Weichelt, Matthias
geb. 1971 in Lichtenstein / Sachsen, seit 2013 Chefredakteur von Sinn und Form. 2018 erschien »Peter Huchel. Leben in Bildern«, 2020 »Der verschwundene Zeuge. Das kurze Leben des Felix Hartlaub«. (Stand 6/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/2009 | Gespräch mit Hans Keilson
- 2/2011 | Souveränität ist, nichts für Zufall zu halten. Gespräch mit Dieter Janz und Sebastian Kleinschmidt
- 4/2013 | Für den, den's angeht. Zu Peter Handkes Steh- und Gehbüchern
- 5/2014 | Das Kleinste und der Chevalier. Kommerell, Kantorowicz und George
- 1/2016 | Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze. »Alles, was ich zu wünschen vermag, gilt Ihnen«. Aus dem Briefwechsel 1945. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Weichelt
- 3/2016 | Die Ergänzung der eigenen Erfahrungen. Ein Gespräch über Schriftsteller und Editionen mit Inge Jens und Matthias Bormuth
- 6/2017 | Gespräch mit Elisa Primavera-Lévy und Friedrich Dieckmann über Literatur und Kultur in Ost und West
- 5/2018 | Ein Gespräch mit Cécile Wajsbrot über Stimmen, Erinnerungen und Literatur
- 2/2020 | Lob des Verzettelns. Gespräch mit Klaus Reichert und Thomas Sparr
- 1/2023 | »Die Geheimnisse der Prosa sind von stillerer Art.« Gespräch mit Elisa Primavera-Lévy und Wolfgang Kohlhaase
- 2/2023 | Silben- und Freundschaftsarbeit. Totenrede für Marie-Luise Scherer
- 6/2024 | »Wenn das Erinnern anschlägt«. Lobrede auf den Dichter Christian Rosenau
MATTHIAS WEICHELT: Herr Keilson, Sie wurden 1909 in Bad Freienwalde bei Berlin geboren und emigrierten in den dreißiger Jahren nach Holland. Sie (...)
LeseprobeWeichelt, Matthias
Gespräch mit Hans Keilson
MATTHIAS WEICHELT: Herr Keilson, Sie wurden 1909 in Bad Freienwalde bei Berlin geboren und emigrierten in den dreißiger Jahren nach Holland. Sie haben die längste Zeit Ihres Lebens in Holland gelebt und gearbeitet, halten aber immer noch an der deutschen Sprache fest, schreiben auf deutsch. Das ist etwas Besonderes.
HANS KEILSON: Das ist es bestimmt. Meine Frau würde sagen, es ist schon sehr seltsam. Ich bin holländischer Arzt, holländischer Nervenarzt, Psychoanalytiker. Aber es gibt eine Verbindung, eine Beziehung, für die ich nur das Wort Treue finde.
WEICHELT: Dabei heißt Ihr 1986 erschienener Gedichtband, in dem Texte seit den dreißiger Jahren, also auch aus der Zeit vor Ihrer Flucht versammelt sind, »Sprachwurzellos«. Ist in diesem Begriff für Sie beides enthalten, Herausgerissensein und Verbundenheit?
KEILSON: So ist es. Das ist Sprachwurzellosigkeit. Ich spreche mit meinen Patienten holländisch, habe aber meinen ersten Roman im S.Fischer Verlag publiziert. Ich erinnere mich daran, daß der alte Samuel Fischer mir bei einem Empfang in seiner Villa im Grunewald die Hand schüttelte und sagte: Wir bringen ja ein Buch von Ihnen. »Das Leben geht weiter« konnte 1933 noch herauskommen, wurde aber schon im Jahr darauf verboten. Mein zweiter Roman, »Der Tod des Widersachers«, in dem ich meine Erlebnisse in der Nazizeit verarbeite, erschien 1959 bei Westermann. In Deutschland wurde das Buch kaum wahrgenommen, in Amerika bekam es glänzende Kritiken.
WEICHELT: So ging es ja vielen geflohenen Autoren in der Nachkriegszeit, etwa Alfred Döblin, der wie Sie bei S. Fischer war. Haben Sie dafür eine Erklärung?
KEILSON: Ich dachte immer, das liege an meiner Haltung. Der Roman ist ja kein Haßroman. Ich habe 1944 auch ein Gedicht geschrieben, »Variation«, in dem heißt es: »Doch lieg ich jetzt und gar so wund / in fremdem Land und scheu das Licht. / Es tönt aus meines Kindes Mund / ein andrer Klang als mein Gedicht. // Und wenn es dämmert, ziehn vom Meer / Flieger herauf zur Phosphorschlacht. / Ich lieg auf meinem Lager, schwer, / denk ich an Deutschland – in der Nacht.« Damals haben die englischen Flugzeuge Phosphor über Deutschland abgeworfen. Und ich lag auf meinem Lager, versteckt, und wollte nicht, daß mein Land mit Phosphor bombardiert wird. Ich wünschte es auch meinen Feinden nicht. Ich habe kein Bedürfnis nach Rache, auch wenn das viele gestört hat.
WEICHELT: Ihren Unmut über die Zerstörung der deutschen Städte haben Sie ja noch vor Kriegsende in einem Essay zum Ausdruck gebracht.
KEILSON: Ja, im Februar 1945 schrieb ich den Text »Ein leises Unbehagen«. Mit war nicht wohl bei der Vorstellung, daß auf Zerstörung immer nur Zerstörung folgt, daß man einen Brand, also die Bombardierungen durch die Deutschen, mit neuen Bränden löschen will. Wohin sollte all das führen? Mein Unbehagen bestand darin, daß eine Welt vernichtet wurde, nicht nur schöne Städte. Es war zwar die Welt unseres Feindes, aber irgendwann würde es die Welt unseres Freundes sein. Eine Welt, durch Wille und Fleiß von Menschen im Verlauf ihrer Geschichte aufgebaut, wurde durch Wille und Fleiß anderer Menschen zu Nichts zerschmettert, als wäre es Kinderspielzeug.
WEICHELT: Sie haben in Berlin Medizin studiert und 1934 das Examen gemacht, durften als Jude aber nicht Arzt werden, so haben Sie bis zu Ihrer Emigration an jüdischen Privatschulen Sport und Gymnastik unterrichtet. Wie schnell wurde Ihnen klar, daß Sie aus Deutschland wegmußten?
KEILSON: Ich erinnere mich, daß Oskar Loerke, mein Lektor bei S.Fischer, 1935 zu mir sagte: Machen Sie, daß Sie hier rauskommen, ich befürchte das Schlimmste.
WEICHELT: Haben Sie das auch so gesehen? [...]
SINN UND FORM 2/2009, S. 273-277
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT: Sie sind Arzt, Neurologe, Ihre Spezialität ist die Epileptologie. Generell aber verstehen Sie sich als Gewährsmann der (...)
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Souveränität ist, nichts für Zufall zu halten. Gespräch mit Dieter Janz und Sebastian Kleinschmidt
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT: Sie sind Arzt, Neurologe, Ihre Spezialität ist die Epileptologie. Generell aber verstehen Sie sich als Gewährsmann der anthropologischen Medizin. Was haben wir uns darunter vorzustellen?
DIETER JANZ: Es ist nicht ganz einfach zu sagen, was medizinische Anthropologie bzw. anthropologische Medizin ist, aber versuchen wir es. Die drei Stücke, die Viktor von Weizsäcker 1927 für die »Kreatur« verfaßt hat, nämlich »Der Arzt und der Kranke«, »Die Schmerzen« und »Krankengeschichte«, nannte er Stücke einer medizinischen Anthropologie. Und dort sagt er, das Urphänomen der medizinischen Anthropologie und der Hauptgegenstand ihres Wissens sei der kranke Mensch, der eine Not hat, der der Hilfe bedarf und dafür den Arzt ruft. Und dieser Ursprungssituation sollte das Verhältnis von Krankheit und Medizin entsprechen. Die Medizin, wie sie gelehrt wird, ist eine Medizin, die sich mehr einem Etwas zuwendet als einem Jemand. Dieses Gewichtsverhältnis zu ändern, das heißt die Beziehung zwischen Arzt und Krankem menschlich ernst zu nehmen, ist die Absicht einer anthropologischen Medizin. Bis hierhin ist das alles sehr einfach. Der nächste Schritt, der nächste Gedanke ist, sich zu fragen, was unterscheidet den kranken Menschen der anthropologischen Medizin vom Patienten der Schulmedizin? Antwort: daß man ihn als Objekt begreift, das ein Subjekt enthält, und daß der Arzt dieses Subjekt anerkennt. Und nun beginnt ein Gespräch. Die Anamnese aus der Schulmedizin gilt natürlich auch in der anthropologischen Medizin. Aber hier wird sie zum Gespräch, in der Schulmedizin ist es eine Erhebung. Eine Erhebung von Tatsachen nach einem gewissen Schema, zuerst Familiengeschichte, also Auflistung der Krankheiten der Eltern und Geschwister, dann der Kinderkrankheiten, der Geschlechtskrankheiten und anderer Leiden, schließlich der Operationen, während in der anthropologischen Medizin der Arzt fragt: Wo fehlt es? Oder, was fehlt Ihnen? Und dann aufmerksam lauscht. Das Lauschen ist eine außerordentlich bedeutsame ärztliche Handlung, auch weil sie alle möglichen Nebentöne mithört. Und das, was der Kranke sagt, führt hin auf den Weg zur Heilung, denn er ist es doch, der gesund werden will. Hinzu kommt, daß der Patient mehr von der Krankheit weiß als der Arzt, Dinge weiß, die sich erst im Gespräch erschließen. Und so beginnt der Arzt mit den einfachen, im gewissen Sinne klassischen Fragen: wo, wann, was und warum? Also wo. Wo spüren Sie etwas? Das geht erst mal auf die Anatomie zu, wobei die objektive Anatomie eine andere ist als die subjektive, das muß man im Auge haben. Dann das Wann. Wann ist das passiert, wann haben Sie das zuerst wahrgenommen, wann spüren Sie das, wann tritt das auf? Dieses Wann meint mehr als nur die Zeitangabe, es zielt auf den Kontext der Situation, in der die Symptome sich zuerst und dann immer wieder zeigten. Dann geht es zum Was, zur Art der Beschwerde. Mechthilde Kütemeyer, eine befreundete Ärztin, hat mir mal erzählt, daß man aus der Heftigkeit, mit der der Kranke seine Schmerzen schildert, auf die Dramatik des Traumas schließen kann. Also auch Nuancen spielen eine Rolle. Und schließlich kommt die letzte Frage, die Frage nach dem Warum. Im schulmedizinischen Verständnis ist das eine Frage nach der Ursache, im anthropologischen aber eine nach dem Sinn. Und das ist ein entscheidender Unterschied. Empirisch gibt es darauf ganz bezeichnende Antworten. Zum Beispiel eine solche: Das müssen Sie doch wissen. Das ist oft ein Hinweis darauf, daß der Kranke nicht mitmacht bei der Ursachenfindung, er bietet das Symptom, und der Arzt soll damit umgehen. Aber so geht das in der anthropologischen Medizin eben nicht. Und nun fragt der Arzt: Was meinen Sie denn, wo das herkommt? Und es ist erstaunlich, was da so herauskommt. Zunächst die Spitzen: Daß man überhaupt so was gefragt wird. Dann die Scheu zu sagen, was man sich selber dabei gedacht hat. Das sind aber Abwehrversuche, die man überwinden muß als Frager. Damit darf man sich nicht zufriedengeben, sondern muß weiter insistieren, und zwar in einer Weise, die es dem anderen erlaubt, ungeniert auch dumme Sachen zu sagen. Und die dummen Sachen sind oft die, die helfen, einen Weg zu finden. Das gilt auch für organische Krankheiten. Es kommt vor, daß sich hier eine psychoneurotische Konstellation anschultert. Zum Beispiel bei Kranken mit einer Multiplen Sklerose oder mit Gelenkrheumatismus. Wenn man fragt, wo das ihrer Meinung nach herkommt, kann einem gleich ein ganzes Familiendrama erzählt werden. Wenn man die Biographik bei chronischen Krankheiten studiert, muß man die erste Schicht wegnehmen, um zu einer tieferen zu gelangen. Zuerst kommen etwa Aggressionen gegen einzelne Familienmitglieder zur Sprache, deren Berechtigung zweifelhaft ist. Und erst dann erscheint vielleicht etwas von Bedeutung, das man in Pathogenese und Therapie einbeziehen sollte. Also das ist die Frage nach dem Warum. So fein sind die Unterschiede zwischen Schulmedizin und anthropologischer Medizin. Das philosophische Gerüst – besser die ärztliche Einstellung – dahinter ist entscheidend. Das gilt besonders für die Sinnfrage. Die kann ja nur gestellt werden, wenn der Arzt eine Vorstellung hat, was der Sinn sein könnte, und wenn der Kranke bereit ist, mitzudenken. Man braucht ja vom Sinn nicht gleich eine umfassende Vorstellung zu haben. Es muß sich einem auch nicht alles sofort erschließen. Weizsäcker benutzt für den Begriff Sinn oft den der Bestimmung. Er fragt, welche Bestimmung hat eine Krankheit in einem Leben. Und man kann, ja, man muß unterscheiden zwischen einer vorletzten und einer letzten Bestimmung. Ich weiß gar nicht, wo diese Unterscheidung herkommt. Vielleicht wissen Sie es.
KLEINSCHMIDT: Nicht auf Anhieb, aber es leuchtet natürlich ein. Man muß ja nur auf die Sprache hören. Wir haben doch die Eschatologie, die Lehre von den letzten Dingen, und von da ist es nur ein Katzensprung zurück zu den vorletzten. Und so kommt man darauf. Und schon öffnet sich ein neuer Raum.
JANZ: Und wenn man einen Sinn dafür hat, daß es das Vorletzte und Letzte gibt, ist man viel freier, auch danach zu fragen. Das ist doch das Merkwürdige, daß die letzten Dinge auf die vorletzten abfärben. Philosophisch gesehen ein interessantes Phänomen. Deswegen ist die anthropologische Medizin für den nachdenklichen Arzt so anziehend.
KLEINSCHMIDT: Genaugenommen sprechen Sie ja jetzt über Formen der kooperativen Diagnostik zwischen Arzt und Patient. Und da sollte man die Hermeneutik ins Spiel bringen, und zwar in ihrer Gadamerschen Form. Hans Georg Gadamer hat sein langes Gelehrtenleben lang immer wieder neue Auslegungen dessen gegeben, was Hermeneutik ist. Und eine davon lautet, daß der hermeneutische Zugang zu einem Text – im Falle der Krankheit müßte man sagen zum Text der Erkrankung – darin besteht, ihn als Antwort zu verstehen, und zwar als Antwort auf eine Frage, die man noch nicht kennt. Das Gespräch bestünde dann darin, vom Antwortcharakter des Textes zur Rückgewinnung der verborgenen Frage zu gelangen.
JANZ: Ja, das ist ganz richtig. Das muß auch hier der Zugang sein, nämlich auszugehen von der festen, auf Erfahrung gegründeten Zuversicht, daß hinter der Krankheit ein verborgener Sinn liegt, den der Kranke nicht unmittelbar weiß und den auch der Arzt nicht weiß, und in diesem gemeinsamen Erforschen, in diesem gemeinsamen Erkennen sich am Ende einig zu werden, worin dieser Sinn besteht. Das ist übrigens etwas, was man auch in der Psychotherapie erfährt, daß nämlich nur die Deutung wirkt, die dem Patienten einleuchtet.
KLEINSCHMIDT: Man müßte nicht einmal sagen, daß die Deutung stimmt, es genügte festzustellen, daß sie wirkt.
JANZ: Das ist der Schlüssel in der Medizin. Das Wirksame ist das Wahre. Entscheidend ist zu verstehen, daß Krankheit immer in einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang eingebettet ist und daß die ihr zugrundeliegenden Konflikte und Spannungen verborgen sind. Will man sie ans Licht bringen, muß man in die Biographie des Kranken einsteigen. Aus der biographischen Einbettung der Krankheit ergibt sich, daß der Mensch ein zeitgebundenes Wesen hat. Auch Krankheit hat daran teil. Zeitgebundenheit der Krankheit bedeutet, daß durch die Behandlung keine Restitution des vor der Krankheit herrschenden Zustandes erfolgt, daß Heilung nicht heißt: nach der Krankheit ist vor der Krankheit.
KLEINSCHMIDT: Im Gegensatz zum Fußball, wo die Trainer immer sagen: nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Natürlich, der Vergleich hinkt ein wenig …
JANZ: Ja, ja. Und es ist ungeheuer wichtig, das ernst zu nehmen, daß der Mensch nach der Krankheit nicht der Mensch vor der Krankheit ist, nicht sein kann. Auch wenn er selber meint, es zu sein.
KLEINSCHMIDT: Also keine Wiederherstellung. Es gibt zwar Gesundung, aber Heilung ist keine Rückkehr zum vorigen Zustand.
JANZ: Es gibt sie nicht, die Restitutio ad integrum. Gesundung ist keine Wiederherstellung.
KLEINSCHMIDT: Da der laienhafte Patient ja mitsprechen darf in der anthropologischen Medizin, würde ich sagen, daß in der Gesundung doch ein Moment der Wiederherstellung steckt. Da muß man gar nicht das Bild der Reparatur bemühen. Jede Erkrankung wirft den Menschen aus der Bahn, und jede Genesung führt ihn in die Bahn zurück. Das ist eine Art Wiederherstellung. Aber natürlich nur eine auf Zeit. Als ich vorhin bei Ihrer Formel »nach der Krankheit ist nicht vor der Krankheit« zum Kontrast auf die Fußball-Formel »nach dem Spiel ist vor dem Spiel« verwies, merkte ich erst hinterher, daß dies, übertragen auf unser Gebiet, in einem anderen Sinne doch stimmt. Denn niemand kann nach einer Heilung sicher sein, daß er fortan nicht wieder krank wird. Insofern gilt: nach der Krankheit ist vor der Krankheit. Die nächste Herausforderung wartet schon auf uns.
JANZ: Aber doch mit einer Erfahrung hinter uns.
MATTHIAS WEICHELT: Vielleicht muß man den Gedanken der Wiederherstellung ein bißchen genauer fassen. Natürlich geht es darum, daß der Mensch wieder mit sich ins reine kommt, daß er nicht mehr sagt, mir fehlt etwas. Nur muß man die Entwicklung dabei mitdenken. Der Mensch, der eine Krankheit durchgemacht hat und von ihr genesen ist, ist nicht mehr derselbe, der er ohne diese physische und geistige Erfahrung war. Er ist ein anderer geworden, und trotzdem wieder bei sich.
JANZ: Ja, so ist es. Und noch mehr. Man erlebt sich wieder neu. Diese Krankheit hatte man ja vorher nicht gehabt. Um es noch von einem anderen Punkt aus zu zeigen: Der Umgang mit einer Krankheit sollte darauf gerichtet sein, dahinterzukommen, was jemanden krank gemacht hat. Das bedeutet für Arzt wie Patient, die Wahrheit der Krankheit zu finden. Weizsäcker sagt: Jede Krankheit ist eine Krise der Wahrheit und eine Anerbietung von Wahrheit. Wird man wieder gesund, hat man sich also mit dieser neu errungenen Wahrheit restituiert. Und noch ein Gedanke. Nämlich die Frage, was wird dieser Mensch? Und zwar sowohl in der Krankheit wie in der Gesundheit. Der Mensch ist immer auf dem Weg. Auf dem Weg zu seiner Bestimmung.
KLEINSCHMIDT: Das berühmte »Werde, der du bist«. Ein Paradox, deswegen ist es ja so schön.
JANZ: Ich hatte jetzt mehr an die Beziehung von Krankheit und Gesundheit gedacht. Ich würde sagen, der Mensch ist immer auf dem Weg hin zur Gesundheit oder weg von der Gesundheit. Er ist immer auf dem Weg hin zu seiner Bestimmung oder weg von seiner Bestimmung. Das meint Weizsäcker.
KLEINSCHMIDT: Ja, das gibt zu denken.
JANZ: Das führt zur Frage des Gesundheitsbegriffs. Für Freud ist die Genußfähigkeit das Leitbild von Gesundheit. Für die Schulmedizin ist es die Leistungsfähigkeit, für die Sozialmedizin die Arbeitsfähigkeit. Das sind alles mehr oder weniger Fremdbestimmungen. Weizsäcker versucht davon wegzukommen, er sagt einmal, Krankheit sei genauso eine Art von Menschlichkeit wie Gesundheit. Gemeint ist, sich menschlich in der Zeit verändern, wachsen, reifen, sterben können.
WEICHELT: Das ist doch eine sehr positive Grundsicht von Krankheit.
JANZ: Ja, ich finde es auch positiv, und zwar im Sinne eines ernsten Zurüstens auf Leben, Lebendigkeit, Entwicklung, und am Ende auf den Tod.
WEICHELT: Das ist das Gegenteil dessen, was heutzutage als erstrebenswert gilt, nämlich das Leben verlängern, immer älter werden, vor allen Dingen den Tod hinausschieben.
KLEINSCHMIDT: Sie haben von der Wahrheit gesprochen, Herr Janz. Und Sie haben gesagt: Wahr ist, was wirksam ist. Man könnte auch sagen: wirksam ist nur die Deutung, über die sich Arzt und Patient im Laufe der Gespräche einig werden. Aber sind denn Wahrheit und Deutung immer heilungsfördernd? Es kann doch auch eine Wahrheit festgestellt werden, die keine Aussicht auf Gesundung eröffnet.
JANZ: Ja, es gibt Krankheiten, die nicht heilen. Franz Rosenzweigs Krankheit, das war so eine. Er litt an einer amyotrophen Lateralsklerose, einer unaufhaltsam fortschreitenden Erkrankung des motorischen Nervensystems. Und daran ist er auch zugrunde gegangen.
KLEINSCHMIDT: Nein, nein, das meinte ich nicht. Sie haben einmal vom Wahrheitsexhibitionismus in der heutigen Ärzteschaft gesprochen, während früher das Gegenteilige galt, nämlich extreme Wahrheitsscheu. Die Scheu bezog sich aufs Mitteilen, nichts aufs Erkennen. Der Arzt wußte mehr und hat es dem Patienten nicht gesagt. Wie steht es mit der Offenheit des Arztes, wenn die Wahrheit bitter und nichts als bitter für den Kranken ist?
JANZ: Wahrheit ist doch eine bipersonale Beziehung. Der Arzt muß zwischen sich und dem Kranken immer wieder neu die Situation von Frage und Antwort herstellen, von Weiterfragen und Weiterantworten. Und dann zeigt sich, daß sich beide um die Krankheit bemühen, aber das können sie nur, indem sie an das Verborgene herankommen. Und das, was verborgen ist, ist die Wahrheit über diese Krankheit. Natürlich ist das eine absolut ideale Vorstellung, die wir uns jetzt machen, denn wir haben noch nicht vom Widerstand gesprochen, der in jedem Patienten steckt und der schon in dem Satz erscheint: Ich komme zu Ihnen, weil ich gesund werden will. Der Arzt, der weiß, was auf ihn zukommt, müßte das Gespräch eigentlich so beginnen: Wissen Sie, was Sie damit sagen? Wissen Sie, was das bedeutet? Wissen Sie, was gesund ist? Aber so geht das natürlich nicht. Es kommt darauf an, das Angemessene zu tun, und zwar in jeder Situation. Und das Gespräch ist nicht immer das Angemessene. Nehmen wir einen Mann mit Bandscheibenvorfall, der über die Notaufnahme in die Klinik kommt. Er ist vollkommen krumm und steif und hat wahnsinnige Schmerzen. Hier ist unmittelbare Hilfe gefordert. In diesem Zustand beginnt man kein Arzt-Patienten-Gespräch.
WEICHELT: Wie kamen Sie eigentlich zu dem Entschluß, Medizin zu studieren?
JANZ: Ich hatte einen Mitschüler, der zu Hause ein kleines Laboratorium besaß und chemische Experimente machte. Das hat mich beeindruckt. Und der war entschlossen, Medizin zu studieren. Außerdem hatte ich mit siebzehn gehört, daß man sich melden könne, wenn man auf der Pépinière in Berlin Medizin studieren wolle. Die Pépinière war eine Pflanzstätte für Militärärzte, dort konnte man umsonst studieren. Man wäre, wenn man genommen worden wäre, Fähnrich geworden und hätte sich festlegen müssen, auf zehn oder zwanzig Jahre beim Militär zu bleiben. Mein damaliger Pfadfinderführer, er war vier oder fünf Jahre älter als ich, war Medizinstudent beim Militär. Der ist noch im Krieg Militärarzt geworden. Und der hat mir in gewisser Hinsicht Eindruck gemacht. Mir gefiel er in Uniform. Ich wußte nicht, ob ich je eine so eindrucksvolle Gestalt würde abgeben können. Ich habe mich nicht so gutaussehend, nicht so kerzengerade gewachsen gesehen. Im übrigen fragt man sich, was kommt denn überhaupt in Frage. Es kam eigentlich nur in Frage: entweder Lehrer oder Richter oder Pfarrer oder eben Arzt. Was gab es denn sonst?
WEICHELT: Journalist?
JANZ: Nein, das kam nicht in Frage. Mein Vater war Pfarrer, er hat es ungern gesehen, wenn ich Zeitung las. Er fand das Deutsch, das in der Zeitung geschrieben wurde, nicht besonders förderlich für den Stil. Er hat gesagt, wenn du in der Schule einen Aufsatz zu schreiben hast, lies einige Tage vorher keine Zeitung. Mit der Vorstellung, Pfarrer zu werden, hatte ich auch gespielt. Vor der Aufgabe zu stehen, jeden Sonntag für eine halbe oder dreiviertel Stunde etwas Wesentliches, Bedeutsames und Lebenswichtiges zu sagen – und das schien mir immer das Wesen des Pfarrerberufs zu sein –, hatte etwas absolut Herausforderndes. Ich erinnere mich, daß ich mit siebzehn einmal gesagt habe: Eigentlich müßte man entweder Pfarrer oder Sturzkampfflieger werden. Ich meinte, die Berufswahl sei eigentlich eine Mutprobe. Und Pfarrer zu werden in dieser Zeit, Mitte der dreißiger Jahre, das erforderte ja Mut. Man mußte das Christentum verteidigen. Feigheit war da nicht gefragt. Als ich sagte, ich weiß nicht, ob Medizin oder Theologie, fragte mein Vetter, er war Theologe, was stellst du dir denn vor unter Theologie? Darauf ich: Unter Theologie stelle ich mir etwas sehr Abenteuerliches vor. Darauf er: Na, dann studier mal lieber Medizin.
WEICHELT: Wie verliefen Ihre beruflichen Anfänge?
JANZ: Meine erste Stelle nach dem Krieg war in Heidelberg. Ich hatte mich bei dem Neurologen Paul Vogel vorgestellt. Ihn hatte Alexander Mitscherlich mir empfohlen als den einzigen klinisch wirksamen Schüler Viktor von Weizsäckers. Drei Tage nach Weihnachten habe ich Professor Vogel, da er nicht in der Klinik war, zu Hause besucht. Das war eine unmögliche Sache. Ich habe geklingelt, er öffnete mir. Ich sagte: Entschuldigen Sie, darf ich mich Ihnen vorstellen? Herr Mitscherlich hat mir gesagt, ich solle mich an Sie wenden. Ich möchte gerne bei Ihnen arbeiten. – Da kommen Sie jetzt zu mir nach Hause? sagte Vogel und drückte die Tür zu. Und da, so hat er es später erzählt bei der kleinen Rede, die er anläßlich meiner Habilitation gehalten hat, hätte ich meinen Fuß in die Tür gestellt und gesagt: Herr Professor, geben Sie mir wenigstens die Gelegenheit, daß ich mich schriftlich vorstelle. – Na, das können Sie ja machen. Ich habe ihm also geschrieben. Bald darauf kriegte ich eine Postkarte: Sie können am 1. Februar bei mir eintreten. Das war natürlich eine unbezahlte Stelle. So wurde ich also Volontär bei Paul Vogel. Das war schon was.
WEICHELT: Hatte man da schon eine gewisse Verantwortung?
JANZ: Der Stationsarzt, den ich damals hatte, war ein Ukrainer, der schon im Krieg bei Vogel war, ein kluger und auch guter Arzt. Bei dem machte man zunächst einmal die Visiten mit. Man guckte zu, wie der andere untersuchte, und schrieb die Krankengeschichte auf. Kamen neue Patienten, schrieb man die nächste Krankengeschichte. Dann untersuchte man selbst, und so kam man hinein und war sehr bald ein Helfer des Stationsarztes. So ein Stationsarzt hatte vielleicht noch zwei solche Volontäre, so war man zu dritt. Und hatte eine Station von 24 Betten. Das war die Struktur. Das Haus hatte vier solcher Stationen. Diese 24 Betten standen alle in je einem Saal. Und so hatte ich jahrelang die Möglichkeit zu sehen, wie die Patienten miteinander umgehen, wie die Schwestern mit den Patienten umgehen, wie die Ärzte mit den Patienten umgehen. Das sieht man ja bei 24 Betten – wenn man seinen Tisch in der Mitte dieses langen Bettentraktes hat –, und man kann seine Beobachtungen machen. Alle passen auf. Dennoch ist es enorm diskret. Als wären unsichtbare Vorhänge zwischen den Betten. Aber es passiert natürlich viel. Der eine bekommt Besuch, der andere nicht. Der eine weint, der andere lacht, alle diese Dinge. Man bekam viel mehr Lebensäußerungen mit als heute in den Krankenzimmern. Heute hat ein Krankenzimmer zwei oder drei Betten. Dann ist man da diese fünf oder zehn oder fünfzehn Minuten in einer im Grunde künstlichen Atmosphäre, denn alle wissen, jetzt ist der Arzt da. Aber seien Sie mal mit 24 Menschen zusammen und das über mehrere Stunden.
WEICHELT: Das ist schon eine Art Gemeinschaft, die sich auch irgendwie organisieren und disziplinieren muß.
JANZ: Nun sind zwar nicht alle bettlägerig, aber viele. Es ist ein gemeinsamer Raum und ein wechselseitiges Aufeinander-Rücksicht-Nehmen. Oder eben nicht Rücksicht nehmen. Beides hat Folgen für die Diagnose, für die Behandlung, für den Umgang. Ich sage dieses Weizsäckersche Wort Umgang, weil es alles einbezieht, Diagnose, Therapie, Gespräch, Verhalten usw. Nach sechs Wochen hat Paul Vogel zu mir gesagt, er möchte, daß ich mich für das Sommersemester auf ein Referat über eine Vorlesung von Weizsäcker »Über die ärztliche Grundhaltung« vorbereite. Sechs Wochen hatte ich Zeit. Und habe dieses Referat gehalten, das war 1946. Ich besitze den Text noch. Er wurde vor einer Weile abgedruckt, zusammen mit der Vorlesung von Weizsäcker. Und dann, nach diesem Referat, mit dem Vogel offenbar zufrieden war, sagte er: Gut, machen Sie so weiter. Versuchen Sie sich einzulesen und einzuarbeiten. Ich möchte zwei Jahre nichts Schriftliches von Ihnen sehen.
WEICHELT: Das war keine Empfehlung, sondern eine Anweisung.
JANZ: Eine Anweisung, ja. Das heißt, zwei Jahre haben Sie Zeit.
WEICHELT: Aber Sie sollten nicht untätig sein.
JANZ: Nein, nein. Mit nichts Schriftliches war gemeint: keine wissenschaftliche Arbeit. Gemeint war: Machen Sie so weiter. Lernen Sie Neurologie. Untersuchen Sie. Benutzen Sie die Bibliothek. Wir hatten eine ganz gute Bibliothek in der Klinik, den ganzen Freud. Der war auch über die Nazijahre da, die große blaue Ausgabe. Da habe ich vieles – ich will nicht sagen alles – gelesen. Das war neben dem Handbuch für Neurologie eine Grundnahrung für mich, das kann ich schon sagen. Aber die Sache mit den zwei Jahren nichts Schriftliches von Ihnen hören, das ging ja nach zwei Seiten.
WEICHELT: Man wird freigestellt, aber auf ein Ziel hin.
JANZ: So ist es. Und so habe ich es auch empfunden. Ich habe es als Glücksfall angesehen, zwei Jahre lang nur studieren zu können.
WEICHELT: Ohne das sofort verwerten zu müssen.
JANZ: Ja, genau. Ohne es unmittelbar auswerten zu müssen. Das gehört für mich zu den beeindruckenden pädagogischen Leistungen von Paul Vogel. Ich erinnere mich noch an etwas, das dazu paßt. Als Weizsäcker elf Jahre später starb, hat Vogel mich morgens in sein Dienstzimmerchen gerufen und gesagt: Nehmen Sie Platz. Herr von Weizsäcker ist heute nacht gestorben. Das war die Mitteilung, die er mir gemacht hat. Ich habe dazu nichts sagen können außer: Ja, was wird denn nun aus seinem ganzen Werk? Da sagte er: Das muß erst mal alles in die Katakomben.
WEICHELT: Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was man erwarten würde.
JANZ: Ja, das hatte wieder etwas Kryptisches. Ich habe mir wirklich oft Gedanken darüber gemacht. Na gut, ich wußte, daß man jetzt nicht viel darüber redete, daß man zusah, ob das gärt, ob sich das von selbst bewegt. Aber woran merke ich das? Wo muß ich hinschauen? Wo muß ich hinhören? Nichts darüber. Katakomben – da weiß keiner, wie und wann das wieder rauskommt. Aber man weiß, daß es rauskommt. Das war auch wieder so ein Rat.
WEICHELT: Die normale Reaktion wäre zu sagen: Jetzt ist er gestorben. Wir müssen uns um das Werk kümmern. Wir müssen Editionen machen. Aber Vogel sagte das Gegenteil. Hat Ihnen das eingeleuchtet?
JANZ: Das hat mir sehr eingeleuchtet. Einerseits ist es entlastend, andererseits nimmt es einen in die Pflicht. Man bestimmt den Zeitpunkt mit, wann es hochgeholt wird – wie es dann auch geschah.
WEICHELT: Man muß eine Sache erst mal loslassen und sie sich dann wieder zu eigen machen, ganz im Goetheschen Sinne: Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen. Aus dem Bild der Katakombe spricht ja auch die Überzeugung vom hohen geistigen Wert des Weizsäckerschen Werks.
JANZ: Katakomben sind Orte zeremonieller Bewahrung. Was hier lagert, gewinnt spirituelle Existenz.
WEICHELT: Wie waren Ihre ersten Erfahrungen als Arzt?
JANZ: Ich erzähle Ihnen eine symptomatische Begebenheit. Es ist Ausgang Winter. Zwei uns bekannte Männer im mittleren Lebensalter kamen verletzt aus dem Skiurlaub. Der eine hatte sich den Arm gebrochen, der andere hatte einen bandagierten Fuß. Und in beiden Fällen habe ich gefragt, wie das passiert ist. Ach, sagt der eine, ich bin zu schnell den Hang hinuntergefahren, plötzlich bin ich gestürzt. – Warum sind Sie denn so schnell gefahren? – Ja, es war schon Abend, und die anderen waren alle schon unten. – Wer waren denn die andern? – Mein Sohn und seine Freundin und noch ein paar andere. – Ach, Sie waren mit dem Sohn zusammen? Wie alt ist der denn? – Der ist jetzt fünfzehn. – Kann der gut Ski laufen? – Er kann jetzt besser Ski laufen als ich. Der war sofort unten. – Sind Sie zusammen losgefahren? – Ja, es war schon spät und da sind wir sofort los, und kaum hatte ich mich besonnen, war er schon unten. Ja, und dann bin ich halt gestürzt. – Wollten Sie ihm denn hinterher? – Na klar doch. So. Das ist die eine Geschichte. Die andere war ganz ähnlich. Gut. Das war jetzt die Anamnese. Aber was man braucht, ist die Souveränität, nichts für Zufall zu halten. Daß der geschiente Arm und das bandagierte Bein nicht von ungefähr kommen.
WEICHELT: Ist es eine Entscheidung, zu sagen, wir halten nichts für Zufall, oder ist es eine Überzeugung? Ist es eine philosophische oder eine therapeutische Frage? Oder ist es Erfahrung?
JANZ: Es ist eine aus der Überzeugung entwickelte Erfahrung und eine aus der Erfahrung entwickelte Überzeugung.
WEICHELT: Mir scheint, es geht hier nicht nur um interessante, sondern auch um rätselhafte Zusammenhänge, das hat ja fast schon etwas Künstlerisches.
JANZ: So ist es. Das ist genau der richtige Begriff. Es ist das Verhältnis zum Rätsel, was zu dieser Art von Fragen führt. Es gibt ja Rätsel, die man nicht lösen kann, und es gibt Rätsel, die man lösen kann. Die Lust ist ein künstlerisches Moment. Die Lust an der Enträtselung, die Lust am Finden von Zusammenhängen, da fängt es an, und das geht natürlich weit über den Verstand und die Empirie hinaus. Am Anfang steht immer die Frage: Warum ist dieser Mensch krank und warum wird er nicht wieder gesund? Darauf muß man neugierig sein. Und um zu Antworten zu kommen, braucht man eine Begabung zum Assoziativen. Eine Begabung des Verbindens. Das Befriedigende daran ist dieses Spiel von Neugier und Finden.
WEICHELT: Heißt dieses Finden nicht in gewissem Grade auch, daß die gefundene Wahrheit nicht mehr die einzige ist, sondern nur die Ihnen gemäße?
JANZ: Nein, nein, nur die Methode ist die mir gemäße. Die Wahrheit ist die dem Patienten gemäße. Ich habe es oft erlebt, daß Väter sich mit ihren Söhnen messen. Und zwar immer dann, wenn die Söhne an ihnen vorbeizogen, und die Väter, die noch jung sein wollten, ihre Söhne in die Schranken zu verweisen suchten. Und das geht irgendwann schief. Dann muß man diese Erfahrung zu einer Erkenntnis machen, und zwar verbunden mit dem entsprechenden Genuß, zu einer Erkenntnis gekommen zu sein. Und einen bestimmten Vorgang, zum Beispiel den erwähnten Skiunfall, zu einer Erkenntnis zu machen, das ist schon das Medizinische, das Therapeutische. Mit Paul Vogel war übrigens jede Visite reizvoll. Es gab viele neurologisch interessante Fälle. Zum Beispiel folgende Geschichte: Vogel unterhält sich mit einem Patienten, weil er mit der Symptomatik nicht ganz klarkommt. Er läßt ihn aufstehen, ein paar Schritte gehen, wieder zurückkommen, auf dem einen Bein stehen, auf dem anderen Bein stehen usw. Dann unterhält er sich einen Moment mit ihm. Dann läßt er ihn wieder ins Bett gehen. Vogel geht zum nächsten Patienten. Am Ende der Visite treffen wir uns draußen auf dem Gang, und da sagt er zum Stationsarzt: Sie, hören Sie mal, der da im dritten Bett hinten, den ich habe gehen lassen, das ist doch eine Geschichte. Erzählen Sie mir die mal bei der nächsten Visite. Da hat man genau gewußt, was er wollte, wenn man das hörte. So wurde man mit dem Auftrag entlassen, die Geschichte rauszukriegen. Das heißt also, Vogel wollte, daß man sich mit dem Patienten hinsetzt und ins Gespräch kommt. Um rauszukriegen, was für eine Geschichte hinter der Krankheit steckt. Vogel hat auch ein Seminar mit Medizinstudenten über Krankheiten als literarische Gattung gemacht, also Leidensformen, Krankheitsformen, Genesungsformen in Analogie zu literarischen Formen.
WEICHELT: Darf ich noch mal auf die Frage nach dem Zufall zu sprechen kommen? Es ist doch ein starker Hang in der Weizsäckerschen Medizin, allem Geschehen einen Sinn zuzuordnen, in allem, was passiert, einen Sinn zu entdecken. Das ist ja fast ein theologischer, religiöser, ja, künstlerischer Grundzug dieser Medizin. Sie sagten: Souveränität heißt, nichts für Zufall zu halten. Also alles in einen übergeordneten Rahmen zu stellen, in eine Lebensgeschichte einzubetten, und jeden Beinbruch, jede Angina, alles was einem passiert, zum Teil der Lebensgeschichte zu machen.
JANZ: Warum sagen Sie machen? Wenn es doch ein Teil ist?
WEICHELT: Machen sage ich, weil ich glaube, daß es vom Patienten her ein aktiver Vorgang ist. Was Kranksein für den einzelnen heißt, muß er selber herausfinden. Er muß selber verstehen, was dahintersteckt. Und deswegen ist es so – das meinte ich mit künstlerischem Grundzug –, daß jeder aufgerufen ist, seine eigene Lebensgeschichte, seine eigene Lebenserzählung zu entwerfen und alles, was ihm auf dem Lebensweg begegnet, zum Teil dieser Geschichte zu machen.
JANZ: Was Sie sagen, entspricht auch einer Grundvoraussetzung der anthropologischen Medizin, daß nämlich der Patient seine Krankheit nicht nur erfährt, sondern auch macht. Wenn es so ist, dann ist es doch sinnvoll, den Teil, den er dazu beiträgt, herauszubekommen, schon im Sinne der Prävention, daß sich das nicht wiederholt. Den Zufall können wir uns hierbei gar nicht leisten. Sie vielleicht können sich den Zufall leisten, weil Sie nicht wie ich von Berufs wegen mit der Frage befaßt sind, wo kommt das her. Sie können zu dem verunglückten Skifahrer sagen: das war Zufall. Wenn Sie aber Orthopäde sind oder Unfallchirurg, und der Mann kommt zu Ihnen und sagt: Verflixt noch mal, das hätte ich nicht tun sollen. Ich bin doch schon ein alter Knopp. Als Arzt muß ich doch sehen, daß dieser Mensch unruhig ist und wissen möchte, wo die Sache herkommt. Und so mache ich mich ans Erkennen, ans gemeinsame Erkennen im Gespräch, und ich werde es auch hinnehmen, wenn ich zu keinem Ergebnis komme. Denn es ist selbstverständlich so, daß man in einer großen Zahl von Fällen nicht weiterkommt. Und trotzdem hat man den Versuch gemacht, ein paar Schritte ist man gegangen auf diesem Weg, es war aber nichts zu finden. Und doch würde ich sagen, daß auch in einem solchen Fall nicht der Zufall regierte. Das ist ein methodisches Axiom. Davon muß ich ausgehen. Wenn ich es nicht tue, bevorzuge ich den einen Patienten und benachteilige den andern. Ich sehe auch gar keinen Grund, warum ich als Arzt dem Zufall soviel Gewicht geben sollte. Das würde mich nur dazu verleiten, die eigenen Denkdefizite und damit die des Patienten zu einer objektiv begründeten Erkenntnisschranke zu erklären, und das scheint mir philosophisch nicht richtig zu sein. Es gibt doch gute Beispiele, nehmen wir die Fettsucht. Es wird ja überall besprochen, daß die Männer zu dick oder die Frauen zu dick sind und daß das bedenklich ist. Wo fängt die Fettsucht an? Von wo an ist es eine Krankheit? Wir wissen, daß hier ein Fehlverhalten eine Rolle spielt. Anfänglich gehen diese Leute nicht zum Arzt, weil sie wissen, daß sie ihr Verhalten zwar ändern sollen, aber nicht ändern können. Nun ist ganz klar: wenn so jemand zum Arzt kommt, müßte der ihm nicht bloß eine Diät verordnen oder ihm sagen, iß nur die Hälfte, sondern er müßte an die Quellen seines Fehlverhaltens herankommen, die möglicherweise in einem Umfeld liegen, für das er nichts kann, das er auch nicht ändern kann, es sei denn, er geht da heraus. Es liegt auch zum Teil an einer Unterentwicklung des ästhetischen Bewußtseins. Man kann sich am Beispiel der Fettsucht gut klarmachen, was ein Arzt, wenn er tatsächlich gebeten wird zu helfen, eigentlich tun müßte. Er müßte als erstes sagen: Wollen Sie wirklich? Das müßte die Grundfrage sein. Und meistens kommen beim Patienten dann die Zweifel.
KLEINSCHMIDT: Er könnte auf die Frage doch antworten: Wenn ich hinterher so gut aussehe wie Sie, Herr Doktor, ja, dann will ich.
JANZ: Da würde ich sofort einsteigen. Auf eine solche Bemerkung würde ich sagen: Legen Sie Wert darauf, gut auszusehen? Wie ist denn das bei Ihnen zu Hause? Laufen Sie da nackt herum? Vor wem genieren Sie sich, vor wem nicht? Das Genieren würde ich ansprechen, ich würde ihn auch im Genieren bestärken. Das meinte ich mit dem Ästhetischen.
KLEINSCHMIDT: Sie sollten uns noch erzählen, wie Sie zu Ihrem Spezialgebiet, zur Epileptologie, gekommen sind.
JANZ: Nachdem die zwei Lehrjahre, in denen Vogel »nichts Schriftliches« von mir sehen wollte, herum waren, holte er mich 1948 zu einem intimen pädagogischen Gespräch in sein Zimmerchen und sagte: Ich meine, Sie könnten sich jetzt mal mit etwas Wissenschaftlichem beschäftigen. Ich möchte Ihnen vorschlagen, sich um Epilepsie zu kümmern. Es ist einfach so, daß das, was die Patienten von ihrer Krankheit wahrnehmen, nicht in den Lehrbüchern steht. Und was in den Lehrbüchern steht, sich nicht mit dem deckt, was die Patienten berichten. Wenn wir sie fragen, was sie von ihren Anfällen merken, vor allem was sie merken, wenn ein Anfall kommt, dann berichten sie oft erstaunliche Dinge. Vogel hat mich also auf die epileptische Aura verwiesen, auf die Sinneswahrnehmungen vor dem Anfall. Darum sollte ich mich kümmern, und zwar mit der Begründung, daß er die Aura für einen Schlüssel halte zum Verständnis sowohl der Patienten wie des Wesens von Epilepsie. Das war der Einstieg. In den Lehrbüchern steht, es gibt optische, es gibt akustische, es gibt vestibuläre, den Gleichgewichtssinn betreffende Auren. Und so hat man die Selbsterfahrung der Patienten wie die komplexe Natur ihrer Wahrnehmung immer in irgendeine vorgefertigte Schublade geschoben. Das hat Vogel nicht gemocht. Und ich fand das natürlich toll, daß es so einen Chef gibt, der sich freimacht von vorgefaßten Lehrbuchmeinungen. Ich meine, wenn das ein Philosoph gewesen wäre, von dem verlangt man so was geradezu. Aber ein Mediziner, ein Klinikchef – da habe ich die richtige Wahl getroffen. Der läßt einen selber marschieren. Und wenn was rauskommt, ist es gut. Und wenn nichts rauskommt, auch gut. Das hat man selbst zu verantworten.
WEICHELT: Und kam dann was raus?
JANZ: Ich denke schon. Um auf die Frage einzugehen, mußte ich erst mal in Erfahrung bringen, was Epilepsie ist und was nicht. Nach zwanzig Jahren Befragung, Beobachtung und Behandlung kam dann ein Buch darüber heraus, das dreißig Jahre später unverändert wieder aufgelegt wurde. Aus dem Dickicht, wie es mir anfänglich aus der Fachliteratur entgegenkam, ist so mit Hilfe der Patienten allmählich eine überschaubare Landschaft geworden, mitteilbar gegliedert, lehrbar – mit dem Ergebnis: Die Epilepsie gibt es nicht, es gibt eine Vielfalt von Epilepsien, jede von eigener Art, unterschieden nach Selbsterfahrung und Symptomatik, diagnostischem Zugang und therapeutischem Umgang.
WEICHELT: Und sind Sie mit der epileptischen Aura weitergekommen?
JANZ: Nein, nicht ganz. Das Ordnungsgeschäft hat diese Frage in den Hintergrund gedrängt. Ich hatte jedoch in besagtem Buch auf das wortreich Unbeschreibliche in der Aura von Patienten mit temporaler (Schläfenlappen-)Epilepsie hingewiesen. Daraus hat sich ein interdisziplinäres Projekt entwickelt, das zu einem klinisch und hirnlokalisatorisch nützlichen Unterscheidungskriterium geführt hat, das sich mit technischen Methoden durchaus messen kann. Auf seine ursprüngliche Frage hat Paul Vogel sich dann selbst am Beispiel der Aura von Dostojewski eine großartige Antwort gegeben in seinem Aufsatz »Zur Selbstwahrnehmung von Epilepsie. Der Fall Dostojewski«.
KLEINSCHMIDT: War Ihnen Dostojewski ein guter geistiger Partner bei der Erforschung von Epilepsie?
JANZ: O ja, das kann man wohl sagen.
KLEINSCHMIDT: Erzählen Sie bitte.
GABRIELE JANZ: Darf ich anfangen? Interessant an Dostojewski ist, daß er mehrere Krankheiten hatte, Atembeschwerden, Kreislaufbeschwerden, auch ein Lungenemphysem. Wegen seiner epileptischen Anfälle ist ihm gesagt worden: Sie dürfen nicht mehr schreiben. Er stand vor der Entscheidung: Bleibe ich Dichter oder werde ich gesund. Das ist nicht nur bei Dostojewski ein interessantes Problem, auch bei Rilke. Lou Andreas-Salomé empfahl Rilke, zu Gebsattel zu gehen, dem berühmten Viktor Emil von Gebsattel, und das hat er nicht gemacht. Er hat gesagt, wenn ich dorthin gehe, werde ich psychoanalysiert. In einem Brief an Gebsattel schreibt er am 24. Januar 1912: »Vielleicht sind gewisse meiner neulich ausgesprochenen Bedenken sehr übertrieben; so viel, wie ich meine, scheint mir sicher, daß, wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen Engeln ein kleiner, ein ganz kleiner (sagen wir) Schrecken geschähe, – und – fühlen Sie – gerade darauf darf ich es auf keinen Preis ankommen lassen.« Und so war das auch bei Dostojewski. Er hat jedenfalls weitergeschrieben und weitergeschrieben. Seine Frau hat gemerkt, wenn etwas im Anzug war, er war dann besonders im Streß. Er litt ja eindeutig an Epilepsie.
DIETER JANZ: Dostojewskis Frau hat einen Anfallskalender geführt, mit Hunderten von Anfällen, alle mit Datum verzeichnet. Aber er hat sich nicht behandeln lassen. Als sie einmal in Genf waren, bekam er eines Abends eine furchtbare Atemnot und mußte unbedingt in Behandlung. Und so ist er nachts noch raus auf die Straße zu einem Arzt, der ihm irgendwas gegeben hat. Und der Arzt hat ihn natürlich befragt. Dostojewski sah sich gezwungen, ihm zu erzählen, daß er häufig epileptische Anfälle bekommt. Der Arzt sagte: Das können wir jetzt nicht besprechen, es ist viel zu spät, aber kommen Sie morgen bitte wieder. Keine Rede davon, daß Dostojewski noch einmal kam. Seine Atembeschwerden waren vorbei. Auch in Berlin ist er deswegen einmal zu Gespräch mit Dieter Janz 197 einem berühmten Internisten gegangen. Im Wartezimmer hat er noch ein paar Mitpatienten gefragt, was muß man denn bezahlen? Fünf Minuten war er bei ihm drin – diese Fünfminuten-Medizin gab es offenbar schon zu Dostojewskis Zeiten. Der Arzt klopft ihn ab und sagt: Sie müssen zur Kur nach Bad Ems. Ich habe da einen Kollegen, dem schreibe ich. Richten Sie ihm Grüße von mir aus. Er gab ihm die Adresse von dem Kollegen. Dostojewski ist nicht nur einmal, er ist dreimal nach Bad Ems gefahren. Alles nur Erdenkliche hat er dort gemacht, sogar Kaiser Wilhelm getroffen. Aber für seine Epilepsie hat er nichts gemacht. Nichts! Ich habe mal einen Vortrag darüber gehalten. Da beschreibe ich seine Epilepsie in Sibirien. Sie wissen ja, er war verbannt und wollte wieder nach Petersburg, wollte wieder schreiben. Er hatte ja Berufsverbot, er durfte aus politischen Gründen nicht schreiben. Und immer wieder fragt er sich, wie erreiche ich nur, daß ich hier wegkomme. Schließlich konsultiert er einen Arzt, und der sagt ihm, er habe eine genuine Epilepsie. Und da protestiert er. Genuine Epilepsie! Ihm kam es darauf an, daß ihm bescheinigt wird, seine Epilepsie sei durch die Qualen seiner Haft entstanden. Auf der Rückreise nach Petersburg konsultiert er erneut einen Arzt, weil er wieder Anfälle hat. Und der sagt ihm, er müsse aufhören zu schreiben, das wäre das einzig Richtige. Das muß man sich mal vorstellen: Ein aus der Verbannung entlassener junger Mann kommt wieder zurück in die Gesellschaft. Was er geschrieben hat, ist noch nicht bekannt. Und er geht zu einem Arzt und sagt, er hätte immer epileptische Anfälle unter diesen Bedingungen. Der Arzt fragt, was sind Sie denn von Beruf? – Ich bin Schriftsteller. – Wann schreiben Sie denn? – Immer nachts. – Dann hören Sie damit auf. Und seither hat Dostojewski keine Ärzte mehr deswegen konsultiert.
GABRIELE JANZ: Meine Frage an Sie beide ist: Was denken Sie, warum hat dieser Arzt ihm verboten zu schreiben?
WEICHELT: Spontan würde ich sagen, daß Schreiben eine Art Verausgabung ist, die zur Erschöpfung führt und einen so schwächt, daß man krank wird.
GABRIELE JANZ: Aber Verausgabung und Schwächung können in jedem Beruf passieren.
WEICHELT: Ja, gut, wenn Dostojewski 100-m-Läufer gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich immer wieder versucht, 100-m-Läufe zu machen.
GABRIELE JANZ: Würden Sie das auch so sehen?
KLEINSCHMIDT: Ich kann die Frage nicht beantworten, es wäre reine Hochstapelei, wenn ich es täte, denn ich weiß zu wenig über Epilepsie. Platonisch betrachtet könnte man vielleicht sagen: Im geistigen Universum war eine Stelle unbesetzt, nämlich die, daß einer die Epilepsie von innen schildert, und zwar ein Schriftsteller, ein Sprachmeister, ein Denker. Dostojewski ist gleichsam der Phänomenologe dieser Krankheit. So gesehen durfte er nicht aufhören zu schreiben. Diese Stelle im Kosmos durfte nicht unbesetzt bleiben. Und Dostojewski wollte sie um jeden Preis besetzen, selbst wenn er dabei draufgegangen wäre.
GABRIELE JANZ: Ich glaube, daß Dostojewski mit Herzblut geschrieben hat. Wenn man das ohne Hilfe und ohne psychotherapeutische Begleitung tut, setzt man sich unglaublich aus. Man ist äußerst verletzbar und vollkommen ungeschützt. Und das ist es, was bei Dichtern und Schriftstellern generell der Fall ist. Das haben die Ärzte nicht bedacht. Sie haben nur gedacht, daß es besser für Dostojewski sei, wenn er überhaupt nicht schriebe. Dann könnte er ein ruhiges Leben führen.
KLEINSCHMIDT: Dann wäre er an etwas anderem erkrankt. Alle künstlerische Produktion speist sich aus seelischen Spannungen, die im Leben nicht auflösbar sind. Schreiben ist eine Art ständiges Gespräch zwischen Ich und Welt, um die rumorenden Dinge zum Ausgleich zu bringen. Das muß man natürlich von Fall zu Fall betrachten. Fest steht nur eins: Wenn man einen genuinen Autor am Schreiben hindert, wird er ganz gewiß krank, davon bin ich überzeugt. Und leider wird er umgekehrt oft auch vom Schreiben krank, denn das Schreiben ist ein Opfergang. Schreiben verzehrt das Leben.
DIETER JANZ: Jetzt sagen Sie es. Das ist bei Dostojewski so gewesen. Und Dostojewski hat tatsächlich diesen Opfergang angetreten, er hat das Opfer auf sich genommen. Denn es kam ihm wirklich darauf an, das hat er oft ausgedrückt, sein Volk, seine Nation geistig zu re-novieren, mit einem religiösen Impetus zu befeuern und geradezu zu heiligen. Er war wie besessen davon. Das ist das, was sowohl Westler wie Kommunisten an ihm nicht verstanden haben. Es klang christlich, aber es war national.
WEICHELT: Von der Epilepsie gibt es auch im »Idioten« eindrucksvolle Schilderungen. Fürst Myschkin ist ja quasi eine Jesusfigur, die Epilepsie hat bei ihm Züge von heiliger Ekstase. Was haben Sie von Dostojewski über die Krankheit gelernt? JANZ: Das Epileptologische im engeren Sinne hat mich stark interessiert, weil es fabelhaft beschrieben ist, in einer Weise, wie man es kaum oder nie von einem Patienten beschrieben bekommt. Ich habe ja 1969 mein Opus magnum, »Die Epilepsien. Spezielle Pathologie und Therapie«, drei Lehrern gewidmet, meinem klinischen Lehrer, meinem wissenschaftlichen Lehrer und meinen Patienten.
WEICHELT: Also Vogel, Weizsäcker und …
JANZ: Dostojewski. Weil er wirklich als Patient unglaublich ausführlich, genau und überzeugend war, und weil seine Beschreibung der Epilepsiegestalten in seinem Werk zusammengenommen eine im Weizsäckerschen Sinne ideale Krankengeschichte ausmacht.
KLEINSCHMIDT: Herr Janz, Sie sind jetzt über neunzig Jahre alt. Ich bin so naiv zu glauben, daß das Alter auch Vorzüge hat. Zum Beispiel den Vorzug zunehmender Freiheit.
JANZ: Absolut, und zwar in großem Maße. Es erweitern sich die Räume in Richtungen, die man sich immer gewünscht hat. Natürlich treten auch Mängel ein. Für mich besonders der Mangel, daß keine Patienten mehr zu mir kommen. Die neuen Freiheiten sind nicht so sehr die des ausgiebigen Reisens und auch nicht des späten Aufstehens, denn längeres Schlafen ist im Grunde verlorene Zeit. Oft denke ich mir: Mein Gott, was habe ich für einen Reichtum an Möglichkeiten. Ich kann lesen, wonach mir der Sinn steht, habe Zeit, mit Menschen zu sprechen, Freunde zu besuchen und Freunde zu empfangen, habe Muße, mein Archiv zu ordnen, Editionen zu planen und zu realisieren, mich an unserem Garten zu erfreuen, einen guten Wein zu trinken, ich fahre dann und wann zu einer Tagung, halte hin und wieder einen Vortrag, gelegentlich ein Seminar mit Studenten hier in meinem Haus, und pflege im übrigen die behagliche Geselligkeit. Obgleich im Hintergrund stets der Gedanke steht, hätte ich nur die Freiheit der vielen Möglichkeiten und müßte nicht auch etwas Bestimmtes tun, weil es von irgendwoher von mir verlangt wird, bekäme ich ein schales Gefühl von diesem Reichtum. Wenn man aufhört, im Beruf zu stehen, und wenn man ein solches Alter erreicht hat wie ich, hat man zunehmend das Gefühl, man überlebt andere. Und es kommt vor, daß man sich fragt, wie man das rechtfertigen will. Und gerechtfertigt ist es ja nur, wenn man etwas Sinnvolles damit anstellt.
KLEINSCHMIDT: Nun gut, es gibt die Pflichten, auch die familiären Pflichten, die lassen wir jetzt mal beiseite, das ist ja selbstverständlich. Man tut sie übrigens gern. Sie sind der Grundstock des Sinnvollen, obwohl es, wie jeder weiß, auch sinnlose Pflichten gibt. Was wäre denn generell das Sinnvolle, sagen wir in der geistigen Beschäftigung? Daß man sich anregen läßt durch Bücher und Gespräche und auf diese Weise versucht eine produktive Existenz zu haben, daß man versucht, auch bei nachlassenden Kräften ein schöpferischer Mensch zu bleiben? Oder ist es mehr etwas Thematisches, nach dem Motto, vor zehn Jahren habe ich mich noch für dies und das interessiert, jetzt interessiert mich was ganz anderes. Was bedeuten würde, daß das Alter selbst neue, ihm gemäße Themen anbietet. Und daß sich je nach Lebensstufe neue Wahlverwandtschaften bilden, auch im Gespräch, das die Seele mit sich selbst führt.
JANZ: Produktiv bleiben ist ein guter Begriff, aber es muß nicht schriftstellerisch gemeint sein. Ich beneide im Augenblick meine Frau, die hier in der Kirchengemeinde in einem Kreis mitmacht, wo sie zu Geburtstagen ältere Leute besuchen und Gespräche mit ihnen führen. Und dann kommt sie zurück und erzählt mir davon. Wir haben Jahrzehnte in Nikolassee gewohnt, ohne irgendeine Notiz zu nehmen von den Menschen um uns herum, und das ändert sich jetzt, und ich werde auch mit einbezogen, und das ist schön. Und es bietet auch neue Möglichkeiten für mich, produktiv zu sein. Da sind ja Menschen, die krank werden, abbauen, man bekommt einerseits einen gewissen Spiegel vorgehalten, andererseits kann man aus seiner langen ärztlichen Erfahrung einiges freundschaftlich zum Gespräch beitragen.
KLEINSCHMIDT: Mir gefällt, was Sie sagen. Ich hatte im stillen gerade gedacht, daß Sie ein zur Freundschaft begabter Mensch sind. Und auch begabt zur Freundschaft mit sich selbst. Das merkt man ja. Das heißt ja nicht, daß Sie nicht gelegentlich auch Selbstzweifel haben, aber es heißt, daß Sie alles in allem mit sich auf gutem Fuße stehen.
JANZ: Ja, das ist richtig, auch was die Selbstzweifel betrifft. Ich vermittle diesen Eindruck, das weiß ich. Meine Mutter hat mich immer als Sonntagskind bezeichnet.
KLEINSCHMIDT: Und Sie sind eins?
JANZ: Ich glaube, ich bin eins. Mit der Freundschaft, da haben Sie ganz recht. Mein eigentlicher Urfreund ist vor acht Jahren gestorben. Wir hatten eine sehr enge Beziehung und gehörten über Jahrzehnte zu einem Kreis von Freunden. Einer davon war übrigens Wolfgang Frommel, der Stefan-George-Bewunderer und Gründer der Zeitschrift »Castrum Peregrini«. Dieser Kreis war maßstabsetzend, nicht nur in Sachen Freundschaft, auch was Gespräch und Geselligkeit betrifft. Ich habe mich immer daran zu halten versucht, auch Jüngeren gegenüber. Wenn ich auf meine alten Tage mit Studenten ein häusliches Seminar mache, fragen die mich hinterher, warum machen Sie das eigentlich? Die verstehen das zunächst gar nicht. Oder sie wundern sich. Und dann freuen sie sich. Und daran merke ich, daß es richtig ist, was ich tue. Ich bin erstaunt, daß es nicht mehr Ältere tun. Sich in Beziehung setzen zu Jüngeren und mit ihnen ins Gespräch kommen, ich weiß, daß ich das kann, und das würde ich auch gerne fortsetzen.
KLEINSCHMIDT: Das versteht man ja gut. Es ist auch nicht nur Selbstloses dabei. Ich bin nicht so alt wie Sie, aber weiß natürlich auch schon, daß das eigene Lebensgefühl austrocknet, wenn man nur mit Gleichaltrigen verkehrt. Man erlebt gar nicht mehr, zu welchen Sachen man eigentlich noch in der Lage ist. Aber wenn man mit Jüngeren in einem guten, offenen Verhältnis steht, dann entlocken sie einem Dinge, von denen man gar nicht ahnte, daß man die draufhat. Und so regen nicht nur die Jungen die Alten, sondern gelegentlich auch Gespräch mit Dieter Janz 201 die Alten die Jungen an, so daß auch sie Dinge sagen, die ihnen unter ihresgleichen nicht eingefallen wären. Die Existenz der Menschheit in Generationen, die Gleichzeitigkeit der Lebensalter, ist etwas sehr Schönes und Wertvolles, eine Konstruktion, die ihren Schöpfer ehrt. Leider kommen ihre produktiven Seiten unter dem allgemeinen Zeitdruck viel zu wenig zum Zuge.
WEICHELT: Als Sie von den Freiheiten des Alters sprachen, Herr Janz, habe ich als Gegenmodell an diejenigen denken müssen, die immer sagen, es gibt nichts Gutes am Alter. Alles, was man Gutes über das Alter sagt, ist Lüge. Das Alter – das sind Lasten, Trübsal und das Ende. Mich hat überrascht, daß Sie nicht von der Gesundheit gesprochen haben. Die ist doch bei vielen alten Menschen das Beherrschende.
JANZ: Das belastet mich etwas, daß Sie mich jetzt als Modell nehmen. Aber ich bin ja nicht allein, bei mir muß man meine Frau mit dazunehmen. Allgemein gesprochen: Dieses Lebensmodell, mit jemandem zusammen zu leben, auch wenn es privat öfters mal knirscht, aber eben zusammen zu sein und vor allem zusammen zu bleiben, also zu seiner Wahl zu stehen, das geht nur, wenn man, wie vorhin gesagt, mit sich selbst befreundet ist und bleiben will. Die Psychoanalyse sieht darin vielleicht ein Bezähmen der Angst des Scheiterns durch gewaltsame Positivität. Aber ich glaube nicht, daß es so ist. Man ist doch irgendwie geeicht auf ein gelingendes Leben. Man hat es schon als Kind erlebt, daß das Gelingen mehr Freude macht als das Mißlingen, und deshalb will man kein Scheitern. Aber es gibt so viele Fallen. Die Welt der Reize, erotische, sexuelle, jederzeit neu und lebendig, stets wirksam, von der Jugend bis ins hohe Alter, immer wieder wird man in die Lage versetzt, damit umzugehen und damit fertig zu werden. Das ist eine der Konstanten des Lebens. Und wenn es in den alten Kirchenliedern heißt, man soll Versuchungen widerstehen, dann weiß ich schon, wovon die Rede ist.
WEICHELT: Die ja auch ihren Sinn haben als belebendes Element.
JANZ: Ja, natürlich haben sie das. Aber je mehr einer erlebt, desto mehr wird er auch bedroht. Belebung und Bedrohung sind sich da sehr nah.
WEICHELT: Alles andere wäre ja reine Abschottung, Kasteiung und auch eine Form von Lebensschwäche.
KLEINSCHMIDT: Wir wollen nicht hoffen, daß Belebung und Bedrohung immer Hand in Hand gehen, sondern daß es auch Momente von Belebung gibt, die nicht bedrohlich sind. Oder? Ich habe im stillen gerade gedacht, aha, und wenn man dem Heiligen Geist begegnet? Das belebt doch, nicht wahr? Und ist das auch eine Bedrohung? Da könnten Sie natürlich antworten, allerdings, das wäre auch eine Bedrohung, und was für eine. So gesehen würde ich Ihnen zustimmen. Ich finde Ihre Formel sehr anregend. Es gibt einen Text von Botho Strauß, der heißt »Theorie der Drohung«. Da geht es um drohen, bedrohen, bedroht werden und bedroht sein. Das ist keine Theorie, sondern eine Erzählung. Und Sie haben uns jetzt eine »Theorie der Belebung« vorgeschlagen, der geradewegs eine »Theorie der Bedrohung« entspricht. Sie sind ein Freund dialektischer Pointen.
JANZ: Nun ja, einen ganz so ausschließlichen Charakter hat das vielleicht nicht, jedenfalls nicht in meiner Biographie. Und doch. Wenn es da ist, das Belebende, das Entflammende, geht es auch in Richtung des Bedrohlichen. Das ist so. Alles in Anspruch nehmen, sich von allem in Anspruch nehmen lassen, kann bedrohlich werden.
KLEINSCHMIDT: Es gibt das schöne Wort von Freud »die Seele altert nicht«. Würden Sie das auch so sehen?
JANZ: Ja, das ist sehr gut. Auch da gibt es viele schöne stellvertretende Erfahrungen, etwa wenn ich an meine Enkel denke. Das ist gegenseitig. Der eine, der verabschiedete sich heute morgen und sagte, also du weißt ja, wir brauchen uns.
KLEINSCHMIDT: Wie echte Schiffskameraden. Sie sind ja Marinesoldat gewesen.
JANZ: Ja, es hat dieses Flair des Umarmens. Die älteste Enkelin ist zwanzig. Sie ist ein sensibles und sympathisches Wesen, sehr sublimiert in ihrer ganzen Lebensart. Auf der anderen Seite sehr sportlich, sehr ehrgeizig. Für mich ist sie äußerst anziehend. Und mit ihr habe ich, wie soll ich sagen, so was wie eine poetische Beziehung. Ich sage ihr, sie solle mir doch mal Gedichte schicken, ein oder zwei von einem italienischen Dichter, den sie liebe. Und dann hat sie mir Gedichte geschickt, wunderschöne Sachen. Ich habe mühsam eine Übersetzung gemacht. Die habe ich ihr geschickt und dazu gesagt, nun schreib mir mal, wie du das übersetzen würdest. Sie ist zweisprachig. Da hat sie eine Übersetzung gemacht, die viel besser war als meine, sehr viel besser, das habe ich ihr auch gesagt. So was macht mich glücklich. Denn da ist keine Bedrohung dabei. Das sind eben, würde ich sagen, poetische Beziehungen.
KLEINSCHMIDT: Das ist eine sehr gute Konkretisierung. Die Kategorie des Belebenden hat jetzt eine erste Unterabteilung bekommen, die poetischen Belebungen, die sind nicht bedrohlich. Erotische sind bedrohlich. Auch philosophische können bedrohlich sein, oder? Ich weiß nicht, ob man mit neunzig noch mal seine Philosophie wechselt. Halten Sie so was für möglich?
JANZ: Ich glaube es nicht. Ich glaube nur, daß man seine Philosophie im Alter besser durchschaut.
KLEINSCHMIDT: Es gibt einen Satz von Ernst Jünger, der sinngemäß lautet: Keiner stirbt, bevor er nicht seine Aufgabe erfüllt hat. Ich könnte also auf die Frage, warum Sie so alt geworden und dabei so frohgemut und lebensverbunden geblieben sind, antworten: weil Sie weiterhin eine Aufgabe haben, die Sie gerne erfüllen, die Sie nicht als Last empfinden, die Sie nicht loslassen. Obwohl Sie inzwischen vieles losgelassen haben, Patienten, Assistenten, Studenten, Vorlesungen, Seminare, Vorträge – das Loslassenkönnen gehört ja zur Freiheit. Es gibt viele Menschen, die das nicht können und darüber unglücklich werden, denn loslassen müssen sie ja doch irgendwann. Das ist schon eine große Fähigkeit, nicht nur im Beruf, auch im Leben. In der Biographie eines jeden gibt es das Kapitel Trennungen, und Trennungen sind meist ein erzwungenes Loslassen, ein hartes, schmerzhaftes. Beim freiwilligen Loslassen kommt es auf den Zeitpunkt an, nicht zu früh, nicht zu spät. Man kann gewiß leichter loslassen, wenn man das Gefühl hat, daß die einem anvertraute Sache in gute Hände übergeht. Sein Verbundenheitsgefühl kann man ja nicht einfach abwerfen wie einen abgetragenen Mantel, wenn man sich Jahrzehnte engagiert hat. Und das wäre auch kein gutes Loslassen, wenn man sagt: Nach mir die Sintflut!
WEICHELT: Wenn man Jüngers Satz zum ersten Mal hört, erschrickt man ein wenig, weil er etwas von Schicksalsergebenheit hat. Aber vielleicht kann man ihn auch so verstehen, daß man die Aufgaben als selbstgestellte begreift, anders gesagt, daß man sich immer wieder selbst Aufgaben stellen muß. Und erst wenn das aufhört, ist es mit dem Leben vorbei.
JANZ: Jetzt haben wir die Frage, wie man die Unsterblichkeit erlangt, beantwortet. Es ist ganz einfach: Man muß sich selbst Aufgaben stellen. Schön wäre es ja. In Wahrheit ist es so, daß die Aufgaben auf einen zukommen. Und wann das endet, liegt nicht in unserem Beschluß.
SINN UND FORM 2/2011, S. 184-204
Man kann sich unschwer freundlichere Einladungen zur Lektüre vorstellen: »(Für den, den’s angeht)« steht über Peter Handkes erstem, die Jahre (...)
LeseprobeWeichelt, Matthias
Für den, den's angeht
Zu Peter Handkes Steh- und Gehbüchern
Man kann sich unschwer freundlichere Einladungen zur Lektüre vorstellen: »(Für den, den’s angeht)« steht über Peter Handkes erstem, die Jahre 1975 bis 1977 umfassenden Journal »Das Gewicht der Welt«. Und dieses Motto, heißt es 1998 in »Am Felsfenster morgens«, gelte auch für alle darauffolgenden Aufzeichnungsbücher. Wer eines davon aufschlägt, weiß also nicht, ob sich die spröde Widmung auch auf ihn bezieht, ob das Angebot, das hier gemacht wird, auch eins für ihn ist. Herausfinden kann man es nur, indem man es annimmt. Daß sogenannte »Geschäfte für den, den es angeht« ohnehin juristische Ausnahmen vom Offenkundigkeitsprinzip sind, dürfte Handke, der in den sechziger Jahren Rechtwissenschaften in Graz studierte, jedenfalls gewußt haben. Sie kommen auch dann zustande, wenn bei alltäglichen Besorgungen, beim Kauf einer Semmel oder einer Zeitung, jemand in fremdem Auftrag auftritt, einem Freund oder Nachbarn eine Besorgung abnimmt. Der Vertrag bindet nicht den, der die Ware als erster erhält, sondern den, für den sie bestimmt ist, den, den es angeht. Und der wird sich schon finden.
Um die einfachen und alltäglichen Dinge, um das Unscheinbare und Unbemerkte geht es auch im »Gewicht der Welt«. Um die ihr Sandwich kauende Verkäuferin in einem leeren Laden. Um den alten Mann im Restaurant, mit seiner Weinflasche und seinem Glas. Um den Geldschein auf dem Zahlteller und die vom Nachbartisch herüberblickende Frau. Um die nach eingetrocknetem Schneewasser riechende Skimütze des Kindes. Um das Zuziehen eines Reißverschlusses und das Röhren der Heizung im Keller. Und um die Frage, warum solch spontan festgehaltene Reportagen eines »Einzel-Bewußtseins« andere überhaupt etwas angehen sollen. Daß ihre Veröffentlichung auch als Indiskretion oder Anmaßung verstanden werden kann, war dem Autor bewußt. Entsprechende Vorwürfe suchte er mit der Versicherung zu entkräften, daß »dieses Bewußtsein (ich) auf etwas aus ist, pathetisch gesagt: sich unablässig durchdringen will«. Sich selbst zu erkennen ist hier nicht Wahlspruch der Selbstbespiegelung, sondern Maxime eines Weltzugangs. Das Ich wird zum Medium, das sich Eindrücken, Empfindungen, Erlebnissen wie einer Röntgenbestrahlung aussetzt, die sein Inneres abbildet und beschreibbar macht. Die ursprünglich als bloßes Material für größere literarische Arbeiten vorgesehenen und daraufhin ausgewählten Notate hatten sich im Zuge der Niederschrift immer mehr verselbständigt, verwandelt in zweckfreie Aufzeichnungen zweckfreier Wahrnehmungen – eine Lösung aus vorgegebenen Formen und Mustern, eine Eröffnung neuer literarischer Möglichkeiten, durch die das Sprachliche, die Sprache selbst zum Gegenstand des Schreibens wird: »Was auch immer ich erlebte, erschien in diesem ›Augenblick der Sprache‹ von jeder Privatheit befreit und allgemein.«
Eine solche Abwendung vom Privaten und Persönlichen ist nicht jedem Leser geheuer. Den Reiz veröffentlichter Tagebücher, Briefwechsel, Journale findet man gemeinhin ja gerade in den darin enthaltenen Beichten und Bußen, den endlich offenbarten Geheimnissen, den schließlich abgelegten Geständnissen. Was einer nur für sich oder nahe Freunde aufschreibt, wird doch einen unverstellten Blick auf sein Wesen, auf die versteckte Buchführung seines Lebens freigeben. Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Wer nach derlei Vertraulichkeiten sucht, wird in der Mehrzahl der Journaux intimes reich belohnt. Die meisten Tagebuchschreiber, notiert Carl Schmitt 1948 in seinem »Glossarium «, kämen ihm vor »wie Kinder, die an ihren Fingern saugen und an allem saugen, was sie in ihre Finger bekommen«. Unverstellt und authentisch soll die Selbstbeschäftigung sein, eine leicht zu entschlüsselnde, von kindlicher Offenherzigkeit geprägte Botschaft an die Mit- und Nachwelt. Auch der Journalist André Müller, der mit Handke mehrere lange Interviews führte, ließ sich von der inhaltlichen Komposition und literarischen Absicht des »Gewichts der Welt« nicht irritieren und glaubte, aus einzelnen Einträgen auf die Gemütsverfassung des Autors an diesem oder jenem Tag schließen zu können: »Ein anderes Mal, so schreiben Sie, waren Sie kurz davor, den verachtetsten aller Menschen um Hilfe zu bitten.« Seinen Freund Hermann Lenz mußte Handke wiederum in einem Brief beruhigen, daß nur zwei Gesten von dessen Frau um dieser Gesten willen im Buch beschrieben seien, nicht die Person selbst: »Im Journal kommt sie nicht vor – es wäre auch eine Anmaßung von mir.« Die Wahrnehmung und Schilderung solcher für sich stehenden und über sich hinausweisenden Gesten ist das Anliegen dieser mal eine halbe Seite, mal einen Satz langen Eintragungen, nicht die Protokollierung von Begegnungen und Erlebnissen. Über Freundschaften, Feindschaften und Liebesangelegenheiten erfährt man dabei fast nichts.
Über sich »persönlich« habe er ohnehin nie etwas sagen können, schreibt Handke später in »Gestern unterwegs«, er lebe von dem, was die anderen nicht von ihm wissen. Auch an den Tagebüchern Kafkas interessierten ihn nicht mehr die Klagen und Selbstbezichtigungen, »nur noch seine Beschreibungen«. Die Hinwendung zum immer achtsameren Hören und Schauen, zur sorgfältigen, manchmal auch nachträglichen Berichterstattung des Tages schlägt sich insbesondere in den auf das »Gewicht der Welt« folgenden Aufzeichnungsbüchern nieder, bei denen die Bezeichnung Journal im Titel entfällt. Was dafür aus den überallhin mitgeführten, nach Hosentaschentauglichkeit ausgewählten »Geh und Stehheften« übernommen wird, muß dem Anspruch auf Anschaulichkeit und Klarheit genügen, nicht dem auf Lebensdarstellung oder Zeitgenossenschaft. Die gefundene sprachliche Form macht die Bedeutung des Notierten aus, daher kann alles nebeneinander stehen in der »Geschichte des Bleistifts« (1976–1980), den »Phantasien der Wiederholung« (1981/1982), in »Am Felsfenster morgens« (1982–1987) und »Gestern unterwegs« (1987–1990): Lebensgedanken ("Wie ein Liebespaar entsteht: Beide müssen, zusammen, etwas meistern«) und Leseeindrücke ("Keine Bücher für mich: die mit dem unangenehmen Beben des Gebildetseins«), Beschreibungen im Straßenstaub badender Spatzen und romanischer Kirchenskulpturen, Wortfindungen ("Verb für die Schönheit: ›nötigt (zum Bleiben)‹«) und Schreibvorgaben ("Ans Schreiben gehen: Füg der Stille etwas hinzu; bring etwas heim aus der Stille«), Landschaftsschilderungen und Gedanken über Wortgenauigkeit und Begeisterung, übers Gehen und Langsamwerden, über Müdigkeit, Wachsamkeit und den Wandel der Farben. Und immer wieder aus allem hervorleuchtende Poèmes en prose, helle Augenblicke der Sprache: »Das Wange-an-Wange von Stute und Fohlen, und dann das Hals-auf-Kruppe, und dann das Flanke-an-Flanke, und dann das Kopf-unterm-Hals, und endlich das Saugen, gebückt, des schon großen Kindes unter der Mutter: was für eine Liebe; und das alles unter dem Zwetschkenbaum«.
Der all diesen Wahrnehmungen vorausgehende Impuls, ihr eigentlicher Ursprung ist das Staunen. So wie man als Kind im Märchen das Fürchten lernte, kann man hier das Staunen lernen, kann sich die Augen öffnen lassen für den Reichtum, die Fülle der Welt und ihrer Erscheinungen ("auch nur auf dem kurzen Weg zu einer Metrostation: es war eine von stürzenden Körpern durchzuckte Ideallandschaft«). Das Sichtbare ist viel mannigfaltiger, viel umfassender als das Gesehene, das Gehörte nur ein kleiner Ausschnitt des Hörbaren. Jeder Satz in diesen Wirklichkeitserforschungsbüchern ist zugleich Aufforderung und Selbstermahnung, die Bilder des Tages, die regennassen Jacken der in den Bus steigenden Arbeiter, die schmutzigen Fensterscheiben im Bahnabteil, den alten Mann auf der Parkbank und den auf dem Tisch liegenden Bleistift als etwas so nie zuvor Gesehenes, erst zu Erschauendes und damit zu Erkennendes zu entdecken. Die Kunst, so wie sie hier verstanden wird, soll vom bloßen Anschein, vom Augenschein erlösen, soll den »phantastischen Augenblick« erzeugen, den Blick von Grund auf verändern. Wer dem folgt, fängt tatsächlich wieder an zu staunen, kann durchs Staunen gesund werden. Wer das Staunen verlernt hat, sieht keine Unterschiede und auch nichts Wesentliches mehr, »hört überhaupt auf zu sehen«, registriert nur noch, ohne Sinn für das, was vor ihm, über ihm, unter ihm und auch mit ihm geschieht: »Eine der innigsten Erscheinungen ist das Dahinziehen, Treiben und Kreisen der Blätter, Halme, Sporen, Vogelfedern, Grasspitzen in den länglichen, oft bootsförmigen Feldweglacken – eine Umschreibung der Stille«. Um an solchen Wirklichkeitsbildern nicht achtlos vorüberzugehen, um nicht blind für sie zu sein oder taub für die Stille, muß man schauen, bis einem »Nüstern wachsen«, muß man die Redewendung vom »Aus dem Staunen nicht herauskommen« als mögliches Lebensmotto akzeptieren – als Voraussetzung nicht nur des Dichterischen, sondern des Menschlichen überhaupt. Der wahre Mensch sei ganz Gehör, der wahre Dichter müsse die Stille erfahren haben und sich nach ihr sehnen. Und die sinnliche Erfahrung zum Fundament seines Schreibens machen, »das Besondere, die Spielart eines jeden einzelnen Dings erforschen – etwa, wie die Blätter eines Erdbeerhains sich anfühlen an der Innenseite des Unterarms, an der darüberstreichenden Handwurzel, am sie umgreifenden Handteller …«.
In der Offenheit für die Spielart jedes einzelnen Dings finden diese Notizen ihren ganz eigenen Zugang zur Wirklichkeit, die für Handke in der »bloßen geheimnisvollen Erscheinung« liegt, ja, in der Gleichsetzung von Geheimnis und Wirklichkeit. Wer dieses Geheimnis nicht verrät, sondern sich darauf einläßt, wird, das ist das große Versprechen dieser Aufzeichnungen, etwas zurückerhalten – nicht irgend etwas, sondern das, worauf es ankommt: »Ziel des Schreibens, des Lesens, des Lebens: ein Ding, eine Steintreppe, eine Glyzinie, eine Tür, wird von mir gesehen und zeigt sich erkenntlich: das Sich-Erkenntlich-Zeigen der Dinge«. Die Dinge werden erkannt in ihrer Form, ihrer Wesensart, ihrer Eigenheit – und sie erweisen sich dafür als dankbar, da sie nur durch die Betrachtung existieren, angewiesen sind auf einen Resonanzraum, ein Gegenüber, ohne das sie bloße Schemen bleiben, Geschöpfe einer Schattenwelt. Sprache bedeutet hier Erweckung der toten Natur. So wenig Goethe sich die Farben ohne das sie wahrnehmende menschliche Auge denken wollte, so unvorstellbar erscheint es Handke, »daß während der unermeßlichen Zeiträume ohne Menschen das Branden des Meeres von niemandem gehört worden sein soll«. Ein Klang, der im Nichts verhallt, ein Konzert ohne Publikum.
Fremd bleiben muß einer solchen Weltsicht alles schon Erstarrte und Genormte, alles allzu Berühmte und Bewunderte, die pittoresken Straßenszenen und kulissenhaften Landschaften, die beworbenen Sehenswürdigkeiten und zu Tode fotografierten Kunstwerke, die sich dem offenen Zugang, der freien Sinnzuschreibung verweigern. Denn eben darin besteht für Handke die »Aufgabe der Literatur: die noch nicht vom Sinn besetzten Orte ausfindig zu machen«. Ein Fahndungsauftrag, für den sich kaum ein tauglicheres Mittel denken läßt als die dem schweifenden Blick, der gelassenen Aufmerksamkeit, der berührungsfreundlichen Handfläche oder Fußsohle sich verdankenden, aus Anschauung oder Erinnerung gewonnenen Bewußtseinsreportagen. Das sie auslösende Staunen pulsiert noch in der Hülle der Sätze, schützt sie gleichsam davor, schablonenhaft und knöchern zu werden, dem Dargestellten Raum und Freiheit zu nehmen. Gute Literatur, hat Handke einmal gesagt, komme aus dem Erleben der Dinge und der Gerechtigkeit diesem Erlebnis gegenüber, aus nichts anderem. Dafür aber muß der Vorgang des Aufnehmens und Erinnerns in die Beschreibung Eingang finden, muß das Erlebnis in den Eintragungen nachklingen, Wortstellung und Satzbau bestimmen. Ein kaum merklich vibrierender Grund, tragfähig und erschütterbar. Ein Boden, auf dem der Raum der Stille wachsen kann.
Und mit ihm der reine Gegenwartssinn, die beglückende Aufmerksamkeit für das, »was jetzt da ist (die Mancha-Disteln, hellgrau, im Wind neben den Bahngleisen)«. Das, was jetzt da ist – gewissermaßen Handkes Kurzformel für das epiphanische Aufscheinen der Wirklichkeit, das Zusammenkommen von Welt und Wahrnehmung, das nicht herbeigeführt, aber erwartet werden kann. Und zugleich Umschreibung des eigentlichen, des höchsten Lebensgefühls, des schieren In-der-Welt-Seins. Wer sich dieses Zustands bewußt wird, fügt sich ein in den Fluß der Dinge, spürt das Vorwärtsgleiten und Vorankommen, wird hineingehoben in den »Sattel der Gegenwart«. In diesem muß er sich halten, muß den Rhythmus annehmen, die Zügel anziehen und wieder lockerlassen, im Wechsel des Sich-Aussetzens und Sich-Einlassens. Was Handke sich in diesen Aufzeichnungen verbietet, eigentlich jeder Literatur verbieten will, ist das bloße Zuschauen und Beobachten, den Kommentar, das Protokoll, die voyeuristische Perspektive, die sich dem, womit sie sich beschäftigt, nicht aussetzt, die sich nicht einläßt auf das, was sie beschreibt: »Halt gegen die empörende Selbstgefälligkeit der Text- und Geschichten- und Romanhersteller immer den preisgebenden, sich preisgebenden, nicht anders könnenden, aber doch etwas könnenden und dabei doch nie nur sich bespiegelnden, sondern auch den anderen ihr Spiegelspiel ermöglichenden sogenannten ›Narziß‹ hoch!« Das einzige wirkliche Lebendigkeitsgefühl, heißt es in »Gestern unterwegs «, sei Teilnahme. Und ein Dichter kann für Handke nur sein, wer »sich auf ein Ding nach dem anderen einläßt« ("Am Felsfenster morgens«). In der Fähigkeit zur Teilnahme, in der »Kraft des Sich-Einlassens« liege die Befä-higung zum Schreiben, im immer wieder neuen Sich-Aussetzen strukturiere sich die Phantasie. Und aus der Nicht-Beobachtung erwächst das literarische Vermögen, wie angesichts eines Mitreisenden im »Gewicht der Welt«:
Das Gesicht des Mannes heute im Zug, wie es, indem ich, Beobachtungsfeindlicher, Beobachtungsloser, es ganz, ganz wegrücken ließ, mir allmählich ganz nahe kam und allmählich das allgemeine Gesicht wurde, wahnsinnig und lebendig, Mann und Frau zugleich verkörpernd, Gesicht einer Filmhandlung, deren Höhepunkt es gerade darstellte, tief und grenzenlos entrückt, während ich es entrückt betrachtete und doch gleichzeitig noch voll Mißtrauen war – und als ob der Mann das merkte, setzte er sich um und blickte in eine ganz andere Richtung (sein Gesicht war das eines großen Schauspielers gewesen, in Großaufnahme zu sehen auch in der Entfernung)
Wer diese Aufzeichnungsbücher liest, sitzt oft im Zug, in der Metro oder im Bus, manchmal auch im Flugzeug (in den Jahren von »Gestern unterwegs« hat Handke keinen festen Wohnsitz, reist durch Europa, Asien, Amerika). Vor allem aber zu Fuß ist dieser Autor unterwegs, auf Spaziergängen und Wanderungen, durch Großstädte, durch Vororte und im freien Gelände. Das Gehen bereitet den Weg zu den Dingen, setzt etwas in Gang, wird zum »Maschinisten der Seele«, zum Motor der Welterfahrung, hilft hinein in jenen »Sattel der Wirklichkeit« – und in den Tag, in die aus Dunkelheit und Nacht immer wieder entstehende, sich aus der Erstarrung lösende Welt, die ebenfalls eines Impulses, eines Auftakts bedarf, wie ein Schwungrad in Gang kommen muß: »Dieser vorbeifahrende Zug gab dem Tag seine erste große Bewegung. Die abgefallenen Blätter rochen aus dem Rinnstein. Noch war Morgenluft«. Und noch ist Zeit für das Langsamwerden, eine später verpaßte »Möglichkeit(sform)«. Noch kann man sich einlassen und einstimmen auf das, was Handke ganz unbefangen den schönen Tag nennt: »Schöne Tage, es gibt sie, sie sind nicht nur eine Redensart – die Schönheit von Himmel und Erde greift dann ein in das innerste Herz«. Dem geglückten Tag hat Handke, wie der Müdigkeit, der Jukebox und später dem Stillen Ort, auch einen seiner »Versuche« gewidmet. Was er damit meint, ist fern von aller Betulichkeit. Der schöne, der geglückte Tag ist keiner des behaglichen Müßiggangs, sondern eine Herausforderung, die angenommen und bestanden werden will, ein Kaleidoskop, dessen Farben und Muster es zu entschlüsseln gilt. Gelingt dies, werden die Formen erkennbar, benennbar, beschreibbar, bilden sich Linien, Gestalten, Existenzen. Der eigentliche Tagesanfang, schreibt Handke, vollziehe sich in diesem Werden der Formen – »das Sichzacken der Platanenblätter, die auf dem nassen Asphalt liegen – und das Übergehen der Formen auf mich, wodurch ich ersetzt und erweitert werde«. Für den Rest des Tages könne einem dann nichts mehr passieren …
Aber etwas passiert dann doch. Denn wer sich von den Formen des Tages ersetzen und erweitern lassen, wer dem Erlebten gerecht werden und es bestehen will, kann selbst nicht unverwandelt bleiben. Er muß eine Art elastischer Gegenkraft entwickeln, muß der Welt durchlässig standhalten, muß die Durchlässigkeit als »das Standhalten« begreifen. In »Gestern unterwegs« notiert Handke, sein Idealzustand vereine Freudigkeit, Stille, Durchlässigkeit und Schwäche. Und darin bestehe auch die Aufgabe von Büchern, von Gedichten, von Kunst überhaupt – dort, »wo nichts ist, Durchlässigkeit« zu schaffen, dem selbstgewissen Behaupten, Bestimmen, Beweisen entgegenzutreten, die »täglich gehörte, vor Vertrautheit nichtssagende, hilflose ›Du weißt schon, was ich meine‹-Sprache des Kommunikationszeitalters« zu ersetzen. All das traut Handke der Literatur zu. Ohnehin traut er (wie kaum ein anderer) ihr fast alles zu. Aus Stroh kann sie Gold spinnen, Leere und Stille und Schwäche in Sprache, in Schönheit verwandeln, das Nichterlebnis zum Erzählabenteuer machen. Sein großer Schatz, so Handke, das seien gerade die Ermangelungen, die ausgebliebenen Ereignisse der Kindheit – die Eintönigkeit des Tages, die ausgefüllt, die Beschränktheit des Blickfelds, die weggeträumt werden mußte. Das karge dörfliche Leben in Kärnten scheint ein guter Nährboden gewesen zu sein für das Wachsen der Phantasie, für die Erforschung der Dinge, für das weitausholende Erzählen. Und hat vielleicht schon früh die Sehnsucht geweckt nach dem, was später als fernes künstlerisches Ideal erscheint: »Das allerschönste Werk, bestehend aus Nichts, und wieder Nichts, und dem menschlichen Atem, dem Licht, den Tagen und Nächten, hat die Menschheit noch nicht geschaffen«.
In seinen Aufzeichnungsbüchern steht Handke dieses Ideal jedenfalls immer vor Augen. Und die Wege, diesem das Nichts, den Atem und das Licht enthaltenden Werk nahezukommen, sind die Wege der Einfachheit, können nur die der Einfachheit sein. Für das, was einem nahe ist, kann man keine Fremdworte verwenden, hat Martin Walser einmal gesagt. Und auch Gegenwartssinn, Durchlässigkeit und Teilnahme können nur aus Nicht-Distanz, also aus Nähe entstehen. Es sind die einfachen Worte, mit denen die Dinge beschreibbar, die einfachen Gesten, an denen Menschen und Tiere erkennbar sind. Und was sich darüber sagen läßt, lernt man aus den »Varianten des Immergleichen«. Das dabei zu Papier Gebrachte ist das Gegenteil jeder medial aufgeblasenen Kunst. Bleistift oder Kugelschreiber, Notizheft oder Schreibblock reichen aus, um die Eindrücke des Tages, das den Händen Erreichbare, den Augen Sicht-bare, den Ohren Hörbare festzuhalten. Nicht um ein möglichst artifizielles Sprachspiel geht es, sondern, wie Handke mit Blick auf Goethe sagt, um das »stille Sichaneinanderfügen des Vorhandenen«. Dann stellen sich auch die Bilder ein, die lebendigen, gültigen, Denk- und Vorstellungsvermögen erregenden, Sinne und Leidenschaften ansprechenden Bilder. In ihnen liege »der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit«, an ihrer Bilderfähigkeit ermesse sich, immer wieder, die Gesundheit der Seele.
Für all das muß der Leser bereit sein. Der wirkliche, sich etwas erwartende, auf etwas wartende Leser, der sich einem Buch wie einem Abenteuer aussetzt und davon gesund oder vielleicht auch krank werden will. In jedem Fall müsse das Lesen, so Handke, eine Konsequenz haben, eine Handlung nach sich ziehen. Denn das Entscheidende der Poesie sei nicht ihre Gefälligkeit, sondern ihre Dringlichkeit. Das Buchaufschlagen ist eine folgenreiche Entscheidung, ein existentieller Akt. Anders als Zeitungen, Meldungen, Nachrichten mit ihrer von vornherein gegebenen Aktualität sei »das Buch, auch bloß ein Satz, ein Absatz, eine Seite« stets etwas »zu Aktualisierendes – zu Erarbeitendes«. Erarbeiten muß man sich auch die zunächst ganz unverbunden und isoliert anmutenden, in scheinbar beliebiger Reihenfolge angeordneten Notizen dieser Journale. Nur wer sich einläßt auf ihre verborgene Dramaturgie, nur wem sich die Durchlässigkeit der Zwischenräume, das Atemholen und Miteinandersprechen der Sätze mitteilen, wird den alles verbindenden, den epischen Blick erfassen, dem »selbst der Zahnstocher zwischen den Lippen eines Passanten« erzählenswert erscheint. Ein »persönliches Epos«, belebt und getragen von Poesie, dem »gefühlten wie begriffenen Rätsel« – einem Rätsel, das auch mit dem Lesen nicht endet. Denn alles wirkt weiter, alles klingt nach. So wie man nach einer langen Wanderung noch die Bewegung des Gehens in den Beinen spürt, oder das Wogen des Meeres nach einem Tag auf See. Warum man sich auf dieses Rätsel einlassen soll, warum es einen betrifft, ist die Frage jeder Kunst. Und jeder Leser, jeder Hörer, jeder Betrachter muß seine Antwort finden. Jeder, den’s angeht.
SINN UND FORM 4/2013, S. 603-610
Widerhall ohne Widerspruch. Eine Vorbemerkung Nach der Feier seines fünfundsechzigsten Geburtstags, zu der sein Verlag im Mai 1951 nach (...)
LeseprobeWeichelt, Matthias
Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze. »Alles, was ich zu wünschen vermag, gilt Ihnen«. Aus dem Briefwechsel 1945. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Weichelt
Widerhall ohne Widerspruch. Eine Vorbemerkung
Nach der Feier seines fünfundsechzigsten Geburtstags, zu der sein Verlag im Mai 1951 nach Wiesbaden eingeladen hatte, schrieb Gottfried Benn seinem Brieffreund Friedrich Wilhelm Oelze: »Der Eindruck, den Sie gemacht haben, war allgemein groß. Wollen Sie wissen, was meine Tochter, deren Gedanken sich viel mit Ihnen beschäftigen, unter Anderem sagte? ›Eine unheimliche Erscheinung! Man muß damit rechnen (!), daß er nachts ein schwarzes Trikot anzieht u. auf Einbruch geht‹. Nun? Wenn das kein Effekt ist!«
Wenn der Bremer Großkaufmann und Jurist (1891–1978) eines vermeiden wollte, dann Effekte und Auffälligkeiten. Entsprechend verstört fiel die Antwort aus. In einer seinem Brief angefügten Notiz mit dem Titel »Das schwarze Trikot« sieht Oelze sich als »Hochstapler- oder Verbrechertyp« bloßgestellt: »das also steht in meinem habitus geschrieben für den, der zu sehen und zu lesen versteht? Das scheint mir unheimlich, und zwingt mich zu sehr schwierigen und peinlichen Selbstkorrekturen.« Daß Benn, der die labile Konstitution, die existentielle Unsicherheit des Freundes kannte und ihn zuweilen damit quälte, daraufhin die von seiner Tochter vermuteten Motive der obskuren Aktivitäten nachreichte (»aus Sensationsbedürfnis, aus Abwegigkeit, aus Perversion«), dürfte wenig zu Oelzes Beruhigung beigetragen haben. Er ging darauf nicht mehr ein. Dabei hatte das Bild des nächtlichen Phantoms die Sache nicht schlecht getroffen. Der 1891 geborene Oelze stammte aus einer alten Kaufmannsfamilie, hatte u. a. in London Jura studiert und war nach der Promotion Teilhaber einer Handelsfirma geworden, die vor allem Kolonialwaren importierte. Schon sein Großvater hatte auf Jamaika Zuckerrohrplantagen erworben, seine Mutter war dort zur Welt gekommen, und auch Oelze selbst reiste immer wieder in die Karibik – von wo aus Ansichtskarten mit exotischen Motiven auf Benns schlichtem Schreibtisch in der Bozener Straße 20 in Berlin-Schöneberg landeten. Auch dank der Heirat mit einer vermögenden Bürgertochter verfügte Oelze, dessen einziger Sohn im Zweiten Weltkrieg fiel, über die Mittel, repräsentative Wohnsitze zu unterhalten und bedeutende Möbel-, Kunst- und Büchersammlungen zusammenzutragen (darunter fast alle Veröffentlichungen Goethes in Erstausgaben). Denn die Bilanzen seiner internationalen Handelsaktivitäten waren ihm Pflicht und Aufgabe, boten aber keinerlei Befriedigung. Oelzes eigentliche Leidenschaft galt dem Geist, der Kunst, dem Schöpferischen. Ohne selbst künstlerisch begabt zu sein (die »Gedichte sind nicht gut«, schrieb ihm Benn auf übersandte Verse), wollte er teilhaben an der Sphäre der Dichter und Denker, am besten durch direkten Austausch mit Schriftstellern, Gelehrten, Philosophen wie Maximilian Harden, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt, Martin Heidegger, später auch Hans Mayer. Die Bedingungslosigkeit, mit der er sich Benns absolutem Kunstanspruch und nihilistischer Weltsicht unterwarf, bedrohte immer wieder die Fassade seines bürgerlichen Lebens und verlangte nach Camouflage und Verstellung. Wie auch seine homoerotischen Neigungen, denen er allenfalls auf Geschäftsreisen und im Schutz der Anonymität nachgehen konnte. Hinzu kam ein fast zwanghaftes Bedürfnis nach Selbstverkleinerung, ein Gefühl der Unwichtigkeit und Bedeutungslosigkeit, das durch den Austausch mit den als Genies empfundenen Gesprächs- und Briefpartnern nicht gemindert wurde (und auf eigentümliche Weise mit seinem großbürgerlichen, fast dandyhaften Auftreten, den von Benn als aristokratisch empfundenen Umgangsformen und Manieren kontrastierte): »Seit dem Abitur feierte er keinen seiner Geburtstage, verbrannte 1947 sämtliche Fotos von sich und vernichtete fast alle in seinem Besitz befindlichen privaten Dokumente bis hin zum ›Westindischen Tagebuch‹ von 1939 mit dem Ziel, ›sich selbst zu löschen‹, um keine ›Restbestände‹ zu hinterlassen, wie Benn in ›Chopin‹ formuliert hatte.« (Hans Dieter Schäfer, Herr Oelze aus Bremen. Göttingen 2001)
Auch als Oelze 1977 die an ihn gerichteten Briefe Benns zur Veröffentlichung freigab, ließ er die eigenen weg. Viele seiner Schreiben seien verlorengegangen oder in der Nazizeit auf seinen Wunsch hin vernichtet worden, notierte er im Vorwort der Ausgabe: »Aber meinen Briefen kommt nicht mehr zu als die Bedeutung von Anregungen, Stichworten, Fragestellungen; alles Wesentliche enthalten die Antworten des Dichters.« Ob dem tatsächlich so ist, kann man anhand der nun im Wallstein Verlag erscheinenden Edition erstmals überprüfen. In jedem Fall wird man die vierundzwanzig Jahre währende Korrespondenz endlich wieder als das lesen, was sie ursprünglich war: als intensives, forderndes, mit kaum nachlassender Energie geführtes Gespräch zweier in Temperament und Herkunft grundverschiedener, einander aber bald unentbehrlich werdender Geister. Für Oelze sind Benns Nachrichten »eine immer neu sich erschliessende, immer sich mehrende Offenbarung«, deren Auslöser zu sein er immerhin für sich in Anspruch nimmt: »Ich dachte an die Briefe grosser Männer, die ich kannte; mir fiel auf, daß selbst da wo die Empfänger unbedeutende Personen waren, oft Tieferes in den Briefen stand als in den Werken, das Abgründigste, Persönlichste, nur auszudrücken wenn einer zuhörte, aber dieser musste noch den Hauch einer Schwingung empfangen können.« So am 3. Oktober 1937 an Benn. Dieser wiederum hatte das Glück, in Oelze seinen idealen Leser gefunden zu haben, mit einem feinen Gespür für jede Schwingung seiner Texte, mit der Fähigkeit, auf Fragen und Anspielungen einzugehen, und einer Aufnahmebereitschaft, die bis zur Selbstaufgabe ging. Benn erfuhr hier, anders als bei Schriftstellerkollegen und Kritikern, Widerhall ohne Widerspruch. Durch Oelzes nie nachlassendes Interesse an allem, was Benn schrieb und dachte, durch seine unverminderte Aufmerksamkeit und Anteilnahme hielt er dessen Spannung und Produktivität aufrecht und ersetzte ihm das Publikum, das es nach dem Veröffentlichungsverbot 1938 nicht mehr gab. Vor allem nach dem Krieg wird Oelze dann zum publizistischen Berater, ist einbezogen in die Zusammenstellung von Gedicht- und Auswahlbänden, läßt Journalisten und Wissenschaftler Einsicht nehmen in seine Sammlung. Denn sein größter Schatz sind jene Briefe und Aufzeichnungen Benns, deren Sicherung ihm in der Kriegs- und Nachkriegszeit zur Hauptaufgabe wird: »Das Wichtigste zunächst: Die Manuskripte sind bei mir, unbeschädigt, von keiner fremden Hand berührt.«
Begonnen hatte das alle Umbrüche und Einschnitte überdauernde Verhältnis mit einem nicht erhaltenen Brief Oelzes, den Benn am 21. Dezember 1932 mit routinierter Distanziertheit quittierte: »Mir eine große Freude, wenn Ihnen meine Aufsätze gefallen haben. Eine mündliche Unterhaltung würde Sie enttäuschen. Ich sage nicht mehr, als was in meinen Büchern steht.« Oelze hatte Benns kurz zuvor in der Neuen Rundschau erschienenen Aufsatz »Goethe und die Naturwissenschaften« gelesen und als entscheidendes Bildungserlebnis empfunden: »Bei der Lektüre dieser knappen, kaum sechzig Seiten umfassenden Darstellung erfuhr ich das spontane Betroffensein, wie es nur die Kunst zu bewirken vermag, wenn die Stunde der Bereitschaft da ist.« Und wem solches widerfährt, der läßt sich nicht so leicht abschrecken. In einem weiteren verlorenen Brief muß Oelze dann den rechten Ton getroffen haben, um Benns Interesse zu wecken und ihn zu einer ausführlichen Antwort zu bewegen. Er habe mit seiner »Frage ins Schwarze« getroffen, schreibt Benn ihm am 27. Januar 1933: »wie kann man einerseits die Wissenschaft u. ihre Resultate skeptisch ansehn, ja verächtlich betrachten u. doch sie dann für wahr setzen u. zu eigenen Ideen verwerten. Scheinbar widerspruchsvoll. Aber nur scheinbar. Anstelle des Begriffs der Wahrheit u. der Realität, einst theologisches, dann wissenschaftliches Requisit, tritt ja jetzt der Begriff der Perspective.« In diesem ersten längeren Brief, in dem Benn seine Unterscheidung von Wissenschaft und Kunst erläutert (»Sie ist Erkenntniss; während Wissenschaft ja nur Sammelsurium, charakterloses Weitermachen, entscheidungs- u. verantwortungsloses Entpersönlichen der Welt ist. … Das wahre Denken aber ist immer gefährdet u gefährlich.«), klingt schon vieles von dem an, was den Briefwechsel für beide Korrespondenten in den kommenden Jahren zum unersetzlichen Dialog – und noch heute zum großen Leseerlebnis macht: rückhaltlose Offenheit, scharfe Argumentation, das Spiel mit Ideen und Gedanken, das Aufnehmen von Anregungen und Fragen, die Lust an Zuspitzung und Provokation, auch eine gewisse Freude an Klatsch und Häme. Die Ungeduld und Neugier, mit der die Gegenbriefe zumeist erwartet wurden, ist auch nach Jahrzehnten noch spürbar.
Im Verlauf der Brieffreundschaft, nach ersten persönlichen Begegnungen (die Benn allerdings genau zu dosieren versteht, man blieb zeitlebens beim »Sie«) und regelmäßigen Kaffee-, Rum- und Blumensendungen Oelzes, nimmt auch das Private und Privateste immer mehr Platz ein, häufen sich Fragen nach Lebensumständen und Krankheitsverläufen, nach Reisen, Begegnungen, Familienverbindungen. Gerade Benn interessiert sich lebhaft für Oelzes großbürgerliches Milieu, für Kleidervorlieben und Eßgewohnheiten, die sich so deutlich von seinem eigenen Dasein unterscheiden – die in Hannover gemietete Wohnung sei »mehr eine Höhle für Molche u. Menschenfeinde als ein Renaissancebau «, läßt er den Bremer Villenbesitzer am 9. Dezember 1935 wissen. Als dieser ihn in seiner Garnison besucht, erhält die Geliebte Tilly Wedekind am 11. Juni 1936 ein genaues Porträt: »Oe. sah extravagant elegant aus. Wirklich ein merkwürdiger ungewöhnlicher Typ, gänzlich undeutsch. Sieht älter aus, als er ist (45 J.), Haar fast weiß, sehr schlank, schmales spitzes Gesicht, Gesichtsfarbe rötlich wie bei Lungenkranken, unwahrscheinlich gut angezogen. Er sieht eigentlich aus wie aus einer Revue, Hoffmanns Erzählungen, am Rand von Wirklichkeit und Halluzination.« Die daran anschließende Überlegung, ob Oelze »im Unterbewußtsein doch homo« sei, hindert Benn jedenfalls nicht, in seine Briefe an den Freund gelegentliche Berichte über Liebschaften und Amouren einzustreuen und diesen zu ermuntern, es ihm gleichzutun: »Noch sind Sie nicht 50. Der Abend des Lebens hat noch nicht sein Zwischenreich begonnen. Noch ist es etwa zwischen 4 u. 5, Theestunde, u. die charmanten Achtzehnjährigen bezaubern noch u. gefährden und beglücken. Erhalten Sie sich das! Erhalten Sie es mir!« (1. Januar 1939) Oelze geht über dergleichen meist diskret hinweg. Und lenkt das Gespräch wieder auf das, was ihm das Wichtigste geworden ist: Benns Werk.
Für solch emphatischen Zuspruch dürfte Benn gerade zu Beginn ihrer Bekanntschaft besonders empfänglich gewesen sein. Seit Anfang der dreißiger Jahre hatten die politischen Auseinandersetzungen unter Schriftstellern und Künstlern noch einmal an Schärfe gewonnen, prallten die weltanschaulichen Gegensätze mit zunehmender Wucht aufeinander. Thea Sternheim, Exfrau Carl Sternheims und Freundin Benns, notiert am 28. November 1931 in ihrem Tagebuch nach einem Besuch Franz Pfemferts und Heinrich Schaefers, wie schwer es sei, den »Jargon der Klassenwahnsinnigen aller Kategorien zu ertragen. Ob sie nun über Benn herziehen oder mit nicht misszudeutender Befriedigung für die kommenden Monate die Diktatur des Proletariats ankündigen – was kann man in dieser mit Bluträuschen aller Art durchzogenen Welt anders tun als sich auf sein Martyrium vorbereiten.« (Gottfried Benn / Thea Sternheim, Briefwechsel und Aufzeichnungen. Göttingen 2004) Wie groß die Enttäuschung unter vielen von Benns Freunden über seine Versuche war, die politischen Umwälzungen nach 1933 als geschichtliche Notwendigkeit zu deuten und mit Reden wie »Der neue Staat und die Intellektuellen«, »Zucht und Zukunft « oder der berüchtigten »Antwort an die literarischen Emigranten« zu verteidigen, läßt sich in Thea Sternheims Tagebüchern in erbitterten Eintragungen nachlesen (»Welch ein Jammer ein ganzes Volk sich dem Veitstanz der absoluten Entmenschung einreihen zu sehen. Und zu diesem Reigen erniedrigt sich ausgerechnet Gottfried Benn aufzuspielen! «). Mit dieser Begleitmusik hatte es allerdings bald wieder ein Ende. Die Akademie der Künste (»eine glanzvolle Angelegenheit«), in die er 1932 gewählt worden war und für die er, im Glauben, so deren Souveränität sichern zu können, noch im März 1933 eine Loyalitätserklärung zum neuen Regime mitverfaßt hatte (woraufhin Thomas Mann, Alfred Döblin, Jakob Wassermann, Ricarda Huch und etliche weitere Mitglieder austraten oder ausgeschlossen wurden, nachdem zuvor schon Käthe Kollwitz und Heinrich Mann hinausgedrängt worden waren), betrat er von 1934 bis zum Ende des Krieges nicht mehr. Was von dort komme, schreibt er Oelze am 5. September 1935, zeige einen »Tiefstand an Moral, innerer Makellosigkeit, aber auch rein gesellschaftlichem Schliff, dafür Überfluss an formellem Knotentum, läppischer Gesinnung, auch Unverschämtheit, dass ich ganz bestürzt bin. ›Auslese nach unten‹, Darwinismus rückwärts – das wäre die Formel, die über allem schwebt.« Viele der alten Bekannten und Kollegen waren emigriert, ein offener Austausch nicht mehr möglich. Am 1. September 1935 antwortete Benn auf eine von Oelzes Ergebenheitsadressen: »Bitte schreiben Sie doch nicht davon, dass ich Sie geistig entwickelt habe u. s. w. Ich bedarf Ihrer ja viel mehr. Sie machen sich nicht klar, wie völlig isoliert ich bin, ohne jede Beziehung geistiger Art zu meiner Umwelt. Meine Umwelt ist z. Z. nicht in diesem Land.« Schon nach Hitlers Juni-Morden hatte er am 27. August 1934 an Ina Seidel geschrieben: »Ich lebe mit vollkommen zusammengekniffenen Lippen, innerlich u. äußerlich. Ich kann nicht mehr mit. Gewisse Dinge haben mir den letzten Stoß gegeben. Schauerliche Tragödie! Wie groß fing das an, wie dreckig sieht es heute aus. Aber es ist noch lange nicht zu Ende.« Benn gibt 1935 seine Praxis auf und wird, als »aristokratische Form der Emigrierung« (an Oelze am 18. November 1934), Oberstabsarzt der Wehrmacht in Hannover. 1936 erscheint ein Angriff gegen ihn in der SS-Wochenzeitung »Das schwarze Korps«, 1938 wird Benn aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und erhält damit Veröffentlichungsverbot. Schon 1937 hatte er sich als Gutachter in Fürsorge- und Rentenfragen nach Berlin ins Oberkommando der Wehrmacht versetzen lassen; 1943 wird die Dienststelle nach Landsberg an der Warthe verlegt, von wo aus Benn 1945 nach Berlin flieht. Seine zweite Frau Herta schickt er am 5. April vor der heranrückenden Front nach Neuhaus an der Elbe, wo sie sich am 2. Juli das Leben nimmt.
Mit der von Oberst Fritz Ohmke nach Kriegsende auf Benns Bitte versandten Nachricht setzt der hier abgedruckte Ausschnitt des Briefwechsels ein. Nach der im Chaos der Nachkriegstage unterbrochenen Verbindung stehen zunächst die Schilderung des Überlebens, das Resümee der Verluste im Vordergrund. Doch schon bald geht es darum, geistig Bilanz zu ziehen, erste Ausblicke auf das Kommende zu wagen. Die drängenden Fragen der Zeit spielen in diesen auf ein vertrautes Gespräch gestimmten, um ein Werk und seinen Schöpfer kreisenden Briefwechsel, der zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts gehört, immer wieder hinein, wie die durch Walter von Molos offenen Brief an Thomas Mann ausgelöste Kontroverse zwischen Exil-Schriftstellern und Autoren der sogenannten Inneren Emigration, wer über die Nazijahre und Deutschlands Niederlage überhaupt zu reden berechtigt sei. Doch Politik und Moral, schreibt Oelze am 12. Dezember, böten längst keine Hilfe mehr: »Die alten Schemen wollen nicht mehr passen, die politischen nicht mehr, und die moralischen nicht mehr; die Ideologien aller Parteien sind von der Wirklichkeit längst überholt, aus ihnen ist kein revolutionärer Auftrieb mehr möglich.« Die Zukunft, davon ist er überzeugt, liegt allein im Geistigen, in der Kunst. Und Kunst, hatte er von Benn gelernt, ist »Herstellung von Wirklichkeit« (22. Dezember 1943). Die dafür notwendigen Gründungsurkunden und Geheimpapiere befinden sich ohnehin in seinem Besitz, nun geht es darum, sie an die Öffentlichkeit zu bringen und ihre Wirkung tun zu lassen. Er glaube, schreibt Oelze am 16. November 1945 an Benn, »daß die grosse Periode Ihrer öffentlichen Anerkennung und Ihrer Wirkung ins Weite etwa um 1950 herum beginnen wird«. Eine allen persönlichen Wunschgedanken zum Trotz sehr hellsichtige Prophezeiung. 1949 erscheinen vier Bücher Benns, 1951 erhält er den Büchner-Preis, 1953 das Bundesverdienstkreuz. Am wiedererwachten öffentlichen Interesse hatte auch »Bennpartner« Oelze großen Anteil, als Berater, Freund, Mäzen. Doch der Mann im schwarzen Trikot scheute zu Lebzeiten das Licht der Öffentlichkeit. Mit dem Abdruck seiner Briefe hat er die Tarnkleidung endlich abgelegt.
Matthias Weichelt
SINN UND FORM 1/2016, S. 33-37
MATTHIAS WEICHELT: Frau Jens, Sie haben sich vor allem als Herausgeberin einen Namen gemacht, seit Sie in den frühen sechziger Jahren die Briefe (...)
LeseprobeWeichelt, Matthias
Die Ergänzung der eigenen Erfahrungen. Ein Gespräch über Schriftsteller und Editionen mit Inge Jens und Matthias Bormuth
MATTHIAS WEICHELT: Frau Jens, Sie haben sich vor allem als Herausgeberin einen Namen gemacht, seit Sie in den frühen sechziger Jahren die Briefe Thomas Manns an den Philologen Ernst Bertram veröffentlichten. In den nächsten Jahrzehnten folgten dann weitere Editionen, die Werke des Literaturhistorikers und Schriftstellers Max Kommerell, die Briefe und Aufzeichnungen der Geschwister Scholl und ihres Freundes Willi Graf, die Tagebücher des Komponisten Ralph Benatzky und immer wieder die Familie Mann. Wie kamen Sie – ohne von einer Institution getragen zu sein – zu diesen ganz unterschiedlichen Autoren?
INGE JENS: Ich habe immer auf eigene Faust gearbeitet, aber meine Stoffe habe ich mir nie selbst ausgesucht. So kam im Fall von Max Kommerell seine Witwe auf mich zu. Bei den Geschwistern Scholl fragten mich Inge Aicher-Scholl und Otl Aicher. Großes Glück hatte ich mit den Tagebüchern von Thomas Mann, die mein Leben doch ziemlich verändert haben. Mein Mann Walter Jens war nicht ganz unschuldig daran, daß ich den Auftrag erhielt. Als jemand vom S. Fischer Verlag bei uns anrief und fragte, ob ich für einen Band der Werkausgabe ein Nachwort schreiben könne, lehnte er ab. Ohne Rücksprache mit mir behauptete er, ich sei nur an den Tagebüchern interessiert. Und so wurde mir nach dem Tod des Herausgebers Peter de Mendelssohn diese große Aufgabe übertragen.
MATTHIAS BORMUTH: Vielleicht können wir mit Hans und Sophie Scholl beginnen, die mit ihren Freunden aus der »Weißen Rose«, darunter Willi Graf, als Märtyrer des Widerstands gegen den Nationalsozialismus bekannt sind. Ich habe Sie, Frau Jens, kennengelernt, als ich mit Medizinstudenten Ihre Editionen gelesen habe, um der Gedankenwelt dieser mutigen jungen Menschen näherzukommen.
JENS: Es ist trotz der beeindruckenden Zeugnisse leider eine miserable Edition, bei der mir von seiten der Familie ständig hineingeredet wurde, was ich bringen dürfe und was nicht. Die Hinterbliebenen, vor allem Inge und ihr Mann Otl, wußten genau, wie es gewesen war, und ließen keine historische Forschung gelten, die ihre Sicht auf Widerstand und Tod der Geschwister in Frage stellte. So sollte nicht herauskommen, daß zwischen Sophie Scholl und ihrem Freund Fritz Hartnagel, der später die Schwester Elisabeth heiratete, mehr als ein platonisches Verhältnis bestand. Inge, die konvertiert und gut katholisch war, paßte es nicht, daß Sophie vor der Ehe mit einem Mann geschlafen hatte. Dabei kann man doch nur hoffen, daß die beiden vor Sophies Tod wirklich etwas Schönes erlebt haben, wenn sie sich im Park trafen oder eine Nacht miteinander verbrachten. Inge Aicher-Scholl beanspruchte aber, nachdem sie ihr Buch über die »Weiße Rose« veröffentlicht hatte, die Deutungshoheit über das Bild ihrer Geschwister in der Öffentlichkeit.
BORMUTH: Sie bekamen es als Herausgeberin von Briefen und Tagebuchaufzeichnungen hier mit einer Form von Legendenbildung zu tun, die einer kritischen Sichtung der Materialien zuwiderlief.
JENS: Die Dokumente sagten etwas anderes, als man wahrhaben wollte. So sprach sich die Familie auch gegen meine Einleitung aus, in der ich erwähnte, daß Hans und Sophie nicht nur in der Jugendbewegung, sondern bis 1935 auch in der Hitler-Jugend aktiv gewesen waren. Das durfte es nicht geben: Helden, die zunächst mitmachten bei dem, was sie später bekämpften. Mir waren und sind historisch »gewordene« Helden jedoch lieber als solche, die gewissermaßen vom Himmel fallen. Dennoch durfte ich meine Sicht der Dinge nicht innerhalb der Edition publizieren; der S. Fischer Verlag veröffentlichte sie separat in der »Neuen Rundschau«. Ich habe mich damals auf diese Form von Zensur eingelassen, da ich nicht wollte, daß die erste Edition von Zeugnissen des studentischen Widerstands durch öffentliche Streitigkeiten entwertet würde. Auch war die Situation insofern nicht einfach, als mein Mann und ich uns gemeinsam mit Inge und Otl Aicher gegen die Stationierung von US-Atomraketen in Mutlangen engagierten.
BORMUTH: War Ihnen so etwas schon bei früheren Editionen passiert? Bei Autoren wie Ernst Bertram und Max Kommerell, die zeitweilig zum George-Kreis gehörten und als durchaus konservativ galten, könnte man sich doch viel eher vorstellen, daß die Beschäftigung mit dem Nachlaß heikel war, daß es Versuche der Einflußnahme gab.
JENS: Nein. Thomas Manns Briefe an Ernst Bertram lagen in Marbach, und auch Frau Kommerell machte mir keine Vorschriften. Sie war außerordentlich großzügig und gab mir ihren Segen: Wenn Sie nach Marbach ins Literaturarchiv fahren, können Sie alles einsehen und alles benutzen, was Sie möchten. Gerade durch die Beschäftigung mit Max Kommerell erweiterte sich meine zunächst recht undifferenzierte Sicht auf den George-Kreis und seine Adepten. Ich verstand plötzlich die mich so befremdende Hörigkeit der Jünger und begriff, was Kommerell durch seinen Bruch mit »dem Meister« wagte. Ich sah aber auch die ungeheure Anstrengung, die ihn, den einstigen Lieblingsjünger, dieser Schritt kostete. Kaum jemand sonst hat es geschafft, eine solche anhaltende Distanz zu gewinnen. Frau Kommerell erzählte mir allerdings, George habe ihren Mann bis zum Ende seines Lebens – er starb 1944 – in Alpträumen verfolgt. Zugleich wurden mir die Kompromisse deutlicher, die er in seinem Leben einging, die Schlupflöcher, die er, der das neue Regime zunächst begrüßt hatte und Mitglied der Reiter-SA war, sich später suchte.
WEICHELT: Was mich an Ihren Arbeiten immer sehr beeindruckt hat, war die Fairneß und Unvoreingenommenheit, mit der Sie auch über Menschen schrieben, mit denen Sie ganz offensichtlich nicht übereinstimmten. Fiel es Ihnen manchmal schwer, solche fremden Weltbilder zu akzeptieren, zumal Sie im Politischen immer klare Positionen vertreten haben?
JENS: Ich habe andere Sichtweisen immer als Ergänzung meiner eigenen Erfahrungen wahrgenommen. Wie schon gesagt: Mir sind Menschen, die gegen Mißstände und Bedingtheiten ihrer Zeit handeln, aber natürlich auch in sie verstrickt sind, lieber als solche, an denen es nichts auszusetzen gibt.
WEICHELT: Wie bringen Sie die Quellen zum Sprechen, wenn Sie das Material für eine Edition zusammenstellen? Liegt diesem ersten Schritt, der Auswahl und Anordnung, nicht auch schon eine Art Interpretation zugrunde?
JENS: Meines Erachtens muß man die Fakten so präsentieren, daß jeder, unabhängig von seiner Einstellung, einen Zugang zu ihnen finden kann. Wenn Sie es schaffen, die geistigen Einflüsse und historischen Hintergründe in den Kommentaren ausgewogen und anschaulich darzustellen, ist schon viel gewonnen. Sie dürfen nichts verfälschen und müssen sich vor Spekulationen hüten. Denn wenn Sie, wie ich in meiner Scholl-Ausgabe, Unliebsames ausblenden und auf bestimmte historische Belege verzichten müssen, hat der Leser keine Chance, sich so objektiv wie möglich zu informieren und möglichst viele Seiten einer Person oder eines Vorgangs zu verstehen.
WEICHELT: Wenn man Ihre Veröffentlichungen liest, merkt man schnell, wie wichtig es Ihnen ist, durch das Arrangement der Texte und die Art ihrer Kommentierung eine erzählerische Gesamtkomposition entstehen zu lassen. Sie haben im Gespräch einmal erwähnt, daß man Ihnen riet, auf der Grundlage Ihrer Anmerkungen zu den Tagebuch-Eintragungen Thomas Manns eine Katia-Mann-Biographie zu schreiben. Wäre das eine Methode, durch chronologisch stimmige Anordnung der Dokumente zu einer biographischen Erzählung zu kommen? Als Herausgeberin hatten Sie ja ein geschärftes Bewußtsein für den redlichen Umgang mit dem historischen Material und seinen Widersprüchen.
JENS: Das Editorische kann eine Vorstufe des Erzählerischen sein, muß es aber nicht. Während es hier nötig ist, die Fakten möglichst umfassend und möglichst vorurteilsfrei zu betrachten und darzustellen, darf eine biographische Arbeit, wie die über Katia Mann, auch schon mal einer subjektiver gewichteten Linie folgen. Die Haltung des Herausgebers hat vor allem kritisch zu sein.
WEICHELT: Worin besteht die Kunst des Edierens?
JENS: Sie müssen versuchen, alle oder jedenfalls möglichst viele Implikationen etwa eines Tagebucheintrags zu berücksichtigen. Wenn Sie sich lange mit einem Autor und seiner Handschrift beschäftigen, lernen Sie ihn ganz anders kennen. Sie erhalten interessante Einblicke in seine Arbeits- und Denkweise. So ging es mir mit den fünf Bänden der Tagebücher Thomas Manns, die ich herausgegeben habe, obwohl ich im Unterschied zu meinem Ehemann kein wirklicher Kenner und Verehrer seines Werkes war.
BORMUTH: Kann es sein, daß Thomas Mann, der sich zu Lebzeiten als Repräsentant des deutschen Kulturbürgers gesehen und stilisiert hat, späteren Generationen mit den Tagebüchern auch einen kritischen Zugang zu seiner Person und seinem Werk eröffnen wollte?
JENS: Ganz sicher. Thomas Mann fühlte sich als Repräsentant eines Kulturbürgertums, dessen Normen er in starkem Maße verinnerlicht hatte. Wie erleichtert war er, als er den 1933 in München zurückgelassenen Koffer mit den alten Tagebüchern wieder in seinen Händen hielt! Er hat aus Angst, seine homoerotischen Neigungen könnten öffentlich werden, sogar später im kalifornischen Exil noch einige Bände verbrannt. Aber die meisten bewahrte er auf. In ihnen drückt er aus, wie ihm zumute war und was es ihn kostete, die ihm so wichtige glanzvolle Fassade der Bürgerlichkeit aufrechtzuerhalten, die ihm Sicherheit garantierte und natürlich auch viel Freude bereitete.
BORMUTH: Als Sie in den achtziger Jahren mit der Edition begannen, kam es auch zu näherem Kontakt mit Golo Mann, der selbst Historiker und Erzähler war.
JENS: Golo Mann befürchtete zunächst, ich würde an Peter de Mendelssohns eher literarische Form des Kommentierens anknüpfen, während es ihm, als Historiker, doch in erster Linie um die zeitgeschichtliche Erhellung der Epoche ging, in welche die Tagebücher eingebettet waren. Mir auch, deshalb haben wir uns so gut verstanden. Ich hätte nie so kommentieren können wie de Mendelssohn, weil mir dafür alle Insider-Kenntnisse fehlten. Für mich waren die Tagebücher vor allem eine große Chronik ihrer Zeit.
WEICHELT: Wie verliefen Ihre Treffen mit Golo Mann?
JENS: Am Anfang war es schwierig. Ich habe ihn immer besucht, wenn ich in Zürich im Thomas-Mann-Archiv zu tun hatte. Er wohnte damals im elterlichen Haus in Kilchberg. Nach und nach bürgerte es sich ein, daß wir meinen Fragenkatalog der Reihe nach abarbeiteten, er also antwortete, soweit er konnte. Später bat er mich, ihn öfter zu besuchen. Weil ihn meine Recherchen zunehmend interessierten, ist er sogar auf den Dachboden gestiegen, um nach alten Briefen zu schauen. Die gab er mir dann mit den Worten: Lesen Sie das zu Hause. Sie können es mir nächstens wiedergeben.
BORMUTH: Entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Ihnen?
JENS: Ja, eines Tages erhielt ich einen Brief mit dem Anfang: »Liebe Inge, wie wäre es, wenn wir die Curialien fortlassen würden?« Das fand ich sehr schön. Und bei »liebe Inge«, »lieber Golo« sind wir dann geblieben.
WEICHELT: Golo Mann gehörte wie seine Eltern zu den deutschen Emigranten. Welche Erfahrungen haben Sie selbst mit jenen gemacht, die Deutschland nach 1933 verlassen haben?
JENS: Ich lernte während meiner Arbeit im Deutschen Literaturarchiv in Marbach viele Emigranten kennen. Bernhard Zeller, der damalige Direktor, stellte mich ihnen vor, vielleicht auch um zu zeigen, daß man sich in Deutschland mit der Vergangenheit auseinandersetzte und versuchte, Ursachenforschung zu betreiben. Aber es waren nur wenige, die sich in den sechziger und siebziger Jahren überhaupt mit Emigration und Remigration beschäftigten.
BORMUTH: Sie haben Katia Mann besucht und geschildert, wie sie auf die Erwähnung der Emigration reagiert hat.
JENS: Ich habe Katia Mann zwei- oder dreimal besucht, und sie hat mir großen Eindruck gemacht, vor allem mit der Szene, auf die Sie anspielen, diesem Ausbruch: »Hinausgeworfen hat man uns! Und das nach einem ehrenwerten Leben!« Das werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen. Daß man eine Emigration aus Deutschland als bürgerliche Schande empfinden konnte, war eine neue Erkenntnis für mich und hat mich sehr bewegt.
WEICHELT: Sie haben in Tübingen enge Beziehungen zu Hans Mayer und Ernst Bloch gepflegt, zwei anderen ehemaligen Emigranten, die nach ihrer Rückkehr nach Deutschland erst im Osten lebten und dann in den Westen gingen.
JENS: Hans Mayer ist wahrscheinlich der Mensch, der meine geistige Biographie am meisten beeinflußt hat. Er hat mich gefördert und gefordert. Für ihn war es selbstverständlich, daß ich das, was er von mir verlangte, konnte und also auch machte. Das setzte er einfach voraus. So etwas kann ungeheuer hilfreich und anregend sein, denn die Kenntnisse, die ich noch nicht hatte, habe ich mir schleunigst angeeignet. Ich wollte mir vor ihm ja keine Blöße geben.
(…)
SINN UND FORM 3/2016, S. 341-352, hier S. 341-345
MATTHIAS WEICHELT: In einem Gespräch über Ihr »Wolken«-Buch haben Sie gesagt: »Bei mir hat das so ungefähr mit sieben Jahren angefangen, bis (...)
LeseprobeWeichelt, Matthias
Lob des Verzettelns.
Gespräch mit Klaus Reichert und Thomas Sparr
MATTHIAS WEICHELT: In einem Gespräch über Ihr »Wolken«-Buch haben Sie gesagt: »Bei mir hat das so ungefähr mit sieben Jahren angefangen, bis dahin hatte ich am Himmel eben immer nur Flugzeuge gesehen und auf einmal, nach der Zerstörung unserer Städte, lag ich auf der Wiese und sah zum ersten Mal echte Wolken am Himmel. Ich habe damals angefangen Wolken zu beschreiben, das war so schön, ich mußte es aufschreiben. Seitdem versuche ich Wolken zu beschreiben und merke, es geht nicht, es ist zu schwer.« Was mich an diesem Zitat interessiert, ist die mit Kriegsende plötzlich eintretende Veränderung des Blicks. Nachdem der Himmel so lange für Gefahren stand, für fliegende Angriffsmaschinen, sieht man nun, was da noch alles ist. Ist Ihnen diese Situation noch gegenwärtig?
KLAUS REICHERT: Sie ist mir noch sehr präsent, in diesem Alter nimmt man so etwas ja schon ziemlich deutlich wahr. Man sah auch die abgeschossenen Flugzeuge, eines stürzte in unseren Garten, darin lag ein toter Engländer. Der Vollalarm kam abends, wenn es dunkel wurde, gegen sieben. Gießen hatte einen großen Fliegerhorst und viel Schwerindustrie und war ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Insofern war das ein idealer Ort zum Bombardieren. Die totale Auslöschung der Stadt geschah am Nikolaustag 1944. Die Wochen davor habe ich immer im Keller statt im Bett verbracht. Ich hatte ein kleines Köfferchen mit ein paar Büchern dabei, wie »Grimms Märchen« mit Illustrationen von Otto Ubbelohde. Der Himmel bestand für mich in dieser Zeit aus unglaublichem Radau, aus ständigem Rasseln. Es gab ja damals diese Sammelbüchsen, fürs Winterhilfswerk und anderes. Mir kam es so vor, als wäre da oben eine gigantische Sammelbüchse, so hat das gescheppert. Und als dann alles abgebrannt war, wohnten wir in einem Dorf, waren bei Bauern einquartiert, bis ich sieben war, im Mai 45. Vor dem Dorf gab es eine ruhige Blumenwiese, ohne Geräusche. Ich habe mich ins Gras gelegt und diese stille Wolke gesehen, die sich kaum bewegt hat, eine wunderbare, perfekte Cumuluswolke, wie ich sie nur aus Märchen- oder Kinderbüchern kannte. Das war ein großes Erlebnis für mich. Und dann habe ich mich am Abend hingesetzt und mit meiner steilen Kinderschrift aufgeschrieben, was ich gesehen hatte. Dann habe ich es noch einmal durchgelesen und gemerkt, das war nicht meine Wolke, das hatte gar nichts mit ihr zu tun.
WEICHELT: Die Wolke war für Sie damit ja auch ein Bild für den Frieden. REICHERT: Ja, vor allem durch diese Stille und dieses Weiß. Und dann dieses Angstlose, das auf einmal da war. Dann kamen die schwarzen Soldaten, die fand ich natürlich toll, die waren kinderlieb und schenkten einem Kaugummi und brachten einem den amerikanischen Ausdruck dafür bei, den ich mir als »Schwing-Gum« übersetzt habe. Chewing Gum, das habe ich nicht verstanden, aber Schwing und Gum, darunter konnte ich mir was vorstellen. Als ich ein bißchen älter war, habe ich auch gehandelt, mit Rheinwein für Zigaretten und Schokolade, Nescafé, Orangen. Das war ziemlich abenteuerlich.
WEICHELT: Haben Sie damals auch die Nervosität der Erwachsenen wahrgenommen, als das Ende des Krieges näherkam?
REICHERT: Ich erinnere mich genau an die Nacht der Ausbombung. Wir wohnten mit den Großeltern im zweiten Stock, dann kam ein großer Hof, dann Lagerräume und dahinter das große Verlagsgebäude meines Großvaters, der den Großherzoglich- Darmstädtischen Schulbuch-Verlag in vierter, fünfter Generation führte. Hier wurden für alle Schulklassen die Schulbücher hergestellt, auch das Lager war im Haus. Das brannte alles lichterloh. Mein Vater war im Krieg Nachrichtenmann, Entschlüsseler, seine Einheit kam aus Paris und war in der Nähe von Gießen stationiert, auf dem Vetzberg neben dem Gleiberg. Von dort aus sah er den Brand. Er fuhr sofort mit dem Fahrrad runter und hat mitgeholfen, Sachen aus dem Haus zu retten. Man konnte nicht mehr viel machen, es waren Sprengbomben gewesen. Und die geretteten Sachen auf dem Hof gingen durch Funkenflug in Flammen auf, da mußte man wieder löschen. Hinter dem Haus hatte mein Großvater einen riesigen Garten, einen Park im Grunde, und dahinter begannen Gänsewiesen, über die sind wir dann mit einem ganzen Treck von Leuten gezogen, darunter eine Tante von mir mit ihrem vier Monate alten Kind. Alle sind geflüchtet aus dieser Stadt, die zu neunzig Prozent zerstört war. Über die Wiesen ging es für uns ins nächste Dorf, wo unser Packer wohnte, den ich sehr geliebt habe, weil er mir Spielzeug gebastelt hat. Ich habe das alles eher mit verwunderten Kinderaugen gesehen. Und gar nicht richtig wahrgenommen, daß es alle meine Spielsachen nicht mehr gab. Ich war ein großer Soldatenspieler, hatte diese kleinen Plastilin-Soldaten, ganze Armeen, Marine, Luftwaffe, auch einen Hitler und einen Göring. Es war keine Trauer, nur Verwunderung darüber, daß die so vertraute Stadt auf einmal nur noch aus Schornsteinen bestand, feuerfest gemauerten Schornsteinen, die in die Luft ragten, und drumherum rauchende Trümmerhaufen. Dann ist meine Mutter mit mir in ein anderes Dorf gekommen, in diesem strengen Winter 44 / 45. Wir sind jeden Morgen die sieben Kilometer nach Gießen gelaufen, wo die Großeltern im Keller hausten und noch ein bißchen was zu essen hatten. Das war ein komisches Gefühl, weil es damals noch Tiefflieger gab und meine Mutter und ich mit unseren schwarzen Mänteln natürlich wunderbare Ziele abgaben … Das habe ich noch im Ohr, dieses Zischen der Kugeln, die um unsere Ohren pfiffen. Wir konnten uns nicht richtig verstecken, weil alles weiß war. Am Abend sind wir die sieben Kilometer wieder zurück. Wir lebten bei einer Bauernfamilie, die genug zu essen hatte, mußten mit am Tisch sitzen und hatten natürlich selbst nichts. Die Bauern hatten drei Buben, einer so alt wie ich, die anderen beiden älter, die haben riesige Koteletts bekommen. Der Kleine konnte seines nicht aufessen, und da sagte die Bäuerin zu meiner Mutter: »Wolle Se’s huuh, sonst gewwe mer’s der Katz«. Und meine Mutter hat gesagt, nein, vielen Dank. Das bißchen, was man gerettet hatte, haben einem die Bauern damals abgenommen gegen ein paar Kartoffeln …
WEICHELT: Hat in dieser Zeit auch schon Ihr Interesse an der Literatur begonnen?
REICHERT: Ja, das hat sehr früh angefangen. Meine Eltern, meine Großmutter und meine Tante haben mir von früh an vorgelesen, die »Grimmschen Märchen« immer wieder, mit den wunderbaren Zeichnungen von Ubbelohde, der ja aus der Marburger Gegend kam. Seine Märchengestalten waren mir alle vertraut vom Gießener Wochenmarkt mit den Bauersfrauen in hessischen Trachten, die dort Obst und Gemüse verkauften.
WEICHELT: Das Personal dieser Märchen war für Sie also keine bloß imaginäre, sondern eine reale und lebendige Welt.
REICHERT: Ja, sehr lebendig. Das Rotkäppchen sah aus wie meine Klassenkameradinnen, mit einem roten oder andersfarbigen Häubchen, wie auf den Zeichnungen von Ubbelohde. Die Marktfrauen hatten einen Knerz wie die Hexen. Ich habe auch ganz früh Kinderausgaben des »Robinson Crusoe« gehabt und bin überhaupt in einer Buchwelt aufgewachsen. Die ganze Familie hat gelesen, es gab ja noch kein Fernsehen. Auch mein erstes Kinoerlebnis war ganz wunderbar. Als mein Vater aus dem Krieg zurückkam, 1946, gab er amerikanischen Offiziersfrauen Deutschunterricht. Und die backten mir zum Geburtstag eine Torte und schenkten mir Comic-Hefte. Oder sie unterstützten meinen Vater, der mit eigenen Händen ein Haus auf dem Grundstück seiner Eltern baute. Einmal sagte eine dieser Amerikanerinnen zu ihm, er sehe so traurig aus, ob sie ihm irgendwie helfen könne? Und er meinte, er bräuchte sieben Pfund Kaffee, um den Dachstuhl und die Ziegel zu bekommen. Und zwei Stangen Zigaretten für die Klosettschüssel. Das haben sie ihm dann gegeben. Eine ganz unglaubliche Großzügigkeit. Einige hatten Kinder, mit denen durfte ich spielen und die luden mich auch zu sich ein. Ich werde nie vergessen, wie einer dieser Buben, etwa mein Alter, Geburtstag hatte und zwanzig Ami-Kinder eingeladen wurden und ich auch. Ich verstand natürlich kein Wort außer Schwing-Gum, aber ich durfte mitgehen in das einzige Kino in Gießen, das nur für die Alliierten da war und für diesen Kindergeburtstag geöffnet wurde. Wir haben »Goldrausch« von Chaplin gesehen, mein allererster Film. Heute noch geht mir das Herz auf, wenn ich an diesen Film denke und an die Umstände, unter denen ich ihn sah.
THOMAS SPARR: Das ist eine schöne Doppelgeschichte. Das Kriegsende lehrte Sie, die Wolken zu sehen, und brachte Sie mit dem Englischen zusammen. Sie sind auch deshalb Anglist?
REICHERT: Nein, ich bin eher Anglist geworden aus Protest gegen ein autoritäres Gymnasium, wo man nur Latein und Griechisch gepaukt, aber nicht gelernt hat, wie man diese wunderbare Literatur hätte verstehen können. Der Unterricht bestand nur aus grammatischen Beispielen, es ging um attische Formen, um dorische und so weiter. Es ging nie um Literatur, immer nur um Grammatik. Dagegen war für mich die deutsche, aber auch die englische Literatur etwas Lebendiges, das konnte ich verstehen. Die englischen Sachen konnte ich natürlich nicht im Original lesen, aber es gab in dieser kurzen Spanne vom Kriegsende bis zur Gründung der Bundesrepublik unglaublich viele Literaturzeitschriften. Und mein Vater hatte fast alle abonniert. Die »Story«, herausgegeben von Heinrich Ledig in Stuttgart, mit einer monatlichen Auflage von fünfzigtausend Exemplaren, zum Preis von einer Reichsmark. Dann gab es »Die Erzählung« aus Konstanz und »Das Karussell«, das Arnold Bode in Kassel machte, der später die Documenta gründete. Da standen in ein- und demselben Heft Manfred Hausmann, der ja ein Nazi-Autor war, und ein völlig unbekannter junger Schriftsteller namens Heinrich Böll. Dann gab es Willi Weismann in München mit der Zeitschrift »Die Fähre«. Da habe ich zum Beispiel einen Text auf deutsch gelesen, bei dem ich überhaupt nichts verstand und dachte, das muß was Besonderes sein, wenn du das nicht verstehst. Das war ein Auszug der »Anna-Livia"-Übersetzung aus »Finnegans Wake«, die Goyert 1933 auf Wunsch von Joyce gemacht hatte und dann aber nicht mehr erscheinen durfte. Damit begann meine Faszination für Joyce. Und dann gab es auch noch »Das goldene Tor«, das Döblin in Mainz herausgab. Das war die einzige Zeitschrift, die nicht nur schöne Literatur machte, sondern auch politisch erziehen wollte. Dort las ich zum Beispiel einen großen Aufsatz von Ludwig Marcuse über die Geschichte der nicht gebauten Heinrich-Heine-Denkmäler in Deutschland. Diese Zeitschriften waren ein Segen.
SINN UND FORM 2/2020, S.230-243, hier S. 230-233
MATTHIAS WEICHELT: Herr Kohlhaase, Sie haben eine Wohnung in Ihrer Geburtsstadt Berlin, wohnen mit Ihrer Frau Emöke Pöstenyi aber seit den (...)
LeseprobeWeichelt, Matthias
»Die Geheimnisse der Prosa sind von stillerer Art.« Gespräch mit Elisa Primavera-Lévy und Wolfgang Kohlhaase
MATTHIAS WEICHELT: Herr Kohlhaase, Sie haben eine Wohnung in Ihrer Geburtsstadt Berlin, wohnen mit Ihrer Frau Emöke Pöstenyi aber seit den sechziger Jahren auch in diesem Haus in Neu Reichenwalde, fernab der Literatur und Filmkreise. Damals waren Sie als Drehbuchautor in der DDR schon
sehr bekannt. Wie hat man Sie hier auf dem Land als Zugezogenen, als Städter aufgenommen?
WOLFGANG KOHLHAASE: Ziemlich am Anfang war ich noch viel in Berlin, einmal bin ich mit dem Rad hier rausgekommen und habe das dann stehenlassen. Ich wollte ausprobieren, wie lange es steht. Eine Art Check auf die sozialen Verabredungen in der Gegend. Nach ungefähr zwei Wochen war es weg. Zwanzig Jahre später sagte mein Nachbar zu mir, wenn Sie die großen Birnen nicht mehr finden, die sie hier immer gesammelt haben, die hat mein Sohn. Und wenn Sie so ein Tonrohr suchen, das hier mal in der Wiese gelegen hat, das hat auch mein Sohn. Dieser Sohn war ein Mann in den Siebzigern, der einen halben Arm verloren hatte im Krieg, und der Vater war in den Neunzigern. Es war ein abgelagerter Konflikt zwischen Vater und Sohn. Und dann kam das schöne Wort »übrigens«. Übrigens, sagte er, was ich Ihnen schon lange sagen wollte, ich habe bei Ihnen mal ein Rad sichergestellt. Na, Sie waren ja noch nicht ganz hier und ich bin immer mal eine Runde ums Haus gegangen und habe nachgesehen, ob alles in Ordnung ist. Und da lehnte hinter dem Haus ein Rad. Da hab’ ich gedacht, wer weiß, was für ein Spitzbube hier ein Rad hingestellt hat, und hab’ es sichergestellt. Nun konnte er mit diesem Rad aber sein Leben lang nicht fahren, denn ich hätte es ja wiedererkannt. Und der Gedanke saß bei ihm tief: Der sieht das.
WEICHELT: Hat er es Ihnen zurückgegeben?
KOHLHAASE: Ich hab’s nicht genommen. Das hat ihn enttäuscht. Ich sagte, wissen Sie – der hieß auch noch Marx –, wissen Sie, Herr Marx, wenn Sie auf das Rad so lange achtgegeben haben und das ist immer noch da, dann behalten Sie es doch. Dieses Ausbleiben einer kleinen Belohnung hat ihn nicht gefreut.
WEICHELT: Diese Geschichte ist ja fast schon eine Filmszene oder eine kleine Erzählung.
KOHLHAASE: Einmal kam er und trank ein Bier bei mir, er kam immer mal vorbei. Ich guckte Fußball und sagte, gucken Sie auch Fußball, Herr Marx? Und er: Wegen Fußball habe ich 1909 bei den Husaren drei Tage mittleren Arrest gekriegt. Machte eine kleine Pause, in die ich natürlich reinging – was ist denn da passiert? Wissen Sie, sagte er, wir hatten so einen verrückten Leutnant, der wollte immer, daß wir im Kasernenhof Fußball spielen. Die, die sich dafür interessiert haben, wurden vorne eingeteilt bei den Stürmern, und die, die sich nicht so interessiert haben wie ich, waren hinten als Verteidiger. Irgendwie kam ich in die Nähe des Balles und habe ihn ins eigene Tor geschossen. Da kam der Leutnant angerannt und sagte, Mann Gottes, sind Sie verrückt geworden, ohne Bedrängnis, ohne Not schießen Sie den Ball ins eigene Tor! Da habe ich gesagt, Herr Leutnant, das hatte ich mir von Anfang an vorgenommen, sowie ich in den Besitz des Balles komme, schieße ich ihn auf kürzestem Wege in das nächstgelegene Tor. Und weniger das Selbsttor als der Vorsatz des Selbsttors hat den Leutnant so von der Rolle gebracht, daß er drei Tage Arrest bei Wasser und Brot anordnete. Na ja, solche und ähnliche Geschichten erzählt man sich auf dem Land. Wie die über einen Menschen, der Koslowski hieß, mit dem war mein Nachbar zusammen bei den Husaren in Brandenburg. Ich habe ein paar Notizen gemacht, ein fiktives Gespräch mit einem Kohlenhändler, der genau weiß, wer wo stationiert war.
ELISA PRIMAVERA-LÉVY: Das ist in Ihre Erzählung »Kohlen und Kavallerie« eingegangen. Der Kohlenhändler war einst Ulan in Leipzig und fachsimpelt mit dem Ich-Erzähler über Kürassiere in Pasewalk, Dragoner in Parchim und Husaren in Stendal.
KOHLHAASE: Ja, und mit Koslowski war Marx 1914 im Ersten Krieg, zuerst in Belgien, wo Koslowski hinter den Mädchen her war. Dann wurden sie nach Serbien versetzt, und da hat Marx zu Koslowski gesagt, das ist hier nicht wie in Belgien mit den Mädchen, der Serbe ist falsch. Da mußt du immer dran denken, der Serbe ist falsch. Und Koslowski weiter mit den Mädchen, und dann lag er totgestochen hinter dem letzten Haus. Er wollte ja nicht hören.
WEICHELT: Um Liebesangelegenheiten im weiteren Sinne geht es ja auch in Ihrem Text »Onkel, hast du Feuer?«, über den wir uns gern unterhalten würden. KOHLHAASE: Ich ahne überhaupt nicht, was auf mich zukommt.
PRIMAVERA-LÉVY: Es gibt viele Gespräche mit Ihnen über Ihr filmisches Schaffen. Wir möchten in erster Linie über Ihre schriftstellerische Arbeit sprechen, schließlich sind mehrere Texte aus Ihrem Erzählungsband »Silvester mit Balzac« in den siebziger Jahren zuerst in Sinn und Form erschienen. »Onkel, hast du Feuer?«, Ihr bisher unveröffentlichtes Exposé, hat uns beim Lesen sofort be geistert. Die Handlung spielt offensichtlich in der DDR, aber ob in den sechziger oder siebziger Jahren, ist nicht leicht zu sagen. Wissen Sie noch, wann Sie es geschrieben haben und was der Anlaß dafür war?
KOHLHAASE: Ich wollte etwas über das machen, was man heute die Medienwelt nennt, über den permanenten Schwindel der hergestellten Diskussionsstoffe und die sogenannte öffentliche Meinung. Und da hatte ich eine sehr schmale Idee. Was man so als Redensart ständig hört: Mir geht das vollkommen auf den Sack ... Warum soll es immer nur auf den Sack gehen oder aufs Herz? Ich habe gesagt, wie ist es, wenn es jemanden sozusagen in der Mitte seiner Männlichkeit trifft? Und wieviel Komik ist daraus zu gewinnen? Dann habe ich an die Manipulation der gesammelten Nachrichten gedacht. Aus dem nicht zum Alltag gehörenden, aber eher harmlosen Wunsch eines Zehnjährigen, eine Zigarette zu rauchen, macht man einen Beitrag über die Schädlichkeit des Rauchens überhaupt. Und ich habe diesen Satz geschrieben, der auch in der DDR dauernd in der Luft hing, als permanente Drohung: »Erdöl ist teurer geworden.« Das Problem mit dem Erdöl und den Russen geht ja dreißig Jahre und länger zurück. Die haben auch früher manchmal auf und zugedreht. Dann wurde die Braunkohle wieder in Gang gebracht oder wieder eingebuddelt und es hieß: Unser Erdöl wird teurer – wenn Öl teurer wird, wird alles teurer, wenn alles teurer wird, wird die Moral schlechter, warum sollen wir noch über gesellschaftlich Problematisches reden? Es blieb immer irgendwie auf dieser Spaßebene ... Bei Geschichten über Impotenz ist es auch so – die können ja komisch sein. Da ist jemand, der sich plötzlich vor sich selbst fürchtet, der etwas fürchtet, was ihm noch nie passiert ist. Über die Rolle von Plot und Figuren in dieser Geschichte habe ich noch gar nicht entschieden. Wenn man darüber nachdenkt, kommt man dahinter, daß sich das gar nicht trennen läßt: Die Figur bedient den Plot, der Plot bedient die Figur. Man kann also gar nicht so eindeutig sagen, ob der Plot das Sujet ist oder die Figur.
WEICHELT: Das Bemerkenswerte an diesem Text ist, daß man nicht mit Bestimmtheit sagen kann, ob es ein literarischer Text ist oder eine Filmvorlage. Es steckt beides drin. Der Text präsentiert sich als Filmexposé, funktioniert im Grunde aber auch als Erzählung.
KOHLHAASE: Da bin ich ganz unsicher, ob das wirklich merkwürdig genug ist als Erzählung. Und die Sache hat ja eine gewisse Atemlosigkeit, aus der man keinen soliden, stabilen Prosa-Atem machen darf.
WEICHELT: Das denke ich auch, die Lücken gehören zur Stärke dieses Textes. Und mir scheint, wie gesagt, das Besondere zu sein, daß hier Ihre beiden Ausdrucksweisen, das filmische und das literarische Schreiben, zusammenkommen. Das Szenische spielt darin eine große Rolle, aber auch das Erzählerische. Es gibt diese schnellen Wechsel zwischen den Handlungsorten, die gar nicht erklärt werden, und trotzdem bleibt die Geschichte in sich stimmig und wird getragen von einer großen Leichtigkeit, Komik und Lebendigkeit.
KOHLHAASE: Man könnte hier auch noch dichter zu den Figuren gehen, denn die sind auf jeden Fall da, sowohl die mit einem Vorbild als auch die ausgedachten. Ich hab’ noch mal geblättert in den liegengebliebenen Seiten und gedacht, man könnte auch noch einen älteren Mann dazunehmen, als Ehemann der Frau, die jetzt nur dazu gut ist, Hoffie darauf anzusprechen, daß er schon wieder ein Mädchen mitbringt. Dieser Mann hätte sich in seinem 65. Lebensjahr ins Bett gelegt und gesagt, ich stehe nicht wieder auf, ich spiele nicht mehr mit, ich bleibe liegen ... Die Geschichte wäre dann die: Er war im Krieg gewesen und er war Schneider, jedes Regiment brauchte einen Schneider, wenn die Hosen nicht mehr paßten oder wie auch immer. Und seine Frau war katholisch und eine Polin, die es irgendwie nach Deutschland verschlagen hatte. Er schlief nicht mehr mit ihr, obgleich sie schön war, sie wiederum sagte, Gott hat das anders geplant, Gott will, daß die Menschen sich vermehren, aber wenn das nicht geht, dann geht’s nicht. Und so lebt sie mit ihm ein schizophrenes Leben. Ab und zu rennen sie ungeheuer um den Tisch, weil er sie jagt, aber nie kriegt. Sonst liegt er im Bett und guckt fern. Also sagen wir mal, zu diesen Figuren hätte ich eine Tür.
PRIMAVERA-LÉVY: Meine Vermutung war, das Exposé könnte etwa aus derselben Zeit wie Ihr Film »Solo Sunny« (1978 / 79) stammen, weil die Figuren sich ähneln, auffallend etwa in ihrer Mühelosigkeit des Anbandelns, was man als eine ganz eigene DDR-Erotik bezeichnen könnte. Wissen Sie noch, was Sie mit dem Text vorhatten?
KOHLHAASE: Eigentlich hatte ich vor, einen Film zu machen. Und ich glaube, Konrad Wolf starb, der aber nicht auf die Geschichte aufgesprungen war, er sagte zwar, es interessiere ihn, aber dann schied er aus. Und Frank Beyer starb auch. Es starben also Leute, mit denen ich gearbeitet hatte, dennoch dachte ich, vielleicht ist es trotzdem ein Film und kein Erzählstück.
WEICHELT: Bei Hoffie durchmischen sich das Filmische und das Erzählerische auf eine spezielle Weise. Irgendwann spielen auch Spiegel eine größere Rolle. Er sieht sich dauernd selber, schaltet immer den Fernseher an, wenn eine Frau da ist, sieht sich bei den Umarmungen im Spiegel und merkt plötzlich, was daran seltsam ist. Das macht ja die Komik aus: Als Casanova ist er eher ungeschickt, kann weder unterhalten noch sich als Liebhaber betätigen, man fragt sich, worin eigentlich seine Anziehungskraft liegt.
KOHLHAASE: Ich habe mal darüber nachgedacht, »Nicht-Geschichten« zu erzählen, im Sinne von: hat nicht geklappt. Da dachte ich an so einen Drehstab wie in »Onkel, hast du Feuer?«, der auf dem Land unterwegs ist. Die Dorfjungs und Dorfmädchen lösen für ein langes Wochenende ihre Verabredungen, und die flotten Jungs vom Film sind nicht die Schauspieler, sondern die Kameraassistenten. Das eine Mal überredet einer davon ein schönes Mädchen zu einem langen Spaziergang, bei dem es immer bedrohlicher wird, weil sechs Leute aus dem Dorf hinter ihnen herlaufen und allmählich den Abstand verkürzen. Und als es schon ganz gefährlich aussieht, kommt auf dem Fahrrad ein Volkspolizist und der Assistent sagt, wenn ich Sie einen Augenblick in Anspruch nehmen dürfte, ich fühle mich hier bedroht und verfolgt ... Und der hört sich das alles an, stellt sein Fahrrad ab, hört sich das weiter an und haut dann seiner Tochter eine runter, eine ungeheure Schelle. Die zweite Geschichte, die mit der ersten korrespondiert, wäre sozusagen nicht mehr im Wald, nicht beim Spazierengehen, nicht in der Nähe dieser Dorfrabauken, sondern bei ihr zu Hause. Sie gehen leise eine Treppe hoch, die knarrt, so ist das, aber alles wunderbar, das Ziel ist erreicht. Und da fällt ihm ein, was ihm vorher hätte einfallen sollen, noch mal die Blase entleeren, das schafft lockerere Haltung. Und dann sagt er, bin gleich wieder da, bis gleich. Er also wieder runter und rennt irgendwo dagegen, es klappert. Aber da ist die Tür, er ist wieder oben, in ihrem Zimmer. Nur im Bett sitzen aufrecht die erschrockenen Eltern, weil er die Tür verwechselt hat. Das war die zweite Nichtgeschichte. Die dritte Nichtgeschichte wäre: In keinem Restaurant, in keiner Wohnung, in keinem Wald, aber hier um die Ecke muß es doch erträgliche Örtlichkeiten geben. An einer mit Efeu zugewachsenen Mauer, wenn überhaupt, dann hier. Und er guckt nach links und nach rechts und lockert sozusagen die zu enge Bekleidung, da springt ein ungeheurer Kater aus dem Efeu, ein lebensgefährlich gesonnener.
WEICHELT: Das klingt wie ein Dekamerone des Scheiterns, man erzählt erotische Geschichten, die aber nicht zu dem führen, wozu sie führen sollen.
KOHLHAASE: Eben. Und wenn du so etwas pur erzählst, dann muß es sehr gut sein. Mit Ironie kannst du das sozusagen aus dem Handgelenk machen. In jedem
Fall darf man dieses Impotenzproblem, dieses Hemmungsproblem nicht aus dem Auge verlieren. Wenn man in der Prosa komisch schreiben will, geht das nur über die Situation. In »Onkel, hast du Feuer?« sind für mich die Tagebau-Szenen am wenigsten überzeugend. Das wird einfach nur zitiert und hat eigentlich kein Fleisch. Würde man mich fragen, welcher Teil ist am ehesten DDR, dann käme ich auf diesen Aspekt, da stehen die Fragen der Wahrheit im Vordergrund. Das gab’s nur in der DDR, die Frage nach der Wirklichkeit verbittet sich die heutige Welt entschieden.
(…)
SINN UND FORM 1/2023, S. 21-35, hier S. 21-25