Yourcenar, Marguerite
(1903–1987), eigentlich Marguerite de Crayencour, belgische Schriftstellerin, erstes weibliches Mitglied der Académie française, lebte von 1939 bis zu ihrem Tod in den USA. (Stand 1/2012)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 1/1998 | Der Mann, der die Steine liebte
- 6/2009 | Träume und Schicksale
- 1/2012 | Der Goldwechsler
- 1/2012 | »Im Grunde gibt es keinen Rat mehr.« Gespräch mit Jean-Pierre Corteggiani (1987)
Die Wachenden haben eine einzige und
gemeinsame Welt, die Schlafenden aber
wenden sich ihrer eigenen Welt zu.
Heraklit von Ephesus
(...)
Yourcenar, Marguerite
Träume und Schicksale
Die Wachenden haben eine einzige und
gemeinsame Welt, die Schlafenden aber
wenden sich ihrer eigenen Welt zu.
Heraklit von Ephesus
Ich möchte hier einige Träume erzählen, die für jemanden, der viel geträumt hat, besonders quälend oder tröstlich sind. Seit meiner Jugend (an Kinderträume kann ich mich bis auf zwei oder drei kaum erinnern) begleitet mich durch mein nächtliches Leben ein Dutzend verstörender oder gütiger Träume, die wie musikalische Motive erkennbar und wie diese unendlich variierbar sind. Sie unterteilen sich in Gruppen, in ausgeprägte Familien, ähnlich den Provinzen eines geheimnisvollen Landes, das man nur mit geschlossenen Augen besucht. Das Wiederauftauchen einer Person, eines Gegenstands, eines Stücks Landschaft, eines Gefühls in meinem schlafenden Kopf erlaubt mir, nächtliche Regionen zu orten, in denen ich im Traum schon war, die in der Zukunft wiederzusehen ich jedoch nicht sicher sein kann. Es gibt die Region der Erinnerungsträume, beherrscht von der Gestalt meines verstorbenen Vaters; den Zyklus von Ehrgeiz und Hochmut, den ich in den Nächten meines zwanzigsten Lebensjahres durchlief; den Zyklus des Schreckens, den ursprünglichsten von allen, bevölkert mit Phantasmagorien von Gefängnissen, Aussätzigen, Drachen und ausgerissenen Herzen, in den ich aber immer seltener eindringe, denn wie die Hoffnung vermindert sich mit der Zeit auch das Entsetzen, und vermutlich altern wir genauso beruhigt wie die Armen, die keine Angst zu haben brauchen, daß man ihnen ihr Unglück stiehlt.* Es gibt den Zyklus des Suchens, bei dem es gilt, die Spur einer verschwundenen und zum Phantom gewordenen Frau zu finden; den Zyklus des Todes, der voller Gärten ist und zudem alle anderen Zyklen enthält, weil man weder tief träumen noch tief denken kann, ohne auf diese große, schwarze Ungewißheit zu stoßen; und es gibt den Zyklus der Kirche, in dem stets eine Kathedrale, so schrecklich und beruhigend wie das Grab, vorkommt, die Sternennacht, Erd- und Körperhöhlungen; und diese finstere Basilika sieht man bald von innen, übersät von Kerzenlichtern und erfüllt von einer Stille wie von feierlicher Musik, und bald von außen, und ihre Türen wollen sich nicht vor dem Pilger öffnen, der nicht den Schlüssel hat, in ihre Tiefen einzudringen. Und es gibt den Traum vom Teich, der einzige große Traum, der bis in die Kindheit reicht und sich Jahr für Jahr ohne die geringste Änderung wiederholt. Und den Traum von der Liebe, den ich nicht mit unnötigen Erklärungen belasten will, denn die einzigen profunden Exegeten, die dieses Gefühl hervorgebracht hat, sind Orgel und Violoncello. Diese Träume können sich auch verbinden: Die Träume von Ehrgeiz, Liebe oder Tod spielen oft in einer Kathedrale, und der Traum vom Teich ist zugleich ein Traum vom heiligen Schrecken. Es gibt einen Traum vom melancholischen Glück, den man daran erkennt, daß er sich unter einem rosigen Himmel entfaltet, und einen Traum von der vollkommenen Glückseligkeit, den ich ein einziges Mal hatte und in dem nur ein unvergeßliches Blau vorkommt.
Ich übergehe also sorgsam die Körperträume, die zu offensichtlich von Magenoder Herzbeschwerden verursacht und begünstigt werden, und noch sorgsamer die aus unverarbeiteten Erinnerungen erwachsenden wirren und nebelhaften Träume, den amorphen Rest der kleinen Mißhelligkeiten des Lebens, die es nicht wert sind, daß man sie träumt oder lebt. Das sind die häufigsten, denn in der Welt des Traums gibt es wie in der Welt des Wachseins leider mehr Scheidemünzen als Goldstücke.
Ich übergehe ebenfalls die rein sexuellen oder postsexuellen Träume, die lediglich simple Bestätigungen der Begierde (oder der Lust) durch einen Schlafenden sind. Und ich übergehe schließlich die uns allen gemeinsamen großen Träume, deren Deutung schwankt, die aber dem einzelnen nahezu unverändert erscheinen und nur Emotionen gewähren, die das ganze Volk der Schlafenden teilt: Träume, die im Traumland so etwas wie Nationalstraßen und öffentliche Parks sind. Was immer zum Beispiel die Träume vom schönen Schweben oder von quälenden Verfolgungen bedeuten mögen, in denen sich Türen um den in seinem Bett liegenden Flüchtenden öffnen und schließen, oder die merkwürdigen Exhibitionismusträume, in denen der Schlafende nackt herumläuft und sich wundert, daß er keinen Skandal auslöst – sie alle sagen uns genausowenig über die Persönlichkeit des Schlafenden wie eine gebräuchliche Metapher über die verborgene Seele des Menschen, der sie, wie Zehntausende vor ihm, ausspricht.* Mich interessiert vielmehr, wie das Schicksal des einzelnen den Traum prägt, die unnachahmliche Legierung, die entsteht, wenn ein Träumender allgemeine seelische und sinnliche Elemente nach seinen eigenen chemischen Gesetzen verbindet und sie mit den Bedeutungen eines Schicksals auflädt, das einmalig ist. Es gibt Träume, und es gibt Schicksale: mich interessiert der Moment, wenn ein Schicksal sich durch Träume offenbart.
Ich stelle hier Texte vor, für deren Genauigkeit ich mich verbürgen kann, und keine neue Traumlehre, wozu ich in keiner Weise qualifiziert bin. Aber im Hinblick auf die folgenden Seiten sollte ich vielleicht anmerken, in welcher Geistesverfassung ich diese Träume erzähle. Aus meiner Sicht (und selbstverständlich ist dies eine sehr persönliche) gibt es zwischen der Erfahrung des Träumenden und der des Dichters durchaus Analogien, und die unbearbeiteten Traumelemente und ihre unendlich abwandelbaren Symbolanklänge lassen sich mit den vulgären oder erhabenen Reimen vergleichen, die in den Spalten eines Wörterbuchs aufgereiht sind. Der Schlafende sammelt Bilder wie der Dichter Worte: Er verwendet sie mehr oder weniger glücklich, um sich etwas von sich zu sagen. So wie es Taubstumme gibt, gibt es Schlafende, die nicht träumen; manche träumen schlecht, Banales oder in Schüben. Es gibt Traumstotterer und Traumredner. Anderen schließlich, zu denen mich nicht zu zählen undankbar von mir wäre, wird zuweilen die Gnade eines schönen Traums zuteil so wie minderen Dichtern ab und an der Glücksfall eines Verses, über den sie selbst staunen. Und es gibt wahrscheinlich geniale Schlafende, die jede Nacht Erhabenes träumen. Wenn es Traumsammlungen und Traummuseen gäbe, würden wir sicherlich feststellen, daß Delacroix, Leonardo da Vinci oder Watteau in einer Welt von geschlossenen Augen lebten.
Wer meint, Träume dienten dem Schlafenden lediglich als Ausdrucksmittel, läßt das Schicksalhafte an ihnen völlig außer acht. Der Schöpfer erhabener Träume ist in seinem inneren Himmel ebenso festgelegt wie die geizige Hausfrau, die von zerbrochenen Töpfen träumt, aber je weiter man die Jakobsleiter erklimmt, auf der die Menschen auf- und absteigen, um so mehr gehen Freiheit und Geschick ineinander über und bilden das unteilbare Ganze eines Schicksals. Ein Schriftsteller, der sich seinen Träumen dreißig Jahre lang mit ergriffener und luzider Wißbegierde widmete, erzählte mir, daß es ihm im Schlaf aus eigener Kraft gelungen sei, aus der Alptraumzone zu entkommen:
Die Alpträume mißglückten, sie endeten gut, zweifellos, weil er fortan imstande war, die äußeren Fatalitäten zum Scheitern zu bringen, also gerade das Vorrecht von Menschen, die eine persönliche Fatalität besitzen.
Doch die Gabe des Traums hat wie die Gabe des zweiten Gesichts nichts mit Geisteschärfe zu tun, und ein Genie kann in seinen Träumen sehr wohl ein Idiot sein. Mystische Neigungen hingegen, Entsagungen, die gefährliche Stimmung von echtem Schmerz oder tiefer Einsamkeit begünstigen halluzinatorische Träume; und daß die wirren und dürftigen Träume abnehmen, wenn man den Widrigkeiten des Alltags mit heiterer Gelassenheit begegnet, habe ich an mir gesehen. So wie man sagt, daß man ab vierzig für sein Gesicht und sein Schicksal selbst verantwortlich ist, kann man auch sagen, daß man im reifen oder hohen Alter für seine Träume selbst verantwortlich ist.
Die Träume in diesem Buch sind meine eigenen, und ich habe mir verboten, sie mit mir gelegentlich anvertrauten schönen Träumen zu vermengen, zum einen, weil ich es für unmöglich halte, fremde Träume bis ins kleinste exakt zu schildern, zum anderen, weil es für den Leser vielleicht interessant ist, daß diese Träume alle von demselben Menschen stammen und somit Facetten eines großen Traums sind. Doch Vorworte sind für Ausnahmen da, die sonst die Harmonie des Buches zerstören würden. Ich will hier den merkwürdigen Alptraum einer alten Frau erwähnen, die sich im Haus ihrer Kindheit wiedersah,aberineinemseitenverkehrten,indemdieTürennicht,wiesieeserinnerte, nach rechts, sondern nach links aufgingen und wo das Treppenhaus und die Wanduhr in der Diele am selben Platz standen, aber eben andersherum. Aber hier geht es nicht um die unheimliche Wirkung dieses Traums, sondern um den merkwürdigen Fall eines Traums über den Traum. Nach einem sublimen persischen Aberglauben wird jedesmal, wenn ein Mensch zur Welt kommt, auch ein Wesen aus einem Geschlecht von Genien geboren, die sich nur über den Menschen fortpflanzen und weder unsere Schutzgeister, Dämonen noch Wiedergänger sind, sondern unser Abglanz auf dem Unsichtbaren. Wenn ein Kind in der Wiege weint, dann, weil sein nicht greifbarer Bruder es an den Haaren zieht; wenn es vor sich hin lacht, dann, weil sein Geisterbruder ihm etwas Spaßiges erzählt. Sexuelles Versagen beruht auf der Mißgunst dieser körperlosen Wesen, die den Menschen das Vorrecht der Liebe neiden, und um ihren Nachstellungen zu entgehen, sollten Jungvermählte stets das Licht anlassen. Wenn ein Mensch stirbt, holen die Genien den Leichnam ihres ätherischen Geschwisters in den Himmel, um ihn dort zu bestatten. Und jedesmal, wenn ich an diesen Glauben denke, durch den ein Menschenleben schön wie ein Schloß wird, das sich in seinen Wasseranlagen spiegelt und durch dieses Zitterbild etwas Geheimnisvolles erlangt, als spiegelte es sein eigenes Spiegelbild, sage ich mir, daß die ungreifbaren Landschaften des Traums vielleicht zum selben Märchenreich gehören wie Reflexionen im Spiegel und Fata Morganas in der Wüste. Man hat nicht hinreichend beachtet, daß populäre Traumdeutungsbücher Symbole durch ihr Gegenteil erklären, als zweifelten die Erfinder der naiven Traumschlüssel selbst daran, daß sie eine gefälschte oder durch Spiegeltricks zurechtgerückte Welt interpretieren müßten. Im Spiegel erscheinen die Bilder korrigiert, entstellt oder verkehrt: diese drei Möglichkeiten entsprechen den drei Arten des Traums, nämlich schöne Träume, die der Realität ihr glänzendes Ideal wiedergeben, Alpträume, die von unserem Leben ein ebenso groteskes wie erschreckendes Bild – erschreckend, weil grotesk – liefern, und schließlich Träume, deren verkehrte Bilder heimliche und gefährliche Wahrheiten verbergen, etwa so wie die Spiegelschrift Leonardo da Vinci vor dem Scheiterhaufen bewahrte. Jeder Schlafende ist ein Narziß, der sich über einer endlosen Spiegelfläche erregt und berauscht, und Menschen, die nicht träumen, sind keineswegs ärmer und beschränkter als andere, sondern nur wie Zimmer, in denen die magische Spiegelöffnung fehlt.
Ein weiteres Phänomen, das sich vom Spiegeltrick grundsätzlich unterscheidet, ist mit dem Traum verwandt, besonders mit einem hier noch nicht erwähnten: dem Sehnsuchtstraum. Es ist das Phänomen der Fata Morgana, anscheinend ein Kompensierungsversuch der Natur, mit dem sie sich Haine in der Steppe und Wasserlachen in der Wüste vorgaukelt. Nie träumen wir mehr als in Zeiten der Sehnsucht oder des Schmerzes, der ja nichts anderes als gekränkte Sehnsucht ist. Und wie sich an einem gegebenen Ort die Fata Morgana nie ändert, sondern, demütig und monoton, hartnäckig das Bild des fehlenden Schattens wiederholt oder des Teichs, nach dem die Natur dürstet, so kreisen unsere Sehnsuchtsträume immer um dieselben Themen, die nicht zahlreicher und komplizierter sind als unsere Mißgeschicke. Die Garderobe des Sehnsuchtstraums enthält viele Verkleidungen, aber unter den Masken, die nachts zerrissen werden, verbergen sich nur wenige reale Personen. Die übrigen Silhouetten, die über die Bühne gehen, sind genauso verschwommen oder grob gezeichnet wie in der griechischen Tragödie die Vertrauten oder Boten des Aischylos. Und auch die Traumszenerien, wie üppig und strahlend sie sein mögen, sind nicht annähernd so verschiedenartig wie jene Orte, wo wir mit offenen Augen spazierengehen. Viele von uns sind durch die Welt gereist, haben viele Hände berührt, haben in mehr als einem Bett geschlafen, haben zahllose Kunstwerke betrachtet, die ihre Vorstellung von Schönheit verfeinert und bereichert haben. Aber diese oberflächlichen Gewinne verändern kaum das Wesen der Seele, das lautlose, langsame Instinktleben, das wie eine Quelle in uns brodelt, und wir träumen weiterhin nur von einigen wenigen Landschaften, die uns an die Kindheit erinnern, von Kirchen wie jene, in denen unsere Vorfahren vielleicht beteten, von Menschen, die wir verloren haben oder die wir brauchen, um nicht mehr zu leiden. In der ebenen Welt des Schlafes entgehen unsere aufeinanderfolgenden Sehnsuchts- und Angstobjekte der räumlichen Kategorisierung, dem Widerspruchsprinzip, das Sein und Werden konfrontiert, der Zerlegung des Jahrhunderts durch den Uhrzeiger, und deshalb ist es müßig zu fragen, ob ein bestimmter Traum aus Vorahnungen oder Erinnerungen besteht, denn die Schwerkraft der Zeit, eine Unterart der Schwerkraft, hat keinen Einfluß auf diese federleichten Bilder, die aus demselben Stoff wie unsere Seele sind. Die Zeit existiert, weil wir mit geschlossenen Füßen geradewegs im Tod versinken, von unserem Fleische wie von einem Mühlstein hinabgezogen. Aber die Bilder unserer Vampire und Engel schweben in dem reinen Raum, in den wir schwindelerregend schnell und ohne Hoffnung auf Rückkehr fallen.
Auf den folgenden Seiten finden Freudianer fast in jeder Zeile Bilder, die mit Freuds Symbolsystem leicht, ja vielleicht zu leicht, zu übersetzen sind. Wenn diese Texte seine Theorien bestätigen, werde ich mich nicht beklagen, aber dafür habe ich sie nicht zusammengestellt, und auch nicht dagegen. Auf Kindheitsträume ist Freuds Theorie besonders leicht anzuwenden, da Körperprozesse die besondere Neugier der Kinder erregen. Und daß jede Geisteskrankheit vermutlich ein Verharren in der Kindheit oder eine Regression in sie darstellt, belegen die Träume der Kranken genauso grausam wie die Träume der Kinder. Wie schon gesagt erinnere ich mich nur an einen lyrischen Traum, der in diese Zeit zurückreicht; doch zwischen meinem siebten und zehnten Lebensjahr wurde ich mehrmals von einem höchst banalen Alptraum heimgesucht; ich sah, wie ein blutender, verstümmelter Körper durch eine merkwürdig große, schwarze Kaminöffnung in ein Zimmer fiel. Mein schlafender Kleinmädchenverstand erklärte dies mit Einbrechern im Stockwerk über uns, von deren Taten die Dienstmädchen mir öfter aus der Abendzeitung vorlasen, aber wahrscheinlich handelte es sich um einen Gebärtraum infolge der sexuellen oder vielmehr die Geburt betreffenden Neugier eines kleinen Mädchens, welches gewiß oft tuscheln gehört hatte, daß ihre Mutter bei der Entbindung gestorben und sie mit der Zange geholt worden sei.* Dagegen braucht man für die aus dem Alltagsallerlei erwachsenden Träume, die ich häusliche Träume nennen möchte, wohl keinen Symbolschlüssel, und wenn ein Gärtner von einer Schubkarre träumt, darf man annehmen, daß es auch eine echte sein kann. In den soeben erwähnten großen klassischen oder magischen Träumen genügt uns Freuds Erklärung, auch wenn sie uns nicht restlos zufriedenstellt: Der Levitationstraum kann wie gesagt sexueller Natur sein oder ein alter totemistischer Traum von der Angleichung des Menschen an den Vogel; und die Verfolgungsund Exhibitionismusträume bezeugen vielleicht den Hang, aus der Gesellschaft zu flüchten oder gegen sie zu rebellieren, was eine gleichsam unterschwellige sexuelle Symbolik übrigens nicht ausschließt. Beim Traum wie bei fast allen Dingen legen sich die besten Erklärungen ein bißchen wie sich ins Unendliche ausweitende konzentrische Kreise um ein und denselben Gegenstand, den sie bestenfalls immer enger umschließen, aber nie durchschneiden. Freuds Hypothese bietet eine halbwegs befriedigende Gleichung für das Geheimnis der Träume; die Okkultisten gelangten auf anderen Wegen zu demselben Ergebnis, ebenso die Magier des Pharao. Auf dem Boden der Goldwaage findet man unter verschiedenen Bezeichnungen immer dieselbe Summe. Geistesprobleme sind natürlich grenzenlos, und Traumprobleme haben zweifellos unendlich viele Lösungen.
Welche Theorie man auch wählt, man erkennt am Ende immer, wie wichtig ein Bildsystem ist, das zwar vielleicht nicht die Zukunft des Schlafenden voraussagt, doch zumindest seine Gegenwart und Vergangenheit offenbart, und je mehr es diese Gegenwart und Vergangenheit akzeptiert, desto mehr wagt es, die Zukunft vorauszusagen. Traumkenner unterscheiden seit jeher zwischen Träumen, die durch das Tor aus Horn, und Träumen, die durch das Tor aus Elfenbein kommen; sie trennen zwischen unnützen und belanglosen Träumen, die nichts bedeuten, und ergreifenden Träumen, die etwas bedeuten, und treffen damit dieselbe Unterscheidung, die sich zwischen den von Zufall oder Fatalität bewirkten Handlungen und den Handlungen auftut, die aus dem Menschen selbst hervorgehen und das Gewebe seines Schicksals bilden. Wenn man mich fragt, woran man diese lyrischen oder halluzinatorischen Träume erkennt, würde ich als erstes ihre starke Farblichkeit nennen, den Eindruck von Feierlichkeit und geheimnisvoller Verdünnung, in den sich beinahe Erschrecken und leises Entzücken mischen und den nur das englische Wort awe annähernd wiedergibt. Und ich würde ihre Unverwüstlichkeit hervorheben: Während sich die meisten Träume beim Erwachen in einem Dunst von Müdigkeit auflösen, aus dem nur ein paar zusammenhanglose Details auftauchen, zeichnen sich die halluzinatorischen Träume klar und deutlich auf der reinen Nachtluft ab. Sie sind ebenso unmotiviert wie andere Träume und haben meistens ebenfalls keinen Schluß, aber dafür einen inneren Zusammenhang, der Träumen sonst fehlt. Man kann sie nicht verändern oder Teile von ihnen unterdrücken, ohne in der Erzählung eine klaffende Lücke oder Retuschierungsspuren zu hinterlassen. Einmal da und für immer fixiert, bewahren sie jahrelang jene monumentale Unbeweglichkeit, an der man auch die wenigen großen pathetischen Erinnerungen unseres Lebens erkennt, die selten mit der bewegten und banalen Abfolge äußerer Ereignisse zusammenfallen, aber bestimmt die einzigen sind, die wir zu Gott mitnehmen.
Wenn ich an mein Leben denke, sehe ich vor mir Spaziergänge am Meer, ein kleines nacktes Mädchen vorm Spiegel, ich höre Fetzen schlechter Musik in einem Hotelflur, ich sehe ein Bett, Eisenbahnen, deren Geschwindigkeit die Landschaften zermalmt, Venedig in der Morgensonne, Amsterdam im Regen, Konstantinopel bei Sonnenuntergang, den Flieder in der Rue de Varenne, einen Sterbenden im Pelzmantel, der durch Krankenhausgänge irrt, eine rote Theaterloge, eine junge Frau mit malvenfarbenem Gesicht, weil sie unter einer violetten Lampe sitzt, die verbrannten Berge Griechenlands, ein Narzissenfeld im Salzburger Land, triste Straßen in den Städten des Nordens, in denen ich immer zur selben Stunde vor den Ständen von Samenhändlern oder Schuhcremeverkäufern meine Traurigkeit ausführe, den Teich in Versailles unter einem Novemberhimmel, einen Stall voller Kamele, die blutrote Wassermelonen kauen, eine Trennung an einer Metrostation, eine Hand, die eine Anemone hält, das sanfte Pochen des Bluts in den geliebten Adern – und diese paar Dutzend Blitze sind das, was ich meine Erinnerungen nenne. Diese Bruchstücke der Wirklichkeit besitzen die magische Intensität von Visionen, die ich in meinen Träumen hatte; aber einige meiner Traumvisionen haben die ganze Schwere gelebten Lebens. Nur die Vernunft hält mich davon ab, diese beiden Phänomene zu vermengen, aber eben sie rät mir wohl auch, sie einander anzunähern, beide auf eine Ebene zu stellen, nämlich auf die der einzigartigen Wirklichkeit.
Bis auf einige ältere Träume, die man an ihrer Kürze erkennt und die ich eben deshalb ausgewählt habe, damit sie in dieser komplizierten Reihe den reinen Ton vertreten, stammen diese Träume aus meinen Nächten zwischen achtundzwanzig und dreiunddreißig. Sie kreisen um immer dieselben wenigen Gefühle und um dieselben Zeichen. Allein der Rat eines Freundes* und der Wunsch, zu dem so dunklen Vorgang des Träumens neue Zeugnisse beizubringen, bestimmen mich, sie aus dem Schweigen hervorzuholen, das sie wie Samt überzog. Ich beruhige mich damit, daß die wenigen Meteoriten, die aus meiner inneren Welt fallen, für andere bestenfalls so interessant sind wie die Gesteinsmuster in einer Museumsvitrine und daß ihre geheime Talismanglut weiterhin nur für mich spürbar ist. Wie jeder habe auch ich oft daran gedacht, eines Tages einen Band vertrauter Erinnerungen zu schreiben: aber Bedenken, die für kluge Leute auf der Hand liegen, hielten mich von vornherein von diesem Plan ab, den nur eine äußerst stabile oder vielleicht äußerst gefühllose Seele, ohne zu lügen, ausführen könnte. Die Publikation der folgenden Berichte ist nicht mit so schwerwiegenden Unannehmlichkeiten verbunden, und das berechtigt mich vor mir selbst dazu, diese wenigen Episoden meines geträumten Lebens zu veröffentlichen.
Visionen in der Kathedrale
Ich stehe im Querschiff einer Kirche. Welcher? Eine gotische Kathedrale aus grauem Stein, Chartres, Lausanne, Canterbury vielleicht, ein hoher Steinwald, entblößt von Statuen, Vogelflug, Engelflug, ohne silberbereifte oder mit roten Goldfäden ornamental geschmückte Büsche, ohne fließende Teppichbehänge, ohne die erstickende Pracht des Wiener Stephansdoms und ohne die Unmenge marmorner Totenskulpturen, blankpoliert wie reinstes Elfenbein, die aus Westminster einen Hangar über die Lethe machen. Eine nackte Kathedrale. Auf dem Schachbrett aus schwarzen und weißen Steinplatten stehen in unordentlichen Reihen Stühle, deren Winkel erkennen lassen, wie mehr oder weniger jäh sich die Andächtigen nach dem Gebet erhoben, um sich von Gott zu verabschieden. Eine Kathedrale, in der gerade kein Gottesdienst stattfindet, eine Kathedrale ohne Musik, ohne Weihrauch, ohne Kerzen, aber auch ohne erstickende Dunkelheit, eine Kathedrale, gebadet in klaren Halbschatten, der durch die Steine zu sickern scheint und sich in der Ferne der Perspektiven allmählich verstärkt. Und ich weiß nicht, ob ich die einzige Besucherin dieser Kathedrale bin und ob Gebete ins Dunkel aufsteigen oder ob dort Küsse getauscht werden. Eine Kathedrale, die leer zu sein scheint, eine Kathedrale in der Dämmerung. Eine Kathedrale an einem grauen Tag.
Eine alte Frau nähert sich: eine Stuhlvermieterin und Amerikanerin, eine alte, verblühte, vom Leben zerknitterte Amerikanerin, eine gewisse Mrs.Knife, die ich in einem belgischen Hotel kennenlernte, zwischen ihrem tuberkulösen Mann und ihrem syphilitischen Sohn, und der ich gewöhnlich aus dem Weg gehe, wegen ihres banalen Geschwätzes, in dem es nur um das Tun und Treiben von Herzoginnen geht, und weil es unangenehm ist, sich in der Gegenwart von Menschen, mit denen man Mitleid hat, unwohl zu fühlen. Hier ist sie weit weg von Mann und Sohn und redet nicht. Sie ist gerade lächerlich genug, um rührend zu sein, und ähnelt in diesem Moment zweifellos dem Besten in ihrer Seele. Über dem linken Auge trägt sie eine Binde, denn sie droht zu erblinden, und ihr rechtes Auge ist ganz rot, als gebrauche sie es nur zum Weinen. Sie nähert sich dem Betstuhl, vor dem ich zufällig stehen geblieben bin, und an seiner Lehne sehe ich eine große Tasche. Sie gleicht eher den großen schwarzen Ledermappen, in denen die Kunsthändler ihre Sammlungen aufbewahren und aus denen sie vor den Augen des Kunden Blatt für Blatt herausnehmen: die unvermeidlichen Beethovenporträts, schlanke, halbnackte junge Frauen, dazu bestimmt, die Wände von Junggesellenwohnungen zu schmücken, und immer viel zu blaue Matrosen. Die Amerikanerin, die wie eine unglückliche Parze aussieht, knotet rasch die Schnüre der Tasche auf, und die Gemälde darin ziehen an meinen Augen vorüber, ohne daß ich weiß, wie sie das macht. Mir scheint, daß ein unten liegendes Bild, wenn es soweit ist, nach oben kommt und sich, ohne Verwechslungen oder Erschütterungen, auf das vorherige Bild legt, ein bißchen so wie die großen Ansichten, die bei Vorführungen über die Leinwand gehen, und es ist, als hätten sich Zipfel von Gegenden, Zimmern oder vom Himmelsraum plötzlich in die dämmrige Kathedrale geschoben. Wiewohl gemalt, sind die Landschaften statisch: Sie sind in Luft gebadet, aber nicht von Luft durchweht. Man könnte meinen, ein sanftes Schicksal hindere sie, sich zu verändern. Ich weiß genau, daß diese magischen Oberflächen der Mann gemalt hat, den ich liebte, und daß er sie aus irgendeinem Grunde hier deponiert hat. Ja, ich glaube sogar, er hat sie nur für mich gemalt, nicht weil er sie für mich bestimmt hat, sondern weil wir an Dingen, die zu lieben wir geschaffen wurden, unverjährbare Nutzungsrechte besitzen und diese abstrakten Güter die einzigen sind, die wir nicht verlieren. Es stand schon immer fest, daß ich in diese Kirche käme, daß diese Tasche auf diesem Stuhl stünde und eine alte Mrs. Knife, die ich kaum kenne, mir diese Gemälde zeigen würde, auf denen die Hände, die mir die liebsten auf der Welt waren, Bilder festgehalten haben, großartig wie Erde und Himmel.
Zuerst ist da eine Treppe. Eine einfache weiße Marmortreppe mit einem auf einer Balustradenreihe ruhenden Geländer, verlassen, mitten auf einem Wiesenhang. Aber die Wiese ist nicht grün, sie ist malvenfarben oder eher lila, denn das Gras haben Herbstzeitlosen überwuchert und verdrängt. Die Treppe scheint nirgendwohin zu führen; vielleicht verbindet sie zwei Parkterrassen. Ihr unterer Teil verschwindet in der lila Fülle; ihr oberer Teil verdeckt den Himmel, aber der Tag geht zweifellos zu Ende, es ist die Zeit, wenn sich die Augen der Dämmerung bald schließen. Die schiefen und abgenutzten Stufen sind mit einer Art Schimmel befleckt, und in den Tiefen des Steins schlängeln sich Adern von einem undefinierbaren Weiß zwischen gelb und grau, das nur Marmor hat, der häufig Regen und nur selten Sonne abbekommt, oder die fahlen Gesichter von Todkranken. Jede Blume auf ihrem Stengel hat eine besondere Physiognomie, die sie vom Volk ihrer Gefährtinnen unterscheidet, wie eine geliebte Frau, die man in einer Menschenmenge erkennen würde, aber das Ganze ist wie ein fortlaufendes Tischtuch, eine einzige riesige Schräge aus malvenfarbenem Samt, weich und sanft wie alter Stoff. Aber was ich nicht auszudrücken vermag, ist die stille Lieblichkeit dieses Landschaftszipfels, sein Kompromiß zwischen Traurigkeit und Heiterkeit, das allgegenwärtige Gefühl andächtiger Erwartung, die mehr als nur Hoffnung ist. Wie immer bei schönen friedlichen Ansichten von der Welt hat man den Eindruck, daß ihre Bewegungslosigkeit das Ergebnis einer tragischen Spannung ist und zu ihrer Zerstörung führen muß. Und vielleicht macht das den Park so herzzerreißend, einen Park, in dem sich nichts ereignet, sofern man nicht die Empfindung, daß der Tag sich neigt, oder die Blumen, die nur im Herbst blühen, als ein Ereignis ansieht.
Das zweite Bild zeigt eine junge Frau in weinrotem Kleid vor einer dunklen polierten Eichenvertäfelung. Sie ist nur bis zur Taille zu sehen, als stünde sie an einem offenen Fenster. Ihre etwas aufgedunsene Magerkeit erinnert an die Madonnen der primitiven Flamen; ihr sanftes Pferdegesicht ist von riesigen, dunklen Augenringen durchlöchert, als hätte sie schwarze Tränen geweint: Ihre dünnen dunklen Haare sind wie bei den Chinesen straff zurückgekämmt; ihre kürbisförmige Brust nährt einen nackten, fast sienabraunen Säugling. Sie schaut gerade vor sich hin, mit einer Geduld fern von Resignation; wenn es tief in ihr eine Spur angstvoller Traurigkeit gibt, weiß sie es sicher am allerwenigsten, und ihre großen, knochigen Hände sind ruhig wie ihre Augen.
Und es gibt eine aus der Vogelperspektive gesehene endlose Fläche kurzgeschorener Wiesen, eine weite, blaßgrüne Ebene, von dem rührenden Grün jungen Grases, und die Millionen schüchterner Halme, die durch die Haut der Erde dringen, sind weich wie der Flaum auf dem noch nicht geschlossenen Schädel von Neugeborenen. Die Luft ist so vollkommen rein, daß man von oben das Gras wachsen sieht, so wie man es in reiner Stille auch wachsen hört. Diese weite, grüne, in großer Höhe überflogene Gegend erinnert mich an die rasch vergehende Farbe von Rennbahnen oder an die herbe Blässe, in die sich im März die verbrannten Hügel des Südens kleiden, wenn sie glauben machen wollen, daß auch sie einen Frühling haben.
Und dann ist da eine Frau, aufrecht, in völliger Leere, über dem Raum stehend. Von ihrem Gesicht sehe ich nur eine Art weißen Kreis. Sie trägt schwere Gewänder von prächtigem, sattem Blau, die auf schwarzblauem Himmelsgrund singen. Hier und da schweben goldbraune Wolken im Äther, die Ungeheuern, Stoffen und Vögeln gleichen. Auf den Wolken knien zwei geflügelte Wesen zu Füßen dieser merkwürdigen Tierkreis-Göttin: ihre eckigen Bewegungen und die komplizierte Fülle ihrer Kleider, die sich hinter ihnen verdrehen und entfalten, lassen eher an phantastische fernöstliche Geister denken als an Engel, und ihre Körper, selbst ihre Frisuren, ähneln zerrissener Seide, Wolken, Sonnentieren und aus den Tiefen aufgetauchten Medusen.
Schließlich ist da ein Kirchenfenster. Denn dieses letzte Bild wurde nicht an die Lehne des Betstuhls gestellt: Es schwebt sonderbarerweise über der Mappe, dort, wo die Wand des Querschiffs häufig von einer Rosette durchbrochen ist. Ein vom Winter entlaubter Stammbaum Jesu, dessen Wurzeln und Zweige sich in einem symmetrischen Rund anordnen und einen Kreis zeichnen, der diese blaue Rosette umschließt. Stamm, Äste und die Tentakeln sind preußischblau, fast schwarz wie die Wellen des Atlantiks bei schwerem Sturm und wie menschliche Adern voller Blut und Salz. Wurzeln und Gezweig baden im Himmel, trinken den Himmel, werden zu Saft. Und in diesem Himmel aus flüssigem Saphir zucken die Strahlen einer glühenden Kälte wie das blaue Leuchtfeuer des Sirius in den längsten Nächten des Jahres.
Als Mrs.Knife kommt, um die Mappe zuzubinden, fällt ein Bündel Briefe aus den Blättern und flattert zu Boden: ein Packen Umschläge, bunt von Briefmarken von überallher, einige sind leer, in anderen sind Briefe, die in die aufgerissenen Kuverts zurückgesteckt wurden. Auf allen steht derselbe Name, dieselbe Adresse. Ich erinnere mich nicht an die Silben dieses Namens, und da ich beim Erwachen nicht das Gefühl habe, als ob ich etwas vergessen hätte, habe ich sie wohl auch im Traum nicht buchstabiert. Aber mysteriöserweise weiß ich, es ist der Name des Mannes, den ich liebte, sein wahrer Name, den er im Leben nicht trägt und den ich bis dahin nicht kannte. Die Entdeckung dieses Namens erfüllt mich mit einem magischen Gefühl von Glück und Sicherheit, reiner als das Glück und die Sicherheit des Rabbiners, der durch den Besitz der vier unsagbaren Vokale Gott plötzlich etwas voraus hatte.
»Oh!« sage ich, »endlich weiß ich deinen wahren Namen …"
Und glücküberströmt erwache ich von meinem eigenen Freudenschrei.
Der verfluchte Tümpel
Dieser Alptraum stammt aus den Nächten meiner Kindheit: er ist der älteste, beklemmendste, nördlichste meiner schlechten Träume. Eine einfache Wiese in Form eines fast runden Beckens, in deren Mulde ist ein kleiner bleigrauer Teich. Flughafer, Eppich, alle möglichen unbotmäßigen und bösartigen Pflanzen wuchern im feuchten Gras; auf dem abfallenden Gelände stehen ein paar schiefe verkrüppelte Bäume. Westwind, dieser milde, feuchte, leicht salzige Wind, der, über den Boden fegend, Regen in die Länder des Nordens bringt, bewegt traurig die Gräser, die zittern und ihre graue Unterseite zeigen. Spiegelungen eines schmutzigen Weiß huschen über den Tümpel, ähnlich dem lästigen Schimmern der Metallwindrädchen in den Astgabeln der Obstbäume, die die Vögel fernhalten sollen. Der trübe, niedrige Himmel scheint aus einer Anhäufung reglosen Rauchs zu bestehen. Nur der wilde Mohn mit seinen riesigen roten Kelchen leuchtet hier und da im grauen Gras und setzt diesen fahlen Erdwinkel in Flammen, den er mit Blut zu beflecken scheint. Diese mit dem Saft des Schlafs und des Todes gefüllten Blumen und dieser bleiche Teich, der für alle Zeiten durch ein auf seinem Grunde liegendes Schicksal vergiftet zu sein scheint, sind mir vertrauter als viele Landschaften, in denen ich zwanzigmal am hellichten Tag in der Sonne spazierte, und obwohl dieser Traum mich nur in großen Abständen heimsucht, ist mir, als hätte ich nur wenige Nächte erlebt, ohne diesen Ort zu sehen, der für mich trostloser als ein Friedhof ist. Vor einigen Jahren beobachtete ich in Zeeland, in der Gegend von Middelburg, dasselbe eintönige Zittern des Grases im flauen Wind der Ebene, das ich in meiner Kindheit auf den Hügeln Flanderns zwischen Lille und dem Meer so häufig sah und das sich meinen Träumen gewiß mitgeteilt hat. Was den unheilvollen Tümpel betrifft, so bin ich ihm im Wachen noch nicht begegnet, und ich weiß, daß ich an dem Tag, an dem ich ihn erblicke, sein Vorhandensein als eine Aufforderung zum Selbstmord auslege.
Die neueren Versionen dieses Traums enthalten keine Menschenwesen, aber man sieht in ihnen, wie auf einem Rebus verstreut, vertraute Gegenstände. Alte, ausgetretene Schuhe, halbversteckt im fetten Gras, einen zerbeulten Kupfereimer, den die Mägde beim Abendmelken benutzten, Kuhfladen, in die man tritt und die mit trockenem Ton zerbersten, ein wurmstichiger Schemel, auf den ich mich setze, der aber unter meinem Gewicht nachgibt: und dieser Zwischenfall von einer etwas abgeschmackten Komik wirft mich aus meinem Traum. In einem tragischeren Epilog, in dem der Traum zum Alptraum wird, verkrallt sich eine riesige schmutzigrote Katze in der Höhlung des Baums, unter dem ich sitze. Ich erkenne sie: Es ist die Katze des Gärtners, die wild wurde, als man ihr die Jungen wegnahm, um sie im Teich zu ertränken, und die mein Bruder erschießen soll. Der Schuß geht los, ohne daß ein Knall zu hören ist; wieder trifft eine Kugel den riesigen behaarten Körper; die grausigen phosphoreszierenden Pupillen verschleiern sich und erlöschen; der Körper mit dem von der Geburt noch weiten Bauch fällt mit dumpfem, widerlichem Geräusch herab, krümmt sich und verschwindet im Gras. Der hohe Klee, der mir bis an die Knie reicht, schließt sich über dem toten Tier, und ich sehe nur noch eine lange, zähflüssige Blutspur auf einem sich sanft wiegenden Farn.
Die Landstraße unter dem Schnee
Ich bin unterwegs auf einer Schneefläche, die mir grenzenlos erscheint, unter einem grauen Himmel, aus dem all dieses Weiß gefallen ist. Kein Hauch in der Luft. Anfangs ist jede Empfindung von Kälte, Müdigkeit, gefährlicher Isolierung in diesem Raum ohne Zuflucht ausgeschlossen: Nichts erinnert an die belebende Anstrengung der langen Winterspaziergänge, an den klaren Gesang des Blutes, an die wie von einem scharfkantigen Kristall aufgerissene Gesichtshaut. Nichts evoziert den erschöpfenden, alptraumartigen Kampf, um bei jedem Schritt die Schuhsohlen der weichen weißen Masse zu entreißen. Ich gehe leicht über eine dicke, festgetretene Schneedecke, die unter meinen Füßen knirscht und reißt; meine Einsamkeit ist nicht beunruhigend und die Weite nicht feindselig. So viel Heiterkeit, so viel Stille lassen einen an das englische Wort denken, das wiedergibt, was wir so schlecht mit nature morte bezeichnen: still life, das Sein im Zustand der Ruhe. Erst in den letzten Takten dieses Traums wird mich ein Kälteschauer überlaufen, aber das Vorspiel ist von reiner Stille.
Der dicke Schnee entrollt seine friedlichen Wellen in alle Richtungen und bedeckt, was gestern noch Gräben, Hecken, unebene Felder waren. Unter der weißen Schicht ahnt man die beiden Fahrspuren der Straße; sie ziehen sich, soweit das Auge reicht, zwischen zwei leicht gewölbten Böschungen dahin, die dieses im Schnee liegende lange, gewundene Band säumen, kaum sichtbarer in all dem Weiß als eine fast verwischte Kielspur auf ruhiger See. Am Horizont, wo sich der Himmel auf die Erde stützt, wird aus dem grauen Himmel ein schwarzer.
An einer Straßenbiegung sehe ich von weitem einen imposanten, freundlichen Spaziergänger in roten Stiefeln mit großen, ruhigen Schritten auf mich zukommen. Man möchte sagen, eine weiße oder rosige Schneekugel auf zwei zinnoberroten Stelzen. Es ist ein Storch oder ein Flamingo, der Vogel des Islams und der Vogel des Weihnachtsfestes, der die Neugeborenen durch den Himmel des Nordens trägt und der im Orient auf Grabkuppeln sitzt. Im Vorbeigehen reicht er mir graziös den Fuß und drückt mir die Hand.
Ein paar Schritte weiter, an der nächsten Biegung, begegne ich einem anderen Vogel. Diesmal ist es ein toter oder vielmehr ein kältestarrer Falke, der mit glasigen Augen im Schnee liegt. Ich hebe ihn liebevoll auf, drücke ihn an die Brust, in der Hoffnung, ihn mit meinem warmen Blut zu erwärmen, und tatsächlich wird der stolze Vogel bald wieder lebendig, regt sich und setzt sich auf meine Schulter.
Ich habe das Gefühl, es gibt ein Band, das nichts zerreißen kann, eine Freundschaft, die nie endet, eine Sicherheit, die Argwohn und Angst ausschließt und selbst die Gefahren der Trennung übersteht, als wüßte ich genau, daß der geliebte Raubvogel doch stets zurückkehrt und sich an meinen Hals schmiegt. Aber da kommt wieder eine Biegung: wir stehen vor einem kleinen im Schnee vergrabenen Bauernhof, einem bescheidenen eingeschossigen Häuschen mit einem Stall, der wie eine Voliere mit Messing vergittert ist und in dem tatsächlich Vögel die einzigen Haustiere sind. Als ich mein Gesicht gegen die elastischen Rauten des Gitters lehne, sehe ich, daß die Vorsprünge und Höhlungen der alten Mauer, die die Rückwand des Stalls bildet, Hunderten von Vögeln als Sitzstangen und Unterkunft dienen und daß sie sich dort Nester gebaut haben, als wäre Brutzeit. Aus den runden Höhlungen der Mauer voller Wunderund Passionsblumen, die die Nachbarschaft des Schnees anscheinend ignorieren, schauen Meisen, Gimpel, Distelfinken mit lebhaften Augen, ein wenig so wie die Tausenden von Falken, die bei den nächtlichen Schiffspassagen durch den Kanal von Korinth den Kopf aus den vom Dynamit in den Isthmus gerissenen Löchern stecken und ihre hypnotisierten Pupillen auf die langsamen Reflexe der Bootslichter auf den beiden nackten Steinmauern richten. Ohne daß ich mir erklären kann, wie mein Falke durch die Eisenstäbe gekommen ist, sehe ich ihn auf einmal außerhalb des Gitters, mitten in den Nistplätzen der schutzlosen Vögel. Ich mache mich auf ein Massaker unter den Unschuldigen gefaßt, aber nichts dergleichen passiert, der himmlische Raubvogel scheint freundschaftlich mit Distelfinken und Meisen zusammenzuleben. Unbesorgt um das Schicksal der Singvögel, gehe ich weiter und vergesse, sein Wegfliegen zu bedauern.
Die dritte Station ist eine in den Schnee gegrabene Grube, umgeben von fast heruntergebrannten Kerzen, die dicht über der Erde brennen. Die Straße mündet in diese Grube. Dahinter ist nur noch eine dicke Schneemauer, die aus dem Aushub dieses weichen und flaumigen weißen Grabs besteht. Ich steige trotz seiner Tiefe mühelos hinab und lege mich schlafen, denn ich bin müde. Aber nach längerer Zeit, die ich nicht genau bestimmen kann, friere ich. Mir ist klar, daß es besser ist, dieses eisige Bett zu verlassen und denselben Weg zurückzugehen, zumal mich die Schneemauer ohnehin davon abhält, mich auf die andere Seite meiner Gruft zu wagen. Ich bin nur wenige Schritte gegangen, da hockt sich der Falke, von dem ich mich getrennt hatte, wieder auf meine Schulter, und ich setze den Heimweg fort mit diesem Tier der Auferstehung als Weggenossen.
Die herausgerissenen Herzen
Eine Küche, ein Ausguß am Fenster, ein Tisch mit weiß-blau kariertem Wachstuch. Darauf ein Weidenkorb, randvoll mit roten, klebrigen Dingen, die den Innereien von Hühnern gleichen, die man eben ausgenommen hat und in die ich die Hände tauchen muß. Ich weiß, daß es Herzen sind, nichts als Herzen, Männerherzen, Frauenherzen mit schlecht abgezogenen Arterienenden und Venenfäden. Aber ich weiß nicht, welchen Lebenden diese Herzen gehörten. Sie schlagen immer noch, mit dem unerträglichen Geräusch von Uhren in einer Uhrmacherwerkstatt, und die Küche hallt von ihrem gegensätzlichen und unterschiedlichen Tick-Tack, das dem Wecker der Magd unrecht gibt. Man sieht, wie sie sich in dem Korb, in dem sie aufgehäuft sind, ausdehnen und zusammenziehen, mit schrecklichen Zuckungen wie erstickende Fische im Todeskampf. Ich sage mir, daß man sie irgendwie zum Schweigen bringen muß, damit man das Klingeln und die Schritte des Angestellten der Galeries Lafayette hört, der den Weihnachtsbaum bringen soll: vergeblich lege ich fünf, sechs feuchte Handtücher über den Korb, der weiterhin wie ein Behältnis voller Schlangen vibriert. Um mich von diesem Geräusch zu befreien, das mich noch zum Schreien bringt, schütte ich den schleimigen Korbinhalt vorsichtig aus dem Fenster in die muschelförmig zusammengelegten Hände eines jungen Bettlers mit sonnengebräuntem Gesicht, der unten, zwischen Dienstbotentreppe und Garageneinfahrt, wartet, den verblaßten und zerlumpten Schatten eines blauen Taschentuchs um seinen braunen Hals.
Aus dem Französischen von Caroline Vollmann
SINN UND FORM 6/2009, S. 725-740
In Museen für alte Kunst begegnet man zwischen rot gewandeten Prälaten und gepanzerten Kriegern oft dem Porträt eines bescheiden in dunkles Tuch (...)
LeseprobeYourcenar, Marguerite
Der Goldwechsler
In Museen für alte Kunst begegnet man zwischen rot gewandeten Prälaten und gepanzerten Kriegern oft dem Porträt eines bescheiden in dunkles Tuch gekleideten Mannes, dessen Gesicht faltig wie eine Geldbörse oder verwischt wie ein abgegriffenes Goldstück ist. Außer einer kleinen Waage lenkt nichts den Scharfsinn der Vorübergehenden auf ihn. In Allegorien symbolisiert die Waage Gerechtigkeit: es kommt vor, daß man ein Schwert in eine der Waagschalen werfen kann. Beim „Wägen der Seelen“ im Tympanon der Kathedralen schwankt sie an einem Diamantbalken zwischen mächtigen Engelshänden. Doch hier handelt es sich um die Waage eines Goldwechslers. Es geht nicht mehr darum, nur feine, aber unbestimmte Sachen ins Gleichgewicht zu bringen, Regungen, Absichten, Gefühle, sondern in Material und Form genau bestimmte und für Ohren und Augen deutliche Gegenstände, die mit Bronze, Kupfer oder Silber aufgewogen werden. Lediglich Kleidung oder Maltechnik könnten uns Auskunft über das Datum der Priester- oder Soldatenporträts geben, da ja alle menschlichen Gesellschaften seit jeher Gegner und Götter haben. Doch der Kaufmann, der sich in seinem Kontor malen läßt, mit dem Gesicht zum Kunden, den für ihn der Betrachter darstellt, bezeichnet exakt den Beginn einer neuen Zeit. Neben den großen roten Schmetterlingen der christlichen Seele und den goldbehelmten Insekten, Vertretern einer entwickelten, in dieser Weltgegend weitverbreiteten Spezies, ist das kleine kümmerliche Wesen reich an Möglichkeiten. Es gehört zu den Larven der Zukunft.
Ob im feudalen Europa, im alten Indien oder in einem australischen Kral, primitive Siedlungen wirken homogen, beständig und außerordentlich geschlossen. Sie sind lokale Phänomene. Eine Zivilisation, in der die schweren Elemente Tradition und Familie dominieren, grenzt sich eifersüchtig von ihren Nachbarn ab, die nicht minder traditionalistisch und genauso abgeschlossen sind. Diese Siedlungen haben nur lose Beziehungen zueinander, meistens in Form von Überfällen und Strafexpeditionen, ist doch Lösegelderpressung eine der ältesten Arten des Austausches. Doch der Krieg, ein Mittel der negativen Erkenntnis, hat nur das Ziel, den Feind zu vernichten oder zu assimilieren: Indem der Sieg die siegreiche Siedlung über die anderen erhebt, festigt er oft deren Orthodoxie. Als es Kämpfe nur zwischen direkten Nachbarn gab, endete die Feldmark eines Dorfes einen Pfeilschuß weit hinter der Umwehrungsmauer, sofern der Ort nicht über seltene Handelsbeziehungen verfügte. Die Welt von damals ähnelt mittelalterlichen Bildern, auf denen ein paar Kaufleute ihre Maultiere über Bergpfade in einer zum Hinterhalt oder zum Gebet gemachten Landschaft vor sich hertreiben und befestigte Weiler, die sich über Täler und Flußbiegungen beargwöhnen, miteinander verbinden. Der Handel nötigt den Menschen hinauszuziehen, nicht nur für kurze Streifzüge, sondern zu Reisen; er gibt Völkern Bedeutung, die noch zu weit weg sind, um schon als Feinde bekannt zu sein. Wenn ein Wortspiel erlaubt ist, um die Wörter zumindest einmal auf ihren Ursprung zurückzuführen, könnte man sagen: Aus rein praktischen Gründen, die nichts mit Brüderlichkeit zu tun haben, begegnet der Händler dem orthodoxen Ideal des Priesters oder des Soldaten, dieser Hüter der geschlossenen Stadt, als einer der ersten mit einer katholischen Weltsicht.
Im Mittelalter, in diesem wie eine Pyramide aufgebauten Europa, das beim Bearbeiter der Erdscholle beginnt und beim Träger der Erdkugel endet, hat Vermögen nur in seiner beständigsten Form eine soziale Bedeutung: als Land. Aus Notwendigkeit, später aus Tradition, ist die Existenz des Leibeigenen mit dem oft unveräußerlichen Boden verknüpft, so daß der Begriff des Eigentums sich für den Lehnsherrn mit dem der Amtsgewalt über eine Sippe vermischt und Besitzen für ihn gleichbedeutend mit Herrschen ist. Diese Bauern- und Kriegergesellschaften, für die Geldvermögen noch eine relativ nebensächliche Form von Macht ist, haben die Eigenart, daß sie den Kaufmann entweder nicht kennen oder ihn verachten. Weder als Kapital noch als Arbeit, beides vermischt sich übrigens, regiert Geld die Welt: Es ist kaum eine Kraft und noch keine Macht. Unsere theoretische Moral beruht auf der Verachtung des Goldes und von Taten, die dem Erwerbstrieb entspringen; sie trägt Spuren dieser Zeit, als Gold eine neue und subversive Form von Macht war, verglichen mit älteren Gewalten, die fester begründet, schwerer zu erlangen, doch leichter zu bewahren sind, Gewalten, die militärische und mystische Macht sind. Die gesamte ökonomische und ein Teil der menschlichen Geschichte lassen sich als das langsame Eindringen der Gold- in die Eisenzivilisationen zusammenfassen.
Wie Bettler, Söldner und Apostel ist der Kaufmann anfangs ein Reisender, was, als Reisen noch ein Abenteuer war, vor allem Abenteurer bedeutete. Da er täglich mehr Raum für die gemeinsame Zivilisation braucht, die seinen Markt vergrößert, und den Lebensstil, der ihn erneuert, ist er Kosmopolit und Neuerer zugleich; in die allseitig verschlossene Welt der antiken oder mittelalterlichen Stadt bringt er zwei beunruhigende Elemente, Fremdartigkeit und Neuheit. Weit mehr als der Soldat, der eine siegreiche Sprache oktroyieren, oder der Priester, der eine heilige Sprache bewahren will, wird er durch seinen Beruf zum großen Polyglotten, bis er eines fernen Tages, selbst zur Macht geworden, sich eine internationale Sprache für seine Zwecke schafft. Sein Handel, der begonnen wurde, um ein paar sehr einfache Bedürfnisse zu befriedigen, versucht nun weitere Bedürfnisse zu erzeugen, um sie dann zu erfüllen. Er ist der Mann der komplizierter werdenden Zivilisationen, in denen der Zwischenhändler immer wichtiger wird. In Zeiten, in denen das Meer sicherer als die Straße und der Hinterhalt mehr als der Sturm zu fürchten ist, wo Waren leichter in Schiffsbäuchen als auf den Rücken von Lasttieren zu transportieren sind, ist er vor allem Seefahrer. Die Geschichte des Handels in der Alten Welt und die der großen Seehäfen vermischen sich fast. Smyrna und Tyrus, Venedig und Gent, Brügge und Amsterdam, Amphibienstädte, gehören zu jenen Metropolen, die nicht nur aus religiösen oder strategischen, sondern auch aus kommerziellen Gründen entstehen und eher Emporium denn Akropolis sind. So wie die ersten Lebensformen sich angeblich an den Küsten herausbildeten, sind auch diese ersten Versuche zu einer ganz neuen Gesellschaft dem Meeresufer geschuldet.
Betrachten wir auf der mittelalterlichen Landkarte diese nicht nur territorialen, sondern auch kapitalistischen Organisationen: die Kaufmannsrepubliken. Vor den Aktiengesellschaften GB und USA existierten schon die Aktiengesellschaften Venedig, Amsterdam und Lissabon-Ostindien. Gering an Zahl, mit einer Art geographischem Monopol versehen, an den Rändern Europas verstreut, zwischen auf Ackerbau und Krieg gegründeten Staatswesen eingekeilt, ging es ihnen weniger um das prekäre Gleichgewicht untereinander, das später Europas Monarchien erstrebten und heute seine Nationalstaaten herstellen wollen, als vielmehr darum, dem gewaltigen Druck der Nachbarreiche standzuhalten. Ihre Dauer bestimmten eher physische als politische Gründe: Der Niedergang des in feindlicher Symbiose mit Byzanz lebenden Venedig beginnt mit dem Zusammenbruch des griechischen Orients, so wie der Niedergang einer Insektenkolonie mit dem Absterben des Baums beginnt, von dem sie sich ernährt und den sie mit ausgehöhlt hat. Damit die Suprematie von Venedig auf Lissabon und von Lissabon auf Amsterdam überging, mußte die Achse der Straßen verlagert werden. Diese kleinen, von den Wechselfällen des Finanzwesens ständig neugruppierten und gleichsam vom Meer umwehten Patrizierwelten waren heroische Entwürfe der modernen Welt, Modelle der künftigen Kolonialmächte. Nach außen orientiert, auf Vermögen statt auf Kraft bedacht, entdeckten sie als erste, daß Vermögen eine Kraft ist. Mehr als andere in jenes riesige Unbekannte verwickelt, das die Griechen barbarisch und die Christen ungläubig nannten, zeigten sie beim Spiel der Ideen eine Toleranz, die sie bei ihren Handelsgesetzen und Gewerbegerichten nicht an den Tag gelegt hätten. Sie waren die ersten, die Ideen wie Tauschmittel veranschlagten, ebenso gewichtig wie Kupfer oder Gold, öfter wie Kupfer, unterschiedlich benannt und mit dem Bild weiser Männer geprägt. Noch nie hatte sich Gold als so formbar erwiesen wie in diesen kleinen, aber erfinderischen und klugen Staaten, welche die Welt zum Leben brauchten. In gewissem Maße, aber ganz anders als in den Legenden, sind das Venedig der Dandolo, das Florenz der Medici und das Augsburg der Fugger Vorausbildungen des Goldenen Zeitalters.
Man hat die Renaissance so oft durch ihre Künstler und Philologen erklärt, daß es gut wäre, sie auch einmal durch ihre Bankiers und Kaufleute zu erklären. Holbeins Goldwechsler ist der Schlaue in der Welt des 16. Jahrhunderts. Da kniet er noch aufrichtig vor Gott wie ein Stifter, erwartet von Glaubenswundern, was Leute wie er heute von wissenschaftlichen Entdeckungen erwarten: Wohlstand. Doch der Goldgrund der Kirchengemälde hat sich für ihn zu Schildtalern, Livres tournois und Rosennobeln verdichtet. Als Propaganda exportiert, gibt der Glaube dem Kaufmann in den neuen Ländern den Missionar zum Gehilfen. Im Mittelalter machte Venedig aus den Kreuzzügen ein frommes Werk und ein gutes Geschäft, eine Quelle für den Ablaß und einen Ausrüstungsvertrag, nicht viel anders als der Ritter, der sich davon das Seelenheil und eine Baronie versprach. In Amsterdam ist der Kaufmann dann Stütze und Nutznießer der Reformation zugleich. Der Glaube erzeugt demographische Strömungen, die diesem Seefahrer nützlich sind. Als Wucherer hat er sich an der Verarmung der Feudalherren infolge langer Lehenskriege bereichert; als Bankier rechnet er darauf, mit der Ausdehnung der Welt zu expandieren. Seine Töchter verheiratet er gut: eine Welser wird mit Österreich und zwei Medici werden mit Frankreich vermählt. Er besitzt das einstige Privileg von Freiherren und Heerführern: er macht Könige; auf deutschen Reichstagen fabriziert sein Gold Kaiser. Er hält es mit der Ordnung, für den Katholizismus gegen den Kommunismus der Lollarden, für den Protestantismus des Staates gegen den hussitischen Kommunismus. Kosmopolitischer und seßhafter geworden, zieht er nicht mehr mit den Ballen auf der Schulter über die Straßen; er schickt seine Botschafter. Er hat Flotten und hofft auf Armeen. Die kleinen Republiken verschwinden, Schalen, die sein Wachsen beschützten. Das 16. Jahrhundert verzeichnet den ersten Versuch zu einem ökumenischen Weltideal sowie die Anstrengungen des Geldmannes, der nicht mehr nur eine Kraft sein will und sich bemüht und es auch schafft, eine Macht zu werden.
[…]
SINN UND FORM 1/2012, S. 9-18