Bringen Sie gleich zwei Gläser.
KELLNER: Eine Flasche Kognak mit zwei Gläsern, sehr wohl, mein Herr. (Ab)
KUNTSCHAFT: So, nun wollen wir mal sehen, was sich machen läßt! (Er sieht sich um und summt die Melodie der Musik mit. Ein zerlumpter Mann [Walter Wolburg] tritt ein und auf Kuntschaft zu.)
WOLBURG: Streichhölzer! Heftpflaster!
KUNTSCHAFT: Nein, danke! (Der Kellner bringt das Getränk. Wolburg wendet sich in den Hintergrund.)
KELLNER: He, Sie! Hier dürfen Sie nichts verkaufen.
WOLBURG: Nur etwas Heftpflaster und Streichhölzer wollte ich –
KELLNER: Nichts da! Machen Sie, daß Sie herauskommen. Was wäre denn das für ein Betrieb, wenn hier alles Gesindel hereinkommen und die Gäste belästigen dürfte. Raus! Ihr Anblick schädigt das Geschäft. (Wolburg wendet sich zum Gehen.)
KUNTSCHAFT: Halt! Sie, junger Mann! Kommen Sie doch mal her! (Zum Kellner:) Das ist nämlich der Herr, den ich erwarte. (Zu Wolburg:) Setzen Sie sich!
KELLNER (geht kopfschüttelnd ab): Solches Publikum verkehrte hier früher nicht.
KUNTSCHAFT (schenkt ein): Trinken Sie, junger Mann!
WOLBURG: Vielen Dank! (Sie trinken)
KUNTSCHAFT: Und jetzt gestatten Sie, daß ich Sie ausfrage: Wie alt sind Sie?
WOLBURG: 28.
KUNTSCHAFT: Vier Jahre zu jung. Aber das macht nichts. Haben Sie Angehörige, Eltern, Frau, Kinder?
WOLBURG: Nein, meine Eltern sind tot, ich war das einzige Kind. Verheiratet bin ich auch nicht, Verwandte – (Er zuckt die Schultern.) Sonst noch Wünsche, Herr Kriminalkommissar?
KUNTSCHAFT: Ausgezeichnet, daß Sie keine Angehörigen haben, ausgezeichnet!
WOLBURG: Ich finde das durchaus nicht ausgezeichnet.
KUNTSCHAFT: Beruhigen Sie sich. Sie kriegen welche.
WOLBURG: Sie sprechen in Rätseln.
KUNTSCHAFT: Waren Sie im Krieg? Erzählen Sie ein bißchen von sich! Trinken Sie?
WOLBURG: Da ist nicht viel zu erzählen. Ich komme aus Berlin. 1914 hatte ich mein Abitur gemacht, mein erstes Semester Philosophie hinter mir, als der Krieg ausbrach.
KUNTSCHAFT: Mein Gott, da sind Sie ja ein gebildeter Mensch!
WOLBURG: Ich wurde eingezogen, war erst im Westen, dann im Osten, wurde gefangen genommen und war bis vor einem Jahr in Sibirien.
KUNTSCHAFT: Da ist es wohl sehr kalt, wie?
WOLBURG: Ach, es geht. Aber freiwillig geht da keiner hin.
KUNTSCHAFT: Und als Sie zurückkamen?
WOLBURG: Waren die Eltern tot und zum Studium hatte ich kein Geld und in Sibirien hatte ich nichts gelernt als Sand und Steine karren. Und als ungelernter Arbeiter finde ich in Deutschland nur tage- oder wochenweise Beschäftigung.
KUNTSCHAFT: Und jetzt leben Sie –
WOLBURG: Vom Verkauf von Streichhölzern, Heftpflaster und diskreteren Dingen.
KUNTSCHAFT: Hören Sie mal: Sie sind der Mann, den ich brauche. Sie möchten vorwärtskommen, Sie möchten eine Lebensstellung. Ich könnte Ihnen etwas verschaffen.
WOLBURG: Sehr schön. Aber was für Fähigkeiten muß ich haben?
KUNTSCHAFT: Gar keine.
WOLBURG: Das scheint das Passende für mich zu sein.
KUNTSCHAFT: Sie müssen nur mit Überzeugung lügen können.
WOLBURG: Wenn es sein muß, opfere ich meine moralischen Hemmungen.
KUNTSCHAFT: Sehr löblich. Wenigstens für den Anfang. Es handelt sich um Folgendes: Sie heißen von heute ab Richard Fahrwasser. (Die Musik hat inzwischen geendet. Richard und die Dame kehren an den Nebentisch zurück.)
RICHARD: Vielleicht wäre etwas Besseres aus mir geworden, wenn ich Henkelohren gehabt hätte, Triefaugen und einen schlechten Mundgeruch.
DAME (bricht in Gelächter aus.)
KUNTSCHAFT: Wissen Sie was, wir werden woanders hingehen, wo wir ungestört sind.
WOLBURG: Bitte sehr, mir ist ein Ort so unsympathisch wie der andere.
KUNTSCHAFT: Ober, zahlen! (Während des Folgenden kassiert der Kellner und verläßt später mit Kuntschaft und Wolburg die Bühne.)
RICHARD: Ich will damit aber nicht etwa sagen, daß mir das Bessere besser gefiele. Nur in den Augen der richtenden Welt bin ich ein verlorener Sohn. Ich selbst komme mir vor, als hätte ich die Schlacht gewonnen.
DAME: Bravo: Moral ist nur für die Dummen.
RICHARD: Für die auch. Aber es gibt merkwürdiger Weise heute auch kluge Menschen, die nicht über die Moral hinauskommen. Meine Gnädigste, ich habe einen furchtbaren Verdacht.
DAME: So philosophisch heute! –
WOLBURG: Das nennt er Philosophie. Aber eigentlich bin ich auch nicht weiter gekommen. (Kuntschaft, der die angebrochene Flasche Kognak eingesteckt hat, und Wolburg gehen ab.)
DAME: Wollten die was von uns?
RICHARD: Nein.
DAME: Und was ist Ihr Verdacht?
RICHARD: Daß all diese Leute mit Moral Henkelohren haben oder irgendwas, was schlecht riecht. Übrigens; falls ich es Ihnen noch nicht gesagt habe: Ihr Parfüm ist bezaubernd.(Vorhang)
DRITTE SZENE
(Hotelzimmer. Fahrwasser vorm Spiegel, wäscht sich.)
FAHRWASSER (Beim Abtrocknen, innehaltend): Guten Morgen, Herr Fahrwasser! Wünsche, wohl geruht zu haben. – Wenn ich Sie so ansehe, kommen Sie mir recht unbekannt vor, als wenn ich Sie zum ersten Mal erblickte. Alt sind Sie geworden, Herr Fahrwasser, zwanzig Jahre älter. Zuletzt sah ich Sie – wann war es? – in Elisas sterbenden Augen: Es war ein Spiegel, der mich besser machte. Jetzt bleicht das Haar über dem Schädel wie Gras auf einem Boden, der unfruchtbar ist. Die Gedanken wie Engerlinge, sie kriechen nie aus. Wie verwunderlich, daß das alles noch lebt, diese Hände, diese Füße, während es doch schon verwest seit zwanzig Jahren. Das Sterben ist nur eine Beglaubigung von Amts wegen. Und doch, Herr Fahrwasser, es könnte eine Wiedergeburt geben. Die Larven kriechen aus, und sie haben Flügel, das tägliche Licht ist strahlender in den blinden Augen – Wiedergeburt, Wiedergeburt – (Er seufzt. Er zieht sein Jackett an. Es klopft. Er überhört es. Es klopft wieder, dann tritt Kuntschaft ein.)
FAHRWASSER: Ich habe dir doch gesagt –
KUNTSCHAFT: Der Zug geht um 9 Uhr 15.
FAHRWASSER: Dann mußt du dich beeilen.
KUNTSCHAFT: Ich sehe, Sie sind auch schon bereit.
FAHRWASSER: Sage Anna und Nowak einen schönen Gruß, und sie haben meinen Segen.
KUNTSCHAFT (gähnt): Die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen. Berlin, die Großstadt – ich bin in die Mexiko-Bar gegangen. Da sind Sie wohl auch öfter?
FAHRWASSER: Schon möglich.
KUNTSCHAFT (kichert): Der Treffpunkt der Landwirte. Es ist, als wenn man in Arenzhain wäre.
FAHRWASSER: Wieso?
KUNTSCHAFT: Ihren Sohn Richard habe ich auch dort getroffen.
FAHRWASSER (nach einer Pause): Wenn du mich verhöhnen willst.
KUNTSCHAFT: Ich habe ihn gleich mitgebracht. Richard! Komm herein! (Wolburg tritt ein) (Fahrwasser bleibt sekundenlang unfähig, sich zu rühren. Dann stürzt er mit einem tierischen Laut auf Wolburg zu und preßt ihn mit wilder Zärtlichkeit an sich.)
FAHRWASSER: Nein, du sollst dich nicht schämen, mein Sohn, du sollst dich nicht schämen. Ich bins, der sich schämen muß.
WOLBURG: Doch ich schäme mich.
FAHRWASSER: Ich frage dich nach nichts, du bist wieder da, du bist mein Sohn, du warst immer mein Sohn.
WOLBURG: Ich schäme mich, Herr Fahrwasser – (Kuntschaft macht empört Zeichen.)
FAHRWASSER: Du kennst mich nicht mehr. Ich bin dein Vater. Hörst du, dein Vater! Sage das: Vater.
WOLBURG: Ich muß es erst lernen, wie ein Kind.
FAHRWASSER: Va-ter. (Kuntschaft macht ermunternde Zeichen)
WOLBURG: Va-ter.
FAHRWASSER (glücklich): Ja, du bist mein Kind. Ich brauche deinen Namen nicht zu lernen, ich habe ihn jede Nacht vor mich hin gesprochen: Richard, Richard.
KUNTSCHAFT: Der Zug geht 9 Uhr 15.
FAHRWASSER: Ich hätte dich nicht erkannt. Als ich dich das letzte Mal sah, warst du ein Kind. (Kuntschaft macht das Zeichen 12)
WOLBURG: Ich war zwölf Jahre alt.
FAHRWASSER: Ja, du weißt es schon.
KUNTSCHAFT: Meine Herren, Wiedersehen nach langer Trennung in Ehren, aber wir haben jetzt keine Zeit, Richard, sei du wenigstens vernünftig! Ich hab dir erzählt, wie es um den Betrieb steht. Jede Stunde kann eine Katastrophe eintreten. Der Zug geht 9 Uhr 15. In zwei Stunden können wir in Arenzhain sein.
WOLBURG: Also gut, fahren wir! Oder hast du in Berlin noch etwas zu erledigen, Vater?
FAHRWASSER: Ich habe alles, was ich brauche – dich! Gut, wenn du sagst, wir fahren, dann fahren wir. Du bist jetzt der Herr in Arenzhain. Ich bin froh, daß ich abtreten darf.
KUNTSCHAFT: Ist Ihr Koffer gepackt? Es ist gleich neun.
FAHRWASSER (setzt den Hut auf): Ich zahle schnell unten. (Geht hinaus, ruft von außen:) Richard!
WOLBURG: Ja, wir kommen gleich nach!
KUNTSCHAFT (klappt den Koffer, in den er Waschzeug und dergleichen hereingetan hat): Wer A sagt, muß auch B sagen, junger Freund! Kommen Sie! (Geht hinaus. Wolburg wartet einen Augenblick, den Blick auf die Tür gerichtet, dann nimmt er das Hühnerbein vom Teller und beißt gierig hinein.)(Vorhang)
VIERTE SZENE
(Wolburg im Büro. Anna tritt ein)
ANNA: Die Post, Richard.
WOLBURG: Ja, danke. Was Besonderes?
ANNA: Ich glaube nicht.
WOLBURG (die Post flüchtig durchsehend): Hm – Hast du sonst noch was, Anna?
ANNA: Nein, eigentlich nicht.
WOLBURG: Schön. (Er vertieft sich in die Post.)
ANNA: Das heißt, eigentlich doch.
WOLBURG: Wie?
ANNA: Ich meine, eigentlich habe ich doch noch etwas.
WOLBURG: Ja, und?
ANNA: Darf ich mich einen Augenblick setzen?
WOLBURG: Aber natürlich.
ANNA: Danke. (Pause)
WOLBURG (sieht nach der Uhr): Beeil dich, ich habe noch viel zu tun.
ANNA (seufzend): Wenn du keine Zeit hast. –
WOLBURG: Natürlich, etwas Zeit habe ich schon.
ANNA: Siehst du, alles ist jetzt anders, seitdem du da bist.
WOLBURG: Hm.
ANNA: Vater ist ein anderer Mensch geworden, glücklich, jünger.
WOLBURG (unbehaglich): Ja.
ANNA: Und was zum Beispiel Paul betrifft, unsern alten Paul Kuntschaft – er kichert den ganzen Tag vor sich hin und reibt sich vergnügt die Hände.
WOLBURG: Ja, der alte Kuntschaft.
ANNA: Alle sind zufrieden, daß du da bist und freuen sich. Es geht wieder vorwärts mit dem Betrieb, du arbeitest für mindestens zwei, und du bist – ja, ich weiß nicht, wie ich sagen soll, so ehrlich, so anständig – alle Menschen mögen dich gern.
WOLBURG: Bitte, Anna, laß das doch alles, es ist mir alles so unangenehm, so peinlich –
ANNA: Ich kenne überhaupt nur zwei Menschen, die nicht mit dir zufrieden sind.
WOLBURG: So? Jedenfalls weiß ich noch einen Dritten – das bin ich selber.
ANNA: Nein, du kannst mit dir zufrieden sein.
WOLBURG: Na ja. Und wer sind die beiden andern?
ANNA: Der eine ist Nowak.
WOLBURG: Er ist böse, daß er die Ziegelei nicht bekommen hat.
ANNA: Die Ziegelei war ihm weniger wichtig. Sie interessierte ihn nur, wenn er mich dazu bekommen hätte.
WOLBURG: Willst du mir vorwerfen, daß ich dich hindere, ihn zu heiraten?
ANNA: Vorwerfen? Danken will ich dir dafür!
WOLBURG: Aber ich hindere dich nicht.
ANNA: Du verhinderst es, weil du da bist. Es war alles so dumpf, so ohne Ausweg, ohne einen Halt für mich. Ich hatte das Gefühl, ich müßte mich aufopfern, ich müßte mich verkaufen an ihn.
WOLBURG: Vater meinte es gut mir dir. Nowak ist der reichste Mann in der Gegend.
ANNA: Vater haßte mich, solange du nicht da warst. Daß ich kein Sohn war, hat er mir nie verziehen. Und – daß Mutter starb, als ich geboren wurde. – Ach, wäre sie noch da gewesen, vielleicht wäre alles besser gekommen.
WOLBURG: Ja, vielleicht.
ANNA: Daß ich Mutter nie gekannt habe. Du mußt mir einmal von ihr erzählen.
WOLBURG: Es ist schon so lange her.
ANNA: Ja, freilich.
WOLBURG: Und du magst also Nowak nicht?
ANNA: Weißt du, wenn ich das Wort Teufel höre, stelle ich mir immer Nowak vor.
WOLBURG: Wie, diesen harmlosen Menschen?
ANNA: Das wäre ein schlechter Teufel, dem man es gleich ansähe, daß er es ist.
WOLBURG: Meine weise Schwester. Aber jetzt muß ich arbeiten.
ANNA: Und willst du nicht wissen, wer der andere Mensch ist, der nicht mir dir zufrieden ist?
WOLBURG: Hm –
ANNA: Ich bin es.
WOLBURG: Du?
ANNA: Siehst du, ich habe mir etwas ganz anderes unter meinem Bruder vorgestellt.
WOLBURG: Kann ich etwas dafür?
ANNA: Früher war mir der Bruder, den ich nur aus Erzählungen kannte, ein Schreckgespenst voller Geheimnis. Später, als ich mich immer verlassener fühlte, war er wieder der Prinz, der eines Tages kommen würde, um mich zu erlösen. Es war so etwas Strahlendes, Helles, dem man sich anvertrauen konnte.
WOLBURG: Du darfst es mir nicht verübeln, daß ich den Idealgestalten deiner Träume nicht entspreche.
ANNA: Doch, du könntest ihr ungefähr entsprechen. Aber du bist wie verkleidet, du verbirgst es, daß du der Prinz bist. Du spielst eine Rolle, um mich zu täuschen.
WOLBURG: Eine Rolle?
ANNA: Ich warte immer darauf, daß du sie abwirfst wie einen Mantel und mir sagst: Siehst du, Schwester, da bin ich.
WOLBURG: Und wieso spiele ich eine Rolle?
ANNA: Du bist so kalt, so fremd zu mir, so unfreundlich.
WOLBURG: Bin ich es wirklich?
ANNA: Ja, bist du es wirklich? Oder ist der Mantel? Sieh, ich bin so stolz auf meinen Bruder –
WOLBURG: Anna, ich bin es nicht gewöhnt, geliebt und bewundert zu werden. Kannst du nicht verstehen, daß mir das unangenehm ist?
ANNA: Du bist zu bescheiden.
WOLBURG: Bescheiden? Nein, natürlich kannst du es nicht verstehen, es ist unmöglich, daß du es verstehen kannst. Du nennst es Bescheidenheit – Scham ist es.
ANNA: Worüber hättest du dich zu schämen? Nein, mißverstehe mich nicht, Richard, ich sage es nicht aus Neugierde, sondern weil ich überzeugt bin, daß du dich nicht zu schämen brauchst.
WOLBURG: Es liegt mir auf der Zunge, dir ein Geständnis zu machen.
ANNA: Nein, Richard! Nur eines sollst du. Sei ein wenig freundlicher zu mir.
WOLBURG: Ich verspreche es dir, daß ich mir Mühe geben will. (Anna umarmt ihn und küßt ihn, tritt dann von ihm weg.)
ANNA: Und jetzt mußt du arbeiten, mein großer Bruder. (Sie öffnet die Tür, um hinauszugehen. Nowak tritt ein.)
NOWAK: Ich hoffe nicht, daß ich störe. Guten Tag, Fräulein Fahrwasser. Ich hatte schon mehrfach angeklopft, offenbar haben Sie mich überhört. Guten Tag, Herr Fahrwasser. (Anna geht hinaus.) Ah, schon davon, das Fräulein Schwester. Sie ist scheu wie ein Vogel, ein ungezähmter. Aber wenn man Geduld hat, kann man es dazu bringen, daß einem der Vogel aus der Hand frißt.
WOLBURG: Was führt Sie zu mir, Herr Nowak? (Er deutet auf einen Sessel.) Zigarre, Zigarette?
NOWAK: Ich bin immer für das Flotte, das Moderne gewesen, also Zigarette. (Sie rauchen.) Keine Vorurteile, war immer mein Wahlspruch.
WOLBURG: Ihre Lebensphilosophie ist außerordentlich anregend, Herr Nowak.
NOWAK: Freut mich, daß Sie dafür Verständnis haben. Aber ich will Ihrem Wunsche nachkommen und den Kern der Sache angehen. Es betrifft –
WOLBURG: Unsere Geldangelegenheiten sind doch wohl geregelt?
NOWAK: Aber gewiß, wer spricht auch von Geld? Nicht Geld und Gut, die Ideale sind es doch, die den Wert des Lebens ausmachen.
WOLBURG: Und wegen der Ideale sind Sie also bei mir?
NOWAK: Sie haben es erraten. Es handelt sich um eine Liebe, die rein und ideal ist und ohne jeden Gedanken an Geld und Gut.
WOLBURG: Ah! Eine Liebe! Darf man gratulieren?
NOWAK: Hoffentlich, hoffentlich, junger Mann! Um nicht zu sagen: Herr Fahrwasser!
WOLBURG: Es ist gewiß etwas Schönes um den Gleichklang zweier Seelen.
NOWAK: Gleichklang? Der muß erst hergestellt werden.
WOLBURG: Ah, Sie haben Differenzen?
NOWAK: Kurz und gut: Sie werden mir ihr reden, nicht wahr?
WOLBURG: Ich? Und mit wem?
NOWAK: Stellen Sie sich nicht dumm! Anna meine ich, Ihre – nun: Ihre Schwester. Sie wird tun, was Sie ihr sagen.
WOLBURG: Ich habe keinen Grund, meiner Schwester irgendwelche Vorschriften zu machen. Ich habe nicht einmal die Absicht, ihr auch nur einen Rat in dieser Hinsicht zu geben. Soweit ich im Bilde bin, hat Anna schon mehrfach Ihre Anträge zurückgewiesen.
NOWAK: Das tut nichts. Ich bin der Ansicht, daß jetzt, wo Sie da sind, der Augenblick günstiger ist.
WOLBURG: Ich glaube, das Gegenteil.
NOWAK: Sie irren sich. Ich sagte Ihnen bereits: Anna vertraut Ihnen, und was Sie ihr mit dem nötigen Nachdruck sagen, wird sie tun – selbst wenn es ihr unangenehm ist.
WOLBURG: Es ist ihr unangenehm.
NOWAK: Das macht nichts.
WOLBURG (lachend): Das ist in der Tat eine ideale Liebe.
NOWAK: Sie werden bald aufhören zu lachen.
WOLBURG: Und was soll mich veranlassen, meiner Schwester zu etwas zu raten, was ihr widerwärtig ist?
NOWAK: Meine Liebe wird sie dazu veranlassen.
WOLBURG: Herr Nowak, Ihre Liebe in Ehren, aber ich habe den Eindruck, gestatten Sie, daß ich es sage, daß sie Ihren Verstand in Verwirrung gebracht hat.
NOWAK: Keineswegs. Ich rechne ganz kühl. Denn ich biete Ihnen etwas dafür, was Sie annehmen müssen, ob Sie wollen oder nicht: mein Schweigen. (Pause.)
WOLBURG: Erklären Sie sich deutlicher, ich verstehe nicht im geringsten.
NOWAK: Ich glaube, Sie verstehen mich recht gut. Oder sollten Sie nichts zu verbergen haben?
WOLBURG: Ich wüßte nicht was. Außerdem würde ich das, was ich zu verbergen hätte, nicht Ihnen anvertrauen.
NOWAK: Das ist in diesem Fall nicht nötig, da ich auch ohne Ihr Vertrauen informiert bin.
WOLBURG: Ich freue mich, daß ich endlich jemand treffe, der besser über mich Bescheid weiß als ich selbst.
NOWAK: Das erleichtert freilich die Selbsterkenntnis.
WOLBURG: Sie machen mich neugierig, beginnen Sie!
NOWAK: Beginnen und enden ist da ziemlich eins. Es läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Sie sind nicht Richard Fahrwasser.
WOLBURG: Aha, der falsche Waldemar! Sehr interessant. Und weiter?
NOWAK: Was weiter? Genügt Ihnen das nicht?
WOLBURG: Nein. Sie müßten Ihre kühnen Behauptungen noch beweisen.
NOWAK: Dies werde ich mir für eine gelegenere Zeit aufsparen.
WOLBURG (höhnisch): Schade, ich wäre so gern mit Ihnen ins Geschäft gekommen.
NOWAK: Sie lehnen es also ab?
WOLBURG: Als die Taube auf dem Dach saß, kam der Fuchs und rief: »Komm herunter, damit ich dich fressen kann!« Was meinen Sie, was die Taube antwortete?
NOWAK: Nur ähneln Sie einer Taube verdammt wenig.
WOLBURG: Möglich. Aber recht habe ich umso mehr.
NOWAK: Entweder Sie spielen Vabanque oder Sie sind wirklich Richard Fahrwasser.
WOLBURG: Ich wußte nicht, daß die zweite Möglichkeit überhaupt besteht.
NOWAK: Verlassen Sie sich darauf: Ich bringe Klarheit in die Sache!
WOLBURG: Mir ist nichts unklar.
NOWAK: Sie gefallen mir ganz gut, weil Sie so konsequent lügen und keine Angst bei Ihrem Spiel haben, oder so tun, als hätten Sie keine. Schade, wir könnten gut Hand in Hand arbeiten. Aber wenn Sie nicht für mich sein wollen, gut, dann bin ich eben gegen Sie. Die Kriegserklärung ist gesprochen, mein Herr.
WOLBURG: Ich bin Pazifist.
NOWAK: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.
WOLBURG: Ich werde mich verteidigen.
NOWAK: Nur einen Rat will ich Ihnen geben: Lassen Sie Anna in Ruhe, sie gehört mir.
WOLBURG: Die Absurdität Ihrer Behauptungen wirkt auf die Dauer langweilig.
NOWAK: Was ich will, wird Wirklichkeit. Ich werde Anna besitzen, vielleicht nicht ihr Herz, aber mit Haut und Haaren, sie wird mir Scham und Ehre, Stolz und Gedanken opfern, mir, dem alten Nowak, nicht Ihnen, junger Mann. Sie bleiben entweder ihr Bruder oder gehen ins Gefängnis.
WOLBURG: Und Sie, Herr Nowak, verlassen nunmehr das Haus Fahrwasser und betreten es nie wieder. Was ich will, wird Wirklichkeit.
NOWAK: Dennoch werden Sie mich wiedersehen.
WOLBURG: Gehen Sie!
NOWAK: Und mindestens werden Sie sehr deutlich merken, daß ich da bin. (Er geht hinaus. Wolburg sieht ihm nach und schließt dann die Tür. Er zieht ein Taschentuch und wischt sich die Stirn. Kuntschaft tritt durch eine andere Tür ein.)
KUNTSCHAFT: Heiß?
WOLBURG: Ziemlich. Du kommst im rechten Moment.
KUNTSCHAFT: Man muß seine Ohren überall haben.
WOLBURG: Ich mag nicht, daß du horchst.
KUNTSCHAFT: Du hast nicht das richtige Talent zum Lügen. Man muß auf dich aufpassen wie auf einen Klippschüler.
WOLBURG: Es fehlt mir der Ehrgeiz in dieser Sparte.
KUNTSCHAFT: Du brauchst vor Nowak keine Angst zu haben, er weiß garnichts.
WOLBURG: Wissen läßt sich leichter täuschen als ein guter Instinkt. Aber ich habe viel mehr Angst vor mir selber.
KUNTSCHAFT: Willst du kneifen? Wer A sagt, muß auch B sagen.
WOLBURG: Ich glaube, ich bin schon viel weiter im Alphabet und fürchte nur, eines Tages gehen mir die Buchstaben aus. Ich kann nicht mehr zurück. Ich kann sie nicht enttäuschen, die mich Sohn und Bruder nennen!
KUNTSCHAFT: Durchhalten oder ins Gefängnis!
WOLBURG: Du siehst, wofür ich mich entscheide. (Er unterschreibt.) Ich begehe hiermit Urkundenfälschung.
KUNTSCHAFT: Du hast dich für das Durchhalten entschieden.
WOLBURG: Ich glaube eher, für beides!(Vorhang)
(Plan)
1) Die Heimkehr. Verschiebung der Verlobung. Enthüllung für Zuschauer.
2) Geldforderungen. Verdacht des Gläubigers. Geständnis an Emilie ( =Anna )
3) Der richtige Sohn
4) Tod des richtigen Sohnes
5) EndeZiegelei.
Nowak hat den echten Sohn, Richard, geholt. Wolburg bekennt.
Teiche
Fahrwasser – Richard
________________________________________Nowaks Verdacht muß vorher begründet werden!
Fahrwasser läßt (durchgestrichen: Richard) Wolburg unterschreiben
SINN UND FORM 5/2015, S. 581-601
Koepsell, Kornelia
Die große Einsamkeit. Gedichte, S. 602Wagner, Jan
Süßes Erschrecken. Über Eduard Mörike, S. 605Wer niemals seine Schritte nach Mergentheim und Wermutshausen lenkte, nie in Weilheim, Kirchheim, Pflummern und Ochsenwang gewesen ist, wer nie nach (...)
LeseprobeWagner, Jan
SÜSSES ERSCHRECKEN Über Eduard Mörike
Wer niemals seine Schritte nach Mergentheim und Wermutshausen lenkte, nie in Weilheim, Kirchheim, Pflummern und Ochsenwang gewesen ist, wer nie nach Urach und Teinach fuhr, auch nicht nach Köngen, Nagold oder Scheer, nie in Eltingen und Plattenhardt nächtigte, wer schließlich kaum zu sagen wüßte, wo genau auf der Landkarte Weinsberg, Möttlingen, Cleversulzbach und, ja: auch Fellbach zu finden sind, der wird, wenn er ein Kleingeist oder ein bornierter Großstädter ist, nur kurz müde lächeln und dann abwinken; ist er aber verständig, so ahnt er: auch dort ist die Welt. Und mag es sich auch nicht um London, Paris oder New York handeln – es braucht doch nicht mehr, als in jenen unvertrauten Orten vorhanden ist, um eine Welt zu erschaffen.
Eduard Mörike war kein Weitgereister, war alles andere als ein Globetrotter; den Mozart seiner berühmtesten Novelle ließ er zwar in der Kutsche bis nach Prag holpern und schwanken, er selbst jedoch kam kaum je aus dem heimischen Schwaben heraus – wenn er auch innerhalb dieser engen Grenzen, die eingangs erwähnten Ortsnamen zeigen es, ungewöhnlich häufig umzog. »Was soll die dumme Neugierde auf die Fremde? nichts, als daß seine Phantasie toll wird!« schimpft der Vater von Maler Nolten in Mörikes gleichnamigem Roman; ein Künstlervater, pikanterweise ein Pfarrer wie Mörike selbst, ein Vater jedoch, der nicht zu ahnen scheint, daß die Phantasie kaum mehr als einen Vorgarten, daß sie lediglich ein paar Quadratmeter Rasen oder noch weniger benötigt, um unrettbar toll zu werden. Die Gegend, in der Mörikes Maler Nolten aufwächst, das Rißtal, kenne ich als Reisender selbst hingegen recht gut und besuche es gelegentlich zu familiären Anlässen. So waren wir vor nicht allzu langer Zeit an der Riß zu Gast, in Biberach, um den zweiundneunzigsten Geburtstag von Großmutter Edith zu begehen – eine Feierlichkeit, in deren Verlauf sich einmal mehr Gelegenheit bot, über das tiefe Mißtrauen nachzudenken, das der Kunst generell, besonders aber der Dichtkunst heute wie in Pfarrer Noltens Jahrhundert entgegengebracht wird. Wir saßen in kleiner Festtagsrunde im sommerlichen Garten von Großmutter Edith am Tisch, der Sonnenschirm war aufgespannt, es gab Kaffee und Kuchen, man plauderte und klapperte mit dem Geschirr, die Blaumeisen hüpften durch ihr Heckenlabyrinth, und irgendwann fragte mich eine nur unwesentlich jüngere Freundin der Großmutter, wer ich denn nun sei und was ich beruflich täte. Ich sei ein Verfasser von Büchern, antwortete ich wahrheitsgemäß, damit unverzüglich die Nachfrage provozierend, um was für Bücher genau es sich denn handele. Um Gedichtbände, sagte ich also – woraufhin die Dame mich stumm ansah; mich ansah; mich ansah; sich dann abrupt von mir ab- und der Großmutter zuwandte und ausrief: »Edith, der Bienenstich ist wunderbar!«
Von Mörike ist, wenn mich nicht alles täuscht, kein Gedicht über den Bienenstich erhalten; denkbar wäre es aber. Tatsächlich gehört ja Mörike zu jenen Dichtern, deren Verse auch der großmütterlichen Freundin durchaus zugänglich sein müßten, und das keineswegs nur, weil er Schwabe war. Wer Lyrik für absonderlich hält, für eine weltfremde und bizarre Angelegenheit mit keinerlei Bezug zum Leben und Wirken der sogenannten normalen Menschen, der wird beim Blättern durch Mörikes Werk eines Besseren belehrt – kaum ein anderer Dichter greift so eifrig noch die alltäglichste Begebenheit, den gewöhnlichsten Gegenstand auf, um ein Gedicht daraus zu entwickeln, ja, man hat den Eindruck, daß geradezu angstvoll keine Gelegenheit ausgelassen wird, um etwas Dasein in Zeilen und Reime umzugießen, nicht nur in den zahlreichen Grußadressen an Hofräte, Bibliothekare, Familienmitglieder und Freunde wie den Maler Moritz von Schwind. Mörike schreibt Rätselgedichte, Trauerfeiergedichte und Trinksprüche; er verfaßt ein lückenhaftes und von den jungen Leserinnen auszufüllendes Lehrpoem zur Erbauung seiner Nichten, schreibt Spottgedichte und Scherzgedichte; er reimt anläßlich von Eheschließungen, Geburtstagen und Konfirmationen, kommentiert eine Buchausleihe und steuert Verse für Poesiealben bei, ja, er bringt sogar ein Rezept für Frankfurter Brenten, ein traditionelles Teegebäck, in eine gutverdauliche lyrische Form; Mörike schreibt Widmungsgedichte ("Süßeste Freya, / Eiapopeia!«), er verschenkt »Albumblätter für Schülerinnen des Katharinenstifts« ("Das schöne Buch – ei, seht einmal! / Mit Schloß und Schlüssel, blank von Stahl! / Was hast du unter diesen Decken / So gar Geheimes zu verstecken?«), er bringt mehr als einmal ein Gedicht für seinen Hund Joli zu Papier und komponiert zu guter Letzt »Inschriften auf selbstgefertigte Blumentöpfe und Schalen«, die er, als begeisterter Freizeitkeramiker, beispielsweise einem Honigtopf beilegt, um ihn angemessen zu präsentieren.
Schon in der Wahl seiner Themen also ist Mörike derart offenherzig, daß die Grenze zwischen Kunst und Leben, die von so vielen für unüberwindbar gehalten wird, porös zu werden beginnt; er ist seiner Gegend und den Menschen darin verbunden und spricht deren Sprache, und zwar nicht nur, wenn er ein Gedicht an die Nachtigall mit der Entschuldigung abbricht, es gebe »frisches Bier / Und Kegel abend« im Jägerschlößchen, was selbst manchem Gedichtverächter aus Seele und trockener Kehle sprechen dürfte. Dann und wann meint man gar eine schwäbische Sprachmelodie herauszuhören, etwa wenn er »genötigt« auf »Predigt« reimt oder »schließen« auf »diesen«, und tatsächlich: Wer im Werk Mörikes nach Dialektgedichten sucht, wird fündig. Theodor Storm, Norddeutscher wie ich und schon früh ein Bewunderer Mörikes, besuchte den Reiseunwilligen einmal nach langem brieflichen Hin und Her in Stuttgart und brachte seine Eltern aus Husum mit; Mörike und Storms Vater, so heißt es, mochten einander zwar auf Anhieb, verstanden aber während der gesamten gemeinsamen Zeit kaum ein Wort von dem, was der andere schwätzte oder schnackte.
Theodor Storm war es auch, der mit so freundschaftlichen wie erhellenden Zeilen die Dichtung Mörikes zu fassen verstand: »Man sah«, so Storm, »durch diese Gedichte wie durch Zaubergläser in das Leben des Dichters selber hinein. Da war Tiefe und Grazie und deutsche Innigkeit verschmolzen oft mit antiker Plastik, der rhythmisch bewegte Zug des Liedes und doch ein klar umrissenes Bild; die idyllischen, von anmutigstem Humor getragenen Stücke der Sammlung von farbigster Gegenständlichkeit und doch vom Erdboden losgelöst und in die reine Luft der Poesie hinaufgehoben.« In diesen Sätzen Storms werden gleich mehrere Merkmale genannt, die das Bild, das sich die Nachwelt bis heute von Mörike macht, prägen: Der liedhafte Ton fehlt so wenig wie die Liebe zur antiken Dichtung, die Mörike selber übersetzte und die er mit dem Hexameter und dem elegischen Distichon, zu denen er oft greift, zu ehren wußte. Die Grazie und der Rhythmus, die Storm lobt, finden in einer Zeile Mörikes selbst ihr Echo, in der er »Anmut und heiliges Maß« beschwört. Überhaupt das Maß: Schon oft, aber deshalb nicht weniger berechtigt, ist der Formkünstler Mörike, sind seine subtilen Brechungen der traditionellen Vorlagen, ohne diese ihrer Würde zu berauben, gerühmt worden. Mit wieviel Witz er aber die eigene Formstrenge zu ironisieren weiß, zeigt eine Petitesse, die das Maß schon im Titel trägt und, »Alles mit Maß«, über dreizehn Zeilen hinweg einzig mit den Reimwörtern »Schweinsfuß« und »Schweinsfüß« operiert, einmal im Singular, einmal im Plural. Zu guter Letzt fehlt in Storms Zeilen auch jener Begriff nicht, den man seit jeher als erstes mit Mörike in Verbindung bringt, die Idylle – die naturnahe, unschuldige, Geborgenheit ausstrahlende Szene, eine Art von Gedicht also, die er selbst in einem Titel als »Erbauliche Betrachtung« bezeichnet hat, die Kritiker hingegen an biedermeierliches Kunsthandwerk, an von Meerschaumpfeifenrauch beflügelte Virtuosität denken ließ. Wohlmeinende Leser hingegen haben Mörike aufgrund dieser oft schwerelos wirkenden, heiteren Kunst, die sich nicht scheut, dem ernsten Fach der Lyrik auch humorvolle Elemente beizufügen, einen Mozart der Worte genannt. Man könnte zwar auch in einem Zweizeiler, der einem anderen Komponisten gewidmet ist, in einem mit »Joseph Haydn« überschriebenen Distichon nämlich, ein Selbstporträt des Dichters vermuten: »Manchmal ist sein Humor altfränkisch, ein zierliches Zöpflein, / Das, wie der Zauberer spielt, schalkhaft im Rücken ihm tanzt.« Daß aber kein Komponist Mörike mehr am Herzen lag als Mozart, steht außer Frage.
Meine erste Leseerfahrung mit Mörike verdanke ich tatsächlich nicht seinen Gedichten, sondern – ich muß vierzehn oder fünfzehn Jahre alt gewesen sein – der schon genannten Novelle »Mozart auf der Reise nach Prag«, die mich bei der erneuten Lektüre wohl noch mehr entzückt hat als rund dreißig Jahre zuvor, vielleicht weil das kindliche Staunen Mozarts beim Gang durch einen Wald, seine unverstellte Begeisterung beim Betasten von Tannenzapfen, beim Schnuppern an einem Pilz und beim Betrachten von dessen hochrotem Schirm, beim Anblick der Hummeln in den Blütenkelchen, weil also diese Fähigkeit, noch im Kleinsten eine Offenbarung zu finden, die Mörike ganz offensichtlich mit seinem Protagonisten teilt, aus der Sicht eines erwachsenen Lesers weit weniger selbstverständlich ist als aus der eines jungen. Davon, wie »wir unter uns allein« sind, träumt Mörike als Mozart gemeinsam mit Mozarts Frau Constanze, »um selber einmal wieder Kind zu werden« – und ich gebe zu, daß auch mir dieses Staunenkönnen mit offenem Mund, dieses Kindliche, Kindsköpfige, seit jeher als eine der Grundlagen jeder Poesie erschienen ist. Mörikes Freunde Bauer und Hartlaub preisen in einem Briefwechsel von 1832 denn auch ihren lieben »Mörike, mit dem Zauberdunste, der ihn begleitet, mit dem schuldlosen Kindersinne, den keine Welt ihm abzuschleifen vermag«. Und der Baron spricht im »Nolten« von dem Punkt, »wo der Philister und der Künstler sich scheiden. Wenn dem letztern als Kind die Welt zur schönen Fabel ward, so wird sies ihm in seinen glücklichsten Stunden auch noch als Mann sein, darum bleibt sie ihm von allen Seiten so neu, so lieblich befremdend«, was Nolten und mit ihm Mörike ausrufen läßt: »Ganz recht!«
An einer mir als jugendlichem Leser vielleicht entgangenen, dafür um so bemerkenswerteren Stelle der Novelle – man pausiert auf der Reise nach Prag in einem Gasthof – schlendert Mozart allein durch den nahen gräflichen Garten und kommt an einem Pomeranzenbaum vorbei. Mörike schildert nun, wie Mozart eine Pomeranze pflückt, wie er die »duftige Frucht beständig unter der Nase« hat, sie mit allen Sinnen erfaßt und sich dabei verliert, ins Träumen gerät, wie er sie gedankenverloren in der Hand hält und wendet, wie er ein Messer nimmt und sie auseinanderschneidet, wie er sie abwesend betrachtet, nach einer Weile wieder zusammenfügt und dann »die scheinbar unverletzte Pomeranze«, wie es heißt, auf einem Tisch ablegt – sehr zum Mißvergnügen des Obergärtners, der den ihm unbekannten Mann seit einer Weile beobachtet hat. Später, als der berühmte Gast endlich vom Grafen und der Schloßgesellschaft willkommen geheißen wird, beschreibt Mozart, wie er durch den Duft und die Gestalt der Pomeranze fortgezogen wurde in die Vergangenheit, in die eigene Kindheit, wie er sich durch den Sinneseindruck an eine Episode in Neapel erinnerte und an einen Korb mit Orangen – und wie er schließlich, derart in Gedanken, die Frucht betastend und zerteilend, im Geiste mit der Arbeit an der noch fehlenden Partie des »Don Giovanni« begann: »Ich glaubte wieder dieselbe Musik in den Ohren zu haben, ein ganzer Rosenkranz von fröhlichen Melodien zog innerlich an mir vorbei, fremdes und eigenes«. Dies ist eine ebenso erstaunliche wie präzise Schilderung jenes halb bewußten, halb unbewußten und durchaus rätselhaften Prozesses, der beim Erschaffen einer neuen Musik, aber auch eines neuen Gedichts, vonstatten geht und der mit der Bereitschaft beginnt, sich gehenzulassen. Daß die Träumerei, die Abschweifung zurück zu einer Kindheitsszene führt, ist kein Zufall und wird für viele Künstler nachvollziehbar sein – ganz sicher für Mörike, bei dem Traum und Erinnerung, gerade an die Kindheit, in einer Reihe von Gedichten entscheidend sind.
SINN UND FORM 5/2015, S. 605-614, hier: 605-609
Buch, Hans Christoph
Helden des Rückzugs.
Erinnerungen an den Literaturbetrieb (II), S. 615Un, Ko
Bettler aller Bettler. Gedichte, S. 626Decker, Gunnar
Hermann Hesse und Indien.
Von äußeren und inneren Ost-West-Passagen, S. 630Susman, Margarete
Mächte im Weltgeschehen. Mit einer
Vorbemerkung von Elisa Klapheck, S. 640Sznurkowski, Przemyslaw
»Wo Juden sind, entsteht auch
Literatur«. Gespräch mit Chaim Noll, S. 657PRZEMYSŁAW SZNURKOWSKI: Sie zeichnen in Ihren Büchern ein differenziertes Bild der israelischen Gesellschaft. Besonders in Ihrem 2014 (...)
LeseprobeSznurkowski, Przemysław
»WO JUDEN SIND, ENTSTEHT AUCH LITERATUR«. Gespräch mit Chaim Noll
PRZEMYSŁAW SZNURKOWSKI: Sie zeichnen in Ihren Büchern ein differenziertes Bild der israelischen Gesellschaft. Besonders in Ihrem 2014 erschienenen Roman »Die Synagoge« lernt man Sie als aufmerksamen Beobachter der politischen Ereignisse und sozialen Zustände in Israel, vor allem aber auch als kritischen Bürger kennen.
CHAIM NOLL: Kritik gilt hier in Israel als etwas vollkommen Normales. In Deutschland neigt man dazu, Konsens auf allen Gebieten herzustellen, man ist bemüht, möglichst immer einer Meinung zu sein, bis zur bösen Einheitlichkeit, die alle anderen Meinungen unterdrückt und totschweigt. So etwas ist hier unvorstellbar. Wenn man nach Israel kommt, dauert es einige Tage, bis man sich daran gewöhnt hat, daß hier jeder alles möglichst laut und möglichst zugespitzt zum Ausdruck bringt. Sonst wird man nicht wahrgenommen. Aber dieses auf den ersten Blick Verwirrende und Chaotische hat für Intellektuelle große Vorteile. Es ist ja das, was uns am meisten interessiert: Wie gebe ich meinen Gedanken Ausdruck? In der israelischen Gesellschaft kann ich sagen, was ich denke, und es wird immer jemanden geben, der das für einen bedenkenswerten Aspekt hält.
SZNURKOWSKI: Einer der wichtigsten Protagonisten Ihres Romans ist Holly, ein junger Mann, der gegen die Gesellschaft revoltiert. Er blickt ganz anders auf die Welt als die Generation seiner Eltern, er hält die Sicherheit Israels für gefährdet und steht der Politik des Landes ablehnend gegenüber. Sie haben ihn als typischen Außenseiter geschildert, der antisemitische Haltungen vertritt und sogar eine Freveltat begeht, indem er eine Tora-Rolle verbrennt.
NOLL: Außenseiter sind in der jüdischen Gesellschaft nichts Besonderes. Im Grunde sind wir alle Außenseiter. Die Toleranz gegenüber charakterlichen Eigenheiten oder Absonderlichkeiten ist unter Juden traditionell groß. Deshalb läßt die Gemeinschaft des Wüstenortes, in dem Holly lebt, ihn weitgehend tun und lassen, was er will. Bis zu einem bestimmten Punkt. Es gibt immer wieder Juden, die dem Judentum ablehnend, sogar feindlich gegenüberstehen. Wir kennen solche Fälle seit der Antike. Der Stratege der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70, der Generalstabschef von Kaiser Titus, war Tiberius Julius Alexander, ein alexandrinischer Jude, der in Rom erzogen worden und vom Judentum abgekommen war. Sein Vater hatte noch zu den Förderern des Tempels gehört.
SZNURKOWSKI: Beim Lesen gewinnt man den Eindruck, daß die Wüste, die den Hintergrund der Handlung bildet, Sie außerordentlich fasziniert. Sie wird eindrücklich geschildert, manche Ihrer Figuren sind Wüstenforscher. Hatten Sie damit eine Art Huldigung an die Leute beabsichtigt, die dort leben?
NOLL: Wenn Sie den Roman als Huldigung an die Bewohner des Wüstenortes empfinden, freut mich das. Es sind Menschen, die sich aus Idealismus einer extremen Situation aussetzen. Sie beschäftigen sich mit einem Wissenschaftszweig, den vor zwanzig Jahren noch niemand ernst genommen hat. Inzwischen wissen wir: Die Erde befindet sich schon seit Jahrzehnten im Zustand der Desertifikation, wir leben in einem Prozeß der Versteppung der Erdoberfläche, zurückgehender Wälder, Erosion, Abgrasung der Steppen, ein jährlicher weltweiter Verlust an landwirtschaftlicher Anbaufläche von der Größe Deutschlands. Es muß etwas geschehen. Die Wüstenforschung hat sich zu einer bedeutenden Wissenschaft entwickelt. Viele von Desertifikation bedrohte Länder haben ihre Beziehungen zu Israel verbessert, weil sie an den hier gewonnenen Erfahrungen teilhaben wollen. Sie schicken ihre Studenten in die Wüste Negev, damit sie lernen, wie man in einem solchen Gebiet zivilisatorische Strukturen aufbauen, wie man ein Wüste gewordenes Land revitalisieren und landwirtschaftlich erschließen kann. Das sind die Fragen, mit denen sich diese Leute seit Jahrzehnten beschäftigen, unter Entbehrungen, improvisiert, mit wenig Geld. Der Ort wurde lange Zeit stiefmütterlich behandelt, obwohl Ben Gurion die Bedeutung der Wüstenforschung erkannt und dort draußen mit amerikanischen Sponsoren Institute gegründet hat. Inzwischen sind das weltbekannte Einrichtungen mit üppigen Forschungsetats. Die Zahl der Studenten hat sich verfünffacht, der Ort ist ein anderer geworden. In gewisser Weise ist es ein historischer Roman: Das Milieu, das ich beschreibe, gibt es so nicht mehr. Die meisten Bewohner sind zwar nicht im traditionellen jüdischen Sinn religiös, aber doch so spirituell, daß sie ihr Leben einer höheren Bestimmung widmen als dem Gelderwerb und der Karriere. Trotz aller Kontroversen sind sie sich einig, daß das, was sie zusammen machen, eine gute Sache ist, daß man Opfer bringen muß. Das ist vielleicht das Geheimnis der israelischen Gesellschaft überhaupt.
SZNURKOWSKI: Haben Sie sich auch über den Roman hinaus mit der Wüste als literarisches Phänomen befaßt?
NOLL: Ich arbeite seit zwanzig Jahren an einem Buch über die Literatur der Wüste. Das ist eines der Projekte, mit denen ich noch nicht fertig bin. Es gibt unendlich viel Material über all die Aspekte, unter denen die Wüste wahrgenommen worden ist. Einiges habe ich inzwischen in Zeitschriften veröffentlicht, zum Beispiel den Essay »Die Metapher Wüste. Literatur als Annäherung an eine Landschaft« in »Sinn und Form« und eine englische Fassung in der Zeitschrift des Internationalen PEN. Oder einen Aufsatz über T. S. Eliots »The Waste Land«, das den Topos nicht real als Sandwüste, sondern als Zustand des menschlichen Lebens behandelt. Das hat auch viele andere Autoren fasziniert. Wüste als Metapher oder Realität ist ein ewiges Thema der Literatur. Mich beschäftigt die Frage, welche Rolle die Wüste in unserem Bewußtsein oder Unterbewußtsein spielt. Wie ist es zum Beispiel zu erklären, daß Autoren, die nie in einer Wüste waren, anschaulich darüber schreiben konnten? Etwa Wilhelm Hauff in seinem Erzählzyklus »Die Karawane«. Oder Balzac in seiner wunderbaren Novelle »Leidenschaft in der Wüste« – auch er hat nie im Leben eine Wüste gesehen. Trotzdem war er imstande, die Einsamkeit dort genau zu schildern.
SZNURKOWSKI: In Ihrem Roman schreiben Sie über das Verhältnis der Israelis zu den deutschen Einwanderern. Eine Figur beispielsweise »schmerzte es, täglich die verhaßte Sprache zu hören«, »ein hartes, böses Gezisch«, »wie militärische Kommandos klingende Ausrufe«. Wie werden die deutschen Juden heutzutage in Israel wahrgenommen? Hört man Deutsch häufig im Alltag?
NOLL: Die Einstellung zur deutschen Sprache hat sich stark verändert. Es hat damit zu tun, daß sich auch die Beziehung zu Deutschland verändert hat. Das liegt zu einem guten Teil an den Deutschen selbst, die nach der Shoah in sich gegangen sind und versucht haben, ihre Vergangenheit kritisch zu betrachten und aufzuarbeiten. Das war auch mit einer gewissen Hinwendung zur jüdischen Kultur und Literatur verbunden. Als wir vor zwanzig Jahren nach Israel kamen, war die deutsche Sprache hierzulande weitgehend verachtet. Als wäre sie schuld an dem, was in der Nazi-Zeit geschehen ist. Ich habe diesen Widerwillen nie verstanden. Es schien mir vollkommen unsinnig, die verständliche Aversion gegen das Land ausgerechnet an der Sprache abzureagieren. Deswegen habe ich auch das Deutschverbot in der frühen Kibbuz-Kultur nicht begriffen. Familien, die aus dem deutschen Sprachraum kamen, haben ihre Kinder daran gehindert, ihnen regelrecht verboten, die Sprache ihrer Eltern zu lernen. Als wir in den Süden kamen, gab es kaum deutschsprachige Lehrer an der Universität, man konnte nicht einmal die Gründerliteratur des Landes studieren. In Sde Boker befindet sich das Ben-Gurion-Nachlaß-Institut. Dort liegen zahlreiche auf deutsch geschriebene Dokumente, denn viele der frühen Zionisten waren deutschsprachig, nicht nur Theodor Herzl, sondern auch Leute wie der Botaniker Warburg, die sich mit technischen und landwirtschaftlichen Fragen beschäftigten. Wir haben an der Universität gegen große Widerstände ein deutschsprachiges Programm gegründet, einer unserer Studenten ist ans Ben-Gurion-Nachlaß-Institut gegangen, um die Korrespondenz zu sichten. Sie war seit Jahrzehnten unbearbeitet, weil von den Historikern des Instituts keiner Deutsch lesen konnte. Dabei waren es oft Kinder deutscher Einwanderer. Ich habe vom ersten Tag an gesagt: Was wir hier brauchen, sind möglichst viele Sprachen. 1997 bin ich von der Universität in Beer Sheva eingeladen worden, an einem Programm für deutschsprachige Studenten mitzuarbeiten. Wir haben dazu in der Wüste Negev ein Studienzentrum gegründet, was damals noch abwegig schien. Ich kann mich erinnern, daß Leute von der Straße in den Hörsaal kamen, um zu protestieren. Eine Frau lief nach vorn und rief: »Ich will hier im Land kein Deutsch hören!« So war die Stimmung damals. Doch davon ist nichts geblieben, höchstens bei sehr alten Leuten. Wenn ich heute auf der Straße Deutsch rede, mit Freunden oder weil ich mit meiner Frau oder Tochter telefoniere, sprechen mich oft junge Leute an und sagen mir, daß sie sich freuen, hier in Beer Sheva Deutsch zu hören. Daß sie diese Sprache lernen, weil ihre Großeltern Deutsch gesprochen haben oder weil sie eine Weile in Deutschland leben wollen. Es ist erstaunlich, wie sich das gewandelt hat.
SZNURKOWSKI: Auch bei Ihnen gab es eine Phase der Abwendung von der deutschen Sprache.
NOLL: Ich habe erst 2000 wieder auf deutsch geschrieben, und zwar den Roman »Der Kitharaspieler«. Eine historische Geschichte, die im 1. Jahrhundert im alten Rom spielt. Ich habe versucht, das Buch in einer antikisierenden Sprache zu schreiben, und das konnte ich nur auf deutsch. Als wir nach Israel kamen, hatte ich eine starke Aversion gegen das Land, aus dem wir weggegangen waren. Meine Frau war seit 1994 nicht mehr in Deutschland. Ich fliege inzwischen regelmäßig hin, aber zunächst war auch ich zehn Jahre nicht dort. Unsere Bemühungen an der Universität, die deutsche Sprache wieder ins israelische Leben einzuführen, die Begegnungen mit den Studenten, die veränderte Haltung der israelischen Jugend – all das hat mich zur deutschen Sprache zurückgebracht. Auch als Schreibsprache. Heute bin ich froh darüber. Ich stehe in jener Lücke der deutsch-jüdischen Literatur, die durch die Shoah entstanden ist. Jemand muß die Stellung halten. Und es wird wieder viele deutsch-jüdische Autoren geben, denn inzwischen gibt es wieder viele Juden in Deutschland, und wo Juden sind, entsteht auch Literatur. Ich habe als Kind die Bücher der großen deutschsprachigen jüdischen Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gelesen. Ein gewaltiges Erbe. Irgendwann habe ich begriffen, daß ich selbst in dieser Tradition stehe, und dann natürlich auch in der Sprache, in der ich aufgewachsen bin und in der diese Literatur lebte. Und hoffentlich fortbesteht.
SZNURKOWSKI: Ihr Roman »Die Synagoge« ist auch eine Auseinandersetzung mit nationaler und religiöser Identität. So sagt etwa die Figur Abi, daß er – im Gegensatz zu Heine – kein Problem damit habe, Jude zu sein. »Jude sein ist die wunderbarste Sache der Welt.«
NOLL: Für mich ist Judentum nicht nur eine Religion, sondern eine über mehrere Jahrtausende gewachsene Lebenshaltung, die weit über das Religiöse hin ausgeht. Sie hat zu einer besonderen Form des Menschseins geführt, zu besonderen Ausprägungen, besonderen Fähigkeiten, allerdings auch zu besonderen Schwächen. Wenn mein Protagonist sagt, für ihn sei es die wunderbarste Sache der Welt, Jude zu sein, dann heißt das nicht, daß auch alle anderen Menschen das so sehen, nicht mal alle Juden. Es gibt Juden, die nicht glücklich darüber sind, Jude zu sein, was ich persönlich nicht verstehen kann. Es gibt Menschen, die offen sagen, es bedeute ihnen nichts, es sei ihnen zu kompliziert. Ein Jude trägt immer mehrere Jahrtausende Geschichte mit sich herum. Daher das ständige Lernen und Studieren, auch in Form ritueller Handlungen, am Seder-Abend oder beim Laubhüttenfest. Jüdische Kinder wachsen im Bewußtsein einer uralten Vorgeschichte auf, einer starken Verbundenheit mit frühesten Menschheitskulturen. Sie erwerben Kenntnisse, die man anderswo an der Universität studieren muß. Biblische Geschichte ist Volks- und Landesgeschichte, dazu gehört auch Babylonien, das alte Ägypten, Griechenland, Rom. Um zu verstehen, was es heißt, Jude zu sein, muß ich tief in der Geschichte verwurzelt sein, daher unsere geradezu manische Erinnerungskultur. Wir leben zu einem großen Teil in der Erinnerung. Das macht uns allerdings nicht rückwärtsgewandt, sondern ist das Potential für die Fähigkeit, die Zukunft zu erkennen und mit der Gegenwart zurechtzukommen. Wenn man Jahrtausende im Bewußtsein hat, auch die Katastrophen, die Fehlentwicklungen, die Niedergänge, ist man natürlich im Hinblick auf die Schwierigkeiten des Lebens viel erfahrener als andere Völker, die zum Vergessen und Verdrängen neigen. Das ist der zweite Gesichtspunkt, der die Juden auszeichnet: Sie haben eine ungeheure Erfahrung im Überwinden katastrophaler Situationen. Ich habe vor Jahren in einem Interview gesagt, Juden seien geborene Spezialisten für den Katastrophenschutz. Für das Überleben hoffnungslos scheinender Situationen. Das kann kein anderes Volk so gut wie wir.
SINN UND FORM 5/2015, S. 657-667, hier S. 657-661
Wodin, Natascha
Ich war nie in Mariupol, S. 668Markov, Georgi
Als Stalin starb, S. 679Margwelaschwili, Giwi
Eine Völkerfriedensstiftung.
Mit einer Vorbemerkung von Jörg Sundermeier, S. 683Bleutge, Nico
Auf der Lichtung. Dankrede zum Christian-
Wagner-Preis, S. 701Lehr, Thomas
Die Tage ohne Kopf, S. 707Kleinschmidt, Sebastian
Der Zirkelschlag des Gedichts.
Laudatio auf Adam Zagajewski zum Heinrich-Mann-Preis, S. 708
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6/2015
Heft 6/2015 enthält:
Zambra, Alejandro
Ferngespräch, S. 725Morábito, Fabio
Schalte die Finsternis an. Gedichte, S. 736González, Tomás
Glühwürmchen, S. 741Guignery, Vanessa; Roberts, Ryan
»Was der Tod alles mit sich bringt.« Gespräch mit Julian Barnes, S. 745Barnes, Julian
Wo Sibelius verstummte, S. 759Koschel, Christine
Auf der Insel Aberland. Gedichte, S. 764Schlaffer, Hannelore
Zweierlei Sprache.
Rilke, seine Frauen, seine Interpreten, S. 766Dotzauer, Gregor
Innen leben. Abschied von einer
romantischen Idee, S. 7741 In Peking hängen die Wolken an versmogten Tagen so tief, daß einem der Himmel bis in den Hauseingang nachkriecht. Das Firmament hockt auf der (...)
LeseprobeDotzauer, Gregor
INNEN LEBEN Abschied von einer romantischen Idee
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In Peking hängen die Wolken an versmogten Tagen so tief, daß einem der Himmel bis in den Hauseingang nachkriecht. Das Firmament hockt auf der nächsten Laterne, und die Sonne ist vollständig pulverisiert. Die Stadt besitzt dann ein gesteigertes Fluidum. Ihre zerklüftete Silhouette zerfließt im Schwebstaub, und sobald es Abend wird, rücken die Fassaden der Wolkenkratzer schimmernd auf einen zu und entfernen sich wieder. Wenn danach die sogar bei Vollmond mondlose Nacht einsetzt, verschwimmen im Dunst die aus allen Richtungen heranwogenden Meere pulsierender Schriftzeichen, und über den Brücken der inneren Ringstraßen steigen bengalische Sumpflichter empor, die einen in unbekannte Viertel locken. In dem Augenblick, in dem man ihre Quelle endlich ausfindig gemacht zu haben glaubt, verlöschen sie und flackern woanders auf. »Go inside to greet the light«: Was James Turrells Großmutter ihrem Enkel riet, lange bevor er sich daranmachte, der Dinghaftigkeit des Lichts eine Gestalt zu geben, wie andere Künstler Ton und Lehm formen, klingt wie das Gegenteil dessen, was man in Peking tun sollte. Die Stadt leuchtet nirgendwo so sakral wie in ihrem säkularen Gepränge.
Turrell hat sich in der Quäkertradition, aus der er kommt, immer wieder auf ein inneres Licht bezogen, das für die Gotteserfahrung dieser Glaubensbewegung steht: eine Form der Versenkung, die sich von östlichen Meditationsarten dadurch unterscheidet, daß sie nicht auf Entpersönlichung aus ist. Es handelt sich vielmehr um intensives Beten im direkten Kontakt mit einem Gott, der keine weitere Versinnbildlichung braucht, weil sich der Zugang zu ihm allein über das Innere erschließt. Quäker verehren das Numinose als das Luminose. Obwohl er keine religiösen Absichten verfolgt, kann man Turrell getrost das Oberhaupt einer weltumspannenden Kirche des Lichts nennen. Roden Crater, der erloschene Vulkan in Arizona, in dessen Lavagestein er Gänge, Treppen, Tunnel und Hallen gefräst hat, die ins Licht planetarer Konstellationen führen, ist ihr zentrales Heiligtum, und jedes der rund um den Globus errichteten Skyspaces eine Filiale. Ihre Erhabenheit behalten sie auch als wahrnehmungspsychologische Observatorien.
Gäbe es nur eine einzige dieser Kapellen, wie er sie erstmals 1960 für den italienischen Grafen Giuseppe Panza di Blumo in dessen damaliger Privatvilla in Varese errichtete, wäre die Verwirrung der Dimensionen von Innen und Außen bloß eine frappierende Idee. Man betritt einen Raum, um durch eine runde, ovale oder rechteckige Öffnung in den freien Himmel zu schauen, der sich wiederum in eben diesen Raum hinabsenkt und in der Morgen- und Abenddämmerung eine Lichthaut bildet, die eine objektiv nicht vorhandene Grenze vorgaukelt. Gäbe es vier, fünf oder sechs davon, würde man sagen, daß Turrell bei allem Variationsbemühen nicht mehr viel eingefallen sei. Weil mittlerweile aber über achtzig Skyspaces existieren, haben sie einen kultischen Charakter angenommen und ziehen Scharen von Pilgern an. Turrells einziges chinesisches Skyspace liegt im Pekinger Dongcheng District. Von der Wusi Dajie, einer Hauptstraße unweit der Verbotenen Stadt, biegt man in ein Areal geschäftiger Hutongs ab, jener Wohnhöfe umschließenden Gassen, die seit Jahren in vielen Teilen der Stadt Hochhauskomplexen weichen. Auf handgeschriebenen Plakaten wird gegen drohende Abrisse protestiert – die unvermutete Pracht, die sich am Ende der Shatan Beijie, einer Sackgasse, hinter einem riesigen Eisentor verbirgt, interessiert hier niemanden. Aus den Ruinen eines buddhistischen Tempels, dessen Ursprünge bis zu einer kaiserlichen Druckerei in der Ming-Dynastie zurückreichen, die Sutras und Dekrete herstellte, ist eine museumsartige Hotelanlage entstanden, deren kostbare Ruhe mit ihrer unübersehbaren Kostspieligkeit konkurriert.
Der nüchterne weiße Raum, der Turrells Installation beherbergt, hat einen schwarz glänzenden Steinboden. Darauf verteilt liegen zwanzig Isomatten mit runden Strohkissen für Kopf und Füße. Während in anderen Skyspaces oft Sitzbänke die Mauern säumen, liegt man hier ausgestreckt auf dem Rücken und beobachtet durch die rechteckige Aussparung in der Decke, wie sich der Himmel, durchtränkt von der untergehenden Sonne, im Lauf von anderthalb Stunden in einen Schwamm verwandelt. Nachtblau scheint er die Öffnung zu verschließen, bis changierende Komplementär- und Tertiärfarben ihn unmerklich aus den umlaufenden Lichtleisten ins Tiefgrüne und Schwarze wenden, während er sich zwischendurch wie ausgepreßt ins Innere des Skyspace ergießt. Alle Konturen, die körperlichen des Betrachters eingeschlossen, lösen sich in einem einzigen Feld auf.
Der Septembertag ist für Pekinger Verhältnisse ungewöhnlich klar und blau, anfangs ziehen in großer Höhe Vogelschwärme vorüber. Doch spätestens wenn die Wolken in der Öffnung des Skyspace zu zittern beginnen wie von einem windbewegten Teich gespiegelt, gehen das Gegebene und das Geformte eine unauflösliche Liaison ein. Sie erinnert daran, daß Sinnesdaten und ihre Verarbeitung darüber entscheiden, welches Licht im Auge des Betrachters funkelt. »Farbe«, heißt es in einer Definition der Internationalen Beleuchtungskommission, »ist diejenige Gesichtsempfindung eines dem Auge des Menschen strukturlos erscheinenden Teiles des Gesichtsfeldes, durch die sich dieser Teil bei einäugiger Beobachtung mit unbewegtem Auge von einem gleichzeitig gesehenen, ebenfalls strukturlosen angrenzenden Bezirk allein unterscheiden kann.« Soviel kühlen Formsinn muß man sich angesichts derart substantieller Erlebnisse erst einmal bewahren.
James Turrell ist ein Meister der Illusion, aber gleichwohl nicht auf Verblüffung aus. Ihn beschäftigen die trügerischen Anteile jedes Sehakts, die physiologischen Mechanismen und psychologischen Deutungen, die Nachbilder und das Eigenlicht der Netzhaut. Licht, sagt Turrell, der sich in seinen öffentlichen Äußerungen so ausdauernd wiederholt wie in seinen Arbeiten, offenbart letztlich nichts, es ist die Offenbarung selbst. Wir sehen es nicht nur, wir nehmen es auch über die Haut auf. Als Lichtfresser sind wir jedoch weder für die gleißende Sonne gemacht noch für die Nacht. Wir sind Wesen der Dämmerung. Ort und Ortlosigkeit des künstlerischen Blicks überkreuzen sich dabei auf irritierende Weise. Rein topographisch befand sich Turrell nie in größerer Nähe zu buddhistischen Gedanken. Auf dem Tempelgelände wurde einst mit Sicherheit auch das Herz-Sutra gedruckt, dem zufolge Form nichts anderes ist als Leere und Leere nichts anderes als Form. Zugleich dürfte er seiner Umgebung selten fremder geblieben sein. Das Hotel läßt seine Lichtinstallation von einem Soundtrack begleiten, der den Lärm aus den benachbarten Hutongs übertönen soll, wofür sich die Restaurants und Garküchen mit einem Anflug von Essensgerüchen revanchieren, die durch die Dachluke ins Innere des Skyspace dringen.
[...]
SINN UND FORM 6/2015, S. 774-783, hier S. 774-776
Joas, Hans
Ein Christ durch Krieg und Revolution.
Alfred Döblins Erzählwerk »November 1918«, S. 784Wie der Selbstmord erscheint uns die religiöse Konversion als individueller Akt im reinsten Sinne. Wir nehmen an, daß erschütternde existentielle (...)
LeseprobeJoas, Hans
EIN CHRIST DURCH KRIEG UND REVOLUTION Alfred Döblins Erzählwerk »November 1918«
Wie der Selbstmord erscheint uns die religiöse Konversion als individueller Akt im reinsten Sinne. Wir nehmen an, daß erschütternde existentielle Erfahrungen den Ausschlag geben, wenn jemand sein Leben nicht mehr fortsetzen will oder seine tiefsten, identitätsbestimmenden Überzeugungen ändert. Gewiß können beim bloßen Übertritt zu einer anderen Glaubensgemeinschaft auch oberflächlichere Erwägungen oder Zwang eine Rolle spielen: steuerliche Vorteile etwa, die Bemühung um eine Heiratserlaubnis, politische Loyalitäten. In diesen Fällen aber zögern wir, den Begriff Konversion auf den Wechsel der Mitgliedschaft überhaupt anzuwenden. Am Fall des Selbstmords hat eine der Pionierarbeiten aus der Gründungsphase der Disziplin Soziologie eindrucksvoll demonstriert, daß auch bei höchst individuellen existentiellen Akten soziale Muster auszumachen sind. Protestanten, so behauptete in einer großen Studie 1897 der französische Begründer der Soziologie, Émile Durkheim, begingen häufiger Selbstmord als Katholiken und Juden, Unverheiratete häufiger als Verheiratete, kinderlose Ehepaare häufiger als solche mit Kindern. In Zeiten wirtschaftlicher Krise nähmen Selbstmorde zu, aber auch in Zeiten rapiden ökonomischen Aufschwungs. Revolutionen und Kriege senkten im Regelfall eher die Selbstmordhäufigkeit. Wichtig sind hier nicht diese Befunde im einzelnen, sondern ist die Einsicht, daß individuelle Akte, ohne dadurch weniger persönlich zu werden, in ihrer sozialen Verteilung doch auf Kräfte hinweisen, die sich nicht auf Individuelles zurückführen lassen. Durch die Forschung nach Durkheim haben wir zudem gelernt, daß schon in die statistische Erfassung eines Todesfalls als eines Selbstmords Definitionsprozesse eingehen, die in verschiedenen Kulturen und Milieus verschiedenen Charakter haben und die Vergleichbarkeit der Daten damit mindern.
All das gilt auch für Konversionen. Jeder einzelne Mensch, der sich von einer religiösen Gemeinschaft löst, in der er aufgewachsen ist; jeder Mensch, der vielleicht gegen den Widerstand seines Umfelds den Weg zu einer neuen Überzeugung und Gemeinschaft findet, kann dies als dramatischen Einschnitt empfinden, der sein Leben in ein Vorher und Nachher gliedert. Aber auch hier gelten soziale Muster – wie etwa der enorme Schub an Kirchenaustritten in westeuropäischen Ländern seit den 1960er Jahren zeigt, der massenhafte Übertritt zu protestantischen Gruppen in Lateinamerika und bei nordamerikanischen Hispanics, die Christianisierung in Südkorea und Teilen Chinas heute. In diesen Formulierungen durfte schon deutlich geworden sein, was ich dennoch ausdrücklich hervorheben möchte: daß »Konversion« in den Sozialwissenschaften ein wertfreier Begriff ist, also nicht das Finden höherer oder objektiver Wahrheit bezeichnet, sondern auf subjektiven Überzeugungswandel zielt. Deshalb ist der Weg etwa zum christlichen Glauben damit ebenso gemeint wie der Weg weg von ihm. Es geht auch nicht nur um religiösen Glauben, sondern um alle tiefsitzenden und weitreichenden Überzeugungssysteme. In diesem Sinne konvertieren Menschen auch zum Marxismus oder Faschismus oder islamistischen Fundamentalismus, aber natürlich auch zum Liberalismus, säkularen Humanismus oder einem leidenschaftlichen Einsatz für soziale Gleichheit oder Menschenrechte. Wie bei der Forschung zum Selbstmord hat sich auch hier als unabdingbar herausgestellt, die Konversionserzählungen als Genre anzuerkennen und nicht anzunehmen, daß jeder Mensch die Erzählform, in der er von seinem Überzeugungswandel berichtet, jeweils neu erfindet. In manchen Traditionen gibt es Mustererzählungen, die für den einzelnen bereitstehen und schon seine Erwartungen und sein Erleben präformieren. Auch die Erzählung über den Glaubensverlust, etwa in James Joyce’ »Porträt des Künstlers als junger Mann«, als dem Jesuitenschüler am sommerlichen Strand angesichts eines Mädchens, das mit geschürztem Rock ins Wasser watet, schlagartig klar wird, wovon er sich lösen will, hat erzähltechnisch die Struktur des klassischen christlichen Konversionsnarrativs. Erfahrung und Artikulation der Erfahrung sind hier im Einzelfall kaum zu entwirren.
Einige Gedanken, die mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig sind, möchte ich an einem literarischen Werk entwickeln: dem vierbändigen »Erzählwerk«, wie der Autor es nannte, »November 1918«, das wie alle Bücher Alfred Döblins, außer dem einen unsterblichen Erfolgsbuch »Berlin Alexanderplatz«, zum Leidwesen seines Verfassers und in diesem Falle mit verursacht durch eine besonders unglückliche Publikationsgeschichte nie so ganz die Aufmerksamkeit gefunden hat, die es nach meinem Urteil verdient. Das Desinteresse ist zumindest hierzulande überraschend, da es sich bei diesem Buch zu weiten Teilen ja um einen Berlin-Roman handelt. Döblin kehrte im französischen und amerikanischen Exil, wo er das Werk 1937– 43 verfaßte, imaginär zu der »Häuserwucherung « zurück, »die sich flach und düster in der sandigen Mark ausbreitete«, durchzogen von einem »armseligen Rinnsal« namens Spree, mit »schwarzen und schillernden Farben von den Abwässern, die man hineinleitete«, und dem die Häuser den Rücken zuwandten, während Schuppen und Kohlenlager die Ufer des »trüben, proletarischen Gewässers« bedeckten (Band II, 9). In der heutigen postindustriellen Stadt Berlin, in der künstliche Sandstrände und zahllose Cafés oder pseudobayerische Biergärten den Fluß begleiten und Touristen aus aller Welt und junge Leute mit viel Freizeit ihr Leben dort demonstrativ genießen, wirkt das von Döblin evozierte arme, graue, industrielle Berlin fast schon exotisch. In seiner an die historischen Ereignisse eng angelehnten Chronologie vom 10. November 1918, dem Tag nach dem Sturz und der Flucht des Kaisers, bis zum 15. Januar 1919, dem Tag der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, wird die Topographie Berlins ständig körperlich spürbar, und zwar nicht nur im historischen Zentrum, vom Polizeipräsidium am Alex bis zur Reichskanzlei in der Wilhelmstraße, auch nicht nur bis hin zum Landwehrkanal im Tiergarten, wo sich die schaurigen Szenen des Mordes an Karl und Rosa abspielen, sondern vom Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain bis hinein ins bürgerliche Wilmersdorf, etwa zur Mannheimer Straße, wo man Liebknecht in der Wohnung verhaftete, in der er sich verborgen hielt, oder zum Heidelberger Platz, über den die geschlagenen Fronttruppen in Berlin einzogen, durch Straßen, die schwarz waren von Menschen, von Hochrufen begleitet und sich ihrer Niederlage und der gigantischen Verluste an Kameraden doch bewußt. Vor allem aber handelt es sich bei diesem Werk um ein Buch der Konversionen.
Damit meine ich nicht, daß es verfaßt wurde, als Döblin, der säkulare Jude, sich immer mehr dem katholischen Christentum annäherte, bis er sich schließlich am 30. November 1941 im kalifornischen Santa Monica taufen ließ. Die Zusammenhänge zwischen Autorenbiographie und innerer Logik des literarischen Werks sind nicht so simpel, als würde ein Autor von Döblins Format sein Werk einfach zum Sprachrohr einer vorgefaßten missionarischen Intention machen. Ganz unzulänglich und als Vorurteile aus dem Weg zu räumen sind auch die Vorstellungen, Döblin sei aus Schwäche, durch einen Zusammenbruch seiner Persönlichkeit, zum Christen geworden, wie man von Brecht bis Grass lesen kann, ebenso auch die Versuche, Döblin gewissermaßen der Gattung Renegatenliteratur einzugliedern, den Schriften ehemaliger revolutionärer Sozialisten, die an die Stelle ihrer politischen Utopie nun etwas anderes, z. B. ein verklärtes Jenseits stellen. Döblins »November 1918« enthält in einem seiner Stränge tatsächlich eine klassische Konversionserzählung, die des kriegstraumatisierten Offiziers und Berliner Gymnasiallehrers Friedrich Becker. Ich werde aber zu zeigen versuchen, daß Döblin auch den Krieg insgesamt ins Licht der Konversionsfragen rückt, weil er sich außer für alles Militärische, Politische und Ökonomische auch für die »psychiatrischen« Fragen der persönlichkeitsverändernden Wirkungen von Gewalterfahrung öffnet. Auch die Revolution wird neu beleuchtet, weil sie nicht nur als politisches Ereignis im Roman zum Gegenstand wird, sondern als etwas Imaginäres, als mythische Gestalt des Traums von einem neuen Menschen und einer neuen Welt. Nur durch diese Tiefe des Konversionsverständnisses wird auch der Mut nachvollziehbar, mit dem Döblin seine zweite individuelle Konversionsgeschichte in diesem Werk entfaltet, die der Rosa Luxemburg. Erst durch die Verknüpfung all dieser Stränge und weiterer entsteht eine Antwort auf die beiden Fragen, die Döblin in diesem Werk stellt und die ich durch die Doppeldeutigkeit der Präposition »durch« im Titel meines Aufsatzes ausdrücken will: Wie kann ein Mensch angesichts des Weltkriegs, dieser Bankrotterklärung des christlichen Europa, zum Christen werden, und wie kann ein Christ die Revolutionszeit als Christ durchleben? Wie hätte sich ein Christ zum Krieg und zur Revolution stellen sollen, wenn für ihn Christsein nicht konfessionelle Milieuzugehörigkeit mit entsprechendem Wahlverhalten bedeutet, sondern: das Evangelium. [...]
SINN UND FORM 6/2015, S. 784-799, hier S. 784-787
Grynberg, Henryk
Der Sieg. Mit einer Nachbemerkung
von Lothar Quinkenstein, S. 800Dieckmann, Friedrich
Stunde Null im Erzgebirge.
Eine Kindheitserinnerung, S. 811Ziebritzki, Henning
Vogelwerk. Gedichte, S. 827Prammer, Theresia
Mönchsgrasmücken, Tamarisken,
Bekassinen. Der Dichter Giovanni Pascoli, S. 830oci oci oci oci oci oci, fi fideli fideli fideli fi, ci cieriri ci ci cieriri, ci ri ciwigk cidiwigk fici fici. Oswald von (...)
LeseprobePrammer, Theresia
MÖNCHSGRASMÜCKEN, TAMARISKEN, BEKASSINEN Der Dichter Giovanni Pascoli
oci oci oci oci oci oci,
fi fideli fideli fideli fi,
ci cieriri ci ci cieriri,
ci ri ciwigk cidiwigk fici fici.
Oswald von Wolkenstein
chioccola il merlo, fischia il beccacino;
anch’io torno a cantare in mio latino.
es flötet die Amsel, die Schnepfe schlägt ein;
auch ich singe weiter in meinem Latein.
Giovanni Pascoli
Obwohl im deutschen Sprachraum bis heute kaum bekannt, war Giovanni Pascoli (1855 –1912) einer der großen Dichter des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Für Pier Paolo Pasolini, der ihm bereits in jungen Jahren ein Buch gewidmet hatte, stellte sein poetisches Denken und Wirken sogar die Grundlage der italienischen Gegenwartslyrik dar. Wie sein Lehrer, der Bologneser Universitätsprofessor Giosuè Carducci, verband Pascoli die Universitätslaufbahn mit der Berufung des Dichters. Sein Werk umfaßt Oden und Hymnen ebenso wie spirituell gefärbte Verse; die exaltierten Züge des Fin de siècle spiegeln sich darin und lassen doch Raum für das Privat-Alltägliche, Erlebte, »Nicht-zu-Erfindende« (Pascoli). Dem aulisch-rhetorischen Gestus D’Annunzios stand Pascoli trotz gegenseitiger Wertschätzung eher distanziert gegenüber; seine besten Dichtungen bleiben symbol- und bildverhaftet, mit suggestiven Ausrufen und fragmentarischen Einsprengseln direkter Rede.
Der Gegensatz zwischen urbaner, gesellschaftlicher Realität und ländlich-bäuerlicher Intimität bildet den Hintergrund seiner wichtigsten Gedichtbände »Myricae « und »Canti di Castelvecchio«. In ihnen verknüpft sich das Heimweh nach dem »Nest«, dem Hort vertrauter Räume und familiärer Zuneigungen, mit einer obsessiven und groß artigen Präzision im Hinblick auf Orte und Schauplätze, botanische und zoologische Kategorien und Begriffe.
Einen Gutteil seines Werks hat Pascoli seinem unbestrittenen Lebensthema, nämlich der individuellen und überindividuellen Erfahrungsdimension des Kindseins gewidmet. In dem vielbeachteten Essay »Das Knäblein. Poetik und Poesie« (»Il Fanciullino«) wendet er sich gegen alles Proklamatorische (das ihm in seinen patriotisch-politischen Gedichten allerdings selbst nicht fremd ist) und plädiert für die Aufwertung elementarer kindlicher Mythen und Erinnerungen. Diese erscheinen ihm universell und vermittelbar, sofern der Dichter sich nicht auf die Rolle des »Redners oder Predigers«, des Philosophen, »Historikers, Lehrers, Volkstribuns oder Demagogen, Staatsmanns oder Höflings« beschränkt, sondern seine Berufung zur Erziehung der Gefühle erkennt. Dabei steigern sich reale Erlebnisse mitunter zu wachtraumartigen Visionen. Die Ermordung des Vaters, die Pascoli mit knapp zwölf Jahren verwinden mußte, ist eines davon und findet in zahlreichen Gedichten ihren Niederschlag: Ruggero Pascoli, Verwalter des Landguts »La Torre«, fiel 1867 auf dem Heimweg von der nahen Stadt Cesena einem brutalen Anschlag zum Opfer. Die Hintergründe, ob politisches Komplott oder Begehrlichkeiten um den Posten des Vaters, wurden nie geklärt. Der Täter jedenfalls entging der Strafe; kollektives Schweigen, Banditentum und Verschleierung von Fakten hielten die Ermittlungen über Jahre auf. Die Familie mußte das Wohnhaus aufgeben und aufs Anwesen der Mutter nach San Mauro übersiedeln. Caterina Pascoli überlebte ihren Mann nur um wenige Monate, danach wurde, der Not gehorchend, auch ihr Elternhaus veräußert. Aufgrund eines Verdachts stellten die Brüder eigene Nachforschungen zur Identität des Mörders an; Morddrohungen und Repressalien waren die Folge. Weitere Todesfälle ereilten die Familie: Pascoli verlor kurz nacheinander zwei seiner Geschwister.
Die Wege der Hinterbliebenen trennten sich: Die Schwestern Ida und Maria wurden im Kloster von Sogliano am Rubikon ausgebildet, Pascoli begann seine Universitätslaufbahn und schloß sich der sozialistischen Bewegung seines Heimatlandes an. Von Schuldgefühlen geplagt, holte er die Schwestern später wieder zu sich, denen er bis zu seinem Lebensende in einer Art Schmerzensgemeinschaft verbunden blieb. Idas Heirat empfand Pascoli, der zum Wohl der Familie auf eine eigene Ehe verzichtet hatte, als Verrat. Dennoch unterstützte er sie und ihren Mann wie auch den unsteten Bruder Giacomo noch jahrelang.
Die überaus enge, einer Liebesbeziehung nicht unähnliche Bindung an die Schwestern hat Pascolis späte Jahre mehr als alles andere bestimmt und seine Exegeten zu ebenso wunderbaren wie wildwüchsigen Mutmaßungen beflügelt. (Cesare Garboli etwa prägte das merkwürdige Wort vom »lesbischen Pascoli«.) Dieser selbst interessierte sich mehr und mehr für das Unbewußte und brachte es zu beachtlichem psychologischen Tiefblick.
»Mögen sie um das alte Grab meiner jungen Mutter herum wachsen und blühen, diese herbstlichen myricae«, schreibt Pascoli im gleichnamigen, an Vergils »Bukolika« angelehnten Band. Die fein verästelten Tamarisken also werden aufgerufen, um dem Trauernden Trost zu spenden, erneuern aber auch die Trauer, indem sie symbolisch auf die Vergänglichkeit verweisen. Die wichtigsten poetischen Repräsentanten seiner Kindheitsorte sind in den »Myricae« wie den »Gesängen aus Castelvecchio« die Vögel des Apennin. Die Rufe der Nachtigallen und Buchfinken, Zeisige und Eichelhäher, Bekassinen und Mönchsgrasmücken haben es Pascoli angetan, nebst ihren Brutgewohnheiten, Flugstrecken und dem Farbenspiel ihres Gefieders. (Tierlaut und Vers sind im Italienischen übrigens ein und dasselbe Wort: verso.) Seine volksetymologischen Erkundungsgänge und Wechselgesänge von Mensch und Tier bringen eine Naturverbundenheit zum Ausdruck, die weit über eine bloße Evokation von Naturerscheinungen hinausgeht. Eine nicht selten pathetische und metaphorisch überhöhte Identifikation mit anderen Lebewesen kommt hier zum Tragen. Das belegen wiederkehrende Motive wie der Vergleich der verwaisten Familie mit einem verlassenen Schwalbennest oder das sentimentale Porträt der »grauen Stute«, die die Kutsche des Vaters zog und nach seiner Ermordung in den Zeugenstand berufen wurde, wo sie wiehernd sogar den Namen des Täters angedeutet haben soll. Eine solche Identifikation liegt schließlich auch der Analogie von dichterischer Sprache und Vogeljagd zugrunde: »In der Tat«, schreibt Pascoli, »gleicht der Schriftsteller oder Redner, der zwei Wörter für eine Idee verschwendet, dem Vogeljäger, der zwei Patronen auf ein Rotkehlchen verschießt und es dennoch nicht erwischt.« (»Anmerkung« zu den »Gesängen aus Castelvecchio«)
Wohl um frühere Versäumnisse zu kompensieren, kam es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter italienischen Kritikern zu einem regelrechten Wettstreit in der Pascoli-Auslegung. Cesare Garboli faszinierte die Mischung aus kosmischem Schwärmen und intimer Zartheit, Gian Luigi Beccaria interessierte vor allem Pascolis weitgehend auf Klangfarben, Tonwerte, Lautmalereien und Anagrammstrukturen gründende Poetik, die das Terrain der »bekannten Sprache« und die »verbindliche Tradition hoher und ›nachahmenswürdiger‹ Beispiele« hinter sich lasse – zugunsten einer noch unbekannten oder untergegangenen Sprache, »die auf dem Grunde der bekannten gesucht« werden müsse.
Auch als Verfasser neulateinischer Gedichte erlangte Pascoli eine außergewöhnliche Meisterschaft: dreizehnmal gewann er den Amsterdamer Preis für lateinische Poesie. In seinen »Gedanken zum Schulwesen« polemisiert er gegen den Vorschlag, den Griechischunterricht abzuschaffen, und kommt zu dem Schluß: »Die Sprache der Dichter ist immer eine tote Sprache«. Doch fügt er gleich hinzu: »Sonderbare Aussage: eine tote Sprache, verwendet, um dem Denken größere Lebendigkeit zu verleihen.« Hier spricht Pascoli in eigener Sache; die Werke der Klassiker sind für ihn »kleine Lämpchen, die auch im Grab weiter zu leuchten vermögen«. In der Spannung zwischen individuellem Erinnern und emotionalem Gehalt überlieferter Begriffe bereichern und erneuern sie die Sprache und ermöglichen es dem Dichter, der an sie anknüpft, in andere Rollen zu schlüpfen. So wählt Pascoli seinen Standpunkt in der Vergangenheit, um Gegenwart und Zukunft träumerisch Gestalt zu geben – eine bewährte Strategie im Umgang mit Verlusterfahrungen (Traum steht gegen Trauma).
SINN UND FORM 6/2015, S. 830-840, hier S. 830-833
Pascoli, Giovanni
Drachensteigen. Gedichte, S. 835Hartung, Harald
Provisorische Schlüsse, S. 841Zagajewski, Adam
Romanlektüre in der Pension »Zuflucht«.
Dankrede zum Heinrich-Mann-Preis, S. 851Lawrence, D.H.
Apropos Lady Chatterleys Liebhaber, S. 855