Schock, Ralph
geb. 1952 in Ottweiler / Saarland, langjähriger Literaturredakteur beim Saarländischen Rundfunk. 2017 erschien »Kaffeeschmuggler und Steckdosenmäuse«, 2021 »Nach Kolchis. Faszination Georgien – Reiseimpressionen« (Hg.). (Stand 5/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 3/2008 | Gespräch mit Hartmut Lange
- 5/2009 | Gespräch mit Christoph Hein
- 2/2011 | »Am besten gefiel mir wieder Regler«. Gustav Regler und Klaus Mann
- 5/2011 | »Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren.« Gespräch mit Peter Kurzeck
- 5/2013 | Ein Exil, das kein Ende nahm. Über David Luschnat
- 4/2014 | »Die Spuren des Lebens der Armen verschwinden«. Ein Gespräch mit Gert Heidenreich über »Die andere Heimat«
- 2/2015 | »Eine andere Wahrnehmung der Welt«. Ein Gespräch über Gedichte mit Jan Wagner
- 5/2017 | Monsieur Schneider
- 2/2019 | »Ich sehe mich als Überlebenden meiner Krisen«. Gespräch mit Wilhelm Genazino
- 4/2020 | Die Abkürzung. Eine jugoslawische Erzählung
- 2/2023 | Vierhundertfünfundsechzig
- 3/2024 | Vom Wachhalten der Erinnerung. Laudatio auf Katja Petrowskaja
- 5/2024 | Den Augenblick beim Schopf fassen. Ein Gespräch über Literatur im Radio, das Glück der Spontaneität und Freundschaften mit Schriftstellern. Gespräch mit Arnfrid Astel
- 5/2024 | Wenn ich so schreiben würde. Betriebsprotokolle
RALPH SCHOCK: Viele Ihrer Novellen, auch die Künstlernovellen über Nietzsche, Liszt, Kleist und Schnitzler, kreisen um Endlichkeit und Tod. Warum (...)
LeseprobeSchock, Ralph
Gespräch mit Hartmut Lange
RALPH SCHOCK: Viele Ihrer Novellen, auch die Künstlernovellen über Nietzsche, Liszt, Kleist und Schnitzler, kreisen um Endlichkeit und Tod. Warum beschäftigt Sie das Thema so sehr?
HARTMUT LANGE: Der Tod beschäftigt einen immer dann, wenn man den Zenit seiner Lebenskurve überschritten hat und sieht, daß es nicht nach oben, sondern nach unten geht. Mich beschäftigt der Tod schon seit meinem vierzigsten Lebensjahr.
SCHOCK: Da hatten Sie den Zenit Ihrer Lebenskurve doch noch nicht erreicht.
LANGE: Da war ich schon drüber hinweg. Da war der Hegelsche Rationalismus, jene Form von Vernunft, die die Ich-Perspektive des einzelnen zur Menschheit und zur Weltgeschichte hin überschreitet und der ich so lange anhing, bei mir schon passé. Das geschah in dem Augenblick, als ich mein Selbst entdeckte. Ich fühlte mich plötzlich Philosophen wie Kierkegaard sehr nahe. Kierkegaard fürchtete vor allem die Endlichkeit, und er verzweifelte fast daran. Bei seiner Flucht in den Glauben gibt es Parallelen zu Pascal. Pascal versuchte mit Transzendenzentwürfen über das Nichts und die Leere hinwegzukommen. Bei mir war es ähnlich. Ich entdeckte plötzlich, daß der Rationalismus mir die Welt zwar erklären kann, aber an meiner existentiellen Ungewißheit nichts ändert: ich bin nichts als eine flüchtige Erscheinung. Aber das Ego will ja nicht einfach von der Erde weggefegt werden, und so kommt es, daß man sich so lange mit dem Tod beschäftigt, bis einem diese Grenzüberschreitung vertraut wird. Goethe, der ja noch in einer pantheistischen Gewißheit lebte, sagte von sich, er beschäftige sich so lange mit der Natur, bis er wünscht, dieselbe zu sein. Da ist der Schritt vom unerlösten Subjekt zur angeschauten Objektivität getan. Auch ich war gewillt, eine Brücke zur Transzendenz zu finden. Ich habe »Die Selbstverbrennung« geschrieben, einen theologischen Roman, in dem ich mich als Pfarrer sah, als Nihilist, der versucht, durch Verstandesfrömmigkeit die Angst vor der Endlichkeit zu überwinden. Das gelingt natürlich nicht. Wenn man Rationalist ist, muß man die Dürre und die Kälte des Nihilismus aushalten. Nur ist es dann so, daß man sich fast nur noch mit dem Nichts beschäftigt. Und das Nichts, das ist ja der Tod.
SCHOCK: Sie sprachen vom unerlösten Subjekt. Als Sie mit dem Schreiben anfingen, waren Sie Marxist. Auch der Marxismus hat die Unerlöstheit des Subjekts zum Thema. Was ist der Unterschied zwischen existentieller und marxistischer Unerlöstheit?
LANGE: Der Marxismus ist eine Soziallehre, die auf einem Glücks- oder Heilsversprechen basiert, auf einer Teleologie, einer Geschichtsentwicklung zum Besseren hin. Er sieht das Subjekt durch seine sozialen Bedingungen, seine Zivilisation determiniert, aber er sieht es nicht als Einzelwesen. Der Marxismus begreift das Subjekt nicht existentiell, sondern gesellschaftlich und geschichtlich. Als Marxist können Sie sagen: Wenn der Mensch sozial befreit ist, dann ist der Endpunkt der Geschichte erreicht, dann herrscht Vernunft in Staat und Produktion. Aber mein Erschrecken bestand ja in der Erkenntnis, daß der Marxismus die existentielle Basis des Subjekts, also Angst, Endlichkeit und Tod, ausblendet. Wir wurden doch dazu erzogen, unser Ich gänzlich aus dem Spiel zu lassen. Uns wurde gesagt: habt euch nicht so albern mit euerm Selbst. Jede Art Subjektivismus wurde hart bekämpft. In meiner Not habe ich mich dann an anderen Philosophien festgehalten. Ich wechselte von der Hegelschen Erkenntniseschatologie und der Marxschen Soziallehre, die ja beide streng rationalistisch und vernunftorientiert sind, zu Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger und Kierkegaard. Kierkegaard und Pascal fassen die Transzendenz noch christlich auf. Bei Schopenhauer ist das schon nicht mehr der Fall, und Nietzsche ist bereits die Antwort auf den säkularen Nihilismus. Wenn man begreift, daß man sich zwar politisch und sozial, aber nicht existentiell befreien kann, dann wird die Luft dünn, dann beginnt die Bodenlosigkeit, der freie Fall. Ein freier Fall, der kein Ende kennt und in dem man versuchen muß, zur Ruhe zu kommen.
SCHOCK: Bei Ihnen hat dieses Pascalsche Erschrecken aber keine religiöstheologische Grundierung mehr.
LANGE: Pascal gelang es noch, in die Apologie des Katholizismus zu flüchten. Auch Kierkegaard, obwohl hochgradig verzweifelt, gelang noch die Flucht in die Glaubensgewißheit. Bei ihm ist die Angst noch fest mit der Erbsünde verbunden. Das ist bei uns inzwischen alles weg. Sie können heute das metaphysische Erschrecken vor der Endlichkeit nicht mehr mit einem christlichen Transzendenzversprechen überwinden, und auch mit keinem anderen mehr. Sie können aber, und das ist bei mir der Fall, ein Transzendenzbegehren entwickeln. Das findet zwar keine Erfüllung, ist aber in sittlicher Hinsicht besser, als wenn Sie keins hätten. Es gibt von Pascal den wunderbaren Satz: »Dies verrät äußerste Geistesschwäche, wenn der Mensch nicht erkennt, wie groß sein Elend ohne Gott ist.« Damit hat er nicht die Gottesgewißheit postuliert, sondern nur gesagt: Wenn es Gott nicht gibt und der Mensch darüber nicht erschrickt, ist er geistlos. Dem würde ich zustimmen, denn ich wünschte immer noch, es gäbe Gott, obwohl ich überzeugt bin, daß es ihn nicht gibt.
SCHOCK: Könnte man das nicht metaphysische Ironie nennen?
LANGE: Es ist ein unerfülltes Transzendenzbedürfnis. Ich versuche, der Grauzone der Verzweiflung zu entkommen. Ironie hat dort keinen Platz.
SCHOCK: Man könnte so tun, als gäbe es Gott.
LANGE: Nein, das kann man nicht, das ist naiv. Der Unterschied ist, daß Sie Gott brauchen, aber wissen, daß es ihn nicht gibt. Sie können nicht so tun, als gäbe es ihn, das wäre doch Maskerade. Ich möchte den sehen, der das schafft und damit leben kann.
SCHOCK: Wie gelingt es Ihnen, Ihr Transzendenzbegehren zu stillen? Durch das Schreiben?
LANGE: Ja, der Künstler ist ein Selbstheiler, der seine Empfindlichkeit und Verwundbarkeit ins Ästhetische hebt und sich so ein Erfolgserlebnis verschafft. Mit jeder Sache, die man sich von der Seele schreibt, wird man ein Stück freier. Wobei im Rücken schon wieder die nächste Tür aufgeht und das nächste Gespenst erscheint, das man wegschreiben muß.
SCHOCK: Was ist denn das Erfolgserlebnis des Autors Hartmut Lange?
LANGE: Daß etwas gelungen ist.
SCHOCK: Eine Novelle, ein Satz, ein Gedanke?
LANGE: Nein, die Beschreibung eines Zustands. Wenn ich feststelle, daß ich meine eigene und auch einen Teil der objektiven Wahrheit ins Ästhetische gehoben habe, gibt mir das ein Gefühl der Genugtuung. Kunst kommt von Können, und wenn es einem gelingt, sein Können zu beweisen, hat man ein Erfolgserlebnis. Hinzu kommt der Wunsch zu überdauern. Markus Lüpertz wurde einmal gefragt, warum er male. Er antwortete, daß er in den Köpfen der Menschen drei, vier Sekunden länger zu überleben hoffe. Sartre sagte, er habe keine Angst vor seinem Sterben, aber vor dem Tod der Gattung, da er dann in ihrem Gedächtnis nicht mehr aufgehoben wäre. Der schlimmste Gedanke für mich ist, daß das ganze Bemühen um Transzendenz eines Tages durch veränderte kosmische Bedingungen - sofern man der Astrophysik glauben darf - einfach weggewischt wird.
SCHOCK: Das heißt, vor Ihnen tut sich ein dreifacher Gefahrenhorizont auf: erstens der nihilistische Abgrund, zweitens die Schreibtischkante, mit der Sie ihn verdecken, und drittens das Gefühl, daß beide, Abgrund wie Schreibtisch, zusammen mit der Gattung einmal verschwinden könnten.
LANGE: Dann hätte selbst der Nihilismus keinen Sinn mehr. Der Nihilismus definiert sich ja mittels Affirmation. Man will etwas behalten, schafft es aber nicht. Man sieht, daß es aufgezehrt wird. Wenn wir wissen, daß wir aufgrund sich ändernder kosmischer Bedingungen als Gattung verschwinden, erlischt nicht nur die Sozial-, Subjekt- und Kulturgeschichte, sondern auch das Andenken an die Menschheit überhaupt.
[...]
SINN UND FORM 3/2008, S. 329-331
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RAPLH SCHOCK: Vor mehr als 25 Jahren erschien Ihre Novelle »Der fremde Freund«. Sie fand große Resonanz. Wie denken Sie heute über diesen Text?
CHRISTOPH HEIN: Tatsächlich habe ich ihn schon 1981 geschrieben, vor 28 Jahren. Das Buch war für mich sehr wichtig, da es viel übersetzt wurde und immer wieder überraschende Reaktionen hervorrief. Beim Wiederlesen bekommt man mit, was man geschafft, was man nicht geschafft hat. Man schaut mit dem Interesse eines sehr viel älteren Kollegen auf die Arbeit dieses jungen Menschen.
SCHOCK: Sind Sie denn zufrieden mit der Arbeit des jungen Kollegen?
(...)
Schock, Ralph
Gespräch mit Christoph Hein
RAPLH SCHOCK: Vor mehr als 25 Jahren erschien Ihre Novelle »Der fremde Freund«. Sie fand große Resonanz. Wie denken Sie heute über diesen Text?
CHRISTOPH HEIN: Tatsächlich habe ich ihn schon 1981 geschrieben, vor 28 Jahren. Das Buch war für mich sehr wichtig, da es viel übersetzt wurde und immer wieder überraschende Reaktionen hervorrief. Beim Wiederlesen bekommt man mit, was man geschafft, was man nicht geschafft hat. Man schaut mit dem Interesse eines sehr viel älteren Kollegen auf die Arbeit dieses jungen Menschen.
SCHOCK: Sind Sie denn zufrieden mit der Arbeit des jungen Kollegen?
HEIN: Von ein paar Sachen bin ich sehr angetan und frage mich, ob ich dazu noch in der Lage wäre.
SCHOCK: Vielleicht war er in diesen Punkten weiter als der ältere Kollege?
HEIN: Er war auf jeden Fall unbeschwerter. Ich glaube, das hat mit der schönen Naivität zu tun, die man im Laufe des Lebens verliert. Ein Kind bewegt sich ja viel eleganter als ein zu Bewußtsein gekommener Erwachsener.
SCHOCK: Das sagt auch Kleist in seinem berühmten Aufsatz über das Marionettentheater. Fühlen Sie sich, um im Bild zu bleiben, denn heute eher als Marionette als früher?
HEIN: Nein, das nicht. Aber alles ist schwieriger geworden, weil man mehr Erfahrung hat. In anderen Berufen ist Erfahrung hilfreich, in meinem Beruf ist sie auch eine Erschwernis. Wenn man über jede Bewegung nachdenkt, die man in der Kindheit und Jugend mit Eleganz und Anmut einfach ausgeführt hat, wenn man sie also bewußt produziert, dann ist das eine Schwierigkeit.
SCHOCK: Kleist meinte, der gute Schauspieler müsse die Anstrengung vergessen machen, um die Anmut der Marionette wiederzuerlangen. Wenn er anfängt zu lernen und sich seines Tuns bewußt wird, verliert er seine ursprüngliche Naivität und muß sie sozusagen auf einer höheren Stufe zurückgewinnen.
HEIN: Kleist erinnert auch an die anmutige Skulptur des dornausziehenden Knaben. Er beschreibt, wie ein Freund eine ähnliche Haltung im Spiegel sah und vergeblich versuchte, sie nachzumachen.
SCHOCK: Der Knabe erleidet durch das Bewußtsein ein Lebenstrauma – wir nähern uns der Claudia Ihres Buches. »Der fremde Freund«, 1982 in der DDR erschienen, kam ein Jahr später in der Bundesrepublik unter dem Titel »Drachenblut« heraus. Die Änderung wurde nötig, weil gerade ein Buch von Klaus Harpprecht erschienen war, »Der fremde Freund: Amerika, eine innere Geschichte«. Welcher Titel gefällt Ihnen im nachhinein besser?
HEIN: Mein Titel ist nach wie vor »Der fremde Freund«. Ich glaube, er beschreibt auch die Novelle viel genauer. »Drachenblut« ist mir ein wenig zu düster, zu mythologisch belastet. Da denke ich eher an Fantasy-Literatur.
SCHOCK: Es ist natürlich eine Anspielung auf die Siegfriedsage, auf das Bad im Drachenblut und das berühmte Lindenblatt, das sich auf die Schulter des Helden legt – die verwundbare Stelle, an der Hagen von Tronje später mit der Lanze zustößt. Aber Sie haben nicht protestiert gegen diese mythologische Assoziation.
HEIN: Nein, ich fand die Titeländerung unnötig. Rein rechtlich war sie es auch, weil meine Novelle vor dem Harpprecht-Buch erschienen war. Ich wurde um einen neuen Titel gebeten, aber da ich keinen hatte, überließ ich es dem Luchterhand Verlag, einen zu finden. Diesen neuen Titel habe ich dann registriert und hingenommen. Bei den Übersetzungen haben sich einige Länder für diesen, andere für jenen Titel entschieden, also etwa »Dragonblood« oder »The Distant Lover«.
SCHOCK: Geschah das unabhängig von der Blockzugehörigkeit? Oder übernahmen beispielsweise die polnischen, russischen, rumänischen Übersetzungen den DDR-Titel?
HEIN: Das war den Verlagen freigestellt. Meist haben sie den genommen, der zu ihrer Sprache oder ihrer Kultur besser paßte.
SCHOCK: Sind denn beide Fassungen textidentisch?
HEIN: Da wurde nicht ein Komma verändert. So etwas habe ich nie akzeptiert. Texte sind für mich heilig, und zwar nicht nur die eigenen. Das hat vielleicht mit meiner Herkunft zu tun. Als Pfarrerssohn habe ich das so gelernt.
SCHOCK: Die Novelle beginnt, wenn man von dem Traum-Vorspiel absieht, auf das wir noch zu sprechen kommen, mit einer Beerdigung. Claudia, eine junge Ärztin, macht sich bereit, ihren Freund Henry Sommer zu Grabe zu tragen. Nach diesem ersten Kapitel kommen lange Rückblenden auf ihre Beziehung, auf die gescheiterte Ehe, auf Abtreibungen, auf ihre Kindheit. Dann wird die Beerdigung wieder aufgegriffen, im vorletzten Kapitel, und im letzten erfährt man, wie sich Claudia ein halbes Jahr später entwickelt hat und was mit ihr geschehen ist. Aus einer konkreten Erinnerungssituation wird so eine Art Lebensbilanz. Der Ort der Handlung ist unzweideutig die DDR: Man kann es aus Details erschließen, aus Wörtern, die Sie verwenden, aber auch aus historischen Anspielungen, etwa auf den 17. Juni. Die Zeit, 1981, ist ein bißchen schwieriger zu erschließen. Die Novelle spielte, als sie erschien, in der unmittelbaren Gegenwart. Claudia ist zu diesem Zeitpunkt vierzig, sie wurde also 1941 geboren. Das heißt, sie ist zwei, drei Jahre älter, als Sie damals waren. Auffallend ist, daß es keinen expliziten Erzählkommentar gibt. Sie schildern alles aus Claudias Perspektive. Was für eine Frau ist sie eigentlich?
HEIN: Eine Person, die ich schätze. Sie ist mir zwar fremd, aber ich kann ihre Haltung und Lebensumstände nachvollziehen. Sie hat eine gewisse Härte. Übrigens hat die Novelle einen durchgehenden Subtext: Wenn Claudia bestimmte Dinge sagt, merkt der Leser auch, was sie nicht sagt, nicht sagen will. Das ist eine Erfahrung, die wir oft sogar mit Freunden machen. Wir fragen, wie es ihnen geht, und die Antwort ist: Wunderbar! Doch an den Augen oder der Haltung oder am Ton erkennen wir, daß das nicht stimmt. Diese Art von Subtext wollte ich dem Buch einschreiben – für den Leser, der sich darauf einläßt. Wenn er es aber nicht will, muß das Ganze trotzdem funktionieren.
SCHOCK: Hat dieser Subtext mit Angst zu tun?
HEIN: Ja, und auch mit Verdrängung. Unsere Kommunikation wäre überfordert, wenn wir auf ein »Wie geht’s?« die Antwort bekämen: »Gut, daß du mich fragst! Setzen wir uns, ich muß dir erst mal eine Stunde lang alles erzählen.« Wir brauchen diese kleinen Verabredungen, damit wir eine Freundlichkeit sagen können, ohne daß uns der andere gleich mit seinem ganzen Leben konfrontiert.
SCHOCK: Welche weiteren Aspekte spielen bei dem Subtext noch eine Rolle?
HEIN: Claudia sagt, daß sie nicht darüber nachdenken will, mit wem sie zusammenlebt, und meint damit sich selbst. Sie hat Angst, das herauszubekommen, und fürchtet, daß sie dann ein Fall für die Psychiatrie würde. In dem Zusammenhang spricht sie auch von der besten aller möglichen Heilanstalten. Zu Voltaires Zeit gab es die Rede von der besten aller möglichen Welten. Geblieben und für uns erreichbar ist nur noch die beste aller möglichen Heilanstalten.
SCHOCK: Das Wort taucht noch an einer anderen Stelle auf. Als Claudia bei einem Ostseeurlaub die Touristen in ihrer Einheits-Wetterkleidung sieht, sagt sie: Die sehen aus wie aus einer Heilanstalt. Das ist wohl auf die DDR gemünzt?
HEIN: Nein, das ist auf beide deutsche Staaten gemünzt, denn dieser sogenannte Friesennerz, ein westliches Kleidungsstück, wurde damals im Westen wie im Osten gern getragen. Auf einmal sah man überall die gleiche orange, offenbar sehr praktische Strand- und Regenbekleidung.
SCHOCK: Trotzdem: Heilanstalt, Anstalt DDR, das ist schon eine naheliegende Assoziation. Dazu kommt, daß im Grunde alles, was Claudia erlebt, entweder trist oder banal oder pervers ist: das aggressive Verhalten gelangweilter Jugendlicher und noch manches andere. Was hat eigentlich die Zensur zu Ihrem DDR-Bild gesagt?
HEIN: Günther de Bruyn hat mich damals gefragt, wie ich es geschafft hätte, dieses Buch durch die Zensur zu bringen. Es war aber gar keine große Leistung meinerseits. Die hatten den Text wohl nicht so überaus mißtrauisch angeschaut. Ich war noch nicht so bekannt, und es war ein kleines Buch. Als es hieß, daß da was gestrichen werden sollte, tat ich so, als sei ich aufgeschlossen, denn ich wußte, daß sich darin eigentlich nichts streichen läßt. Es gibt keinen besonders schlimmen oder bösen Satz. Es war das Klima, der Ton der Novelle, der eine für die Zensur schwer erträgliche Stimmung beschrieb. Durch das Streichen eines einzelnen Satzes oder einer Seite ließ sich daran gar nichts ändern.
SCHOCK: Volker Braun zum Beispiel mußte 25 Jahre auf die Druckgenehmigung für ein Theaterstück warten. Man hätte auch Ihr ganzes Buch verbieten können, Gründe hätte man gefunden: Alkoholmißbrauch, Handwerker betrügen ihre Kunden, gesellschaftliche Gleichgültigkeit, Langeweile, schmutzige und verwahrloste Gegenden; ein Künstler propagiert die Anarchie und das Asoziale, lehnt also die gesellschaftliche Verantwortung des Künstlers explizit ab. In der DDR sei alles »wie im 19. Jahrhundert«. Die Lehrer sind sadistisch, die Portiers feindselig. Hinnert tritt aus Opportunismus in die Partei ein. Jedes dieser Details müßte doch eigentlich unerträglich sein für einen Zensor.
HEIN: So wie Sie das auflisten, läuft es mir auch jetzt noch kalt den Rücken runter. Offenbar hatte man eine solche Zusammenstellung nicht vorgenommen. Vielleicht lag es einfach daran, daß ich noch so jung und neu im Geschäft war, ich weiß es nicht genau. Ich hatte später bei anderen Sachen Schwierigkeiten mit der Zensur, bei Theaterstücken, wo ich auch zehn, zwölf Jahre warten mußte, und beim nächsten Roman. Nach dem aufsehenerregenden Erfolg des »Fremden Freundes« wurde er mit großem Mißtrauen betrachtet und bekam keine Druckgenehmigung. Daß er überhaupt erschien, war die Leistung des Verlegers, Elmar Faber, der ihn schließlich auf eigene Faust herausbrachte. Das ist meines Wissens das einzige Buch, jedenfalls das einzige belletristische, das ohne Druckgenehmigung, also gegen den Willen der Zensur erschienen ist.
SCHOCK: Wie ging das?
HEIN: Der Verleger erzählte mir, er habe anderthalb Jahre lang immer wieder um die Zustimmung der Zensurbehörde gebeten und sei immer abschlägig beschieden worden. Dann hatte er die Faxen dicke. Er rief in der Druckerei an und sagte, er habe die Druckgenehmigung. Dort sah man keinen Anlaß, das zu überprüfen. Und noch ehe das hohe Haus es mitbekam, nach zwei Tagen nämlich, war der Roman vergriffen. Daraufhin wurde der Verleger ins ZK ein- bestellt. Es ging um seinen Kopf, um die Frage, ob er das Haus weiter leiten dürfe. Meinen westdeutschen Verlag hatte ich gebeten, noch zu warten, weil es den Ostverlag in Schwierigkeiten gebracht hätte, wenn das Buch dort zuerst erschienen wäre. Luchterhand hat mitgemacht, obwohl es sicher schon aus ökonomischen Gründen schwierig war, ein bereits fertig gedrucktes Buch nicht auszuliefern.
SCHOCK: In einem Interview sagten Sie im Zusammenhang mit dem »Fremden Freund«, es müsse über den Stand unserer Zivilisation gesprochen werden, über die seelischen Kosten, die dieses durch die moderne Produktionsweise bestimmte Leben verursacht. Demnach wäre Claudia also der Prototyp eines Menschen, den die Verhältnisse in der DDR hervorgebracht haben. Das ist doch eigentlich auch Dynamit.
HEIN: Das ist allerdings eine nachträgliche Überlegung.
SCHOCK: Aber zu DDR-Zeiten?
HEIN: Ich kann nicht mit einer theoretischen, abstrakten Haltung an einen Text herangehen. Ausschlaggebend für diese Arbeit war der Tod eines Bekannten. Ich hatte die Geschichte zunächst aus der Sicht eines Mannes erzählt. Nach einem halben Jahr langweilte mich das. Die Hälfte des Romans war fertig. Ich habe alles weggeworfen und mich entschlossen, ihn aus der Sicht der Frau zu erzählen. Das war natürlich ein Wagnis. Der Verlag sagte gleich: So etwas ging im 18. Jahrhundert, aber heute nicht mehr! Das wußte ich ja alles, aber ich wollte es einfach mal probieren. Als ich später gefragt wurde, warum dieses Buch in ganz verschiedenen Ländern so erfolgreich war, kam mir der Gedanke, daß ich darin wahrscheinlich die Kosten unserer Zivilisation beschreibe: Die Großfamilie ist zerschlagen. Unsere Produktion braucht sie nicht mehr. Sie braucht den ständig verfügbaren Single, der von niemandem behindert wird. Der Single ist das in unserer Zivilisation bevorzugte Individuum. Vielleicht war das einer der Gründe für den internationalen Erfolg der Novelle. […]
SINN UND FORM 5/2009, 628-639, hier S. 628-632
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Es war der Auftritt der Roten Armee auf dem Ersten Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller im August 1934 in Moskau, der die unterschiedlichen (...)
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»AM BESTEN GEFIEL MIR WIEDER REGLER»
Gustav Regler und Klaus Mann
Es war der Auftritt der Roten Armee auf dem Ersten Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller im August 1934 in Moskau, der die unterschiedlichen Positionen von Gustav Regler und Klaus Mann schlagartig hervortreten ließ: Differenzen, die nicht nur ihren Briefwechsel grundierten, sondern auch in ihren Autobiographien Spuren hinterließen. Einige Wochen nach dem Kongreß veröffentlichte Mann in der von ihm herausgegebenen Exilzeitschrift »Die Sammlung« seine »Notizen in Moskau« (2. Jg., Heft 2 /Oktober 1934). Auf das martialische und von ihm als bedrohlich empfundene Auftreten der Soldaten kam er gleich zu Anfang zu sprechen: »Im Kongreß (…) erschien eine Abordnung der Roten Armee. Die Korridore zwischen den Stuhlreihen füllten sich plötzlich mit gefährlich stampfenden Soldaten, ein Teil von ihnen eroberte sogar das Podium. Helle Wonne bei der Literatur. Dieses war der Moment, wo ich mich am fremdesten in Moskau fühlte. Ich stand stumm. Und ich konnte meine Hände nicht zum Beifall zwingen. Es muß – dachte ich – eine Rote Armee geben und sie muß stark sein –: harte Notwendigkeit, kein Pazifismus wagt sie mehr zu leugnen. Aber warum die helle Wonne?«
Auf jenen »Moment des Schreckens (…), als die bewaffnete Macht eindrang in den Saal der Literatur und dort mit Jubel begrüßt ward«, auf just dieses Detail in Manns Aufzeichnungen reagierte Regler wenig später in einem Interview: »Ich glaube, Klaus Mann ist hier noch im Bann des bürgerlichen Pazifismus, dieses ›Opiats der Nachkriegsjahre‹, mit dem man die wachsende revolutionäre Welle abzuleiten suchte. Deshalb sieht Mann, der sich tapfer in die Reihen der Antifaschisten gestellt hat, einen Augenblick noch unter altem Gesichtswinkel, hört in Moskau nur die ›Stiefel der Uniformierten in den Saal der Literatur stampfen‹, hört nicht das Referat des Soldaten, das nicht nur im Niveau des Stils, sondern auch in den Gedankengängen wirklich die neue Welt vertrat« (Volk und Schriftsteller in Sowjetrußland – Eine Unterredung mit Gustav Regler, in: Deutsche Freiheit, Saarbrücken, 25. /26.12.1934, Nr. 288).
Regler hatte Manns Einwänden also nur Parteijargon und herablassende Besserwisserei entgegenzusetzen und bestätigte damit den Eindruck von Oskar Maria Graf, einem anderen Kongreßteilnehmer: »Gustav Regler trug stets eine gefurchte Stirn, sah ungemein beschäftigt aus, gab sich selbstbewußt und roch geradezu nach abschreckender Tüchtigkeit. ›Du bist Katechet!‹, sagte ich auf den ersten Blick zu ihm und witzlos antwortete er: ›Du wirst lachen, als Katholik war ich einmal drauf und dran, es zu werden'. ›Nein-nein, ich meine, Du bist Katechet auf alle Fälle! Derzeit kommunistischer!‹, sagte ich. (…) Er wußte alles, sah alles, verstand alles und fühlte sich stets verpflichtet, uns anderen, wenn wir etwas bemängelten, das vom sowjetischen und marxistischen Standpunkt begreiflich zu machen. (…) Er war geradezu grotesk beflissen, und wenn man das Wort ›Sekretär‹ als Zustand auffaßt, dann hatte man den ganzen Gustav Regler. Es läßt sich denken, daß er so etwas wie ein kommunistischer Musterschüler war« (Reise in die Sowjetunion 1934).
An Reglers dogmatische Sturheit erinnerte sich Mann in seiner Autobiographie »Der Wendepunkt«. Im 9. Kapitel der 1952 erschienenen deutschen Fassung charakterisiert er ihn so: »Mein begabter Freund Gustav Regler (ich empfehle seinen Roman ›Der verlorene Sohn'!) ist noch derartig kommunistisch, daß einem vor so viel militantem Glaubenseifer etwas ängstlich zumute wird«. Wenige Seiten später kommt er auf den Kongreß zu sprechen, mit ähnlichem Tenor: »Am deutschsprechenden Tisch ging es besonders angeregt zu. Theodor Plievier, Gustav Regler, Andersen-Nexö vertraten das marxistisch-leninistischstalinistische Dogma in seiner reinsten und starrsten Form.«
Dieses wenig schmeichelhafte Urteil beschäftigte Regler offenbar so sehr, daß er in seiner eigenen, 1958 erschienenen Autobiographie »Das Ohr des Malchus« darauf einging. Seltsamerweise nicht im Zusammenhang mit seiner ausführlichen Schilderung des Kongresses; an dieser Stelle findet sich bloß eine knappe Reminiszenz an den Kollegen: »Es kam Klaus Mann, der unsäglich Feinfühlende, das häßliche Entlein, dem viel zu wenige sagten, daß er ein Schwan war, in manchen Augenblicken schon gezeichnet von der Melancholie, die ihn 1949 dann übermannte (zum Schaden Europas); er war gespannt auf Gorki, fürchtete aber, daß der Alte von der Menschlichkeit seines ›Nachtasyls‹ abgerückt sei. ›Ich kenne nur einen Mann‹, sagte er,mit dem eigenen Familiennamen spielend, ›dem niemals der Ruhm zu Kopf steigen wird'. Er meinte seinen Vater, den er verehrte.« Doch in einem nach Abschluß des Manuskripts entstandenen Anhang erwähnt Regler das Bild, das Mann von ihm gezeichnet hatte und das ihm keine Ruhe ließ – und versucht es zögerlich zu dementieren: »Klaus Mann. Er beschrieb den Kongreß in seinem ›Wendepunkt'; er deutete mit liebenswerter Toleranz auf den Tisch, an dem ich mit Plivier [!] saß; ich machte den Eindruck eines starren Marxisten, so scheint es, und war es wohl auch im Gespräch ›nach außen'.« Mann also eher bestätigend denn widerlegend, fährt er fort: »Hervorzuheben ist die Güte dieses tragischen Liberalen. Kein ironisches Wort ist je zwischen uns gefallen; er hatte die besten Manieren; er war ein angenehmer, aber gefolterter Sohn seines großen Vaters. Seine Verwirrungen und Probleme lagen auf ganz anderen Gebieten.« Legte Regler die Betonung (vielleicht unbewußt) auf das erste Wort des Satzes? Meinte er möglicherweise: Seine Verwirrungen und Probleme – im Unterschied zu den eigenen? Etwa dem Problem seiner lange nicht durchschauten Glaubenssehnsucht, die ihn in die KPD geführt hatte?
Bereits sieben Jahre vor ihrer ersten Begegnung findet sich bei Regler ein Hinweis auf Klaus Mann. In einem Notizbuch führt er unter seinen Lektüren dessen Debüterzählungen auf: »15.–20. 5.26: Klaus Mann: Vor dem Leben«. Die Förmlichkeit der Anrede in Reglers erstem Brief – offenbar die Antwort auf eine Einladung des acht Jahre Jüngeren, Beiträge für die »Sammlung« zu schreiben – läßt vermuten, daß es zuvor keinen persönlichen Kontakt gab. Die wechselnden Grade von Vertrautheit kann man an den Anredeformeln ablesen: zuerst höflich-korrekt ("Sehr geehrter Herr Klaus Mann«), einmal, im Oktober 1934, freundschaftlich ("Lieber Klaus«), danach wieder etwas distanzierter ("Lieber Klaus Mann«); zum Du kam es jedoch nie.
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SINN UND FORM 2/2011, S. 177-183
RALPH SCHOCK: Dein Roman »Oktober und wer wir selbst sind« ist Teil eines großen Erinnerungsprojekts, an dem du seit Jahrzehnten schreibst. Kannst (...)
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»Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren«. Gespräch mit Peter Kurzeck
RALPH SCHOCK: Dein Roman »Oktober und wer wir selbst sind« ist Teil eines großen Erinnerungsprojekts, an dem du seit Jahrzehnten schreibst. Kannst du die Position des Romans in diesem Werk beschreiben?
PETER KURZECK: Es ist der vierte Band und eine Rückblende innerhalb des Erzählten. Die autobiographische Reihe beginnt 1984, und dann erzähle ich rückwärts den vorangegangenen Herbst und Winter. Hier geht es um den Oktober 1983, ein Herbstbuch also.
SCHOCK: Warum hast du diese Zeit, diese zwölf Monate des Jahres 1983/84, zum Zentrum des Mammutprojekts gemacht?
KURZECK: Weil ich glaube, daß man beispielhaft erzählen kann, daß es reicht, eine bestimmte Zeitspanne zu nehmen, um exemplarisch über das eigene Leben oder die Zeit an sich zu sprechen. Die Bücher vor »Übers Eis«, also vor dieser autobiographischen Reihe, spielen in verschiedenen Zeiten: »Kein Frühling« zum Beispiel in der ersten Nachkriegszeit in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, und »Keiner stirbt« im Oktober 1959. Ich habe mir vorgenommen, mein Zeitalter aufzuschreiben. Jetzt ist es noch wie eine Landkarte, die erst entsteht, oder ein Puzzle. Da und dort sind schon ein paar Flecken zu erkennen, aber es ist mühsam, sich vorzustellen, was aus dem Ganzen einmal wird. Wenn ich zäh genug weitermache und es mir gelingt, die nächsten Bücher möglichst bald zu beenden, wird man sehen, wie das zu leben anfängt, wie es sich zueinander verhält. Ich habe die nächsten zwei oder drei Bücher schon angefangen, für jedes Hunderte von Manuskriptseiten geschrieben und Hunderte von Seiten mit Notizen vorbereitet. Jetzt komme ich mir vor wie in der Nachkriegszeit, mit acht, als wir kein Geld und keine richtige Wohnung hatten, nur ein Flüchtlingszimmer, einen Gemeinschaftsdachboden und eine Gemeinschaftswaschküche, und aus den Lagern gerade erst heraus und nach Hessen gekommen waren. Wir hatten nur einen geliehenen Küchentisch und eine Küchenlampe mit einer 15-Watt-Birne. Natürlich mußte gespart werden, die wurde nur angemacht, wenn es ganz dunkel war – in der Dämmerung noch lange nicht. Wenn sie aber dann angemacht wurde, gab sie ein schönes trübgoldenes Licht und machte aus dem Raum eine Art Höhle, weil sie die Ecken nicht ausleuchtete. Es war ein Licht wie auf einem Rembrandt. Und ich sehe mich als Acht- oder Zehnjährigen abends am Küchentisch sitzen, unter der geliehenen Lampe am geliehenen Küchentisch, auch die Stühle waren nicht unsere eigenen, und ich habe ein Stück Papier vor mir. Papier war damals etwas Kostbares. Auch heute werde ich beim Schreiben nie den Gedanken los, daß es etwas Kostbares ist und daß man es bevorraten muß, damit man immer welches hat. Und ich sehe mich an diesem Tisch sitzen und mich erst mit Bleistift und dann mit Buntstiften ein Königreich malen, weil wir so arm waren … Ich bin natürlich ein König, sonst wäre die Armut ja nicht auszuhalten gewesen. Und das ist, glaube ich, so etwas wie die Vorwegnahme dessen, was ich jetzt tue, nämlich Bücher zu schreiben, die mein Zeitalter festhalten sollen.
SCHOCK: Dein Königreich wird immer differenzierter, größer, umfassender. Du bist inzwischen dazu übergegangen, Neufassungen von bereits abgeschlossenen Büchern herauszubringen, weil sie dir nicht ausführlich genug erschienen.
KURZECK: Das war eine Ausnahme. Als ich »Kein Frühling« fertigstellte, hatte ich zweihundert Seiten mehr und wußte nicht, ob sie reingehören oder nicht. Ich war so erschöpft und müde, daß ich nicht mehr in der Lage war, das zu entscheiden. Ich wollte nur, daß der Roman endlich erscheint, um diese Erschöpfung loszuwerden. Solange ein Buch nicht erschienen ist, schleppt man es mit sich herum. Die Arbeit zog sich schon über Jahre hin und nahm mich so in Anspruch, daß ich am Ende kaum mehr denken konnte. Jetzt, genau zwanzig Jahre später, haben wir das Buch in der erweiterten Fassung herausgebracht.
SCHOCK: Du hast erzählt, daß sich aus einem Nebensatz im zwölften Kapitel des »Oktober"-Romans ein neues Riesenprojekt entwickelt hat, dessen Umfang du noch gar nicht absehen kannst. Vor etwa drei Jahren habe ich dich um einen kurzen Text gebeten, und du hast gesagt: Kann ich schon machen, aber das dauert drei Jahre, weil sechshundert Seiten daraus werden.
KURZECK: Auf diese Art Wildnis habe ich nur bedingt Einfluß. Es geht mir damit wie mit der Schönheit. Ich wußte schon als Kind, ich bin ihr verfallen. Ich kann ihr nicht widerstehen, weder in Form eines Lieds noch einer Blume, weder eines Menschen noch eines Hauses, nicht mal eines Lichtflecks oder eines Baums. Dieses Hingerissensein ist auch beängstigend, weil man merkt, es ist stärker als man selbst. Man ist dem ausgeliefert. So ähnlich geht es mir auch beim Schreiben. Gleichzeitig habe ich ein ausgeprägtes Formgefühl, das diesem Wuchern entgegensteht. Das heißt, ich muß eine Kunstform daraus machen, so wie ich auch Umgangssprache, Erinnerung und freies Assoziieren einbeziehe. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht darin, alles erst mal schnell zu Papier zu bringen. Ich schreibe oft ohne Satzzeichen und nur klein, nicht weil ich für Kleinschreibung bin, sondern weil es schneller geht. Auch Schreibfehler korrigiere ich nicht. Manchmal gelingt es mir auf diese Weise, die Arbeit von Wochen an einem Vormittag zu erledigen. Hinterher brauche ich Monate, um es in die Form zu bringen, die mich von der Arbeit erlöst. Sonst kann ich es nicht aus Händen, Kopf und Geist entlassen. Eine andere Art zu arbeiten besteht darin, daß ich zwei oder drei Sätze schreibe oder eher auswendig lerne, beim Gehen, Kaffeetrinken, bei allem was ich tue, und dann sehe, ob ich noch frisch genug bin und vielleicht noch zwei oder drei weitere Sätze hinkriege.
SCHOCK: Diese Sätze bestehen ja oft nur aus wenigen Worten. Du machst ganz kurze Sätze, oft fehlen die Verben. Die braucht man im Grunde auch gar nicht, weil du beim »Vermessen der Zeit« ein Aufzähler bist, und da stören Verben eher, weil sie einen Vorgang beschreiben. Du sammelst Begriffe wie ein Buchhalter. Wie kommt dieser fast verbfreie Stil zustande?
KURZECK: Ganz verbfrei ist er natürlich nicht, die fehlenden Verben fallen bloß besonders auf – vor allem Kritikern und Deutschlehrern. Das ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit. Ich habe von Kind auf geschrieben, damals hatte ich mit drei Sprachen zu tun. Zunächst mit dem Dialekt meiner Eltern, die aus Böhmen waren und ein böhmisches Österreichisch sprachen, das bei meiner Mutter eher Wienerisch klang. Sie war aus dem Kurort Franzensbad, während mein Vater einen harten Böhmerwalddialekt hatte. Dann bin ich in einem Dorf in Oberhessen aufgewachsen, wo die Menschen mit Fremden nicht reden konnten und auch der Schulunterricht auf Hessisch war. Die Sprache meiner Eltern, die ich zuerst gelernt habe, ging praktisch bis zur Haustür – nicht mal das, nur bis zur Küchentür. Und dann gab es noch die Sprache der Bücher. Ich habe von Kind auf viel gelesen, und diese drei Sprachen zu vereinen ist wohl Teil meiner Arbeit. Eigentlich kann man heute nicht mehr so schreiben wie im neunzehnten Jahrhundert, obwohl das zum Teil immer noch gemacht wird. Für die meisten ist Sprache eine ziemlich hölzerne Angelegenheit, auch für viele Kollegen. Da steht dann bei direkter Rede: Anführungszeichen unten, Anführungszeichen oben, antwortete er zornig oder so. Mir ging es darum, eine Sprache zu finden, in der nicht ständig zwischen innen und außen unterschieden wird, in der man es nicht nötig hat, einen antiquierten inneren Monolog kursiv zu setzen und obendrein zu unterbrechen, sondern in einem einzigen Satz nachvollziehen kann, was jemand wahrnimmt und denkt – so wie er selbst es formulieren würde. Ich wollte der Sprache die Lebendigkeit geben, die sie im Alltag hat. Zum Beispiel wenn ich in eine Kneipe gehe oder am Bahnhof ankomme und der Bahnhof ist nicht mehr da, weil er umgebaut wird, wie jetzt gerade in Saarbrücken. Oder wie das, was ein Taxifahrer mir erzählt, während wir unterwegs sind. Ich sehe, ob er die Uhr eingeschaltet hat, aus dem Lautsprecher schnarrt die Zentrale, die Straße fängt an zu fahren, man sieht, daß am Stadtrand ein ganzes Industriegebiet umgebaut wird, daß etwas Neues entsteht. Und ich versuche das alles zusammenzubringen: die Umgangssprache des Taxifahrers, das, was sie bei mir hervorruft, was ich ihm antworte, die Erinnerung an ein anderes Gespräch, das ich vor vierzig Jahren in Stockholm geführt habe. Die Erinnerung wird man ja nicht los, für den Schriftsteller ist sie eine Art Werkzeug. Und weil man sie als Arbeitsmittel benutzt, geht man anders mit ihr um. Man weiß schon im voraus: Das wirst du irgendwann brauchen. Man richtet sein Leben so ein, daß man sich später gut erinnern kann.
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SINN UND FORM 5/2011, S. 624-633
Am 19. November 1934 schickte Joseph Roth einen verzweifelten Bittbrief in die Schweiz. Ein Kollege war in Not: »Lieber Herr Carl Seelig, (...)
LeseprobeSchock, Ralph
EIN EXIL, DAS KEIN ENDE NAHM
Über David Luschnat
Am 19. November 1934 schickte Joseph Roth einen verzweifelten Bittbrief in die Schweiz. Ein Kollege war in Not: »Lieber Herr Carl Seelig, entschuldigen Sie diesen Brief (und bestätigen Sie mir bitte, daß Sie ihn erhalten haben). Es handelt sich um eine wichtige Sache, nämlich um einen Menschen. Der deutsche Schriftsteller David Luschnat, kein Kommunist, nicht einmal ein Jude, ein ganz harmloser Mann mit einigen seltsamen Ideen, ist aus der Schweiz ausgewiesen. Er hat keinen ›Namen‹, kein Geld, er kann nicht einmal die Reise zur Grenze bezahlen. (…) Sie sind Schweizer, Journalist. Sie können Herrn Luschnat vielleicht beistehen. (…) Ich erröte bei dem Gedanken, daß ich ohnmächtig bin und auch bei dem, daß die Welt so böse, so vertrackt gemein ist. Herr David Luschnat hat nichts mehr getan, als Herr Thomas Mann: beide haben Deutschland verlassen. Beide sind Schriftsteller. Über ihren litterarischen Grad hat die Polizei nicht zu entscheiden. (…) Was ist das für eine Welt! Was ist das für ein Land, in dem so was möglich ist. Herr Luschnat hat keinen Nobelpreis! Deshalb wird er ausgewiesen! Spätestens am 4.XII. muß er das Land verlassen. Und er stirbt mit seiner Frau schon seit Hitler vor Hunger. (…) Er hat einen Rekurs gemacht, damit er bleiben kann, aber der wird abgewiesen, denn Herr Luschnat hat ja keinen ›Namen‹. Ich bin wütend, ich möchte Bomben schmeißen.« Doch auch Seelig, der Schriftsteller, Mäzen und Freund Robert Walsers, konnte die Ausweisung nicht verhindern.
Kennengelernt habe ich den damals Ausgewiesenen vier Jahrzehnte später, als ich über Gustav Regler zu arbeiten begann. Laut einer Notiz in der »Weltbühne « vom Januar 1933 plante die Berliner Ortsgruppe des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller (SDS) eine Anthologie zum Thema »Krieg«. Einige Beiträger waren genannt, darunter Regler. Weitere Manuskripte wurden erbeten an Herrn David Luschnat, Berlin-Schöneberg, Hauptstraße 37. Da die Anthologie nirgends nachweisbar war, wandte ich mich an den Herausgeber. An Regler könne er sich gut erinnern, schrieb er, wo die Beiträge für die Anthologie geblieben seien, wisse er aber nicht. Und er lud mich ein, ihn und seine Frau in Tourrettes-sur-Loup zu besuchen. Ich könnte in einem Cabanon auf ihrem Grundstück wohnen, auch einen großen Pool gebe es.
Nach ihrer Ausweisung aus der Schweiz waren David Luschnat und Lotte, seine mehrere Jahre jüngere Frau, in dem bei Vence in den Meeralpen gelegenen Bergdorf untergekommen. Etwas außerhalb des Ortes lebten sie, bald mit Sohn und Tochter, in einem nur zehn Quadratmeter großen ehemaligen Stall, später immerhin auf eigenem Grund; das Geld für den Erwerb des steinigen, sonnenverbrannten Landes hatten ihnen in den vierziger Jahren amerikanische Quäker gespendet. Ihre Wohnsituation änderte sich erst Anfang der sechziger Jahre, als Lotte, die im Februar 1933 mit einem offenen Brief an den preußischen Kultusminister Adolf Grimme ihre Stelle als Referendarin gekündigt hatte, von der Bundesrepublik eine Wiedergutmachung bekam: eine Pension, die dem entsprach, was sie nach Beendigung ihrer Laufbahn in der Position einer Studiendirektorin bekommen hätte. Damit bauten sie ein bescheidenes Häuschen, bestehend aus einem Schlafzimmer, in dem Lottes Bücher standen, einem Wohnraum, einem geräumigen Bad, einer Küche mit großem Gefrierschrank und Davids Arbeitszimmer mit Bibliothek, Manuskriptschrank und Schreibtisch.
Dem ersten Besuch 1975 folgten weitere, meist für mehrere Wochen, im Gepäck immer Dinge, die in Haushalt oder Garten gebraucht wurden. Ich führte kleinere Reparaturen aus, fällte einen krummen Baum und schnitt auf den oberen Terrassen des ein Hektar großen Geländes die Garigue zurück. Auf den unteren Terrassen bewirtschaftete Lotte ihren Garten, in dem sie jeden Morgen bei Sonnenaufgang zu arbeiten begann. Danach drehte sie ihre Runden im Pool. Die beiden, seit Jahrzehnten Vegetarier, waren weitgehend Selbstversorger.
Er: klein, untersetzt, schlurfender Gang, lethargisch, melancholisch bis zum Fatalismus, tagsüber oft im abgewetzten Bademantel. Stundenlang in seiner Bibliothek vergraben. Das herunterhängende linke Augenlid schob er beim Lesen nach oben. Umständlich und abenteuerlich ungeschickt für jede handwerkliche Arbeit. Eines Abends bot er meiner Frau und mir auf Lottes Vorschlag hin das Du an. Alle vier Wochen telefonierte sie nach einem Taxi, das ihn zum Frisör brachte. Als er bei einer solchen Gelegenheit aus dem Dorf Marmelade mitzubringen wagte, brach ein Gewitter über ihn herein. Zwei Tage lang, bis das Glas leer war, gab es morgens, mittags und abends nichts anderes für ihn. Gleichwohl sagte er: »Ohne meine Frau wäre ich längst tot.«
Sie: schlank, groß und agil. Pfiffig, schlagfertig, unsentimental, zupackend, keck. Gelegentlich geradezu charmant. Typ Berliner Göre. Kurzes weißes Haar, hellblaue Augen, klarer Blick, das Gesicht voller Runzeln. Irritierend unprüde. Politisch bestens informiert, mit dezidierten Meinungen und bisweilen recht eigenwilligen Thesen über deutsche und französische Politiker oder den Nahostkonflikt. Ehe sie zu früher Stunde schlafen ging, löste sie das Kreuzworträtsel aus dem »Nice Matin«. Einmal hatte sie sich aus irgendeinem Grund über mich geärgert, deshalb gab es abends für mich nichts zu essen. Als sie wegen einer Archivrecherche über den Stauferkaiser Friedrich II. nach Italien reiste, richtete sie zu Hause für zwei Wochen alles her. Doch sie mußte bald zurück: David hatte sich, als er Scheite zu spalten versuchte, mit der Axt schwer verletzt. Dabei hatte sie ausreichend Brennholz zurückgelassen, doch er war der Meinung, es reiche vielleicht nicht. Mit einer Erziehungsfrage wandte sie sich einmal an Sigmund Freud in London, seinen Antwortbrief zeigte sie mir eines Abends. Auch sie schrieb, veröffentlicht ist kaum etwas. Ihre Autobiographie, an der sie gelegentlich arbeitete, trug – vielleicht mit einem Hauch von Selbstkritik – den Titel »Mit dem Kopf durch die Wand«. Sie stellte Horoskope, jedes Jahr orderte sie die Ephemeriden. Im Spätsommer reisten sie per Taxi nach Überlingen, um in der Buchinger-Klinik zu fasten, er drei Wochen, sie eine Woche länger.
Nachmittags trafen wir uns unter dem knorrigen Olivenbaum zum Gespräch. Einmal brachte ich ein Tonbandgerät mit, das Porträt Luschnats sendete der Saarländische Rundfunk am 14. Oktober 1978. Er erzählte aus seinem Leben: von der Geburtsstadt Insterburg, über die er eine Novelle schrieb. Vom Vater, einem Pfarrer, der eine freie Gemeinde gegründet hatte. Von der Mutter, die die Familie mit Nähen durchbrachte. Vom Gymnasium ("Marteranstalt«), von seiner Tätigkeit als Hilfsmonteur bei Siemens & Halske ("28 Pfennig die Stunde«). Am 3. Juli 1915 wurde er eingezogen, im September 1918 erlitt er eine Schußverletzung. Es sei zu gefährlich gewesen, die Kugel herauszuoperieren; später verkapselte sie sich, die rote Narbe am Hals blieb. Gelegenheitsarbeiten: Transportbegleiter, Frachtenkontrolleur, Korrekturleser, Seifenhändler, Aufkäufer leerer Ölfässer. »Aufkäufer leerer Ölfässer?« »Ja«, sagte er, »das war der Hunger.«
1918 wurde er Mitglied des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, ab 1925 lebte er, »mehr schlecht als recht«, als freier Autor. In den folgenden drei Jahren erschienen drei schmale Hefte mit Lyrik: »Kristall der Ewigkeit«, »Die Sonette der Ewigkeit«, »Abenteuer um Gott«. Er selbst bezeichnete sich als religiösen Sozialisten und Pazifisten. Nachdrucke brachten u.a. die »Frankfurter Zeitung«, die »Sozialistischen Monatshefte« und die »Weltbühne«. Ein Band wurde im »Völkischen Beobachter« besprochen, den Beleg hatte er aufgehoben: Unverständnis, Spott, Verachtung. Die beiden 1927 erschienenen Sammlungen »Stimmen der Jüngsten« und »Anthologie jüngster Lyrik«, letztere mit einem Vorwort von Stefan Zweig und herausgegeben von Willi R. Fehse und Klaus Mann, enthalten Gedichte von ihm.
»Inzwischen begannen Militarismus, Antisemitismus und verwandte Strömungen immer weitere Volksschichten zu infizieren«, erzählte er. Auch den Schutzverband: »Der Hauptvorstand war gerne bereit, sich dem heraufdämmernden Hitler-Zeitalter irgendwie anzupassen.« Doch die große Mehrheit der Berliner Ortsgruppe, mit 900 Autoren ein Drittel aller SDS-Mitglieder, opponierte. Ab 1931 gehörte er neben Georg Lukács, Andor Gábor, Franz C. Weiskopf und Hermann Budzislawski deren Vorstand an. Wegen einer Kampagne zur Befreiung des wegen »literarischen Hochverrats« verhafteten Ludwig Renn und einer vom Hauptvorstand untersagten Goethe-Feier mit Erich Mühsam, Ernst Bloch und Lukács – beide hatte er mitorganisiert – warf man ihn aus dem Verband.
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SINN UND FORM 5/2013, S. 707-714
RALPH SCHOCK: Ihre Erzählung »Die andere Heimat« hat eine Menge mit dem gleichnamigen Film von Edgar Reitz und Ihnen zu tun, denn Sie sind (...)
LeseprobeSchock, Ralph
»DIE SPUREN DES LEBENS DER ARMEN VERSCHWINDEN»
Ein Gespräch mit Gert Heidenreich über »Die andere Heimat»
RALPH SCHOCK: Ihre Erzählung »Die andere Heimat« hat eine Menge mit dem gleichnamigen Film von Edgar Reitz und Ihnen zu tun, denn Sie sind auch der Koautor des Drehbuchs. Wie kam es zu dieser Kooperation?
GERT HEIDENREICH: Edgar Reitz hatte seit vielen Jahren die Idee, sich mit der Auswanderung aus dem Hunsrück in der Mitte des 19. Jahrhunderts, vorwiegend nach Brasilien, zu beschäftigen. Zum einen, weil auch Vorfahren von ihm ausgewandert waren, deren Nachkommen noch in Südamerika leben, zum anderen, weil sich Edgars verstorbener jüngerer Bruder Guido als eine Art linguistischer Privatgelehrter mit indigenen Sprachen beschäftigt hat. 2009 fragte Edgar Reitz mich, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihm einen solchen Film zu erarbeiten und gemeinsam das Drehbuch zu schreiben. Wir kannten uns zwar schon ein bißchen, hatten aber noch nie etwas zusammen gemacht. Ich hatte noch nie ein Spielfilm-Drehbuch geschrieben, bloß einige Theaterstücke fürs Fernsehen bearbeitet, aber das ist ja etwas ganz anderes. Und er hatte wohl aufgrund meiner Romane, von denen er einige gelesen hatte, den Eindruck, mit mir könnte es gehen. Er braucht für die Fiktionalisierung eines Stoffs, eines Materials immer einen Partner, im Gespräch entwickelt er die besten Ideen. So kam es dazu, daß er mich fragte, und ich sagte erst einmal: »Ich habe keine Ahnung, ob ich das kann.« Aber ich wolle mir gern von ihm sagen lassen, wie er sich das denke, was er schon geplant und vorbereitet habe, und dann sind wir ein paar Tage im Hunsrück spazierengegangen. Während er dabei erzählte, was für Geschichten er sich ausgedacht hatte, merkte ich, daß auch bei mir sofort Bilder und Ideen für eine Handlung entstanden. Das ging dann so hin und her. Es war sehr merkwürdig, eine Art gemeinsames Phantasieren. Danach haben wir beide gesagt: Ja, wir versuchen es.
SCHOCK: Was stand zu Beginn der Zusammenarbeit fest? Was war vorgegeben? Der Schauplatz offenbar, der Hunsrück. Kannten Sie den? Edgar Reitz sagt, durch die Region sei es für ihn ein persönlicher Stoff. War er das auch für Sie?
HEIDENREICH: Er ist dort geboren, von dort geflohen und wieder dorthin zurückgekehrt. Für mich war das eine fremde Gegend. Ich bin zwar ab und zu durch den Hunsrück gefahren, aber mit seiner Geschichte, mit den Menschen, habe ich mich eigentlich nur mittels der Filme von Edgar Reitz beschäftigt, vor allen Dingen »Heimat 1« und »Heimat 3«. Die kannte ich sehr gut. In »Heimat 2« hat mein Stiefsohn Michael Seyfried eine größere Rolle gespielt. Diese Zyklen haben mich vor allem filmisch interessiert, weil der Autorenfilmer Reitz einen ungemein genauen psychologischen Zugriff auf die Figuren hat, und das fasziniert einen als Romancier. Vieles von dem, was er über den Hunsrück Mitte des 19. Jahrhunderts recherchiert hatte, mußte er mir erst mal vermitteln. Als wir anfingen, gab es ein Treatment, in dem schon die beiden Brüder vorkamen – ein Bodenständiger und ein Träumer, der unbedingt auswandern will und sich schon fast als Indianer fühlt –, aber es gab im Grunde noch keine Handlung. Dann haben wir uns erst einmal an die Recherchen gemacht – eine große Schwierigkeit, wenn es um arme Menschen geht. Der Reichtum bleibt, die Paläste des Adels stehen noch; es gibt eine Fülle von Dokumenten, ganze Adelsregister, mitunter sogar Biographien, so daß man sich das Leben der Reichen relativ leicht erschließen kann. Es ist auch leicht, Reichtum im Film zu zeigen: Sie brauchen nur ein Schloß, ein paar Kerzenständer, ein schönes Buffet, ein paar Kostüme und Musik, und schon haben Sie einen Ball. Die Spuren des Lebens der Armen verschwinden, ihre Welt muß von Grund auf rekonstruiert werden. Deshalb ist es teuer, Armut zu drehen, und billig, Reichtum zu drehen. Auch beim Recherchieren ist der Aufwand viel größer. Das war uns von Anfang an klar, aber wir haben großes Glück gehabt.
SCHOCK: In welcher Hinsicht?
HEIDENREICH: Um das zu erklären, muß ich kurz auf die historische Situation eingehen: Die angrenzende Pfalz, wo die Lebensumstände ganz ähnlich waren, kam nach dem Ende der napoleonischen Besetzung zu Bayern, während der Hunsrück preußisch wurde. Aber die Preußen kümmerten sich so gut wie gar nicht um die Gegend. Sie machten allerlei Auflagen und verhängten drakonische Strafen für den sogenannten Waldfrevel, also wenn die armen Leute Holz holten, aber kümmerten sich nicht um ihr Leben und ihre Lage. Der bayrische König Max dagegen wollte, aus welchen Gründen auch immer, genau wissen, wie es seinen Untertanen in der Pfalz ging, und stellte zu diesem Zweck sogenannte Kantonsärzte ein. Das waren Beamte des Münchner Hofs, die in verschiedenen Regionen oder Kantonen der Pfalz lebten und jedes Jahr einen umfangreichen Fragenkatalog durcharbeiten mußten. Über fast alles wurde Buch geführt, nicht nur über Geburten und Todesfälle, sondern auch darüber, wie die Menschen lebten, wie ihre Betten aussahen, wie viele Personen darin schliefen, welche Rolle Sexualität vor und in der Ehe spielte, wie es um die Wasserversorgung, um Heilkräuter und den Aberglauben bestellt war. All diese Informationen waren jährlich abzuliefern, wofür die Ärzte umfängliche Recherchen auf sich nehmen mußten. Für sie war das schlimmer als für uns heutzutage die Steuererklärung, doch für uns ist es ein Glück, denn ihre Berichte sind erhalten. Sie liegen im Landesarchiv in Ludwigshafen und sind wegen ihrer kalligraphischen Schrift gut lesbar. Hoch lebe König Max, der es uns ermöglicht hat, diese Verhältnisse, die man im wesentlichen auf den Hunsrück übertragen kann, so genau zu studieren! Das war wirklich eine große Erleichterung.
SCHOCK: Wurden diese Berichte von der Geschichtsforschung bisher gar nicht aufgearbeitet?
HEIDENREICH: Das schon, es sind ja auch zwei oder drei Bände transkribiert und mit Anmerkungen versehen worden, und man weiß sogar, wo die Kantonsärzte geschwindelt oder es sich leichtgemacht haben. Aber wir wollten die Quellen selbst konsultieren und haben, gerade im Hinblick auf Alltagssituationen oder den Aberglauben, auch sehr davon profitiert. Dann kam irgendwann der Punkt, an dem wir die Figuren gestalten mußten, Edgar Reitz nennt das die Fiktionalisierung des Materials. Da sagte er den für mich überraschenden Satz: »Denk jetzt mal nicht ans Drehbuch, sondern tu das, was du kannst, schreib eine Erzählung.«
SCHOCK: Wann war das ungefähr? Wie lange hatten Sie sich schon darüber unterhalten?
HEIDENREICH: Das war nach sechs, sieben Wochen Arbeit. In dieser Zeit haben wir natürlich auch schon über die Figuren phantasiert. Wie das beim Schreiben so geht, ergaben sich in der Erzählung neue Konstellationen zwischen den Figuren und den Geschichten. Bevor ich anfing, habe ich vor allen Dingen Namensrecherchen betrieben. In der Prosa wie auch im Film ist es ja ungeheuer wichtig, daß die Namen zu den Figuren passen. Heutzutage gibt es im Internet die wunderbare Möglichkeit, die Häufigkeit von Vor- und Nachnamen in einer Region zu einer bestimmten Zeit festzustellen. So konnte ich Namen finden, die damals im Hunsrück gebräuchlich waren, und brauchte nur ein bißchen Intuition, um die Vor- und Nachnamen zu verkoppeln. Auf diese Weise entsteht schon etwas von dem, was wir Authentizität nennen. Wenn eine Figur einen Namen trägt, bekommt sie ein Gesicht und wenig später auch ein Schicksal. Damit habe ich begonnen und dann in drei Monaten die ganze Erzählung geschrieben – es sind bloß 130 Seiten –, und das war der Stand der Dinge, als wir mit dem Drehbuch begannen. Edgar Reitz sagte zu Recht: »Jetzt sind wir im Bereich der Fiktion, jetzt müssen wir noch einmal bei Null anfangen, denn das Drehbuch zu schreiben ist etwas völlig anderes, als die Erzählung zu schreiben.« Ich kann auch gerne darlegen, warum das so ist: Ich schreibe meine Romane und Erzählungen so, wie es meist bei zeitgenössischer Prosa der Fall ist, nämlich mit Vor- und Rückblenden, Assoziationen und Erinnerungen. Meine Erzählung »Die andere Heimat« ist im Prinzip eine komplette Rückblende, ausgehend vom Tag des Abschieds der Auswanderer, der vom Vormittag bis zum Nachmittag geschildert wird. In dieser Spanne sind sämtliche Erinnerungen, Erlebnisse und Wandlungen der Figuren enthalten. Das wollte Edgar Reitz auf keinen Fall. Er wollte keine Rückblenden. Ich habe das zuerst nicht verstanden, weil es das ja auch im Film gibt – ich habe dreizehn Jahre als Filmkritiker gearbeitet und kenne mich ganz gut aus. Aber er meinte, Rückblenden seien ein intellektuelles Stilmittel, und wir hätten es hier mit einem archaischen Stoff zu tun, mit armen Menschen, die ums Überleben kämpfen. Archaische Geschichten werden, wie man an den großen Epen der Menschheit sehen kann, immer linear erzählt. Deswegen wollte er, daß auch der Film linear erzählt. In dieser Hinsicht war die Erzählung unverfilmbar. Wir brauchten also einen Punkt, wo die Geschichte beginnen konnte, und es war klar, daß die Hauptfigur Jacob, der Träumer, schon in der ersten Szene in einer typischen Situation auftreten mußte. Deshalb beginnt der Film damit, daß der Vater, ein Feind des Lesens, erst das Buch und dann den Sohn hinausschmeißt.
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SINN UND FORM, 4/2014 S. 470-479, hier S. 470-473
RALPH SCHOCK: Ihr neuer Gedichtband "Regentonnenvariationen" ist vor einigen Monaten erschienen. Ich habe Sie in Frankfurt während der Buchmesse daraus lesen hören und gedacht, das ist ein Autor, mit dem ich gern über Dichtung sprechen würde. Ihre literarische Karriere hat aber gar nicht mit einem Lyrikband begonnen. JAN WAGNER: Bevor mein erstes eigenes Buch herauskam, habe ich unter anderem Charles Simic übersetzt, einen amerikanischen Dichter mit Belgrader Wurzeln, und wie so viele junge Lyriker eine Zeitschrift herausgegeben, besser gesagt, ein Objekt zwischen Zeitschrift, Buch und Kunstgegenstand – eine Literaturschachtel. SCHOCK: Können Sie diese Literaturschachtel beschreiben? (...)
LeseprobeSchock, Ralph
»EINE ANDERE WAHRNEHMUNG DER WELT«
Ein Gespräch über Gedichte mit Jan Wagner
RALPH SCHOCK: Ihr neuer Gedichtband »Regentonnenvariationen« ist vor einigen Monaten erschienen. Ich habe Sie in Frankfurt während der Buchmesse daraus lesen hören und gedacht, das ist ein Autor, mit dem ich gern über Dichtung sprechen würde. Ihre literarische Karriere hat aber gar nicht mit einem Lyrikband begonnen.
JAN WAGNER: Bevor mein erstes eigenes Buch herauskam, habe ich unter anderem Charles Simic übersetzt, einen amerikanischen Dichter mit Belgrader Wurzeln, und wie so viele junge Lyriker eine Zeitschrift herausgegeben, besser gesagt, ein Objekt zwischen Zeitschrift, Buch und Kunstgegenstand – eine Literaturschachtel.
SCHOCK: Können Sie diese Literaturschachtel beschreiben?
WAGNER: Von 1994 bis 2003 haben wir elf Ausgaben gemacht. Der Titel »Die Außenseite des Elementes« ist im Grunde eine Art sprachliches Ready-made, nämlich der Aufkleber, mit dem Glaser die Außenseite einer Fensterscheibe bekleben, also die Wetterseite. In der DIN-A4-Pappschachtel befindet sich eine gedruckte Loseblatt-Sammlung mit Lyrik aus aller Welt, im Original und in Übersetzung, aber auch Prosa, Zeichnungen, Radierungen und so weiter. Durch den Verzicht auf Heftung und Seitennumerierung waren die Leser eingeladen, selbst die Reihenfolge zu bestimmen: das Lieblingsgedicht nach oben zu legen, vielleicht sogar eine Zeichnung, die sie besonders mochten, herauszunehmen, zu rahmen und an die Wand zu hängen. Mit anderen Worten: Es war eine nichthierarchische Publikation, bei der die Käufer in den Gestaltungsprozeß eingebunden werden sollten. Das Ganze zum Selbstkostenpreis und gewissermaßen als literarische Hommage an Marcel Duchamp und seine Schachtelkunst.
SCHOCK: Sie haben auch Arbeiten von Lyriker-Kollegen herausgegeben. Beachtung fanden zum Beispiel die 2003 erschienene Anthologie »Lyrik von Jetzt« und der einige Jahre später veröffentlichte Nachfolgeband.
WAGNER: Beide Bücher habe ich mit Björn Kuhligk herausgegeben. Es war der Versuch, die Lyrik unserer Generation zu sammeln. Wir wußten ja, wie aufregend das war, was in der deutschsprachigen Poesie geschah. Nicht zu Unrecht ist gesagt worden, daß der Reichtum an großartiger Lyrik seit Mitte der neunziger und erst recht in den letzten zehn Jahren seinesgleichen sucht, daß es vielleicht seit dem Frühexpressionismus keine solche Vielfalt individueller Stimmen mehr gegeben hat. Wenn man das selbst erlebt und sieht, wer in den Cafés und Kneipen liest, wer in den kleinen Zeitschriften, von denen es ja wimmelt, publiziert, hat man den Wunsch, es einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, die in der Regel gar nichts davon ahnt.
SCHOCK: Sie wurden 1971 in Hamburg geboren und haben dort und in Dublin und Berlin Anglistik studiert. Sind Sie in einem literarischen Elternhaus aufgewachsen?
WAGNER: Ich bin in einem Haus mit einer großen Bibliothek aufgewachsen, und meine Eltern haben mich schon in frühester Kindheit zum Lesen ermuntert. Zuerst waren das vor allem Romane, die Lyrik kam dazu, als ich vierzehn, fünfzehn war, und hat mich regelrecht zum Glühen gebracht. Emily Dickinson hat einmal geschrieben: »Wenn es sich anfühlt, als würde Deine Schädeldecke abgehoben, dann weißt Du, es ist Poesie.« Und das geschah mir zum Beispiel mit den Frühexpressionisten Georg Heym, Georg Trakl, besonders aber mit englischsprachigen Dichtern. Der erste, der mich so begeistert hat, daß ich dachte: So würde ich die Sprache auch gern beherrschen, als eine Magie zweiter Ordnung, war Dylan Thomas, der berühmte walisische Dichter, der auch eine wunderbare Stimme hat. Eine Freundin beschrieb sie einmal als »a rich old fruity portwine of voice«, als volle, fruchtige Portweinstimme, was es sehr gut trifft. Ich habe seine Stimme, seine Gedichte und auch sein Hörspiel »Unter dem Milchwald« gehört und war hin und weg.
SCHOCK: Sie sind mit Ihren Veröffentlichungen außerordentlich erfolgreich, sind Mitglied mehrerer Akademien, wahrscheinlich fast überall eines der jüngsten, Ihre Gedichte wurden in allen wichtigen Anthologien gedruckt, die Liste der Ehrungen und Preise bei Wikipedia ist beinahe länger als Ihr biographischer Eintrag. Können Sie als Lyriker auskömmlich leben?
WAGNER: Ich bin in jedem Fall beglückt und wurde reich beschenkt, gar keine Frage. Das ändert aber nichts an der Faustregel, daß man von Lyrik nicht leben kann. Niemand, der ein geregeltes Auskommen haben möchte, sollte darauf hoffen, das mit dem Schreiben von Gedichten erreichen zu können. Das ist, anders als bei Romanen, im Grunde unmöglich, und viele befreundete Dichterentscheiden sich deshalb ganz bewußt für einen Brotberuf. Sie sind zum Beispiel Buchhändler, arbeiten beim Rundfunk oder an einer Universität. Es ist möglich, als freier Lyriker zu leben, wenn man verschiedene Einkünfte hat, in meinem Fall etwa durch eigene Bücher, durch Lesungen in Buchhandlungen oder Literaturhäusern, durch Übersetzungen und Rezensionen. Doch selbst dann ist man darauf angewiesen, ab und zu ein Stipendium zu bekommen, das einem ein halbes Jahr oder länger Sicherheit und Unabhängigkeit schenkt.
SCHOCK: Haben Sie angesichts all der Ehrungen und Preise eine bestimmte Strategie, um nicht abzuheben, um auf dem Teppich zu bleiben?
WAGNER: Mein Teppich ist so gut verlegt, daß ich die gar nicht brauche, und es ist auch kein fliegender Teppich. Es mag banal klingen, aber für mich ist das Gedicht das Entscheidende. Ich bin erstaunt und beglückt, daß meine Texte so positiv aufgenommen werden, aber was mich wirklich glücklich macht, ist das Gelingen eines Gedichts. Ich glaube, so geht es allen, die Gedichte schreiben. Das liegt an der Wichtigkeit, die man der Sprache beimißt, dem Wunsch, all ihre widerstrebenden Elemente – das Musikalische, die Semantik, die Metaphern, die Paradoxien – auf engstem Raum zu vereinen, zum Klingen zu bringen und etwas zu schaffen, das dem Diktum von Emily Dickinson entspricht, das zu einer anderen Wahrnehmung der Welt führt, zu einer Explosion im Kopf. Der Wunsch, das zustande zu bringen, ist so groß, daß er das Hauptaugenmerk beansprucht.
SCHOCK: Diesen Anspruch haben Sie in dem wunderbaren Gedicht »giersch« exemplarisch eingelöst. Können Sie erzählen, wie so ein Text zustande kommt? Giersch ist ja eigentlich ein Unkraut. Manche Leute essen ihn auch als Gemüse. Haben Sie das mal probiert?
WAGNER: Nein, ich bin auch kein Gartenbesitzer, aber ich habe mir sagen lassen, daß er gut schmeckt. Man kann Suppe daraus machen, Salat, auch Quiche, was mir gut gefällt, weil Quiche und Giersch – als Giersch-Quiche – eine wunderbare Wortkombination ergibt. Jeder Gärtner liebt und haßt den Giersch, aber man kann unmöglich so viel davon essen, daß der Garten gierschfrei wird. Ich saß einmal als einziger Balkonbesitzer unter lauter Kleingärtnern, die sich über ihre Gierscherfahrungen austauschten und jammerten und stöhnten. Als Unbeteiligter konnte ich mich ganz auf das Wort Giersch konzentrieren, in dem wunderbarerweise schon die Gier enthalten ist, die ihn ausmacht. Ich ließ mich von dem Gespräch wegtreiben und begann über die Laute dieses Wortes nachzudenken. So kam es zu dem Gedicht. Wenn man es zum ersten Mal hört, wird man vielleicht nicht merken, daß es eine klassische Form bedient. Es ist ein Sonett, allerdings ein unterwandertes oder, wie es sich für den Giersch gehört, ein überwuchertes. Die Klangstruktur des Wortes sprengt mit ihrem sprachlichen Wurzelwerk die Form, bricht sie auf und überwuchert das ganze Gedicht.
SINN UND FORM 2/2015, S. 214-228, hier S. 214-216
RALPH SCHOCK: Du hast für den Saarländischen Rundfunk deinen Roman »Bei Regen im Saal« eingelesen. Wie war die Wiederbegegnung mit dem (...)
LeseprobeSchock, Ralph
»Ich sehe mich als Überlebenden meiner Krisen«. Gespräch mit Wilhelm Genazino
RALPH SCHOCK: Du hast für den Saarländischen Rundfunk deinen Roman »Bei Regen im Saal« eingelesen. Wie war die Wiederbegegnung mit dem Buch?
WILHELM GENAZINO: Im großen und ganzen hat es mir gut gefallen. Wenn ich es noch einmal schreiben müßte, würde ich den einen oder anderen Satz streichen, aber das ist normal. Um gewisse Aufdringlichkeiten zu bemerken, zum Beispiel überdeutliche Erläuterungen, die die Mitarbeit des Lesers überflüssig machen, braucht man eben Abstand.
SCHOCK: Gab es auch die eine oder andere Stelle, wo du denkst: Da hätte ich noch einen Satz ergänzen müssen?
GENAZINO: Natürlich, aber das gehört zu den Wonnen des Wiederlesens. Von einer kleinen Stelle aus ergibt sich plötzlich ein Panorama auf neue Texte, und ich notiere mir das auf einen Zettel, damit ich es nicht vergesse. Das kommt dann in den nächsten oder übernächsten Roman, falls es den noch gibt.
SCHOCK: Wie arbeitest du? Wie kommt ein Einfall oder eine Wahrnehmung in den Roman?
GENAZINO: Wenn ich ungefähr weiß, wohin es läuft, sehe ich Szenenfolgen und Kapitel vor mir. Und dann fange ich an, Material zu suchen, zum Beispiel auf den Zetteln, die ich bei mir habe, oder zu Hause auf anderen, die ich in einen sogenannten ewigen Werkstattbericht mit fortlaufender Nummer und fortlaufendem Code übertragen habe. Ich mache auch einen Index von den Zetteln und Inhalten. Wenn ich zum Beispiel im Roman eine Supermarkt- oder auch eine Urlaubssituation habe, kann ich nachschauen und finde dann tatsächlich eine Notiz, die ich vor zehn oder fünfzehn Jahren geschrieben habe.
SCHOCK: Es gibt berühmte Schriftsteller und Philosophen, die auf diese Weise gearbeitet haben, Arno Schmidt oder Hans Blumenberg zum Beispiel. Wie findest du im Index die Passagen? Wie tief ist der gegliedert? Wenn du zum Beispiel eine Frau beschreiben willst, kommt dann ein Unter-Index: Beine, Augen, Haare, und noch ein Unter-Index: blond, rot …?
GENAZINO: Der Index ist natürlich genauer chiffriert, und so erscheint nicht das Wort Frau, sondern zum Beispiel das Wort Nachmittagssex. Also gucke ich unter Nachmittag. Dann habe ich drei oder vier Eintragungen, die ich alle lese und von denen ich die eine oder andere verwenden kann. Aber die Aufzeichnungen haben noch einen anderen Vorteil, nämlich den, daß das Wiederlesen sofort neue Texte auslöst. Dann mache ich sozusagen neue Notate über einen alten Fall.
SCHOCK: Kriegt eine verwendete Notiz eine Anmerkung oder einen roten Punkt, wird sie weggeworfen oder durchgestrichen?
GENAZINO: Die kriegt einen Strich an der Seite und ein v., das bedeutet verwendet. Dann weiß ich sofort, ich muß etwas anderes suchen.
SCHOCK: Weißt du auch, in welches Werk sie eingeflossen ist?
GENAZINO: Nein, sie begegnet mir nur, wenn ich die Bücher wiederlese. Dann kommt mir alles bekannt vor, und trotzdem klingt es Gott sei Dank ganz neu.
SCHOCK: Notierst du auch Zitate aus Büchern?
GENAZINO: Ja, aber die werden mit Z. gekennzeichnet. Es sind in der Regel Lieblingszitate, die ich schon lange irgendwo einbauen will. Meistens erscheinen sie in Essays und werden auch als solche ausgewiesen. Essays schreibe ich fast genauso gern wie Romane, nur braucht man dafür erheblich mehr Zeit, wenn sie etwas taugen sollen. Häufig stellt man auch fest, daß ein Thema schon so gut behandelt wurde, wie beispielsweise das Thema Heimat durch Danilo Kiš, daß sich der Aufsatz erübrigt.
SCHOCK: Ich bilde mir ein, daß man deine Romane fortlaufend lesen könnte und kaum merken würde, daß man schon im nächsten ist. Ist die Art und Weise, wie du Romane konzipierst, die Ursache dafür, daß sie wie Abschnitte eines einzigen großen Textes wirken?
GENAZINO: Ich kann den Eindruck nachvollziehen, merke aber schon, wo ein Roman zu seinem Ende findet und wo ein anderer anfängt. Was wiederkehrt, ist eine gewisse Grundstabilität, oder besser gesagt, Grundinstabilität der Hauptfigur. Von Unbehaustheit war in den sechziger und siebziger Jahren oft die Rede.
SCHOCK: Dein neuer instabiler Held heißt Reinhard und ist ein Modernisierungsverweigerer, er hat keinen Computer, keinen Laptop, kein Handy, nur eine Schreibmaschine. Wenn man dich ein bißchen kennt, erkennt man eine gewisse Ähnlichkeit.
GENAZINO: Es steckt tatsächlich ziemlich viel von mir in Reinhard, und das habe ich natürlich auch gemerkt, aber es war mir mit einer seltsam gewachsenen Souveränität egal. Früher hätte mich das gestört, auch weil ich mich meiner Herkunft schämte. Früher wollte ich die noch verheimlichen.
SCHOCK: Die Scham oder die Herkunft?
GENAZINO: Die sind oft identisch. Die Herkunft ist der Grund für die Scham. Inzwischen weiß ich, daß es bei vielen Schriftstellern, die ich schätze, genauso war und für jemanden, der mit einer gewissen Erdverbundenheit lebt und schreibt, auch völlig normal ist. Niemand erwartet, daß der Autor ausgerechnet über die Urgründe hinwegspringen will, das wäre albern und töricht. Zum Glück ist mit der Jugend auch die Scham verschwunden.
SCHOCK: Deine Protagonisten sind, soweit ich mich erinnern kann, alle um die vierzig, auch im neuen Roman. Warum läßt du sie nicht mit dir altern?
GENAZINO: Da habe ich noch eine gewisse Hemmung, weil ich das reale Alter ganz gut kenne, auch weil in der Straße, wo ich wohne, zwei Altersheime sind. In »Bei Regen im Saal« wird beschrieben, wie die Bewohner eines Altersheims nachmittags ausfahren und in ihren Rollstühlen mit einer Hebebühne auf ein Fahrzeug gehoben werden. Dieser kleine Vorstoß ist mir zum Glück, glaube ich, ohne Peinlichkeit gelungen. Daß das Altwerden einen solchen technischen Aufwand auch der Helfer nach sich zieht, überfordert mich, und ich habe noch nicht die Kurve gekriegt, eine reale Demenz mit allem, was das heißt, zu beschreiben. Die Kühnheit, so etwas Unbeschreibliches zu riskieren, fehlt mir. Vielleicht kommt sie noch, das muß man abwarten. Aber es kann ja auch passieren, daß ich selber dement werde, und dann hat sich die Sache auf diesem Umweg erledigt. Über beide Möglichkeiten denke ich häufig nach. Ich glaube aber nicht, daß ich darunter leiden werde, wenn ich keinen Demenz-Roman schreibe.
SCHOCK: Und wie wäre es, von jetzt aus betrachtet, für dich, wenn du dement würdest und keine Bücher mehr zu schreiben bräuchtest?
GENAZINO: Ich glaube, ich könnte es hinnehmen, ich habe ja genug geschrieben. Schwieriger wäre es, dauernd Hilfe zu brauchen. Man kann ja als schwer dementer Mensch nicht mal allein auf die Toilette gehen. Wenn man Glück hat, findet man eine Person, deren körperliche Nähe einen nicht bedrückt. Aber wenn man Pech hat, ist einem der Helfer unsympathisch, und man kann es nicht sagen, weil er ja ein Helfer ist. Davor habe ich Angst.
SCHOCK: Dein Reinhard hat wie viele andere deiner Protagonisten einen seltsamen Job, er ist Überwinder. Was muß man sich darunter vorstellen?
GENAZINO: Das ist ein Therapeut ohne Ausbildung oder einfach nur ein Helfer. Also genau das, worüber wir eben gesprochen haben. Er vertreibt Leuten die Langeweile oder die Einfallslosigkeit, die ja auch dramatisch sein können. Jemand, der sich langweilt – ein uraltes Thema, das mich schon lange fasziniert. Aber dieser Zustand wird von der Gesellschaft als normal angesehen, es gibt keine Langweile-Therapeuten. Wahrscheinlich mit gutem Grund, weil sonst herauskäme, daß sich drei Viertel der Bevölkerung langweilen und man leider zu der Minderheit gehört, die damit nicht fertig wird. Das ist schwierig, und deswegen nennt er sich Überwinder. Er hilft den Leuten sozusagen, die Normalität zu überwinden, die ihr unbegriffenes Problem ist.
SCHOCK: Ist Langeweile eigentlich ein schöpferischer oder ein lähmender Zustand?
GENAZINO: Sehr gute Frage. Manchmal das eine und dann wieder das andere. Langeweile ist transformativ, das heißt, es kann als eine echte Langeweile anfangen, man glotzt gegen die Wand und weiß nicht, was man machen soll. Und plötzlich formt sich daraus ein Keim, ergibt sich ein Anhaltspunkt für den Ausstieg aus der Langeweile. Wenn ich guter Laune bin, versteige ich mich manchmal zu der Aussage, es gebe gar keine Langeweile: Man muß nur den Mut haben, auf ihr Verschwinden zu warten, und den haben die Leute natürlich nicht. Wie oft hört man ein Kind sagen: »Mama, mir ist langweilig«. Ein Kind hat das Recht, so etwas Alarmierendes zu sagen in der Hoffnung, daß die Mama weiß, was es jetzt machen soll, und meistens weiß sie es ja auch. Aber von einem Erwachsenen erwartet man, daß er die Transformation abwarten kann, und wenn er ein bißchen Erfahrung mit sich selber hat, wird er zugeben, daß sie zu den merkwürdigsten Ergebnissen führen kann. Und die sind interessant und nicht mehr langweilig.
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SINN UND FORM 2/2019, S. 161-167, hier S. 161-164
RALPH SCHOCK: Wir führen jetzt ein kleines Gespräch und ich zücke einen Zettel, den ich, um dieses Gespräch ein wenig zu strukturieren, (...)
LeseprobeSchock, Ralph
Den Augenblick beim Schopf fassen.
Ein Gespräch mit Arnfrid Astel über Literatur im Radio, das Glück der Spontaneität und Freundschaften mit Schriftstellern
RALPH SCHOCK: Wir führen jetzt ein kleines Gespräch und ich zücke einen Zettel, den ich, um dieses Gespräch ein wenig zu strukturieren, vorbereitet habe. Das hast du nie gemacht. Ich habe einen Großteil deiner Gesprächssendungen im Studio mitgekriegt, aber du hattest nie einen Zettel dabei. Warum eigentlich nicht? Ist das Snobismus?
ARNFRID ASTEL: Nein. Ich bin kein sehr systematischer Mensch. Das habe ich ja mal in einem Buch geäußert, das Steffen Aug im Pocul-Verlag herausgegeben hat. Es heißt »Im Chaos schwimmt der aufgeräumte Kopf«. Man kann natürlich Ordnungen schaffen, und das ganze Leben, der ganze Staat und alles um uns herum besteht aus dieser Ordnung. Nur im Kopf wird nichts vernetzt. Ich habe nicht die Kraft, außerhalb meines Kopfes Ordnung zu schaffen, und daher rette ich mich in einen gewissen Hochmut, der aber auch irgendwie begründet ist. Ich habe mich natürlich mit den Autoren beschäftigt und mußte mich deshalb nicht so intensiv auf die Sendungen vorbereiten, weil ich nur Leute gesendet habe, deren Literatur ich einigermaßen kannte. Und dann vertraute ich auf die Situation: Den Augenblick beim Schopf zu fassen war für mich am wichtigsten, und nur so gelingen mir solche Sendungen. Am schwierigsten war es für mich, wenn ich mal einen Zettel hatte, vom Ablesen wieder ins Gespräch zu kommen, und umgekehrt. Daran scheitere ich, das kann ich gar nicht. Und dann gibt es ja diesen Druck, diesen Horror vacui, der im Rundfunk größer als im Fernsehen ist – im TV kann man wenigstens gucken, was die Petra Gerster anhat, und sich in ihre blauen Augen, ihre wunderbaren Twinsets und dergleichen vertiefen. Im Hörfunk geht das nicht. Und deshalb ist der Horror vacui, die Angst, daß einem nichts einfällt, besonders stimulierend. Also fällt dir etwas ein, etwas anderes kannst du dir gar nicht erlauben.
SCHOCK: Ich wußte gar nicht, daß du in der Situation Angst hast … Ich habe mehrfach miterlebt, wie der Einstieg vor sich ging: erst das Parlando, das Vorgespräch in der Kantine, dann der Gang ins Studio. Du hast den Beginn des Gesprächs inszeniert. Böse Zungen behaupten, daß du erst angefangen hast, wenn dein Gesprächspartner aufgeregt war. Meistens schafften es die Gäste, eine Zeitlang gelassen zu bleiben. Aber du hast erst angefangen, wenn du ganz ruhig geworden warst und dein Gesprächspartner irgendwie nervös, weil es nicht losging. Manchmal hast du auch gesagt, man könnte das Mikrophon in der Kantine auf den Tisch stellen, das wäre das Allerbeste. Trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen dem Parlando in der Kantine und dem Beginn einer Gesprächssendung im Studio. Den hast du ganz bewußt gestaltet und immer wieder hinausgezögert. Deine Vorgespräche sind legendär.
ASTEL: Was du zuerst gesagt hast – daß ich gewartet hätte, bis mein Gesprächspartner verunsichert war –, halte ich für üble Nachrede, das hat keinen Fuß in der Realität.
SCHOCK: Vielleicht zwei?
ASTEL: Vielleicht zwei, natürlich, die wichtigen Sachen sind einem selbst ja nicht bewußt. Wenn das stimmen sollte, wäre es schlimm. Es geht aber nicht darum, daß du eine Sendung abliefern mußt, sondern darum, daß du dich wirklich für den Autor und seine Literatur interessierst. Und wenn man etwas wissen will, ist man nicht verlegen, danach zu fragen. Ich habe immer gefragt, was ich wissen wollte. Das ist ein einfaches Rezept. Wenn man nichts wissen will, ist es natürlich schwierig.
SCHOCK: Hast du manchmal getürkte Fragen gestellt? Hast du etwas gefragt, was du schon wußtest, um jemanden ins Sprechen zu bringen oder aus der Reserve zu locken?
ASTEL: Rhetorische Fragen kommen vor. Es war immer mein Ziel, mit den Autorinnen und Autoren freundschaftlich zu verkehren. Auch in der Zeit vor dem Rundfunk, in der ich viele Literaturkritiken schrieb, habe ich nur rezensiert, was ich gut fand. Ich habe nie einen Verriß geschrieben. Und so war es
eigentlich auch mit den Sendungen.
SCHOCK: Einspruch, euer Ehren. Mir fällt eine Formulierung ein, die ich, weil sie so unglaublich war, nie vergessen werde. Du hast ein Gespräch mit einem Autor geführt, dessen Namen ich nicht sage. Du warst erkennbar wenig begeistert von dem Text, hast einige abgegriffene Formulierungen, Bilder und so weiter aufgegriffen und dann hinterhältig gefragt: Woher, lieber Autor, nimmst du das Vertrauen, daß diese abgegriffenen Bilder bei dir poetischen Glanz entfalten?
ASTEL: Aber er hat es nicht gemerkt.
SCHOCK: Das ist ja noch hinterhältiger!
ASTEL: Er hat es nicht gemerkt – und weiß es bis heute nicht. Es besteht natürlich die Gefahr, daß man sich hinter dem Rücken des Autors mit den klügeren Zuhörern verbündet. Die Kritik wurde ja sanft geäußert, im Ton der Bewunderung: Ich beneide dich um dein Selbstvertrauen in solche Formulierungen.
SCHOCK: Ich möchte dich nach den Kriterien fragen, wie du die Autoren ausgewählt hast. Unser Kollege Peter König hat heute einen Satz über dich gesagt, den ich auch unterschreiben würde: Ruhm war ihm verdächtig.
ASTEL: Stimmt.
SCHOCK: Gleichwohl hattest du immer wieder Gesprächspartner wie Enzensberger, Rühmkorf, Walser, Sarraute, etc. Aber warum waren Autoren, die weniger bekannt sind, für dich wichtig? Warum hast du sie eingeladen? Was hat dich an ihnen mehr interessiert als an den bekannten?
ASTEL: Ich denke, es ist nicht Aufgabe eines Redakteurs, die ohnehin bekannten Leute immer wieder zu senden. Also Grass, Lenz, Böll und so weiter. Die Böll-Sendung war eine Ausnahme. Bölls Dichtung kennt niemand, die ist völlig unbekannt geblieben. Mit Hans Magnus Enzensberger ist es eine andere Sache. Er ist öffentlichkeitsscheu und negiert eigentlich den Literaturbetrieb, ist aber einer seiner bekanntesten Vertreter. Mit ihm habe ich übrigens schon früh korrespondiert für die »Lyrischen Hefte«. Ich hatte mit ihm immer schöne Gespräche. Er wußte es zu schätzen, daß ich nichts für meine eigene Karriere von ihm wollte. Das hat er mir auch mal gesagt. Ich wollte nur Sendungen mit ihm machen. Und im Gegensatz zu seiner sonstigen Scheu vor dem Literaturbetrieb hatte er diese Hemmungen mir gegenüber nicht.
SCHOCK: Die Frage war aber, warum du oft ganz am Anfang ihrer Laufbahn Autoren eingeladen hast, von denen gar nicht absehbar war, daß sie einmal bekannt würden: Nicolas Born, Hubert Fichte und so weiter.
ASTEL: Weil mich ihre Literatur interessiert hat. Ich hatte etwas von ihnen zu lesen bekommen. Oder sie sind mir vor die Füße gelaufen. Das sind Zufälle. Und wenn du, wie ich, als Student eine Zeitschrift machst, die »Lyrische Hefte« heißt, gehst du nicht zu den bekannten Leuten, wenn dich selbst keiner kennt. Also habe ich gemacht, was ich aus meiner Umgebung kannte.
SCHOCK: Wann ist eine Sendung nach deiner Einschätzung schiefgegangen? Hast du dafür Kriterien?
ASTEL: Peinlich sind Sendungen, in denen du einem Autor ins linke Nasenloch einfädeln mußt, was du ihm aus dem rechten zu ziehen gedenkst. Also mit Autoren, die nicht von sich aus reden oder eingeschüchtert sind von dem Medium. Das Reden habe ich ja nicht beim Rundfunk gelernt, ich habe schon vorher immer geredet. Nur am Anfang habe ich mich dort nicht getraut, weil beim Rundfunk noch ganz andere Sitten herrschten. Das freie Reden mit ungeschnittenen Sendungen, in denen nicht jeder Versprecher getilgt wird, war unüblich. Ich habe das mitgemacht und gemerkt, daß das Ungeschnittene eigentlich das Interessante ist. Sozusagen die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Man weiß vorher nicht, was man sagen wird. Es sei denn, man hat einen Zettel.
SCHOCK: Was hältst du eigentlich von der Idee, daß du im Grunde ein Prediger bist, der sich Woche für Woche Autoren als austauschbare Adressaten seiner Predigten eingeladen hat?
ASTEL: Es ist mir sehr peinlich, aber das stimmt leider. Ich bin schon so eine Art Prediger ohne theologische Examina und deshalb nur nachmittags zugelassen. Ich predige gern. Ich teile auch gern mit, was ich von anderen gehört habe, und finde das nicht schlimm. Es geht ja ums Gespräch. Zu meinem siebzigsten Geburtstag hast du mit Michael Buselmeier ein Buch mit dem Titel »Seit ein Gespräch wir sind« herausgebracht. Das Motto stammt aus Hölderlins »Friedensfeier«: »Viel hat von morgen an / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.« Das klingt vielen Leuten sicher hochtrabend, aber es ist wichtig, im Gespräch zu sein. Und wenn wir tot sind, leben wir allenfalls in der Literatur oder in den Gesängen nach uns fort. In einem Brief an Böhlendorff schreibt Hölderlin: »Schreibe doch nur bald, ich brauche Deine reinen Töne. Die Psyche unter Freunden, das Entstehen des Gedankens im Gespräch und Brief, ist Künstlern nötig. Sonst haben wir keinen für uns selbst.« Den Gedanken für uns selbst haben wir erst, wenn wir ihn im Gespräch äußern. Diese Überlegung ist natürlich eine Utopie von Freundschaft, die meistens nicht eingelöst wird, aber einlösbar ist. Man kann sich unterhalten. Wir haben uns auch in der Kantine immer wunderbar unterhalten. Und ich erinnere mich an die Zeit, in der wir, weil wir es mit der Mittagspause nicht so genau genommen haben, dort ungeheure Tischgespräche geführt haben. Die hätte man auch senden können.
SCHOCK: Ich erfahre es manchmal als bedrückend, sogar peinigend, daß man als Literaturredakteur in einer Doppelfunktion agiert. Man ist mit den Autoren mehr oder weniger bekannt, befreundet, gelegentlich auch verfeindet. Wie bist du damit umgegangen, wenn du von befreundeten Autoren Manuskripte bekamst, die du nicht überzeugend fandest? Die Leute leben ja vom Schreiben und wollen im Winter nicht frieren. Ernst-Jürgen Dreyer, der 1980 für seinen Roman »Die Spaltung« den Hermann-Hesse-Preis bekam, überwies das ganze Geld seinem Zahnarzt, bei dem er Schulden hatte.
ASTEL: Es ist für einen Redakteur, der Gelder zu vergeben hat und Entscheidungen treffen kann, natürlich schwierig, unabhängig zu bleiben. Wichtig ist herauszukriegen, worin die Freundschaft besteht. Wenn Autoren bloß deshalb mit dir befreundet sind, weil du gelegentlich Sendungen mit ihnen machst, sind sie keine echten Freunde.
SCHOCK: Sind dir bestimmte Sendungen besonders in Erinnerung geblieben?
ASTEL: Ja, viele. Eine wunderbare Sendung war zum Beispiel die mit Wolfdietrich Schnurre. Warum war das Gespräch phantastisch? Weil der Mann phantastisch ist! Ich hatte ihm gesagt: Ich würde gerne eine Sendung mit Ihnen machen. Sie lesen, was Sie wollen, und ich will es vorher nicht mal wissen. Da hat er mich in der Sendung mit einem langen Text überrascht, »Der Mann mit dem Waldläufergang«. Es kam heraus, daß es ein Nachruf auf seinen Vater war, den er aber am Grab nicht lesen konnte, weil es ihn zu sehr ergriffen hat. Wolfdietrich Schnurre war nicht nur ein interessanter Schriftsteller, sondern auch eine interessante Person. Andere verschwinden ja hinter ihren Büchern und haben auch nichts dagegen, weil sie vielleicht merken, daß sie das Niveau ihrer Literatur nicht halten können. Aber es ist natürlich wunderbar, wenn da in der Qualität praktisch kein Unterschied mehr ist.
SCHOCK: Ein anderer Autor, dessen Sendung du zum Jubiläum des Saarländischen Rundfunks wiederholt hast, war Thaddäus Troll. Warum?
ASTEL: Ich hatte ihn nicht eingeladen, hörte aber, er sei gerade im Funkhaus. Da habe ich ihn einfach gefragt: Wir haben morgen ein Studio, hätten Sie nicht Lust, eine Sendung mit mir zu machen? Sie können lesen, was Sie wollen. Er las dann einen Nachruf auf sich selbst, der ungefähr so beginnt: »Heute nachmittag um drei wurde auf dem Steigfriedhof in Stuttgart Thaddäus Troll beerdigt. An seinem Grab spielte eine Jazzband ›New Orleans Function‹ von Satchmo, von Louis Armstrong.« Und es ging so weiter, er hat seine eigene Beerdigung geschildert. Bevor die Sendung ausgestrahlt wurde, hat er sich umgebracht. Er hatte wohl eine Krebsdiagnose. Im Gespräch war er sehr heiter. Er war einer von diesen Leuten, die oft als Humoristen verkannt werden. Daß jemand ohne zu lamentieren seinen eigenen Nachruf im Radio vorliest und sich dann umbringt – ich muß schon sagen: Das ist nicht von Pappe.
SCHOCK: Zum Schluß noch diese Frage: Du hast bei Vorgesprächen mit den Autoren zum Warmwerden oft übers Wetter geredet. Aber manchmal hast du auch ironisch gefragt: Haben Sie eine Botschaft an die Menschheit? Die hatten keine, aber du hattest immer eine.
ASTEL: Natürlich! Als Prediger.
SCHOCK: Hast du heute eine Botschaft an die Menschheit?
ASTEL: Bleibt, wie ihr seid, aber nicht ganz so schlimm. Das sage ich mir selber auch.
SINN UND FORM 5/2024, S. 697-700