Wolf, Christa
(1929 –2011), Schriftstellerin, Mitglied der Akademie der Künste.
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/1968 | Verwandlungen
- 5/1969 | Ein Besuch
- 1/1971 | Zu einem Datum
- 4/1972 | Gedächtnis und Gedenken
- 2/1973 | Selbstversuch
- 2/1976 | Kindheitsmuster
- 2/1980 | Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an
- 5/1980 | Zu Anna Seghers
- 1/1983 | Aus den »Frankfurter Vorlesungen.« Ein Brief über Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit, Bestimmtheit und Unbestimmtheit; Über sehr alte Zustände und neue Seh-Raster; Über Objektivität
- 4/1983 | Zur Information
- 4/1984 | Rede auf Schiller
- 5/1984 | Worte des Gedenkens
- 2/1986 | Transit: Ortschaften
- 2/1987 | Störfall
- 2/1989 | Gespräch mit Therese Hörnigk
- 6/1990 | Kurt H. Biedenkopf zu Gast bei Christa Wolf: Soziale Marktwirtschaft, Kultur und Utopie
- 6/1995 | »Winterreise« - Wolfgang Heise zum Gedenken
- 1/2001 | Im Widerspruch. Zum 100. Geburtstag von Anna Seghers
- 2/2011 | Begegnungen mit Uwe Johnson
- 6/2020 | »Die vielen ungelebten Leben«. Briefwechsel mit Hans Stoffels 1971–74. Mit einer Vorbemerkung von Hans Stoffels
Ich stelle mir vor, Uwe Johnson, der Mann, an den wir heute hier erinnern wollen, wäre unter uns. Er säße zum Beispiel, wie es ihm zukäme, in der (...)
LeseprobeWolf, Christa
Begegnungen mit Uwe Johnson
Ich stelle mir vor, Uwe Johnson, der Mann, an den wir heute hier erinnern wollen, wäre unter uns. Er säße zum Beispiel, wie es ihm zukäme, in der ersten Reihe unserer Versammlung und wunderte sich, daß jemand und wer in seinem Namen einen Preis bekommen soll. Das wäre doch möglich. Das wäre doch normal, er war ja vier Jahre jünger als ich, er könnte doch leben. Es müssen besondere Begleitumstände gewesen sein, die ihn mit fünfzig Jahren sterben ließen. Ich versuche, vorsichtig, einige dieser Umstände anzudeuten, indem ich schildere, wie ich ihn erlebt habe.
Soll ich sein Leben tragisch nennen? Ich halte das Wort zurück. Eine Versuchung, es zu verwenden, geht von dem Land aus, in dem wir uns befinden, in dem manche von uns leben, in dem er nicht bleiben konnte und nach dem er sich immer gesehnt hat. Mecklenburg. Es war Johnsons Land. »… aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der Elde und der Havel …« Ich glaube, es gab zu seinen Lebzeiten kaum einen Menschen, der umfassender und genauer über Mecklenburg Bescheid wußte als er. Es gibt ein Verzeichnis der Mecklenburgischen Orte, die in seinen Büchern, insbesondere in den »Jahrestagen«, vorkommen: Es sind über hundert. Sechshundert Bücher über Mecklenburg fanden sich in seiner Bibliothek. Auf Johnsons letzter Reise durch Mecklenburg, von der noch die Rede sein wird, berührt er auch Neubrandenburg, und natürlich Güstrow – jene Stadt, in der er zehn Jahre gelebt hat, in der er auf die John- Brinckman-Schule gegangen ist, vor der heute seine von Wieland Förster geschaffene Stele steht. Ich war dabei, als sie enthüllt wurde, ich sah sie zuerst von schräg hinten und fand, der Bildhauer hatte die Haltung des Rückens gut getroffen, der sich, etwas gebückt, vom Betrachter wegbewegt. Und ich war mir bewußt, daß dieser Schriftsteller nun – als Denkmal – zurückgekehrt war in jene Stadt, die er, zusammen mit Grevesmühlen, zu seinem fiktiven Ort Gneez verwandelt hat, der für die Personen seiner »Jahrestage«, in der Mehrzahl Mecklenburger, eine so große Rolle spielt. Ich streiche auf seiner Mecklenburger Liste die Namen der Orte an, in denen auch ich gewesen bin, ich komme auf knapp dreißig. Wie er sind wir ja im Frühjahr 45 als Flüchtlinge in dieses Land gekommen, weiter westlich allerdings. Später kam dieser Teil Mecklenburgs mir aus den Augen. Heute biegen wir, aus Berlin kommend, bei der Abfahrt Malchow von der Autobahn ab – ein Ort, in dem Heinrich Cresspahl gelebt hat, den wir aber rechts liegen lassen, um in Richtung Sternberg über Goldberg und Dobbertin zu unserem kleinen Dorf am Rande der Mecklenburgischen Seenplatte zu fahren. Mancherorts hätten wir, Johnson und ich, uns damals begegnen können. Die Zeitverschiebung in unserem Leben hat das verhindert. Sie hat auch verhindert, daß wir in den gleichen Jahren im Hörsaal 40 an der Leipziger Universität die Vorlesungen von Hans Mayer hörten – jenes Professors, der das außergewöhnliche Talent seines Studenten Johnson erkannte und ihn ideell und materiell förderte.
Verfehlt haben wir uns auch, als Johnson im August 1982 zum letzten Mal in Güstrow war, als ein „Mr. Johnson“, Mitglied einer englischen Reisegruppe. Ein, zwei Jahre später begannen wir, nicht mehr als zwanzig Kilometer südlich von Güstrow, unsere Sommer in einem alten mecklenburgischen Pfarrhaus zu verbringen. Wie oft sind wir seitdem in Güstrow gewesen, haben Freunde von der Bahn abgeholt, haben ihnen die Stadt gezeigt, mit ihnen vor den Barlach- Skulpturen gestanden, den Schwebenden Engel im Dom besucht. Wie oft habe ich dabei an Uwe Johnson gedacht. Da war er schon tot. Da war er 1984 in einem entfernten Ort an der englischen Themsemündung gestorben. Sein Herz hatte »versagt«. Es war ihm zuviel zugemutet worden.
Als unser erstes Mecklenburger Haus abgebrannt war, hat Uwe Johnson mir eine Karte geschrieben: »Ich höre, Ihr Haus ist abgebrannt, kann ich etwas für Sie tun?«
[...]
SINN UND FORM 2/2011, S. 269-274
Vorbemerkung
Im Wintersemester 1967 / 68 begann ich mein Medizinstudium an der Universität Heidelberg. Bald beneidete ich die Studenten der (...)
Wolf, Christa
Aus dem Archiv der Akademie der Künste »Die vielen ungelebten Leben« Briefwechsel mit Hans Stoffels 1971–74
Vorbemerkung
Im Wintersemester 1967 / 68 begann ich mein Medizinstudium an der Universität Heidelberg. Bald beneidete ich die Studenten der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, weil diese offensichtlich lernten, ein »kritisches Bewußtsein« zu entwickeln und Mensch und Welt neu zu entdecken. Im buchstäblichen Sinne gingen sie auf die Barrikaden und intonierten bei ihren Protestzügen mit Ironie und Selbstbewußtsein den Spruch: »Wir sind eine radikale Minderheit«.
Mir schien, das Studium der Medizin bot keine Anknüpfungspunkte für die jugendliche Sehnsucht nach Veränderung, Neuorientierung, nach tiefgreifenden Umwälzungen. Ein älterer Kommilitone wies mich auf eine Vorlesung in der Neurologischen Universitätsklinik zum Thema »Integration von somatischer und psychologischer Medizin« hin. Der Vortragende war Wilhelm Kütemeyer (1904 – 1972), ein Schüler des Mitbegründers der psychosomatischen Medizin in Deutschland Viktor von Weizsäcker. Die kasuistisch gehaltenen Vorlesungen elektrisierten mich, und Kütemeyer selbst war ein Faszinosum. Seine Thesen waren radikal: Jede Krankheit, auch die schweren körperlichen Krankheiten, sind psychosomatisch; die Organkrankheit ist Stellvertreter eines ungelösten Konflikts; der therapeutische Umgang von Arzt und Patient muß eine gemeinsame Widerstandsbewegung sein. Ich erfuhr, daß Kütemeyer zunächst Übersetzer und Schriftsteller gewesen war und schon vor 1933 aktiv gegen die Nazis gekämpft hatte. Den Beginn seines Medizinstudiums 1939 bezeichnete er als eine Form innerer Emigration. Nach 1945 gehörte er zur »Gesellschaft Imshausen«, einer Gruppe von Publizisten, Professoren und Politikern, die aus dem Geist der Widerstandsbewegung eine Erneuerung Deutschlands anstrebten.
Anstatt das geregelte Studium Semester für Semester fortzusetzen, stürzte ich mich in das Studium der psychosomatischen Medizin, ihrer Geschichte, ihrer Theorien und Kontroversen. Gleichzeitig engagierte ich mich in Seminaren der von Studenten gegründeten »Kritischen Universität«, wo sich eine Fülle von Stoff bot für radikale Thesen und Theorien, für Empörung und Aufbegehren, für die Forderung nach einer neuen Medizin. In dieser Zeit konsultierte ich immer häufiger Kütemeyer in seiner Praxis, um das Gleichgewicht zwischen öffentlicher Aktion und innerseelischer Stabilität zu wahren.
Zunehmend kam bei mir die Sorge auf, ich könne in eine Außenseiterposition geraten und mich immer weiter von der anerkannten Wissenschaft entfernen. Seinerzeit kämpfte die universitäre Psychosomatik um ihre wissenschaftliche Anerkennung. Die Weizsäcker-Schule galt als spekulativ, manch einer hätte sie lieber bei den Geisteswissenschaften angesiedelt. War ich in Gefahr, einem Irrglauben anzuhängen oder gar in eine sektiererische Verengung zu geraten? In dieser Bedrängnis las ich Christa Wolfs »Nachdenken über Christa T.«. Ich las das Buch mit ganz anderen Augen als die damaligen Rezensenten in Ost und West. Ich las den Roman als Darstellung einer psychosomatischen Krankengeschichte und erlebte die Lektüre gleichsam als Befreiung, denn mir schien, daß sich hier das neue psychosomatische Krankheitsverständnis Bahn brach.
»Nachdenken über Christa T.« erschien 1969 und begründete Christa Wolfs Weltruhm. Der Roman wurde in viele Sprachen übersetzt und führte lange die Bestsellerlisten an. Aber das bereits 1967 fertiggestellte Manuskript konnte in der DDR zunächst nicht erscheinen. Christa Wolf wurde der Vorwurf gemacht, mit ihrem Buch dem politischen Gegner in die Hände zu arbeiten. Sie übe Verrat an ihren eigenen Idealen und hämische West-Rezensenten lägen bereits auf der Lauer, um nachzuweisen, daß Christa T. nicht an einer Leukämie, sondern an der DDR-Gesellschaft gestorben sei. Das Buch war zu einem Politikum geworden, die Debatten gingen noch jahrelang weiter.
Im Rückblick auf die Zeit vor der Publikation sprach Christa Wolf von einem »Wirbel von Beschuldigungen, Selbstverteidigung, Abwehr, Beteuerung, Verschleierung, Gewissenserforschung, Selbstverleugnung, Lüge und Verschweigen«. Sie sei, schrieb sie an Brigitte Reimann, inzwischen bereit, von einem »Unglücksbuch« zu sprechen. Reimann hatte ihre Freundin in einem Brief vom 29. Januar 1969 mit den Worten gewarnt: »Halt Dein Herz fest; Du weißt ja, was Dich erwartet. Man hört schon allerlei von gewetzten Messern …«, worauf diese am 5. Februar antwortete: »Das Erlebnis ›Die Hände weggeschlagen‹ ist eines meiner Grunderlebnisse der letzten Jahre, sozusagen das Letzte, was ich je als Erfahrung erwartet hätte.«
Inzwischen gab es in der DDR erste Rezensionen (unter anderem in Sinn und Form 1 / 1969), aber das Buch war immer noch nicht erschienen. Zunächst wurde der Verleger genötigt, sich öffentlich zu entschuldigen, Selbstkritik zu üben und der Autorin zu bescheinigen, daß sie in einer pessimistischen Grundstimmung verharre und keine Distanz zu ihrer Protagonistin finde. Schließlich wurde »Nachdenken über Christa T.« in einer Erstauflage von wenigen tausend Exemplaren ausgeliefert. Nach zwei Jahren wurden weitere Auflagen genehmigt, und bis 1989 wurde der Roman mit 250 000 verkauften Exemplaren zum erfolgreichsten Buch der DDR.
Als ich 1971 – damals vierundzwanzig Jahre alt, das medizinische Staatsexamen lag noch in weiter Ferne – Christa Wolf einen Leserbrief schrieb, spielte die politische Auseinandersetzung um diesen Roman keine Rolle. Ich wollte ihr berichten, daß ich das Buch als Krankengeschichte gelesen hatte, als Bestätigung des neuen psychosomatischen Krankheitsverständnisses. Zu meiner größten Überraschung erhielt ich eine Antwort. Kein Zweifel, Christa Wolf war an medizinisch-psychosomatischen Fragestellungen und Forschungen außerordentlich interessiert, auch an der Schule Viktor von Weizsäckers. Später erfuhr ich, daß sie sich auch mit anderen Wissenschaftsgebieten wie der Genetik beschäftigte und von der Literatur erwartete, sich mit den Entdeckungen der Wissenschaft auseinanderzusetzen. Bücher sollen, schrieb sie später, den Mut zu radikalen Fragestellungen fördern und zu einer differenzierten Darstellung eigener Erfahrungen anregen. Ich schickte Christa Wolf Manuskripte, Textentwürfe und Publikationen aus dem Umkreis der psychosomatisch-anthropologischen Medizin, auch die Reflexionen eines Carcinomkranken, der sich bei Kütemeyer in psychotherapeutische Behandlung begeben hatte.
Als Christa Wolf im Herbst 1974 mit ihrem Mann Gerhard zur Buchmesse nach Frankfurt kam, unternahm sie auch einen Abstecher nach Heidelberg, um den leserbriefschreibenden Medizinstudenten in Augenschein zu nehmen und ihn in seiner Studentenwohnung zu befragen. Es entwickelte sich eine lebenslange Beziehung. In den folgenden Jahrzehnten kam es wiederholt zu persönlichen Begegnungen, wenngleich der Briefwechsel allmählich spärlicher wurde.
Das Thema des verborgenen Zusammenhangs von Krankheit und Selbstverwirklichung hat Christa Wolf nicht mehr losgelassen. 1991 sprach sie auf der Jahresversammlung der Deutschen Krebsgesellschaft über »Krebs und Gesellschaft« und erinnerte sich ihrer Romanfigur Christa T. Elf Jahre später publizierte sie die Erzählung »Leibhaftig«. Darin geht es um die Erinnerungen einer Frau, die wegen einer schweren Sepsis tagelang auf einer Intensivstation behandelt werden muß. Die Kranke spricht von sich in der ersten und in der dritten Person und fragt: »Warum ist ihr Immunsystem zusammengebrochen? Vielleicht, Herr Professor, weil es ersatzweise den Zusammenbruch übernommen hat, den die Person sich nicht gestattete.«
Zuletzt begegnete ich Christa Wolf am 28. Oktober 2010 – ein Jahr vor ihrem Tod. Ich hatte sie anläßlich der 16. Jahrestagung der »Viktor von Weizsäcker Gesellschaft« zu einer Lesung nach Berlin-Charlottenburg eingeladen. Das Thema der Tagung lautete »Ereignis und Erlebnis«. Der Vortragsraum vermochte die Zuhörer kaum zu fassen, und Christa Wolf las aus ihrem gerade erschienenen Roman »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«. Alle lauschten gebannt, wanderten mit der Autorin durch die Stadt der Engel, begegneten Thomas Mann und Bertolt Brecht und betrachteten von allen Seiten den »Overcoat of Dr. Freud«.
Nach der Lesung schickte ich Christa Wolf einige Fotos zu, wofür sie sich sogleich bedankte: Die Fotos gefielen ihr, »weil sie lebendig sind«.
Hans Stoffels
SINN UND FORM 6/2020, S. 725-750, hier S. 725-727