Winkels, Hubert
geb. 1955 in Gohr bei Düsseldorf, Journalist und Literaturkritiker. Zuletzt
erschienen »Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995 – 2005« (2005) und »Kann man Bücher lieben? Über den Umgang mit neuer Literatur« (2010). (Stand 5/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 4/1999 | Grenzgänger. Neue deutsche Pop-Literatur
- 5/2018 | Die kaum spürbare Umarmung der Toten. Laudatio zum Düsseldorfer Literaturpreis für Esther Kinsky
- 2/2024 | Der Ziegen-Zyklus
- 5/2024 | Eine Ikone für den Krieg
Ich hatte es vergessen, es war verschwunden in den Falten des Gedächtnisses. Und wie so oft, wenn Abgelehntes, Abgelegtes sich zurück ins (...)
LeseprobeWinkels, Hubert
Der Ziegen-Zyklus
Ich hatte es vergessen, es war verschwunden in den Falten des Gedächtnisses. Und wie so oft, wenn Abgelehntes, Abgelegtes sich zurück ins Bewußtsein drängt, hat man ein spontanes Gefühl für den ursprünglichen Grund der Verdrängung oder den nachträglichen, wie in diesem Fall. Bei einer Reise durch Jordanien konnte ich wie einst Moses vom Berg Nebo aus nicht nur das Heilige Land sehen, sondern auch Jerusalem, die Heilige Stadt, und weiter nördlich bis Jericho, den Ort selbst nicht richtig. Die biblische, heute palästinensische Stadt auf der Westbank liegt tief im Jordantal und ist die tiefstgelegene Stadt der Welt, wie es heißt. Und die älteste, wie es ebenfalls heißt. Hier hatte ich mich in einen zweibeinigen Ziegenbock verwandelt, vor etlichen Jahren, als junger Student, bei einem halbjährigen Aufenthalt in einem israelischen Kibbuz; in einen großen, zweibeinigen, stinkenden Ziegenbock, und das gefiel mir, ich fürchte, ich gefiel mir so. Jedenfalls lief ich versehentlich, noch im Gespräch mit einem zähen Verkäufer von alten (biblischen!?) Münzen beim benachbarten Marktstand, in ein ausgehängtes weißes Ziegenfell. Ich roch es, bevor ich es sah. Es war eine Art bodenlanger Mantel aus schwach gegerbtem Leder, auf der einen Seite halbwegs glatt gearbeitet, aber wie von einem leicht rötlichen Aussatz überzogen, auf der anderen Seite noch voller drahtiger Haare, die am Kragen und an den Ärmeln besonders dicht und lang waren. Ich steckte schon mitten in der Tierhaut, als ich es verstand, und fühlte mich geradezu hineingerissen in eine exquisite Naturgeschichte: Tier, Lust, hoher Mittag, Pan, brüllende Sonne, Frauen mit schwarzen Ray-Ban-Sonnenbrillen und Schlangen um den Hals, verschwimmende Konturen, Glast, Erlösung von der Gedankenschwere, Ziege werden.
Ich sah mich mit einem menschenhohen Stecken, gekrümmt, mit starker Gabelung am oberen Ende, durch wüstenhaftes Geröll schreiten und in einem Beduinenzelt beim Tee sitzen. Das ganze Bild hineinkopiert in eine europäische Stadt meiner Wahl, Amsterdam, Köln, Düsseldorf, Frankfurt. Ein Prediger ohne Worte, die Beredtheit ganz nach außen gewendet, in Fell und Haar und Huf und Hunger und Kraft, und war mit einem riesigen Joint auf dem Weg vom Ratinger Hof zum Creamcheese in der Düsseldorfer Altstadt, zu den Kellerkneipen und Bars besetzter Fabriken (Kölner Stollwerck) und den Wiesen vor den Universitätsgebäuden. Ich kaufte das gute, von den dürren Wiesen Judäas genährte Fell sofort, das heißt, den lokalen Üblichkeiten folgend feilschte und tändelte ich herum, trank Tee mit dem nach Ziege riechenden Verkäufer und seiner seltsamen Sippschaft, die meine deutsche Herkunft zu einem »Hitler-gut«-Schulterklopfen bewegte, kaufte es von der Stange weg, zog es über … und flog bald schon mit diesem riechenden Riesenteil, das alleine einen ganzen Koffer ausfüllte, zurück nach Deutschland. Dort wußte ich nicht richtig weiter. Studium, Journalismus, Freundin … Ach ja, der Mantel! Man könnte sagen, man drückte mich einmal herzlich als hippie-eske Ziege, dann rümpfte man die Nase. Auch meine kleine Wohnung in einem Bilker Hinterhof, früher ein Pferdestall, mitten in Düsseldorf in der Konkordiastraße, roch nun nach Ziegenstall.
Ziegenwaschanlage
Eine andere Reise in den Nahen Osten kommt mir in den Sinn, ein Aufenthalt, Jahre später, in einem recht luxuriösen Hotel im Golf von Aqaba in Jordanien, am Toten Meer gelegen, genau gegenüber von Eilat in Israel. Ich verbrachte dort eine ärztlich empfohlene Auszeit, um eine Hautkrankheit zu lindern, eine schuppenbildende Psoriaris-Variante. Bekanntlich ist die Verbindung von starker Sonnenstrahlung an diesem tiefgelegenen Ort mit dem außerordentlichen Salzgehalt des Wassers sehr heilsam. Für die Haut und, wie sich zeigte, auch für das Fell. So durfte ich beobachten, wie das Bad im zubeißenden Wüsten-Salzsee der äußeren Leibesschicht der Ziege ebenso zuträglich ist wie der des Menschen.
Dreimal am Tag schritt ich mit wohlsituierten, meist westlichen, aber auch einigen arabischen Menschenkindern an einer fein terrassierten Kaskade von Swimmingpools von der Hotellobby vorbei hinunter zum berühmten Toten Wasser; als ob die blaugrün glitzernde Treppe aus gepflegten Schwimmbädern die Begegnung mit dem archaischsten aller Gewässer erst erträglich machte, mit einem Wasser, das reißt und beizt, die Haut in jede Schmerzrichtung reizt (höchste Warnung: nicht mit den Augen in Berührung bringen).
Nachdem wir nach vorsichtigster Annäherung an das flüssige Element, in das wir uns, als enthielte es Nitroglyzerin, zeitlupenlangsam rücklings hineinschweben ließen, eine komfortable Liegeposition gefunden hatten, konnten wir, da wir den Kopf mit einer ungewöhnlichen Anstrengung über der Wasseroberfläche halten mußten, sanft kreiselnd und umeinander treibend täglich beobachten, wie eine Herde Ziegen, zwischen zwanzig und dreißig Tiere stark, gleich neben unserem drahtgesicherten Ressort, auf einem von Disteln, Moos und Steinen grüngesprenkelten Wüstenareal ins Wasser gezwungen wurde; um sie, ja was? zunächst zu reinigen und dann zu heilen und zu imprägnieren?
Nach Auskunft unserer mit Handtüchern am Meeressaum wartenden Badewärter tötet das Wasser Parasiten im Tierfell, wirkt antibakteriell, reinigt kleine Wunden und schützt so eine Weile vor Qualen aller Art. Das weiß eine in den Tag hineinlebende Wüstenziege natürlich nicht und erwartet offensichtlich das Allerschlimmste. Sie will partout nicht hinein ins Nasse, aber sie muß! So daß es rund zwei Stunden dauert, bis die kleine Gruppe von Hirten jede einzelne der großen Ziegen erst ziehend, dann reißend und stoßend, meist ihre Vorderbeine zur Seite tretend, sie an Kopf und Hörnern packend und zugleich von hinten drückend hinein in die ätzende Brühe bugsiert hat. Unter lautestem Geschrei der Hirten zudem, das wie ein vorzeitlicher Kanon klang und selbst die härteste Ziege zum Zittern hätte bringen müssen, wenn sie denn ein menschliches Gehör gehabt hätte. Die panischen Tiere schafften es jedoch, noch lauter zu schreien und zu blöken und mit ihrem Hochfrequenzmeckern, Jaulen und Röhren wie durstige Rinder die Luft erzittern zu lassen. Mit ihrem Bocken, Strampeln, plötzlichem Aufspringen und wieder Zurückdrängen brachten sie die ganze Landschaft zum Vibrieren, was noch gesteigert wurde durch schrille, nahezu menschliche Klagelaute bei den allfälligen Schlägen mit der Gerte auf die Kruppe – sie bekamen regelrecht und lustvoll von ihren Herren eins übergebrannt –, was uns als stumme Zeugen schmerzte und innerlich schwer bewegte. Dies um so mehr, als wir uns keinen einzigen Zentimeter unbedacht bewegen durften. Wir und die Hirten – sozialpsychologisch getrennt durch Tausende Jahre, Aktion und Leiden, lustvolle Arbeit und passiven Schmerz. Doch die Ohren können sich bekanntlich nicht selbsttätig verschließen, alles Gehörte geht ungefiltert ins Gemüt ein, fast jeden Tag ging das so mit den gehörnten Nachbarn und ihren Hütern, zwei heiße Stunden lang, zwanzig, dreißig Ziegen hintereinander, von denen jede, war sie erst mal im seichten Wasser zum Stehen gekommen, wie zur Salzsäule erstarrte, ohne eigenen Willen, sich bis hin zum gelegentlichen Wegsacken ihrem Schicksal ergab, so daß ihr Hirte, dessen Stimme sie gewiß als Teil ihrer selbst vernahm und die nun eher murmelnd oder betend klang, sie nun ein übers andere mal vorsichtig mit Wasser übergoß und mit Bedacht abrieb. Ein schönes Paar! Und schon tobte das nächste hybride Pärchen von der steinigen Uferzone hinein ins erneut belebte tote Meer.
Indessen trieben hinter zwei Reihen eng ins Seil geflochtener Bojen wir konsternierten Kurgäste bewegungslos und stumm um das infernalische Getöse herum. Das ganz andere zweifellos. Aus der Tiefe von Zeit und Raum. Ohne die Ziegenwaschanlage neben unserem Sanatorium, so dämmerte es mir in den Wochen danach, hätte mir die quietistische Sonnen- und Salzkur nicht wirklich geholfen.
Der Ort war geologisch und therapeutisch und, ja, auch politisch, also im wesentlichen profan bedeutsam. Und doch hallte ein rätselhafter biblischer Satz aus dem Buch Daniel durch die ganze Szene. Eine unfaßbare Ziege wird dort in einer Vision aufgerufen: »Der zottige Ziegenbock aber ist der König von Griechenland; und das große Horn zwischen seinen beiden Augen, das ist der erste König.« So rätselhaft klingt Vers 21 im 8. Kapitel. Der »zottige Ziegenbock« meint prophetisch (in Unkenntnis der genauen Entstehungszeit hat man es als Vorhersage verstanden) den mazedonischen Welteroberer Alexander den Großen und sein riesiges Reich. Vers 22 setzt dann fort: »Und daß es zerbrach und vier an seiner Statt aufkamen: vier Königreiche werden aus dieser Nation aufstehen, aber nicht mit seiner Macht.«
Die genannten »vier Königreiche« zielen, mit einer unwahrscheinlichen Präzision, auf Alexanders vier Nachfolger, darunter die Seleukiden, deren Herrschaftsbereich auch Judäa umfaßte, Feinde eines freien Israels.
Nun hat wiederum der jüdische Historiker Flavius Josephus in seinen »Jüdischen Altertümern« (Ant. Jud. X, 337) berichtet, man muß wohl sagen, gemutmaßt (es ist auch allzu schön und rund), daß eines Tages der Große Alexander tatsächlich jene Stelle im Buch Daniel gelesen und sich selbst als Erfüllung der jüdischen Prophetie erkannte habe; göttlich vorhergesagt, in einem schwindelerregenden Loop von Geschichte und Geschichtsschreibung: er, Alexander, der Herrscher der Welt, der Zottige Ziegenbock, dessen aufgeschriebene Geschichte dem tatsächlichen Ereignis vorangeht.
SINN UND FORM 2/2024, S. 216-228, hier S. 216-219