Background Image

Heftarchiv – Leseproben

Screenshot

[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-69-0

Printausgabe bestellen

[€ 8,00]

PDF-Ausgabe kaufenPDF-Download für Abonnenten

Sie haben noch kein digitales Abo abgeschlossen?
Mit einem digitalen Abo erhalten Sie Zugriff auf das PDF-Download-Archiv aller Ausgaben von 1949 bis 1991 und von 2019 bis heute.
Digital-Abo • 45 €/Jahr
Mit einem gültigen Print-Abo:
Digital-Zusatzabo • 10 €/Jahr

Leseprobe aus Heft 1/2023

Gissing, George

Bücher und das ruhige Leben


(…)

IV.
Es regnete fast den ganzen Tag, dennoch war es für mich ein Tag der Freude. Ich hatte gefrühstückt und war in eine Karte von Devon vertieft (wie liebe ich doch gute Karten!), um eine Reiseroute zu erkunden, die ich im Auge hatte. Da klopfte es an meine Tür, und Mrs. M. trug ein großes Paket in braunem Papier herein, das, wie ich mit einem Blick sah, Bücher enthalten mußte. Die Bestellung hatte ich vor einigen Tagen nach London geschickt, aber nicht erwartet, daß meine Bücher schon so bald eintreffen würden. Mit pochendem Herzen legte ich das Paket auf den Tisch und behielt es im Auge, während ich das Feuer unterhielt; dann nahm ich mein Federmesser und öffnete die Sendung mit zitternden Händen, feierlich und bedächtig.

Es ist ein Vergnügen, Buchhändlerkataloge durchzusehen und hier und da eine mögliche Erwerbung anzukreuzen. Früher, als ich kaum Geld auf die Seite legen konnte, hielt ich Kataloge so gut es ging außer Sichtweite; jetzt genieße ich sie Seite für Seite und mache eine angenehme Tugend aus der Zurückhaltung, die ich mir unbedingt auferlegen muß. Noch größer aber ist das Glück, Bände auszupacken, die ich, ohne sie vorher zu sehen, gekauft habe. Ich jage keinen Raritäten nach, ich mache mir nichts aus Erstausgaben und Großformaten – was ich kaufe, ist Literatur, ist Nahrung für die menschliche Seele. Der erste Anblick der Bindung, wenn der innere Schutzumschlag zurückgeklappt ist! Der erste Geruch von Büchern! Der erste Schimmer einer Titelvergoldung! Hier ist ein Werk, dessen Ruf ich mein halbes Leben lang kenne, das ich aber noch nie gesehen habe; ich nehme es ehrfürchtig in die Hand, öffne es vorsichtig; meine Augen sind vor Aufregung getrübt, wenn ich einen schnellen Blick auf die Kapitelüberschriften werfe, und geben mir eine Ahnung vom Genuß, der mich erwartet. Wer hat sich mehr als ich den Satz der »Imitatio« zu Herzen genommen – »In omnibus requiem quaesivi, et nusquam inveni nisi in angulo cum libro«?

Ich hatte die Anlagen zu einem Gelehrten, und mit Muße und geistiger Ruhe hätte ich es auch zu Gelehrsamkeit gebracht. Innerhalb der College-Mauern hätte ich so glücklich, so unschuldig gelebt – meine Phantasien immer mit der Alten Welt beschäftigt. In der Einleitung zu seiner Geschichte Frankreichs sagt Michelet: »Ich bin an der Welt vorbeigegangen und habe die Geschichte für das Leben gehalten.« Das war, so kann ich jetzt erkennen, mein wahres Ideal; während all meiner Kämpfe und Nöte lebte ich eher in der Vergangenheit als in der Gegenwart. Zu der Zeit, als ich in London buchstäblich hungerte, als es unmöglich schien, daß ich meinen Lebensunterhalt jemals mit Schreiben verdienen würde, wie viele Tage verbrachte ich da im British Museum und las so uninteressiert, als ginge es mich nichts an! Ich erinnere mich verwundert, wie ich mich an ein Pult im großen Lesesaal setzte und dabei Bücher vor mir hatte, die unmöglich eine Quelle unmittelbaren Nutzens sein konnten – mit nichts in meiner Tasche als trockenem Brot zum Frühstück und einem weiteren Bissen fürs Mittagessen. In jener Zeit arbeitete ich mich durch deutsche Wälzer über Altertumsphilosophie, in jener Zeit las ich Apuleius und Lukian, Petronius und die Griechische Anthologie, Diogenes Laertius und weiß der Himmel was noch! Mein Hunger war vergessen; über die Dachstube, in die ich für die Nacht zurückkehren mußte, machte ich mir keinerlei Gedanken. Alles in allem kann ich darauf wohl eher stolz sein, und also lächle ich beifällig über jenen dünnen, blassen Jugendlichen. Ich? Mein wahres Selbst? Nein, nein! Er ist in diesen dreißig Jahren tot gewesen.

Gelehrsamkeit im hohen Sinne war mir versagt, und jetzt ist es zu spät. Doch nun weide ich mich an Pausanias und nehme mir vor, jedes Wort von ihm zu lesen. Wer auch nur eine Spur für alte Literatur übrig hat, würde der nicht lieber Pausanias selbst lesen anstelle bloßer Zitate und Verweise auf ihn? Hier sind die Bände von Dahns »Die Könige der Germanen«: Wer würde nicht gerne so viel wie möglich über die teutonischen Eroberer Roms wissen? Und so weiter und so weiter. Bis an mein Ende werde ich lesen – und vergessen. Ach, das ist das Schlimmste von allem! Beherrschte ich das ganze Wissen, das ich zu allen Zeiten besessen hatte, so könnte ich mich einen gelehrten Mann nennen. Gewiß ist nichts so schlecht für das Gedächtnis wie lang andauernde Sorgen, Aufregungen, Ängste. Ich kann nicht mehr als ein paar Bruchstücke dessen behalten, was ich lese, doch lesen werde ich, beharrlich und mit Freude. Ob ich Belesenheit für ein zukünftiges Leben anhäufen würde? Es beunruhigt mich allerdings nicht länger, daß ich vergesse. Der vorüberziehende Augenblick beglückt mich, und was kann ein Sterblicher mehr verlangen?

(…)

Aus dem Englischen von Wulfhard Stahl

SINN UND FORM 1/2023, S. 96-111, hier S. 101-102