
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-65-2
Heft 3/2022 enthält:
Cather, Willa
Eine zufällige Begegnung, S. 293
Koepsell, Kornelia
Klage um Dostojewski. Gedichte, S. 309
Kieseritzky, Ingomar von
Der Jenseits-Baedeker, S. 316
Hettche, Thomas
Männer sind sinkende Sterne. Tübinger Poetikvorlesung, S. 325
Katkus, Laurynas
Auf der Rolltreppe gegen die Laufrichtung. Gedichte, S. 338
Reichl, Veronika
Der doppelte Kompaß, S. 341
Abdollahi, Ali
Der gebrochene Blick. Gedichte, S. 346
Krüger, Michael
Meine israelischen Dichter, S. 350
Lenz, Nina
Salamander. Gedichte, S. 370
Rühmkorf, Peter
Träume ausgeklinkt. Briefwechsel mit Kurt Darsow 1996/97. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow, S. 372
Flugübungen. Eine Vorbemerkung
Hellwache Gegenwartsnähe und profunde Belesenheit schlossen sich für Peter Rühmkorf nie aus. Bis in die (...)
Rühmkorf, Peter
Träume ausgeklinkt. Briefwechsel mit Kurt Darsow 1996/97. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow
Flugübungen. Eine Vorbemerkung
Hellwache Gegenwartsnähe und profunde Belesenheit schlossen sich für Peter Rühmkorf nie aus. Bis in die Wortwahl hat er in seinen vertrackten Gedichten das Triviale mit dem Erlesenen kontrastiert. Der Panzerschrank, die Wurstfabrik, das Hollerithgesicht, der Siebenuhrflieger, die Rheinstahltochter und das Morgenei koexistieren dort unfriedlich mit dem Montgolfier, der Hypotaxe, dem Prokrustesbett, dem Nietzschewort, Hans Huckebein und dem Prinzip Hoffnung. Kein Wunder, daß für den unehelichen Sohn einer Grundschullehrerin und eines Puppenspielers die unterschiedlichsten Charakteristiken in Gebrauch sind – vom letzten Minnesänger, finalen Hochseilartisten und alterslosen Springinsfeld bis zum rüden Schöngeist, rotzigen Romantiker und preziösen Gorilla. Mal galten seine Publikationen als sachlich-kritisch, witzig-frech und pfiffiggriffig, mal als zierlich-zynisch, sackgrob-kraß und unbändig-wütend.
Wußte der Mann mit den vielen Gesichtern überhaupt, wer er war? Daß er sich Decknamen wie Lyng, Lyngi, Lynkeus, Leslie Meyer, Wang Lun, Leo Doletzki, Johannes Fontara, John Frieder, Harry Flieder, Hans Hingst, Peter Torbog und Hans-Werner Weber zulegte, läßt sein diffuses Bild vollends verschwimmen. Die Verwirrung um seine Person erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt, als er 1996 intime Tagebuch-Aufzeichnungen aus den Wendejahren 1989 und 1990 unter dem Titel »TABU I« veröffentlichte, die ihn als von seiner alleinerziehenden Mutter gegängelten, von Krankheiten zermürbten, vom Alter gebeugten und von Kritikern links liegengelassenen Schmerzensmann auswiesen. »Man mag sie nicht, diese deutsche Dichterkrankheit«, schrieb Mathias Greffrath im Spiegel über das Klagelied eines leidgeprüften Poète maudit, »aber in Rühmkorfs Selbstbeobachtung wird sie als die unvermeidliche Schlacke erkennbar, die als Rückstand im poetischen Verbrennungsprozeß anfällt: In ihm schmelzt er mit ›eiserner‹ Disziplin aus den Nöten der Magersucht die Eleganz des freien Fluges, mit dem er der lustfeindlichen, prügelnden Mutter entkommt. So steigt die provozierende Sinnlichkeit aus den tiefen Verliesen des verhemmten Selbst, so wächst die Lyrik vom aufrechten Gang aus der Unfähigkeit, sich vertrauensvoll fallen zu lassen.« Wird man dem »lyrischen Ich- Darsteller« mit Festlegungen dieser Art gerecht? Lassen sich seine schmissigen »Volksund Monomanenlieder« allein aus der prekären Seelenlage ihres Verfassers erklären? Bei einer Lesung in Düsseldorf hatte ich Rühmkorf 1988 von einer ganz anderen Seite erlebt. Statt eines Nervenbündels intonierte da ein versierter Vortragskünstler in betörendem Singsang sein ortsbezogenes »Heinrich-Heine-Gedenklied«. Wer wollte, konnte in dem klimpernden Auftakt »Ting-tang-Tellerlein« sogar ein verwehtes Echo der Rolling Stones heraushören: »I met a gin-soaked bar-room queen in Memphis / She tried to take me upstairs for a ride« – was den fahrenden Sänger freilich nicht daran hinderte, sich nach der Veranstaltung von älteren Damen im Publikum wie ein Kavalier der alten Schule zu verabschieden: »Schön, daß Sie da waren!«
Auf dem Weg zu Hans Henny Jahnns reetgedecktem Domizil im Hamburger Hirschpark sah ich Rühmkorf ein paar Jahre später auf einem Balkon unweit des Altonaer Fischmarkts wieder. Auch diese winddurchwehte Begegnung wollte nicht recht zu dem Unglücksraben aus »TABU 1« passen. Sie erinnerte eher an einen wärmebedürftigen Passagier auf dem Sonnendeck eines Ocean Liners. Hätte ich bei der Gelegenheit wie ein aufdringlicher Verehrer bei ihm klingeln sollen? Lieber nicht! Immerhin wußte ich jetzt, was es mit der Adresse Övelgönne 50 auf sich hatte: ein kleines Reihenhaus an der Elbe, ein schmutziger Strand, träge schwappende Wellen und statt Tropical Islands die rostigen Containerschiffe einer vielbefahrenen Handelsroute.
Richard Anders, Rühmkorfs kauziger Jugendfreund, der schon an seiner Zeitschrift »Zwischen den Kriegen« mitgewirkt hatte, machte mich schließlich mit »Rühmi« persönlich bekannt. Er lud mich 1992 zu einem privaten Treffen in der Berliner Hinterhofkneipe Café Clara ein. Als der dürre Dichter im schlotternden Trenchcoat mit einem Troß junger Männer verspätet eintraf, hatte er bereits einen in der Krone. Daß »Bier und Korn auf Kosten des Hauses« noch nicht für ihn auf dem Tisch standen, fand er empörend: »Wo sind wir denn hier?« Nach der ersten Runde ergriff er entschlossen das Wort und ließ es sich im Verlauf des Abends nicht mehr nehmen. Seinem brillanten Redefluß konnten auch weitere Gläser nichts anhaben; vielmehr befeuerten sie ihn zu immer gläserneren Sentenzen und giftigeren Sottisen, bis dem Akrobaten in der Zirkuskuppel kaum noch jemand folgen konnte. Natürlich drehte sich der Diskurs unweit des Reichstags um den gerade stattfindenden »Ausverkauf der DDR«. Gegen das bigotte »Restauratorium« der Ära Adenauer hatte Rühmkorf schließlich mit einem Ingrimm agitiert wie sonst vielleicht nur noch Arno Schmidt. Wie konnte er nach dieser Kampferfahrung goutieren, daß der »Kanzler der Einheit« gerade gesamtdeutsch hinbekam, was der »Kanzler der Alliierten« westdeutsch auf den Weg gebracht hatte? »Widersteht! Im Siegen Ungeübte / zwischen Scylla hier und dort Charybde / Schwankt der Wechselkurs der Odyssee. / Finsternis kommt reichlich nachgeflossen; / aber du mit – such sie dir! – Genossen …« So in etwa lautete der vaterländische Gesang des alkoholisch entfesselten Luftgeists im Café Clara.
Über das Verhältnis von Dichtkunst und Drogengenuß hat sich Rühmkorf einschlägig geäußert. Mit Gottfried Benn war er der Ansicht: »Potente Gehirne stärken sich nicht durch Milch«. Ob ihm neben hochprozentigen auch eher immaterielle, um nicht zu sagen: überirdische Impulsgeber zu Diensten waren, ist schwer zu sagen: »Keine Posaune zurhand, keine Verkündigungen, / der Himmel abgespeckt, / wenn der Abend mit siebenfarbener Zunge am Fenster leckt«, ist in einem Gedichtband Rühmkorfs mit dem auf die Gravitationskonstante bezogenen Titel »Irdisches Vergnügen in g« zu lesen. Die dritte Strophe des Gedichts »Himmel abgespeckt« dagegen wildert im ungewissen: »Träume ausgeklinkt – gutso – die gondeln im Blauen, / in den schwimmenden Äther getupft; / mein gepökeltes Herz, mein eingesalznes Vertrauen, / das die Stellung hält und die Schlagader zupft.«
Jede Nacht streifen wir auf diese Weise die Erdenschwere ab. Vier- bis fünfmal ist in unseren Köpfen für jeweils zwanzig Minuten Kino. Doch was da über die innere Leinwand flimmert, folgt keinem Drehbuch. Erst nachträglich und unter Mitwirkung des Verstands werden Geschichten daraus. Läßt sich der »Stoff, aus dem die Träume sind«, überhaupt im Medium der Sprache erfassen? Schließlich besteht er hauptsächlich aus Bildern, und Bilder haben ihre eigene Logik. Dennoch wird seit Menschengedenken die Lehrmeinung vertreten, Träume hätten eine Bedeutung. »Aber die Träume, natürlich, sie sind ja nicht, sie bedeuten nur«, lesen wir auch in Peter Rühmkorfs »TABU I« im Anschluß an einen eigenen Traum, in dem ein Fisch zerlegt und gekocht wird, der vielleicht gar kein Fisch ist, sondern eine Seejungfrau. Mit Vater Freud im Bunde fällt dem deutungsseligen Träumer beim Aufwachen gleich der mädchenhafte Leib seiner Mutter ein, die gerade gestorben ist.
Luigi Malerba hält von Mutterschlachtungen dieser Art wenig. Zwar sind Träume auch für den italienischen Romancier kein bloßer Aberwitz, sonst würde er ihnen in seinem »Tagebuch eines Träumers« nicht so viel Aufmerksamkeit schenken; aber in seinen Augen handelt es sich dabei um kreative Ausbrüche, die auf der »Entregelung der Sinne« beruhen. Selbst die nüchternsten Köpfe können auf diese Weise ihr blaues Wunder erleben. Pedanten werden zu Phantasten, Verklemmte zu Draufgängern, Stubenhocker zu Weltreisenden. Und solche Erfindungen sollten allesamt auf die Muster des kollektiven Gedächtnisses zurückgehen? Malerba weiß es besser: »Wir können ganz friedlich behaupten, daß eine im Traum auftauchende Zypresse eine Zypresse ist und kein phallisches Symbol.« Also hinsehen statt analysieren! Aufschreiben statt zerpflükken! Den Traum als Kunstwerk betrachten! »Der Dichter arbeitet«, schrieb schon der symbolistische Dichter Saint-Pol-Roux auf seine Schlafzimmertür. Und Franz Kafka überschritt durch systematischen Schlafentzug die Grenze des Erfahrbaren noch radikaler. Sein Schrei ben war zugleich ein Träumen und dürfte seine unvergleichliche Wirkung wohl vor allem dieser schlafwandlerischen Eigenschaft verdanken.
Freud oder Malerba? Da ich gerade an einem Radiofeature mit dem Titel »Traumdenken. Über die Nachtseite des Verstandes« bastelte, hätte ich Rühmkorf gern vor diese Alternative gestellt. Am 3. Januar 1996 bat ich ihn daher brieflich um ein Interview. In einer ersten Antwort vom 23. Januar ging er zwar umständehalber nicht auf meinen Wunsch ein, kam aber schon eine Woche später überraschend bereitwillig auf mein Thema zurück, indem er mir ein eigenes Traumbeispiel nebst Kommentar übersandte. Zuschriften muß er, wie aus seiner inzwischen vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach archivierten Korrespondenz hervorgeht, in unvorstellbarer Menge erhalten haben. Er hat sie offenkundig nicht nur allesamt aufbewahrt, sondern in den meisten Fällen wohl auch beantwortet. Diese überbordende Mitteilsamkeit ist bei Schriftstellern durchaus nicht die Regel, wie jeder Schreiber von Leserbriefen weiß. Da es allein schon wegen des schieren Umfangs des Rühmkorfschen Briefwechsels unwahrscheinlich sein dürfte, daß er jemals vollständig veröffentlicht wird, soll hier stichprobenhaft aufgezeigt werden, was den leicht entzündlichen Briefeschreiber zu seinen flüchtig getippten und sorgfältig korrigierten Antworten gebracht haben könnte.
Der spontan aufblühende Briefwechsel ließ nach meinem Gefühl auf ein tiefes Bedürfnis nach Zuspruch und Geselligkeit schließen. Da feilte offenbar einer in seiner Dachstube an poetischer Flaschenpost, die nur selten aufgefischt und noch seltener gewürdigt wurde. Unter diesem einsamen Geschäft muß Rühmkorf maßlos gelitten haben. Nie war er mit dem zufrieden, was er in fleißiger Heimarbeit zustande brachte. Ein Projekt mit dem Arbeitstitel »Zeitroman« blieb auf der Strecke. Nur zwei Bände (»TABU I«, 1995, und »TABU II«, 2004) geben auszugsweise Einblick in die »Memos«, in denen der besessene Diarist seinen Alltag bis in die trivialsten Einzelheiten festhielt. In der Gruppe 47 ist er nach Mäkeleien an seinen Gedichten 1961 nie wieder aufgetreten. Bei Lesungen in anheimelnden Buchhandlungen war das anders. Da sah er in freundlich zustimmende Gesichter. Vor großem Publikum und mit Jazzbegleitung auf dem Hamburger Rathausmarkt war er erst recht in seinem Element und konnte aufgekratzt wirken wie ein Klabautermann. Aufbauende Empfindungen lösten wohl auch Briefe aus, die ihn aus seiner »Eber-Einzelbucht« herausholten und die Friedhofsasseln aus seiner Brust vertrieben.
Am Schreibtisch aber mußten Bildungsballast und Sprachschutt erst in langwierigen Probeläufen abgeschüttelt werden, ehe er zum freien Flug ansetzen konnte. Seltsamerweise fiel ihm dies bei seinem »Kerngeschäft«, dem Gedichteschreiben, am allerschwersten. Daß es monomanisch um sein eigenes Ich kreiste, hat nur entfernt mit Egozentrik zu tun. Als eine Art Lilienthal der Poesie nahm er dort sprachliche Anläufe, die ihm wenigstens auf dem Papier die Schwerkraft von den Schultern nehmen sollten, was ihm mit zunehmendem Alter immer mehr Mühe bereitete. Sage und schreibe 730 Seiten brauchte der »schuftende Artist« für den Aufgalopp zu seinem Gedicht »Selbst III / 88. Aus der Fassung «, und es ist nicht einmal sicher, ob sich die Mühe in diesem Fall gelohnt hat. Im kleinen Format aber gelangen ihm seine Flugversuche immer wieder: »Figur in Gras und Garben, / ein Herz, das wie Zunder verglimmt, / wenn der Abend flamingofarben / über die Grenze schwimmt« oder »All mein Glück wie nie gewesen, / aller Scherz wie nicht von hier, und da möchtest du es schon mal lesen, / daß es jemandem so ging wie dir« oder »Die Rosen gerade noch eben, / schon ziemlich viel Rost mit im Rot – / Das eine ziert sich zu leben, / das andere sinnt sich zu Tod.« Vielleicht, sagte ich mir, sind ja auch diesem Entfesselungskünstler seine Gedichte bisweilen im Traum erschienen. In unserem fragmentarischen Briefwechsel (einige meiner Briefe gingen bei einem Zimmerbrand verloren) gibt er sich in dieser Frage merkwürdig bedeckt. Lieber kehrt er den orthodoxen Freudianer heraus, der er nicht war, als sich am Schreibtisch in die Karten blicken zu lassen. Hatte er sich in seiner Jugend nicht überdies einer langwierigen Psychoanalyse unterzogen und anschließend sogar Psychologie studiert? Den Traum poetisch zu verwerten oder auch nur poetologisch in Betracht zu ziehen, muß Rühmkorf jedenfalls schwergefallen sein. Mehrere Versuche, ihm dennoch das eine oder andere Schreibgeheimnis zu entlocken, schlugen mithin fehl. In meinem Radiotext, auf den er am 1. Juli 1996 Bezug nimmt, kam auch sein Jugendfreund Reimar Lenz mit einem Traumbeispiel zu Wort. Lenz war bis in die sechziger Jahre Mitherausgeber der Zeitschriften »Lyrische Blätter« und »alternative« gewesen, in denen neben Celan, Enzensberger und vielen anderen auch Rühmkorf mit eigenen Gedichten vertreten war. Sein Gedicht »Anode« etwa, eine furiose Abrechnung mit dem Wirtschaftswunder, war 1962 erstmals in der »alternative« zu lesen (»Auf der Höhe des Friedens, aus der Fülle des Fetts, / in den gähnenden Sechzigern dies hier bekundet: / zu singen wenig, aber zu handeln genug – / nun schick deinen Traum in die Mauser«). 1957 reiste er mit Lenz, dem zwei Jahre jüngeren Dichterkollegen, zu den Weltjugendfestspielen in Moskau. Doch in unserem Briefwechsel kommt er erst auf ihn zurück, als ihm die Kopie eines verschollenen Jugendfotos aus seinen Sturm-und-Drang-Jahren ins Haus flatterte. Lenz hatte es aus den Tagen ihrer lyrischen Waffenbruderschaft aufbewahrt und an mich weitergereicht. Nicht einmal mit dem hochverehrten Arno Schmidt ließ Rühmkorf sich ködern. Nur zu gern hätte ich die von ihm zitierte lingualogische Komödie Alfred Maurys mit ihm diskutiert, »wo Jener einmal im Traume auf einer Landstraße spazierte und die Kilometersteine ablas. Dann in einen Kaufladen trat, dessen Inhaber zwar mit Kilogrammgewichten hantierte; dem Träumer aber mitteilte, er sei jetzt nicht in ›gay Paree‹, sondern auf der Molukkeninsel Dschilolo; worauf M. sich bedankte und durch Lobelienbüsche davonschritt, zwischen denen General Lopez auf ihn zukam und zu einer Partie Lotto einlud.« Dem Autor von »Zettel’s Traum« diente diese »scheinbar läppische Bilderfolge« zur Untermalung seiner »Etym-Theorie«, wonach Träumer aus »Zünd-Worten« die buntesten Geschichten konstruieren.
Doch Spekulationen dieser Art waren Rühmkorfs Sache nicht. Berichten über Traumdiktate bei Schriftstellern traute der »Klarsicht-Witzbold« nicht über den Weg. Daß die Neurobiologie über Freuds »Traumdeutung« längst hinaus ist und den Traum inzwischen als kreatives Spiel mit alternativen Möglichkeiten interpretiert, nahm er nicht zur Kenntnis. Dabei waren ihre Einsichten über die nächtliche Gedankenarbeit vermutlich auch für sein eigenes Schaffen von Belang. Der spielerische Umgang mit »Tagesresten« entsprach auch seiner poetischen Praxis. Im Traum würden »neue Muster« gewebt, befand schon August Strindberg. Er sei eine kunstvolle Mischung aus Erinnerung und Erfindung, aus Unwahrscheinlichkeit und Improvisation. Für den »Anti-Ikarus« Rühmkorf dagegen war und blieb der Traum, was schon Freud in seiner »Traumdeutung« aus ihm herausgelesen hatte.
Daß unser Briefwechsel bald versandete und im November 1997 schließlich ganz abbrach, lag jedoch nicht primär an inhaltlichen Differenzen, sondern an der immer prekärer werdenden Gesundheit des Adressaten. Zwar hatte ich am Rande von Lesungen und Vorträgen noch mehrfach die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, aber mehr als ein paar freundliche Worte kamen bei diesen Begegnungen nicht heraus. Dennoch war es ihm zum Abschied offenbar noch wichtig, mich auf der richtigen Seite der Barrikade zu wissen. Als der rebellische Geist in Deutschland verebbte, besann der »rote Rühmkorf« sich antizyklisch seiner west-östlichen Lehrjahre und fing wieder an, Marx zu lesen. Seinem letzten Schrei ben vom 23. November 1997 fügte er zur politischen Unterweisung das handschriftliche Gedicht »Bleib erschütterbar und widersteh« bei. Ein paar Jahre später, bei unserer letzten Begegnung auf den Fluren der Akademie der Künste am Hanseatenweg, kam er mir bereits so hinfällig vor, daß ich nicht mehr wagte, ihn anzusprechen.
Kurt Darsow
SINN UND FORM 3/2022, S. 372-390, hier S. 372-376
Dąbrowski, Tadeusz
Wie ein Komet am Himmel. Gedichte, S. 391
Dąbrowski, Tadeusz
Demut und Geheimnis. Ein Gespräch mit Adam Zagajewski über polnische Dichtung, Bewunderung und Phantasie, S. 393
Tkaczyszyn-Dycki, Eugeniusz
Lieder und Ziegel. Gedichte, S. 403
Killert, Gabriele Helen
Hypochondrie und Ironie. Uneigentliches Leiden und uneigentliches Sprechen im Werk von Adolf Muschg, S. 406
Adolf Muschg ist seit Jahrzehnten schon ein Klassiker der Gegenwartsliteratur. Und wie es so manchem Klassiker ergeht: Er gilt viel und wird wenig (...)
Killert, Gabriele Helen
Hypochondrie und Ironie. Uneigentliches Leiden und uneigentliches Sprechen im Werk von Adolf Muschg
Adolf Muschg ist seit Jahrzehnten schon ein Klassiker der Gegenwartsliteratur. Und wie es so manchem Klassiker ergeht: Er gilt viel und wird wenig gelesen. Muschg ist gleichsam der Schweiz-Korrespondent der Literatur, der uns über dieses eigenwillige Nachbarland auf dem laufenden hält. Seine Stimme hat als die eines reflektierten Intellektuellen Gewicht, sei es in entschiedener Opposition zu den Vereinfachern bei gewissen Zeitgeist-Themen (zuletzt etwa der sogenannten Cancel culture) oder als engagierter Streiter für ein aufgeklärtes, Konflikte tolerierendes »gastliches Europa«.
Neben dieser politisch-publizistischen Präsenz ist Adolf Muschg aber vor allem ein – auch jenseits der achtzig – unvermindert produktiver Erzähler. Beinah alle zwei Jahre überrascht er mit einem meist umfangreichen Roman, und es zeigt sich, daß er sich und seinen Lesern nichts nachgibt. Muschgs Erzählen war immer anspruchsvoll, immer hochgradig vielschichtig und mehrdeutig. Es richtete sich, wenn nicht an die happy few, so doch an eine literarisch gebildete Leserschaft. Es geht eigentlich stets ums Ganze. Um das Leben mit seinen unaufhebbaren Widersprüchen und Ambivalenzen. Um Abgründe, dunkle defizitäre Seiten hinter der bürgerlichen Fassade.
Bei einer Annäherung an Adolf Muschg nimmt man am besten den Umweg über die Hypochondrie. Sie ist eine große Produktivkraft in seinem Werk wie in der Literatur überhaupt. Immanuel Kant nannte sie die »Grillenkrankheit« und Hugo von Hofmannsthal spricht von den Qualen eines »Gespensterkampfes«. Man denke auch an Thomas Mann oder an Italo Svevo und seinen Helden Zeno Cosini, der ständig damit beschäftigt ist, seine letzte Zigarette zu rauchen, überhaupt mit einer gewissen Angstlust an die letzten Dinge denkt und mit Mitte dreißig bereits sein Ende erwartet. Von diesem bekennenden Hypochonder stammt der Satz: »Die Krankheit ist eine Überzeugung. Ich wurde mit dieser Überzeugung geboren.«
Wenn es so ist, daß die Themen sich ihren Autor suchen und nicht umgekehrt, dann hat es nach Svevo wohl niemanden mehr so erwischt, hat die Hypochondrie wohl kaum einen treueren literarischen Sachverständigen finden können als Adolf Muschg. Wie Svevo ist auch er ein passionierter Ironiker. Wie die Hypochondrie sich der Krankheit als Maske, so bedient er sich der Maske der Ironie. Uneigentliches Leiden und uneigentliches Sprechen – das tertium comparationis liegt in der Dissimulation, in der Verstellungskunst. Unter einem Hypochonder versteht man für gewöhnlich jemanden, der sich Krankheiten einbildet. Ein eingebildetes Leiden. Sagen wir lieber: ein Leiden aufgrund von Einbildungskraft. Ein Druckgefühl in der Lendengegend, ein taubes Gefühl im Arm – das kann nur etwas Schlimmes sein. Der Hypochonder ist so durchdrungen vom Gefühl der Unhaltbarkeit des Lebens, daß er immer auf das Schlimmste gefaßt ist. Muschgs Figur Albisser zum Beispiel, der linksbourgeoise Jedermann der sechziger und siebziger Jahre und Protagonist des Romans »Albissers Grund« (1974), läßt nichts aus. Er ist von Kopf bis Fuß auf Schmerzen eingestellt, und von Kopf bis Fuß wird er auch untersucht. »Es brachte ihn jedesmal an den Rand einer Ohnmacht. Aber immer noch nicht an den Rand eines Befunds, obwohl sich ein Urologe einmal extra ein wenig ›Nierengries‹ einfallen ließ. Ein Stein wollte aber nicht draus werden. Erst, als nuklearmedizinische Praktiken aufkamen, gelang es, in der rechten Niere Albissers eine gewisse Unterleistung nachzuweisen. Von der lebte er eine Weile.«
Der Hypochonder »lebt« von seinen Symptomen wie der Kapitalist von seinen Schulden. Der Mensch mag sich eine »gewisse Unterleistung« infolge eines notorischen Leistungsdrucks, infolge zu hoch geschraubter Erwartungen und Ziele nicht eingestehen. Oder um es mit Muschg zu sagen, er kapituliert gleichsam vor einer »Über-Ich-Forderung« und flüchtet in die Krankheit, »die zugleich eine echte Zuflucht ist. Denn sie bringt die Schuld zum Schweigen, indem sie ein Organ für sie sprechen läßt, das zugleich die Not anzeigt und um Hilfe ruft.« (»Literatur als Therapie?«) Im Falle Albissers springt die Niere ein und entschuldigt ihn gewissermaßen. Dieser burleske Ironie-Ton des Romans ist eine reife Kulturleistung. Es hat den Autor, wie wir aus diversen Selbstzeugnissen wissen, einiges an leidvollen Erfahrungen gekostet, um diese Konversion in Komik leisten zu können. (»Cystoskopie, Gastroskopie, Bronchoskopie, Koloskopie waren eine Zeitlang beinahe mein tägliches Brot …«)
Der Schmerz ist also real, aber er ist auch ein Phantomschmerz. Denn da, wo er sitzt, sitzt nicht das Problem. Muschgs Protagonisten verhalten sich wie der Mann, der seinen verlorenen Hausschlüssel nachts vor der eigenen Haustür sucht, nicht weil er dort liegen könnte, sondern weil er dort Licht hat. Der Autor hat dieser Absurditätsmetapher in seinem Roman »Das Licht und der Schlüssel« manch fruchtbare Sinndeutung abgewonnen. Etwa die, daß wir »einander nicht unser wirkliches Leben (erzählen), sondern Geschichten, mit denen wir es besser zu ertragen glauben«.
Auch der hypochondrische Schmerz erzählt solche Geschichten. Der Druckschmerz, die Taubheit, die vorübergehende Lähmung, das Herzstechen. Tu etwas, laß dir etwas einfallen, sagt eine Instanz, die unerkannt bleiben möchte, zum Körper. Denn nur dieser, das sichtbare Leben und Leiden, wird in der sozialen Sphäre ernst genommen und gebührend beachtet in seiner ganzen theatralen Wandlungsfähigkeit. Der Hypochonder hat seit früher Kindheit gelernt: Wenn der Leistungs- und Erwartungsdruck zu groß wird, hilft nur die Flucht in die Krankheit. Im geschwächten Zustand wurde dem endlich umsorgten Kind die Zuneigung und Aufmerksamkeit zuteil, die ansonsten fehlte. Und so tummelt sich an den unschuldigen Organen des Hypochonders plötzlich das bunte Leben, das sonst so ängstlich eingesparte.
Damit sind wir beim Kern des Problems. Von diesem Verdacht, daß es ihnen an Leben fehlt, sind die sensiblen, introspektiv begabten Antihelden der Schweizer Literatur bis zur Tollheit durchdrungen. Das Lebensgefühl in diesem Land tendiert, will man der Literatur glauben, offenbar schon von Hause aus zum Hypochondrischen. Beinah seit die Schweiz existiert, gibt es den »Meister Niemand« – und Provinzialitätskomplex. Das bohrende Gefühl, sich gegen das Leben, indem man ihm ängstlich ausweicht, zu versündigen, lastet wie ein Atridenfluch auf dieser Literatur von Gottfried Keller bis Robert Walser, von Max Frisch bis Adolf Muschg. Wofür müssen sie so schwer büßen? Das fragen sich die Protagonisten unausgesetzt selber. *** Ein Hauch von Asche liegt in der Luft. Einen Geruch von »versäumtem Leben« will Zerutt, der Therapeut und Gegenspieler der Hauptfigur im Roman »Albissers Grund«, bei den Schweizern ausgemacht haben. Er selber versteht es auch nicht zu leben. Erst als er an der Kugel, die sein Klient auf ihn abfeuert, beinah krepiert, wachsen ihm übermenschliche Kräfte zu. In einer Besenkammer der Klinik, wo man ihn schon abgeschrieben hat, erfährt er so etwas wie eine Wiedergeburt. Mit der Hoffnung, daß es ihm endlich einmal gelingen möge zu leben, endet das Buch. Doch daraus wird nichts. Zerutt kehrt im übernächsten Roman zurück, als untoter Vampir ohne fühlbaren Puls, den drei Arztgattinnen mit ihrem Blut ernähren müssen. Dafür kann er gut erzählen und das Leben anderer bereichern und sogar verlängern.
Oft greift der Autor wie ein Notarzt – oder wie ein Zenmeister – beherzt ein und führt eine heftige Erschütterung herbei, damit Leben und Bewußtsein in seine Figuren zurückkehren. Er muß Gewalt anwenden. Nicht selten läßt er von der Schußwaffe Gebrauch machen, damit ein neurotisch Gehemmter endlich aus sich herauskann. Von Albisser heißt es, nachdem er dem Therapeuten einen Lungendurchschuß verpaßt hat: »Das war das Gesunde an Albissers Krankheit, (…) daß er sich mit dieser negativen Diagnose nicht zufriedengab. Er hat Glück gehabt, daß er auf Zerutt geschossen hat. Daß er es endlich fertiggebracht hat, auf jemand anders zu schießen.« Albisser hatte immer wieder leidvolle Erfahrungen mit Ärzten machen müssen. Sie laborieren herum, schneiden ihn auf sein Drängen hin auf und finden notorisch: nichts. Albisser will aber, daß da etwas ist. Der boshafte Zerutt konnte, als er Albisser auf den Grund schaute, aber auch nichts finden außer mangelhaftem Leben und Ersatzwirtschaft, was ihn teuer zu stehen kam.
Dieses »Nichts« ist ein schwerwiegender, ein unbekömmlicher Befund. Auch bei Italo Svevo spielt es eine tragende Rolle. Seinem Held Nitti, diesem inetto, sprich: Lebensuntauglichen in dem Roman »Ein Leben«, setzt es existentiell zu, wie schon sein sprechender Name bezeugt: Nichts, niente. Ihn und all die untragisch-traurigen, in der Masse verlorenen Romanfiguren des 19. Jahrhunderts graust es vor der Unendlichkeit dieses Nichts wie den Nachtwächter in den »Nachtwachen des Bonaventura«, einem Bravourstück vormoderner Literatur. Es liest sich wie das Krankenblatt des modernen Hypochonders mit seinen vagabundierenden Phantomschmerzen: »Da fliehen die Masken vorüber, die Empfindungen, eine verzerrter wie die andere … Schmerz, laß dir fest ins Auge schauen, warum erscheinst du mir! Auch er ist schon vorüber. Gebt mir einen Spiegel, ihr Fastnachtsspieler, daß ich mich selbst einmal erblicke – es wird mir überdrüssig, nur immer eure wechselnden Gesichter anzuschauen. Wie? Steht kein Ich im Spiegel, wenn ich davor trete? (…) Hu! Das ist ja schrecklich einsam hier im Ich, (…) nirgends Gegenstand, und ich sehe doch – das ist wohl das Nichts, das ich sehe!«
Beinahe wie ein Echo auf Jean Pauls »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei« oder wie die vorweggenommene Vision Nietzsches vom »tollen Menschen« nach dem Tod Gottes klingt diese Passage. Wie das Protokoll einer gleichsam transzendentalen posttraumatischen Belastungsstörung. Den Nachtwächter graust es vor den Phantomen wie später in Guy de Maupassants Phantasmagorie »Le Horla« den Erzähler beim Blick in den Spiegel. Der Spiegel ist leer, sein Bild ist daraus verschwunden. Für eine narzißtische Gesellschaft kann es keine größere Kränkung geben. Daß der Himmel leer ist, kann sie gut verkraften. Aber das auf sich selbst zurückgeworfene Subjekt füllt diese Leerstelle nicht aus, es erlebt sich als haltlos und defizitär. Dafür mag die Hypochondrie, dieses blinde Ausagieren der Angst vor der eigenen Nichtigkeit, ein Zeichen sein.
Der zappelnde Neurotiker Albisser ist auch heute noch repräsentativ für die abstiegsgefährdete bürgerliche Mitte. Er wollte sich und die Gesellschaft verändern. Doch dann: nichts. Die Revolution fand nicht statt. Nur dieses Hangeln von Symptom zu Symptom, diese Kunstanstrengung namens Neurose und das Schönerwohnen im Gerede. Muschg hat das Kollektiv-Ich in Albisser – und beileibe nicht nur in dieser Figur – gleichsam psychoanalysiert. Die Hypochondrie, so seine Expertise, ist ein schriller physischer Alarm, der eine Überanstrengung und narzißtische Kränkung anzeigt. Da ist etwas Heilloses, peinlich Ungenügendes, das doch im Innersten die Gesellschaft zusammenhält. Denn auch das schnelle tagespolitische Hüpfen von Thema zu Thema, von Skandal zu Skandal trägt – die Metapher drängt sich förmlich auf – auffallend hypochondrische Züge. Kein Thema, das nicht schon auf der Beschwerdeliste gestanden hätte, um nach kurzer Debatte von einer neuen Aufregung abgelöst zu werden, die genauso folgenlos bleibt. So kreuzen sich die Fluchtlinien in unseren Feuilletons, in den Talkshows, in Beziehungsgesprächen, im Parlament und konvergieren in der Suggestion der Zeitgenossen: Es wird wohl nichts Ernstes sein. Das Agenda-Karussell gesellschaftlicher Erregungsthemen oder die Winkelzüge der Symptomverschiebung als Surrogat libidinöser Wunscherfüllung – in beiden Fällen handelt es sich um Scheinbewegungen zum Zwecke der Beibehaltung eines etablierten Status quo.
Gegen die Hypochondrie ist kein Kraut gewachsen, es sei denn: die Ironie. Wenn die Hypochondrie das zugespitzte Empfinden für die Hinfälligkeit der Person ist, so ist die Ironie das luzide Wissen um die Hinfälligkeit aller Sätze und Setzungen, die Einsicht in die grundlegende Kontingenz und Unhaltbarkeit aller »abschließenden Vokabulare« (Richard Rorty). Die Ironie hat in einer säkularisierten Welt gleichsam den Blick von oben auf das irdische Treiben übernommen (um Jean Paul leicht abzuwandeln, der diese Rolle allgemein dem Humor zuerkannte). Sie verschafft sich einen Überblick und kommt zu dem Schluß: die Lage ist vielleicht hoffnungslos, aber nicht ernst. Mit dieser verläßlichen Grundskepsis ist das Erzählen bei Adolf Muschg imprägniert. Er sorgt dafür, daß alles Gesagte im Subtext unterwandert, jeder Spruch im Widerspruch gespiegelt wird. Vielleicht gerade weil er ein so eleganter, bis zur Redseligkeit eloquenter, geständnisinniger Erzähler ist, mißtraut er der Magie der Wörter, die gern so tun, als seien sie schon die Dinge selber; und läßt sich andererseits kaum eine Mehrdeutigkeit, kaum ein schillerndes Paradox entgehen, wo die Sprache selbst dies auf dem Wege begrifflicher Offenheit anbietet. Sätze können erst dann Wahrheit beanspruchen, wenn auch ihr Gegenteil wahr ist.
Die Literatur ist eine sehr ökonomische Angelegenheit. Sie braucht nicht Tausende Probanden, um etwas herauszufinden, was wir als signifikant oder wenigstens als evident bezeichnen. Es bedarf nur eines Autors, der das experimentum crucis mit sich selber anstellt. Für einen genuinen Schriftsteller kann das Leben nur dort wahrhaft glücken, wo es im Eigentlichen stattfindet: in seinem Schreiben. Seine dem Verdacht des Ungenügens und Mißlingens ausgesetzte Vita erleidet den Mangel nicht zuletzt infolge seiner Profession, die dem eigenen Leben alle Energie vampirhaft aussaugt und entzieht: das Thema des Künstlerromans von E.T.A. Hoffmann bis Thomas Mann, von Nabokov bis Adolf Muschg, dessen Novellen und Romane diese Dialektik zwischen Leben und Schreiben immer mitverhandeln.
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SINN UND FORM 3/2022, S. 406-418, hier S. 406-411
Noll, Chaim
»Aus barer organischer Bedürftigkeit«. Die Wüste als Indikator menschlicher Intelligenz, S. 419
Zeller, Michael
Alter europäischer Boden. Der ukrainische Erzähler Wladimir Korolenko, S. 423
Der ukrainische Erzähler Wladimir Korolenko Es fing damit an, daß eine Freundin wegen eines Wohnungsumzugs ihre Bücherregale durchforstete. Unter (...)
Zeller, Michael
Alter europäischer Boden.
Der ukrainische Erzähler Wladimir Korolenko
Der ukrainische Erzähler Wladimir Korolenko Es fing damit an, daß eine Freundin wegen eines Wohnungsumzugs ihre Bücherregale durchforstete. Unter den aussortierten Büchern fielen mir zwei Auswahlbände in die Hände, »Russische Erzähler« hieß der eine, »Klassische Erzählungen Rußlands« der andere. Sie waren älteren Datums und fast ohne Lesespuren. In beiden Bänden entdeckte ich Geschichten von Wladimir Korolenko. Das überraschte mich. Denn die »Staatliche wissenschaftliche Bibliothek« der ostukrainischen Stadt Charkiw, in der ich schon mehrfach aus meinen Büchern gelesen habe, ist nach eben diesem Wladimir Korolenko benannt. Das konnte ja wohl nur heißen, daß auch dieser als russisch geltende Schriftsteller ein Ukrainer gewesen sein muß. Zu Hause begab ich mich gleich auf die Spur dieses Korolenko, von dem ich noch keine Zeile gelesen hatte. Zum Glück fand ich noch zwei weitere ins Deutsche übersetzte Titel, auch sie schon einige Jahrzehnte alt: den Erzählband »Der Wald rauscht« von 1954 und den Erinnerungsband »Die Geschichte meines Zeitgenossen« von 1985 – zusammen immerhin tausend Seiten, genug, um mir von diesem Autor einen Eindruck zu verschaffen.
Korolenkos gesamtes literarisches Werk ist auf russisch geschrieben, wie das zu seinen Lebzeiten (1853 bis 1921) der politischen Lage seines Landes entsprach. Die russische Sprache war für die Schriftsteller aller unter dem Zaren vereinten Völker verpflichtend. Der Gebrauch des Ukrainischen etwa war seit 1863 gesetzlich verboten. Die Autoren mußten auf russisch schreiben und galten, selbst wenn sie ganz andere Wurzeln hatten, als russische Autoren. Gerade auch im Ausland, und zwar bis heute. Wenn ich im Gespräch erwähne, daß Nikolai Gogol Ukrainer war, ernte ich auch bei belesenen Landsleuten Erstaunen. Gleiches gilt für zahlreiche bildende Künstler oder Filmschaffende. Es ist ein sehr unsicherer Boden, auf dem man sich dabei bewegt, besonders als Ausländer, aber es ist wichtig, ihn zu betreten. Denn es ist alter europäischer Boden und man sollte nicht völlig ahnungslos darauf herumirren. Die Geschichten, die Wladimir Korolenko erzählt (ich kann nur über die ins Deutsche übersetzten Titel seines umfangreichen Werkes sprechen), sind in der kultivierten Sprache des späten 19. Jahrhunderts geschrieben. So erzählte man damals in Europa: in Frankreich, England, Skandinavien, Italien, Deutschland, Österreich, der Schweiz. »Der blinde Musiker« ist 1886 zum ersten Mal auf russisch erschienen und wurde schon 1891 ins Deutsche übersetzt.
Die Handlung spielt, wie es mehrfach heißt, »im südwestlichen Rußland«. Heute würden wir Ukraine dazu sagen. Doch der Begriff Ukraine taucht im Text nur auf, wenn es um die Vergangenheit oder um Landschaftsbeschreibungen geht. In diesem »südwestlichen Rußland« wächst der Junge Petr heran, in der ländlichen Natur eines Gutshofs, in wohlhabenden Verhältnissen. Das Kind ist blind. Neben der liebevollen, musischen Mutter spielt vor allem der Onkel Maksim eine wichtige Rolle. Dieser Onkel war in seiner Jugend ein Haudegen, der in seiner Heimat keinem Streit und keinem Duell aus dem Weg ging. Als es ihm dort zu eng wird, zieht er nach Italien und schließt sich den Truppen Garibaldis an, um mit ihm für die nationale Einheit des Landes zu kämpfen. Dabei 424 Umschau wird er verwundet und kehrt, ein Krüppel auf zwei Krücken, aufs Familiengut zurück. Dort setzt der Invalide sich zur Ruhe, liest Bücher, denkt nach, hat ein Auge auf seinen blinden Neffen. Die Mutter spielt auf einem Wiener Flügel das klassische Repertoire ihrer Zeit. Doch der blinde Junge wird immer öfter abgelenkt von Klängen aus dem nahen Pferdestall: Lieder, die der Knecht Jochim abends auf seiner Hirtenflöte spielt. »Das Wiener Instrument erwies sich als ohnmächtig gegen das Stückchen ukrainischen Weidenholzes (…) Das Geheimnis dieser Poesie bestand in der wundersamen Verbundenheit einer schon lange untergegangenen Vergangenheit mit der ewig lebendigen und ewig zum menschlichen Herzen sprechenden Natur, die die Zeugin jener Vergangenheit war.« Auch die Mutter wird von der Musik des Pferdeknechts berührt. Und »bald waren es nicht mehr gekünstelte, bravouröse Virtuosenstücke, die unter ihren Fingern hervorgingen, sondern stille Lieder und schwermütige ukrainische Volksweisen; sie durchtönten klagend das dämmrige Zimmer und erweichten und beschwichtigten das Herz« der Zuhörenden. Dafür, seinen Neffen ins gesellschaftliche Leben einzufühen, ist Onkel Maksim verantwortlich. Dazu lädt er seinen Kriegskameraden Stawrutschenko ein, einen knorrigen Alten, der wiederum zwei seiner Söhne mitbringt, beide Studenten. Unter der akademischen Jugend ist in Rußland um 1880 gerade die Bewegung »Liebe zum Volk« populär. »Die jungen Leute notierten sich Redensarten und Sprichwörter, schrieben sich Volksmelodien auf, beschäftigten sich mit Sagen und Märchen, verglichen die historischen Tatsachen mit ihrer Widerspiegelung im Volksbewußtsein.«
Auch die Ukraine ist von dieser Bewegung erfaßt. »Mit gerötetem Gesicht und blitzenden Augen« vertieft sich der Philologiestudent begeistert »in den Charakter des heimischen«, also ukrainischen »Volkes«. Erstaunlich, daß der Erzähler sich davon distanziert. Ironisch merkt er an, daß die engagierte Jugend sich ihre Kenntnisse überwiegend aus Büchern holt. Noch härter geht der alte Haudegen Maksim mit dieser Jugendmode ins Gericht. Er, der an der Seite Garibaldis für die Staatsgründung Italiens gefochten hat, scheint keine Sekunde an ein vergleichbares Projekt in seiner Heimat zu denken. Daß es zu einem ukrainischen Volksaufstand kommen könnte, liegt außerhalb seiner Vorstellungskraft: »Auch ich habe irgendwann einmal von Schlachten, von ihrer wilden Poesie und von schrankenloser Freiheit der Kosaken geträumt, doch ich bin von alledem geheilt worden. Ich begriff, daß die Geschichte diesen ganzen Plunder zum alten Eisen geworfen hatte.« Dieses Fazit zieht der alte Kriegsveteran vor den beiden jungen Leuten »mit einer gewissen nüchternen Gewichtigkeit«. »›Und was bleibt dann für uns zu tun übrig?‹ fragte ihn der Student nach einem langen Schweigen. ›Der gleiche ewige Kampf.‹ ›Wo? Wofür? In welcher Form?‹ ›Sucht nur!‹ antwortete Maxim kurz.« Damit endet in der Erzählung das Gespräch. Dieses Offenlassen jeder Zukunftsmöglichkeit irritiert mich. Und nicht nur in der Literatur. Es hat mich in der Ukraine immer wieder vor unlösbare Fragen gestellt, in allen möglichen Situationen, gerade wenn es um politische Zustände der Gegenwart ging, die ja, wie überall auf der Welt, ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben. Die Musik wird dem jungen Blinden in der Erzählung zur Lebensbestimmung. Petr geht nach Kiew, zum Studium bei einem angesehenen Pianisten. Es ist natürlich die zeitgenössische Musik des europäischen Salons, wie sie ihm seine Mutter Anna Michailowna auf ihrem Wiener Flügel vorgespielt hat. Doch wichtiger mögen die einfachen Lieder aus dem Pferdestall gewesen sein. Nach drei Jahren ist der Pianist so weit, sein erstes öffentliches Konzert zu geben. Natürlich findet es im ukrainischen Kiew statt, nicht im sonst üblichen Petersburg. Petrs Improvisationen zeugen »von einem innigen Gefühl für die heimatliche Natur, von einer feinsinnigen und originellen Verbundenheit mit den Urquellen der Volksmusik. Farbenreich, geschmeidig und wohltönend ergoß sie sich wie ein rauschender Bach, erhob sich zu einer feierlichen Hymne und verströmte in schwermütigen Gesängen. Es war manchmal, als jage ein Sturm durch die Himmel dahin und als donnere es in den endlosen Räumen, dann wieder schien ein sanfter Steppenwind in den Gräsern zu spielen und wirre Erinnerungen an längst Vergangenes heraufzubeschwören.«
Muß es einen nach diesem Loblied auf die ukrainische Volksmusik nicht wundern, daß es noch 1970 in Kindlers Literaturlexikon heißt, der junge Pianist beweise »eine überragende musikalische Begabung, die er aus der eingehenden Kenntnis der russischen Volksmusik schöpft«? Diese Vertauschung der Ukraine mit Rußland und Rußlands mit der Ukraine zieht sich fast durch die gesamte westliche Literatur, zumal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
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»Die Geschichte meines Zeitgenossen« ist der fast sechshundert Seiten umfassende Erinnerungsbericht einer Kindheit. Er reicht vom fünften Lebensjahr des Knaben (1858), als der junge Zar Alexander II. Korolenkos Geburtsstadt Schitomir besucht, bis zur letzten Schulprüfung, die der Siebzehnjährige abzulegen hat (1870). Aufschlußreich dürfte für einen Mitteleuropäer auch die Gegend sein, in der das Buch spielt: das Grenzgebiet von Rußland, Ukraine, Polen. Die jahrhundertelangen geschichtlichen Verwerfungen lassen sich kaum mehr auflösen und mögen selbst den überfordern, der dort aufgewachsen ist – und Anlaß geben zu Gewalt und Auseinandersetzungen. Das ukrainische Schitomir liegt damals (noch nicht allzu lange) auf russischem Staatsgebiet. Sein Vater arbeitet dort, im Dienst des Zaren, als Kreisrichter. Er ist gebürtiger Ukrainer, stammt aus einer alten Kosakenfamilie, seine Frau ist Polin. In der Familie wird Russisch und Polnisch gesprochen, gebetet wird auf ukrainisch und polnisch. Polnisch geführt ist auch das Pensionat, wo der Junge auf deutsch und französisch unterrichtet wird. Später im Gymnasium sind seine Lehrer Russen, Ukrainer, Polen, jeder mit einem sehr persönlichen Bezug zu seiner Nationalität. Als vierte große Volksgruppe der Region wären noch die Juden zu nennen. Doch sie spielen bei Korolenko nur eine untergeordnete Rolle. Eine kleine Episode aus dem Schulalltag des Protagonisten um 1860: »Gleich zu Beginn des Unterrichts nahm Herr Butkewitsch die Schülerliste vor und begann laut die Namen zu verlesen. Dabei frug er immerfort: ›Pole? Russe? Pole? Pole?‹ Endlich kam er auch an meinen Namen. ›Russe‹, antwortete ich. Butkewitsch richtete seine munteren Äuglein auf mich und sagte: ›Das schwindelst du, Brüderchen.‹ Ich wurde sehr verlegen und wußte nicht, was ich antworten sollte. Nach der Stunde kam Butkewitsch auf mich zu, fuhr mit den Fingern scherzhaft durch mein Haar, bog meinen Kopf zurück und sagte: ›Du bist kein Moskowiter, sondern ein Kosakenenkel und -urenkel, aus einem freien Kosakengeschlecht, verstanden?‹ ›Ich verstehe‹, stotterte ich, obwohl ich, wie ich gestehe, herzlich wenig verstand und verwirrt war. Übrigens übte das Wort vom ›freien Kosakengeschlecht‹ eine undefinierbar verlockende Wirkung auf mich aus.« 426 Umschau 1863 fand einer von mehreren polnischen Aufständen gegen die russische Besatzungsmacht statt. Natürlich zeigte er auch im ukrainischen Schitomir mit seinem hohen polnischen Bevölkerungsanteil Wirkung. Nach einem Gespräch mit der (polnischen) Mutter ruft der (ukrainische) Vater Korolenko seine beiden Söhne ins Zimmer und schärft ihnen ein: »Hört, Kinder, ihr seid Russen, und von heute ab habt ihr Russisch zu sprechen.«
Auch in Schitomir setzt nach dem Aufstand eine rigorose Russifizierungspolitik ein, mit Denunziationen, Verhaftungen, Hausdurchsuchungen. Vermögen werden eingezogen, Prozesse gegen alle »Verdächtigen« geführt. Die drei erwachsenen Söhne der polnischen Nachbarfamilie der Korolenkos werden nach Sibirien verschleppt. Die alten Eltern geben daraufhin ihren Betrieb auf und verlassen die Stadt. Deutlicher wird der Erzähler selten, um die Willkürherrschaft im zaristischen Rußland anzuprangern. 1863 ist, wie gesagt, auch das Jahr, in dem Ukrainisch als Sprache verboten wird. Äußerst aufschlußreich in dem Buch ist auch Korolenkos Auseinandersetzung mit dem bis in unsere Tage hochverehrten ukrainischen Dichter Taras Schewtschenko. In fast jeder Stadt des Landes steht seit 1990 ein Standbild Schewtschenkos, in Erz oder Stein. Seine Liedersammlung »Kobsar « genießt geradezu kultische Verehrung, auch weil der Autor der ukrainischen Sprache treu geblieben ist (und dafür jahrelang im Gefängnis saß). Auch Korolenko wagt es nicht, an diesem Nationaldenkmal zu kratzen, doch sein Lob klingt eher reserviert, wofür er schon zu Lebzeiten von seinen Landsleuten kritisiert wurde: »Der Grundton der ganzen Poesie Schewtschenkos ist doch die tiefe Trauer um die Vergangenheit, eine Trauer, die sich in vage Träumerei über etwas Unerreichbares und Verworrenes verliert, wie das Raunen des Steppenwindes über einem alten Kosakengrab.«
Man fühlt sich an die Worte Onkel Maksims aus dem »Blinden Musiker« erinnert … Eine solche Stimmung entspricht keineswegs dem Ideal der Literatur, der Korolenko sich verpflichtet weiß. Er bekennt sich zwar zu seiner Anfälligkeit für die »ukrainische Romantik« mit ihrer »nationalen Stimmung«. Doch viel nachdrücklicher habe die russische Literatur auf seinen jugendlichen Geist gewirkt: »Nekrassows Gedichte, Turgenjews Erzählungen atmeten den Hauch lebendigster Wirklichkeit, die uns unwiderstehlich packte.« Aus ihnen blicke der »russische Intellektuelle mit seinen Gewissensqualen und seinem Herzensdrang hervor, richtiger: mit meinen Gewissensqualen und meinem Herzensdrang «. So der Siebzehnjährige, als er 1870 die Schule und das Dreiländereck Rußland, Ukraine, Polen verläßt. Mit seinen »drei ›Nationalismen‹«, von denen jeder auf seine »Seele Anspruch erhob und ihr die Verpflichtung aufdrängen wollte, jemanden zu hassen und zu verfolgen«, tritt der junge Mann seinen Weg ins Erwachsenenleben an. Aus dieser Entscheidungsenge, in die er sich hineingedrängt sieht, will er sich befreien. Und er schafft es mit Hilfe der Literatur: »Meine Seele mit dreierlei nationaler Abstammung fand endlich ihre geistige Heimat – die russische Literatur. « In dieser Sprache fängt Wladimir Korolenko an, literarisch zu schreiben, und in dieser Sprache wird er sein Lebenswerk schaffen. Ein Autor kann das nur in einer Sprache. Aber nicht jeder muß sich für eine und gegen eine andere entscheiden. Mit allen Konsequenzen, literarischen und vor allem auch politischen. Als Korolenko die »Geschichte meines Zeitgenossen« verfaßt, ist er längst wieder in seine ukrainische Heimat zurückgekehrt (nach Poltawa, woher Gogol stammt). Er ist wohl auch müde geworden von den publizistischen Kämpfen in Petersburg, wo er den größten Teil seines Lebens verbracht hat. Umschau 427 Viele Jahre, bald ein Jahrzehnt, war er in der Verbannung, unter anderem drei Jahre im sibirischen Urwald, bei Wintertemperaturen zwischen minus vierzig und fünfzig Grad. Manche seiner Erzählungen wurden im Gefängnis verfaßt. Ab 1895 vernachlässigt Korolenko das literarische Schreiben zugunsten politischer Publizistik. Es gibt vieles anzuklagen im Regime des Zaren (Pogrome, Folter, Standgerichte, Todesstrafen). Immer wieder muß er sich für seine Artikel vor Gericht verantworten. Und auch gegen die Massenerschießungen des neuen Sowjetregimes wird er, erfolglos, seine Stimme erheben. In seinen letzten Lebensjahren läßt er die politischen Auseinandersetzungen hinter sich. Er versenkt sich schreibend in seine Kindheit und erzählt die »Geschichte meines Zeitgenossen«.
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In Rosa Luxemburg findet Korolenko eine bestens geeignete Übersetzerin. Wie er ist sie im zaristischen Rußland groß geworden, in ihrem ausführlichen Nachwort zeigt sie sich als ebenso kompetente wie glühende Verehrerin der russischen Literatur. Und noch etwas eint die beiden: So wie Korolenko im zaristischen Rußland in die Verbannung geschickt wurde, so hatte auch Luxemburg im deutschen Kaiserreich eine reiche Gefängniserfahrung. Nach abgesessener einjähriger Haft wurde sie 1916 gleich wieder in »Schutzhaft« genommen, denn der Erste Weltkrieg war ausgebrochen und eine Kommunistin galt als öffentliche Gefahr. Die meiste Zeit war sie im Staatsgefängnis Breslau eingesperrt. Um sich in ihrer Zelle geistig zu betätigen, begann sie mit der Übersetzung von Korolenkos »Geschichte meines Zeitgenossen«. Für diese »Selbstbeschäftigung« mußte sie sogar zahlen, monatlich sechzig Mark. Erst am Kriegsende, im November 1918, kam Rosa Luxemburg wieder frei. Da waren Übersetzung und Nachwort gerade abgeschlossen und gingen an den Verlag. Doch das im Sommer 1919 fertige Buch erlebte die Übersetzerin nicht mehr. Im Winter war sie umgebracht worden. In deutscher Sprache liegen von Wladimir Korolenko die zwei Bände Erzählungen (er hat ausschließlich Erzählungen verfaßt) und seine Kindheits- und Jugenderinnerungen vor. Es sind vor allem stimmungsvolle Naturbeschreibungen, die den Charakter dieser Prosa prägen, und Darstellungen der Menschen, die in dieser Natur leben. Immer schwingt bei diesem Erzähler Sympathie für die Schwachen und Benachteiligten mit, doch völlig unaufdringlich, ohne jede Ideologie. Rosa Luxemburg nennt das Korolenkos »fein vibrierendes soziales Gewissen«, sein »schmerzlich zuckendes Mitfühlen«. Kundigere Leser als ich, die sein gesamtes Schaffen kennen, haben gerade darin sein ukrainisches Erbe erkennen wollen. Sein Übersetzer Bruno Goetz hat 1954 eine schöne Erklärung dafür gefunden, die mir sofort einleuchtete: Korolenko habe zwar alle seine Bücher auf russisch geschrieben und sei im großrussischen Sprachraum und in der großrussischen Intelligenz zu Hause gewesen, doch seine ukrainischen Wurzeln verliehen »seinem Schaffen einen unnachahmlichen Charme und eine helle, unmittelbare Kindhaftigkeit und Lebensfrömmigkeit. Es ist der Geist des slawischen Südens, der immer wieder bei ihm durchbricht und uns beglückend und befreiend mit seinem leichteren Atem anhaucht.« Wenn das stimmt, ehrt sich die »Staatliche Wissenschaftliche Bibliothek« von Charkiw zu Recht mit seinem Namen.
SINN UND FORM 3/2022, S. 423-427
Rundell, Katherine
Der Lemur, S. 428