Schlaffer, Hannelore
geb. 1939 in Würzburg, bis 2001 Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Essayistin und Autorin, lebt in Stuttgart. Zuletzt erschienen »Rüpel und Rebell. Die Erfolgsgeschichte des Intellektuellen « (2018) und »Zeit meines Lebens. Was war und noch ist« (2022). (Stand 4/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 5/2001 | Der jugendliche Greis. Das Reden über Alter und Altern
- 6/2014 | Die Heimat tritt in den Krieg ein. Brechts Mütter
- 6/2015 | Zweierlei Sprache. Rilke, seine Frauen, seine Interpreten
- 1/2021 | Schreiben. Eine Gymnastik
- 2/2022 | Liebe vor dem Sündenfall oder Das Paradies im Roman
- 3/2023 | Hildegard Knef, Schriftstellerin
- 4/2024 | Männer in der Hand der Frauen
Tugenden Das Alter wird heute als eine zweite Jugend begangen. Jugendlichkeit aber war zu allen Zeiten der Traum der Alten gewesen, nur haben sie (...)
LeseprobeSchlaffer, Hannelore
Der jugendliche Greis. Das Reden über Alter und Altern
Tugenden
Das Alter wird heute als eine zweite Jugend begangen. Jugendlichkeit aber war zu allen Zeiten der Traum der Alten gewesen, nur haben sie sich dies nicht eingestanden. Im zweitausendjährigen Diskurs über das Alter ist immer nur von dessen Vorzügen die Rede: von seiner Würde, seiner Weisheit, seiner philosophischen Gelassenheit. Bei genauem Hinsehen jedoch stellt sich heraus, daß diese Auszeichnungen nichts sind als Stilisierungen, mit denen die Alten versuchten, sich gegen die Jugend zu behaupten. Bis ins 18. Jahrhundert hat man sich solcher Selbstdarstellung befleißigt, hat den körperlichen Verfall hinweg geredet und sich zu geistigen Höhen emporgeschwungen. Erst im 18. Jahrhundert verdrängt die wissenschaftliche Beobachtung des alternden Körpers die Schönrednerei über die letzte Lebensphase.
Altersweisheit und Alterstorheit jedenfalls sind Eigenschaften, die nicht das Leben, sondern die Literatur hervorgebracht hat. Sie sind utopische oder satirische Überzeichnungen, die der letzten Lebensphase zugeordnet werden. Die Definition von Jugend differiert – in der Literatur so gut wie im Leben - je nach Epoche oder Land, die Definition des Alters hingegen blieb bis ins zwanzigste Jahrhundert unverändert. Jugend ist ein historisches Phänomen, Alter eine Konstante.
Tiere altern nicht, Tiere sterben. Das Alpha-Männchen, das seinen Platz räumen muß, ist besiegt, nicht alt. Vermutlich war für den Menschen ähnliches vorgesehen, und so ist der Altersdiskurs lediglich als der Versuch des Alpha-Männchens, den Angriff der Jugend abzuwehren. Wer über das Alter schreibt, behandelt es deshalb als einen Abschnitt im Leben des gesunden, denk- und handlungsfähigen Menschen. Das Ausblenden der Krankheit gehört zur Typologie der Gattung. Cicero betrachtet Krankheit als Schicksal, das Junge wie Alte ereilt. In früheren Jahrhunderten, als nur die Widerstandsfähigen ein hohes Alter erreichten, galten die Jungen sogar als anfälliger, ihre Leiden wurden als besonders heftig und gefährlich beschrieben.
In seiner Rede vor Kollegen der Universität und den Honoratioren der Stadt Wien mußte Johannes van Swieten, Leibarzt Maria Theresias, 1763 erst einmal eigens auf den Zusammenhang von Alter und Krankheit aufmerksam machen: »Sobald nämlich durch ein langes Leben die dickwandigen Gefäße unseres Körpers sich verengen, hören fast alle Funktionen auf oder nehmen ab, die Sinne werden stumpf, das Gedächtnis wird unsicher ...«. Er lenkte jedoch sogleich wieder in den althergebrachten Diskurs ein: »Aber es gibt ein frisches, ein rüstiges Greisenalter, und daß dieses geschützt und bewahrt werden muß, wird niemand bezweifeln.« »Senex«, also Greis, ist für ihn geradezu ein Adelsdiplom.
Seit der Antike wird das Alter als Utopie entworfen. Selbst Schopenhauer erklärte es zum eigentlichen Glückszustand des Menschen: Krankheit ist für ihn ein Defekt im philosophischen System; das Leben sollte so lange währen, bis es in höchstem Alter mit einem schmerzlosen, einem »sanften Tod« endet. »Erst zwischen neunzig und hundert Jahren sterben die Menschen, dann aber in der Regel vor Alter, ohne Krankheit, ohne Todeskampf, ohne Röcheln.« Die präzise Terminierung gehört zur Alterstypologie. In seinem Streben nach Genauigkeit hat sich der Mensch des Siebener- bzw. des Dezimalsystems bedient, um Lebenszeit und Lebensart einander zuzuordnen. Mit fündunddreißig beginnt der Grieche die sechste Lebensphase, die sich laut Solon folgendermaßen gestaltete:
Drauf im sechsten reift des Mannes Gesinnung und stählt
künftig mag er nicht mehr wirken an nichtigem Werk.
Vierzehn Jahre hindurch, im siebten und achten Jahrsiebent,
blühen in Fülle und Kraft Rede ihm und der Geist.
Auch im neunten noch manches, doch sinkt von der Höhe,
kraftvoll männlichen Muts Weisheit und Wort ihm herab.Wem aber Gott das zehnte Jahrsiebent zur Neige vollendet,
ihn ereilt dann der Tod wohl zu schicklicher Zeit.
Bis heute skandiert das Dezimalsystem das Leben durch runde Geburtstage. Alle zehn Jahre werden Körper und Geist angewiesen, wie sie sich künftig zu halten haben. Die Seele, die Gott gehört, kommt nicht in die Jahre, der Körper aber, an den die Moderne stärker glaubt, muß an jedem zehnten Geburtstag beweisen, wie gesund er noch ist. Geburtstage führen die antike Utopie vom jugendlichen Alter fort. Dabei werden dem Jubilar im Zehnjahres-, mittlerweile sogar im Fünfjahresrhythmus, die seinem Alter entsprechenden Gesten vorgezeichnet. Die Feier ist die Initiation in den nächsten Lebensabschnitt.
Als Cicero 44 v. C. »De senectute« schrieb und damit der Nachwelt einen Grundtext lieferte, wollte er den Beweis für die Brauchbarkeit der Unbrauchbaren erbringen. Er stellt Altern als Läuterungsprozeß dar, die Würde des alternden Menschen als eine Manifestation des reinen Geistes. Freigestellt von aller Praxis, überschaut dieser die Welt, als sei sie ein Fest: Alter ist Theorie als Lebenshaltung. Cicero nennt seine Schrift »Über das Alter« das Dokument seines Lebens. Ihre Abfassung habe nicht nur die Beschwerden des Alters beseitigt, sondern es sogar behaglich und angenehm gemacht. Ciceros Entwurf wird bis in die Neuzeit hinein nur um wenige Gedanken erweitert. Die philosophische Geistesverfassung, die dem Alter Würde und Wohlbefinden verleiht, setzt die Negation des Körpers voraus. Doch damit sich dessen Leiden wirklich in nichts auflösen, muß die Seele unsterblich sein. Sie absorbiert alle Eigenschaften der Jugend: Lebendigkeit, Erfindungskraft, Zukunft. Im 12. Brief an Lucilius schildert Seneca das Alter als eine Zeit, in der die Seele »voller Jugendkraft« ist und sich freut, »nicht mehr viel Gemeinschaft mit dem Körper zu haben«.
Die Freuden des Ackerbaus
Berühmte Männer, von Cicero bis Adenauer, waren Gärtner. Cicero zufolge werden »die Freuden des Ackerbaus ... in keiner Weise durch das Alter behindert und kommen andererseits ... dem Leben eines Weisen am nächsten. Man hat es dabei nämlich mit der Erde zu tun, die niemals den Befehl verweigert und niemals ohne Verzinsung das zurückgibt, was sie empfangen hat«.« Das ist die Haltung eines Grundbesitzers, der sich von seiner Liebhaberei sogar noch Gewinn erhofft. Der Garten der Moderne hingegen ist der stimmungsvolle Ort, wohin der Weise sich aus der Welt zurückzieht. Der Kreislauf von Werden und Vergehen gibt der Seele die Gewähr der Verjüngung. Jacob Grimm würdigt die weise Vorsorglichkeit der Greise, die »die stärkende Gartenpflege und Bienenzucht gern übernehmen, ihr Impfen, Pfropfen geschieht alles nicht mehr für sie selbst, nur für die nachkommenden Geschlechter, die erst des Schattens der Neupflanzung froh werden können.«
Die ewige Wiederkehr allerdings, derer sich der Greis beim Gartenbau vesichert, sieht sich in Frage gestellt durch das Nachlassen der Zeugungskraft, über das die Altersliteratur nur schwer hinwegzutrösten vermag. Hämisch durchstreicht die Natur die ideelle Deutung des Greises, indem sie ihm ihre hemmungslose Fruchtbarkeit entgegenhält. Wo alles liebt, Biene, Blume, Hase und Igel, schaut ein Liebesveteran nur zu. Entsagung ist des Gärtners Weisheit. Das Erlöschen der Liebeslust stellt die Utopie des glücklichen Alters mehr in Frage als Krankheit und Tod. Anders als diese äußeren Feinde gefährdet die Liebesunfähigkeit die Identität eines ganzen Lebens. Der verletzte Mannesstolz kompensiert die Beleidigung, indem er die intellektuelle Potenz aufwertet. Bereits Cicero kommt ohne solchen Trost nicht aus. Er stellt die Liebeslust unter Verdacht und rühmt ihr Versiegen als eine Segnung des Alters. Schopenhauer spricht ihm nach, indem er das Problem scheinbar sachlich, tatsächlich aber zynisch löst: «...jeder Genuß ist immer nur die Stillung eines Bedürfnisses: daß nun mit diesem auch jener wegfällt, ist sowenig beklagenswert wie daß einer nach Tische nicht mehr essen kann und nach ausgeschlafener Nacht wach bleiben muß. Viel richtiger schätzt Platon [...] das Greisenalter glücklich, sofern es den bis dahin uns unablässig beunruhigenden Geschlechtstrieb endlich los ist.«
Karikatur
Goethe hat im « Mann von funfzig Jahren« das Problem der falschen Jugendlichkeit als novellistische Tragikomödie behandelt. Die Liebe eines Fünfzigjährigen zu seiner blutjungen Nichte verstößt gegen das Gesetz der Natur. Als der überreife Liebhaber durch kosmetische Eingriffe seine Jugendlichkeit wiederzuerlangen sucht, erhebt der alternde Körper Einspruch gegen diese unangemessene Werbung: »Dem Major war vor kurzem ein Vorderzahn ausgefallen, und er fürchtete, den zweiten zu verlieren. An eine künstlich scheinbare Wiederherstellung war bei seinen Gesinnungen nicht zu denken, und mit diesem Mangel um eine junge Geliebte zu werben, fing an, ihm ganz erniedrigend zu scheinen, besonders jetzt, da er sich mit ihr unter einem Dach befand. [...] Es ist ihm, als wenn der Schlußstein seines organischen Wesens entfremdet wäre und das übrige Gewölbe nun auch nach und nach zusammenzustürzen drohte.«
Alte Leute kennt die Literatur genug, doch sind sie, als Dienstpersonal, Eltern, Großeltern, Verwandte, immer nur Handlanger der Jugend, der die Poesie gehört. Die Jugend öffnet ihr Herz in der Lyrik, erlebt die Welt im Bildungs- und Abenteuerroman, trotzt Gespenstern im Schauerroman, kämpft fürs Vaterland im Epos, gegen ein mythisches Schicksal in der Tragödie und für das private Glück in der Komödie. Poesie ist Darstellung von Jugendlichkeit. Wo sich das Alter einmischt, macht es sich lächerlich. Die Thematisierung des Alters in der Literatur erfolgt bis ins 19. Jahrhundert hinein lediglich als Posse. Die Vettel lauert ihrem Ehegespons mit dem Nudelholz auf in Schwank und Karikatur; der lüsterne Alte quält die junge Gemahlin mit seiner Eifersucht in der Novelle (die ursprünglich zu den komischen Gattungen zählte); das Verhältnis von Sein und Schein wird in der Satire aufs Korn genommen, und alte Geizhälse hocken auf ihren Schätzen in der Komödie. Die Jungen verlachen in »ihrer« Literatur die Alten, als hätten sie deren Trostbüchlein allesamt gelesen, indem sie ihnen gerade die Eigenschaften vorhalten, die dort so beflissen wegphilosophiert werden. Jacob Grimm hat aus der deutschen Literatur Assoziationen über das Alter und die Alten zusammengetragen: mürrisch, grämlich, eigensinnig, altfränkisch, ableibig, protzend, sauersehend, karger, Knicker, Erbsenzähler, Filz, Unke, betrübte Hausunke. In seinen »Totengesprächen« zeichnet Lukian die Ruine eines Menschen: »Ein hinfälliger Greis, der nur noch drei Zähne hat, der kaum noch lebt, der sich zum Gehen auf vier Sklaven stützt, dessen Nase ständig einen Tropfen ausschwitzt, dessen Augen voller Schleim sind, unempfänglich für alle Sinnesfreuden, ein lebendiges Grab, das Gespött der Jugend.« Noch abstoßender wirkt das Geschöpf aus Juvenals Satiren: »Statt der Haut dieses häßliche Leder, diese hängenden Backen, diese Runzeln gleich jenen, die eine Affenmutter in den düsteren Wäldern Thabarkas um ihr altes Maul kratzt [...] Die Alten sind alle gleich; ihre Stimme zittert wie ihnen die Glieder zittern; kein Haar wächst mehr auf dem kahlen Schädel; ihre Nase ist feucht wie bei kleinen Kindern. Sein Brot kann der arme Alte nur mit zahnlosem Kiefer zermalmen. Er ist seiner Frau, seinen Kindern und sich selbst dermaßen zur Last, daß er sogar einen Erbschleicher abstoßen würde.«
Die Gebrechlichkeit der Alten ist für die Jugend ein Spaß. Daher sind Molières »Eingebildeter Kranker« und »Der Geizige« die Komödien des Alterns. Nur Goethe vermag diesen Spott noch zu überbieten. Faust, auch er ein Mann von »funfzig« Jahren, sehnt sich nach jungem Blut, und die Verjüngungskur in der Hexenküche, in der Affen und Meerkatzen dem mißmutigen Gelehrten einen Trank brauen, entbehrt nicht der Komik.
Politische Taktik
Ciceros Schrift ist eine Apologie gegen diese jugendliche Frechheit, die meint, wegen ein paar körperlicher Gebrechen sich über die Alten lustig machen zu dürfen. In Cicero wehrt sich der Staatsmann, der seine Funktionen nicht verlieren will, gegen die Jugend. Alle Reflexionen über das Alter haben ihren konkreten und taktischen Ursprung im politischen Denken der Antike. Altersweisheit ist Staatsphilosophie. Archaische Gesellschaften organisieren sich nach dem Alter, der Älteste regiert den Clan. Doch auch noch in frühen Hochkulturen liegt die Verwaltung des Staates in den Händen der Alten. Das Wort Senat kommt von senex, den Alten, die ihm angehören. Bis heute finden wir Reste dieses Anciennitätsprinzips, wenn zum Beispiel ein Richter mindestens vierzig Jahre, ein Bundespräsident fünfundvierzig Jahre alt sein muß. Nicht zufällig bezieht Cicero seine Theorie in wichtigen Teilen aus Platos »Politeia«, die damit beginnt, daß Glaukon, Polemarchos, Adeimantos, Nideratos, junge Männer, die sich beim Fest getroffen haben, den uralten Kephalos aufsuchen, um in seinem Beisein ein Gespräch über den Staat zu führen. Diese Szene nimmt den idealen Staat vorweg, der ein friedliches Zusammenwirken von Jung und Alt sein soll. Aus Cicero spricht der Politiker, der Einfluß behalten möchte. In der politischen Krise, in der gerade die Jungen um Nachfolge Cäsars kämpfen, verkündet der Dreiundsechzigjährige apodiktisch: »Denn bei den Greisen findet sich Verstand, Vernunft und Klugheit; wären sie nicht gewesen, so hätte es gar keine Staaten gegeben.« Sparta ist in der Antike das Vorbild aller Altersrhetorik und sollte es bis ins 18. Jahrhundert bleiben. Dort trafen die vierzig Geronten, die »herrschenden Greise«, die wichtigen Entscheidungen des Staates. Einen Abglanz dieser Gerusia findet noch Jacob Grimm in der Preußischen Akademie der Wissenschaften.
Den Autoren der Altersliteratur geht es nicht um kümmerliche Reste von Lebensgenuß oder um eine schmerzlose letzte Stunde, sondern um Autorität. Ciceros Ton wird herausfordernd, ja geradezu auftrumpfend, wo er sich gegen die Jugend behaupten muß: »Der Alte tut nicht, was die jungen Leute tun, aber er tut etwas viel Wichtigeres und Besseres. Große Dinge vollbringt man nicht durch körperliche Kraft, Behändigkeit und Schnelligkeit, sondern durch Planung, Geltung und Entscheidung; daran pflegt man im Alter nicht nur nicht abzunehmen, sondern gar noch zuzunehmen.«
Aufstieg der Jugend
In der Antike versucht das Alter, die Jugend zu überbieten, in der Neuzeit wird die Jugend immer mehr zu seinem Maßstab. Weisheit, jene Tugend, die immer dem Alter zuerkannt und nie der Jugend zugestanden wurde, ändert damit ihre inhaltliche Bestimmung: sie gelangt von souveräner Überlegenheit zu Resignation. Dieser Richtungswechsel leitet Montaignes Essay über das Alter ein: »Unter allen großen menschlichen Taten [...] glaube ich den größeren Teil zu finden, wenn ich jene zähle, die sowohl im Altertum wie zu unserer Zeit vor dem dreißigsten Altersjahr verrichtet worden sind, als nachher.« Er verlangt kürzere Ausbildungszeiten, was nichts anderes bedeutet als das Verdrängen der Alten aus den öffentlichen Ämtern. Ihre endgültige Amtsenthebung geschieht im 18. Jahrhundert. Aufklärung und Revolution werden von den Jungen getragen, die politischen Theorien richten sich fortan auf die Zukunft. Nur wo sich die Verhältnisse nicht ändern, sind alte Männer besser für ein Amt geeignet als junge. Deshalb häufen sich im 18. Jahrhundert die Versuche, den Verlust der politischen Autorität durch neue Lebensmodelle zu kompensieren. Jacob Grimm etwa betont die Wichtigkeit des Historikers und Gelehrten. Sein Bild vom blinden Sänger, der die Geschichte eines Volkes aufbewahrt, bezieht sich nicht nur auf das entstehende Nationalbewußtsein, sondern auch auf das schwindende Selbstvertrauen der älteren Generation. Indem Grimm die Funktionen des alten Mannes als Sänger und Gelehrter poetisiert und intellektualisiert, beschwichtigt er die böse Ahnung, daß das Alter in der modernen Gesellschaft an Würde verlieren muß. Grimm selbst fürchtet nicht Pensionierung, Altersschwäche und Krankheit, er fürchtet allein den Verlust des Augenlichts, das das Ende all seiner geistigen Arbeit bedeuten würde. Diese trübe Aussicht bindet er in ein geschichtsphilosophisches Konzept des Verhältnisses von Glück und körperlichem Verfall ein: Die mündliche Kultur der Antike und die schriftliche der Moderne setzen je unterschiedliche körperliche Fähigkeiten voraus. Für den antiken Menschen bedeutet der Verlust des Gehörs den Ausschluß aus der Gesellschaft, für den modernen Menschen, so meint der in der Bibliothek vergrabene Grimm, wäre es katastrophal, zu erblinden.
Wenn es nichts nützt, sich der Würde des Geistes zu versichern, dann soll wenigstens der Leib frisch bleiben. Van Swieten ist der erste, der zum Altersdiskurs Empfehlungen zu Ernährung und Körperpflege beisteuert, die sich nur wenig von den Ratschlägen der heutigen Zeit unterscheiden. Nicht zufällig gilt van Swieten als Begründer der Geriatrie. Das Aufblühen der praktischen Disziplin bedeutet den Untergang der Rhetorik vom Alter. Der Senior, der nun den Geronten ablöst, ist ein Experte für Wohlbefinden, kein Wohl- und Schönredner mehr wie Cicero.
Van Swietens reformierter Greis ist Rotweintrinker und Causeur, der über die Politik, der er enthoben ist, nur noch räsoniert. Aus seiner Schule stammt Fontanes »Stechlin«, einer der typischen Romane über das Alter, die es im 19. Jahrhundert so reichlich gibt. Der alte Stechlin wird von allen Seiten gedrängt, in die Politik zu gehen, doch darüber scherzt er viel lieber bei seinen Gastlichkeiten. Die genealogische Tatsache allerdings, daß er als Aristokrat ein Gut zu vererben hat, macht ihn zu einem politischen Menschen, der die Tradition des preußischen Landadels fortführt und deshalb gegen die Austrocknung des Alterns nur seinen Humor, die »Feuchtigkeit« der Plauderei, einzusetzen braucht.
Was aber wird aus jenen Alten, die nichts zu vererben haben? Männer, die weder über ein Amt, noch ein Landgut, noch Humor und Geselligkeit verfügen, sehen sich im Alter in die Atmosphäre des Kinderzimmers verwiesen; sie fungieren als Großväter? »Der Wandel der Familie«, sagt Simone de Beauvoir, »hat die Beziehung zwischen Enkelkindern und Großeltern verändert: statt einer Gegnerschaft hat sich zwischen ihnen ein Bündnis entwickelt; da der Großvater nicht mehr Familienoberhaupt ist, wird er zum Komplizen des Kindes.« Die Altersdiskurs des 19. Jahrhunderts betreiben die Idyllisierung oder Infantilisierung des Alters, indem sie die Unschuld des Kindes mit der wiedergewonnenen Unschuld des Greises ins Kinderzimmer einsperren.
Dem steht der Aufbruch der Jugend gegenüber, die sich in politischen Bewegungen und in der Bohème sammelt. Sie polemisiert gegen die Lüge, die die sparsame Lebensfreude des Alters mit naiver Kindlichkeit gleichsetzt. Dickens, obgleich in seinem Werk so viele Großväter und kinderfreundliche Alte vorkommen, polemisiert gegen die Sentimentalisierung des Alters: »Wir nennen es einen Zustand ähnlich dem der Kindheit, aber es ist ihr armseliges und eitles Trugbild [...]. Wo sind in den Augen des alten Mannes Licht und Leben, wie sie aus den Augen der Kinder lachen? [...] Stellt das Kind und den in die Kindheit zurückgefallenen Greis nebeneinander und errötet über diese Eitelkeit, die den glücklichen Anfang unseres Lebens verleumdet.«
Untergang der Hoffnung
Das zwanzigste Jahrhundert will, nachdem endlich der Körper als wissenschaftlicher Gegenstand in den Blick gerückt ist, die Hoffnungslosigkeit aller Rettungsversuche nicht mehr leugnen. Jean Améry präsentiert sich als gealterten Bohemien, der, anders als Stechlin, nichts zu vererben, und anders als die Großväter, keinen Familiensinn hat. Jeglicher soziale Bezug, der ihm den körperlichen Verfall verklären könnte, fehlt ihm: »Was da immer dem Alternden empfohlen wird, wie er sich mit dem Niedergang abfinden, ja diesem allenfalls sogar Werte abgewinnen könne – Adel der Resignation, Abendweisheit, späte Befriedung -, es stand vor mir als niederträchtige Düperie, gegen die zu protestieren ich mir mit jeder Zeile aufgeben mußte.« Hermann Hesse, der immerhin für die Welt die Heilsvorstellung einer pädagogischen Provinz gerettet hat, verliert, sobald er sich seiner Vereinzelung bewußt wird, jeden Glauben an die tröstende Kraft des Geistes: »Man stirbt ja so verflucht langsam und stückchenweise: Jeder Zahn, Muskel und Knochen nimmt extra Abschied, als sei man mit ihm besonders gut gestanden.« Die Beschreibung der Schwäche, die bislang den komischen Gattungen vorbehalten blieb, wird nun zum Ausgang aller Überlegungen über das Alter. Wo aber die Kraft zum Verspotten und zur Komödie versiegt, beginnt der Nihilismus. Am physischen Verfall scheitert aller philosophische Scharfsinn. Altern ist für Améry eine Problem der Identität. Das Ich spaltet sich in einen Körper, der der Welt gehört, und ein Bewußtsein, das vor dieser Welt kapitulieren muß. Die Helle des Bewußtseins, in die der Tod das Subjekt taucht, muß seine Zerstörbarkeit mitdenken: »Ich bin Ich im Altern durch meinen Körper und gegen ihn: ich war ich, als ich jung war, ohne meinen Leib und mit ihm.« Der Untertitel von Amérys Buch »Revolte und Resignation« (1968) leugnet nicht die existentialistische Umdeutung des Studentenprotests, jenes letzten und erfolgreichen Aufstands der Jugend gegen die Gesellschaft der Erwachsenen. Seither hat die Jugend in allen Bereichen der Kultur die Herrschaft übernommen und erlaubt keine verschleiernden Reden über das Alter mehr.
Die Resignation führt bei Améry zu einer Umdeutung aller Tugenden des Alters. Die Erinnerungsfähigkeit, die die Voraussetzung für die Altersweisheit war, wird zu einem Zustand des Wahnsinns. Das Zeitgefühl wachse nur auf Kosten des Raumempfindens, das wegen der zunehmenden Bewegungslosigkeit immer mehr verloren geht. Zunächst scheint der greise Mensch sich damit zu trösten, daß sich sein Kopf mit gelebter Zeit und mit « um so größerer Seinsdichte« fülle. Die Zunahme an Erinnerung aber bedeutet, in direkter Umkehrung zur traditionellen Alterstheorie, eine Auflösung der Ordnung. Wer die Zeit vom Räumlichen ablöst, wer sie verinnerlicht, verliert die Orientierung. Je mehr Vergangenheit sich im alternden Bewußtsein speichert, desto ungeordneter flutet zeit durch sein Inneres: »Belangreicher aber ist, daß der Raster, dessen er bedarf zur Kommunikation beim Zeitaufzählen, ihn wenig angeht, daß er >vor-fünf-Jahren< nicht anders spürt als >vor-fünfzehn<. daß zwar die einzelnen Zeitschichten ihre spezifischen Gewichte für ihn wechseln, solcher Wechsel jedoch nichts zu schaffen hat mit der Chronologie. In diesem Sinne lebt, wer seine Zeit entdeckt, ganz und gar unhistorisch.« Damit hat Améry nicht nur, wie vor ihm schon geschehen, die politische Kompetenz der Jugend überlassen, er gesteht ihr auch das zuverlässigere Geschichtsbewußtsein zu. Selbst der Rettungsversuch Jacob Grimms, der den alternden Politiker zum Studium der Geschichte in die Bibliothek einsperren wollte, ist damit in Frage gestellt.
Da dem Chaos im Kopf des Alten die chronologische Ordnung von Geschichtsschreibung und Epos nicht mehr angemessen verfügbar ist, entdeckt Améry ein für ihn besser geeignetes Genre: die Lyrik. »Das Todesdenken wird zu einer monotonen und manischen Litanei, die eine unableugbare Ähnlichkeit hat mit gewissen Erzeugnissen moderner Poesie: Ich werde sterben sterben werde ich sterben ich werde werde ich sterben sterben ich werde ich werde sterben.« Dies »lyrische Todesgestotter«, das »todespoetische Geplapper« sei »der grundhäßliche Kitsch des abendbesonnten Idylls«.
Den Gewinn an Wahrheit, auf den Amérys Nihilismus insistiert, wollte das 20. Jahrhundert nicht mehr preisgeben. Die Autoren des von der Frankfurter Allgemeine Zeitung veranstalteten »Moses-Projekts« hegen keinerlei Illusionen mehr über das Alter. Lediglich ein Emeritus wie Odo Marquard zieht noch einmal alle Register des traditionellen Altersdiskurses. Peter Esterhazy hingegen parodiert dessen geheimes und ewiges Thema, den Wettbewerb zwischen Jung und Alt, indem er ihn auf das unbedeutende Spielfeld des Fußballplatzes verlegt: »Schon sind meine Gelenke [...] nicht mehr die alten. Diese metaphysische Dimension des Jammerns kenne ich als ausgedienter Fußballspieler. Als solcher habe ich Erfahrungen mit dem Körper, nämlich mit dem Altern, mit jener Hinfälligkeit der Zellen, die spätestens mit dreißig Jahren beginnt.« Der Agon mit der Jugend weicht endlich nostalgischer Bewunderung und zaghafter Imitation.
In der langen Literaturgeschichte des Alterns lädt der moderne Totentanz nun auch die Frau dazu. Da Alternde immer versuchten, Ämter und Würden zu behaupten, brauchten die Rhetoriker des Alterns Frauen, die öffentliche Personen nie waren, nicht zu berücksichtigen. Erst der Nihilismus, der Vergehen und Sterben ernst nimmt, schließt die Frauen mit ein. Zu »Geschöpfen ohne Potentialität« (Améry) macht die Gesellschaft Frauen früher als biologisch nötig. Ihre Frühvergreisung hängt mit dem Verjüngungsprogramm der Männer zusammen. Frauen altern gewissermaßen stellvertretend für die Männer, die im Blick auf die ewige Jugend ihres Geistes den Verfall des Körpers lieber an der Frau beobachten. Alternde Frauen hingegen konkurrierten nicht um die Staatsmacht und nicht um kulturelle Kompetenz. Frauen haben in der Gesellschaft deshalb die Klage übers Altern übernommen. Sie ist der Basso continuo im Kampfgetöse, das die Männer aufführen. Die Pupille des Mannes ist der Spiegel, in dem die Frauen ihren Wert prüfen. Aus diesem Auge spricht kein Trost, und deshalb paßt das weibliche Reden über das Alter so gut in jene Resignation, in der sich die alten Männer im Laufe der Geschichte erst so spät erst üben.
Männer haben geredet, um bleiben zu können, was sie sind. Frauen beschwören nun, da sie zum Sprechen aufgerufen sind, ihr Altern als Metamorphose, als eine Verwandlung in der Abfolge der Generationen: Frauen verwandeln sich in jenes »ewig Weibliche«, das von Männern stets nur humoristisch gefeiert, tatsächlich aber tabuisiert wird: in die Mutter. Jenny Erpenbeck, erst dreiunddreißig Jahre alt, sträubt sich noch gegen diese Rückkehr zu den Müttern: »Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher, sagen sie mir, und ich erschrecke. Ich weiß es selbst, mein Nacken ist ihr Nacken geworden, mein Schweiß ihr Schweiß, meine Brüste ihre Brüste. All das, was ich an ihr gehaßt habe, bin ich geworden. Ich hungere, ich will meine Mutter aus meinem Leib heraushungern [...] es hilft nichts, [...] Ich spreche wie sie, als hätte sie mich übergezogen, wäre in meine Haut geschlüpft und spräche aus mir.«
Die Mutter ersteht wieder in der Tochter, die Tochter geht in die soziale Abseitigkeit des Mütterlichen ein. Nicht immer wird diese Entrückung aus dem Blickfeld von Mann und Gesellschaft als ästhetische Abwertung erfahren. Für Monika Maron entsteht daraus eine glückliche Symbiose: Meine Mutter »tut mir leid, weil sie nun so ein altes Kinde haben muss. Aber irgendwie wohnt der Natur doch immer auch der Ausgleich inne. Meine Mutter sieht nicht mehr gut, was für sie natürlich eher unangenehm ist, ihr hoffentlich aber den Anblick ihres alten Kindes gnädig verschönt.« Der Spiegel, den das ästhetische Urteil der alternden Frau vorhält, ist im Auge der Mutter erblindet. Das alternde Kind kann das Alter vergessen, wenn die Mutter es anschaut und immer noch schön findet. Nicht ewige Jugend, sondern ewige Kindlichkeit ist der Trost der Frauen im Alter.
Heute findet das Tauziehen um die Gestaltung der letzten Lebensphase nicht etwa zwischen den Greisen und den Jungen statt, sondern zwischen Männern und Frauen. Sie vertreten die zwei historischen Phasen des Diskurses: die Männer den alteuropäischen, der Altern als gesellschaftliche Situation behandelte, die Frauen den modernen, der es als persönliche, vor allem körperliche Erfahrung darstellt. Aktivität oder Sorge sind die Haltungen, die diesen historischen Positionen entsprechen. Vom Fitneßprogramm bis zu den Busreisen, die die Alten durch die Welt führen, als seien sie junge Eroberer, reichen die Versuche der Männer, sich frisch zu zeigen wie eh und je und einen Terminkalender vorzuweisen, so voll wie ihre noch berufstätigen Kollegen. Vom Müsli und Rettichsaft bis zur Akupunktur reicht das Gesundheitsprogramm, mit dem die Frauen kundtun, daß sie um die Hinfälligkeit des Körpers wissen. Andererseits schließen sich Frauen, indem sie die Universitäten besuchen, an den Glauben der Männer von der ewigen Jugend des Geistes an.
Terminologie und Inhalt des Redens über das Alter sind verschwommen geworden. Nicht einmal der geschlechtsspezifische Unterschied bleibt in ihm gewahrt. Der Geront hatte einen jugendlichen Krieger als Kontrahenten, aber kein weibliches Pendant. Der Altersdiskurs von heute müßte, wenn überhaupt er noch über praktische Verhaltensregeln in Zeitschriften hinausginge, von dem/der SeniorIn sprechen.
SINN UND FORM 5/2001, S. 707-715
In einem beträchtlichen Teil von Brechts Stücken ist die »Heldin« eine Mutter: in »Die Mutter«, »Die Gewehre der Frau Carrar«, »Mutter (...)
LeseprobeSchlaffer, Hannelore
Die Heimat tritt in den Krieg ein. Brechts Mütter
In einem beträchtlichen Teil von Brechts Stücken ist die »Heldin« eine Mutter: in »Die Mutter«, »Die Gewehre der Frau Carrar«, »Mutter Courage«, »Der kaukasische Kreidekreis«, »Coriolan«; zudem hat Brecht Gerhart Hauptmanns Dramen »Der Biberpelz« und »Der rote Hahn« bearbeitet, in denen Mütter Hauptrollen haben. Carl Pietzckers Buch »Ich kommandiere mein Herz – Brechts Herzneurose« (1988) führt diese poetische Eigenart auf den frühen Tod von dessen Mutter zurück. Auf ihren Tod 1920 reagierte er so demonstrativ achtlos – am Tag danach veranstaltete er auf seiner »Bude« ein Gelage mit Freunden –, daß eine psychoanalytische Herleitung dieser Verdrängung sowie der Wiederkehr des Motivs der »Mutter« im Werk durchaus angebracht scheint.
Nun ist Brecht aber nicht nur ein Kind seiner Mutter, sondern auch ein Kind seiner Zeit. Die Mutter ist seit 1914, als in dem Sechzehnjährigen das literarische Bewußtsein erwachte, zu einer der Leitfiguren des Jahrhunderts, seiner Politik und Ideologie avanciert und daher Brecht auch von außen zugekommen. Im nationalistischen, sozialistischen wie faschistischen Lager rückt sie in eine dominante Position, verläßt den privaten Raum und wird zur politischen Funktion. Stets ist in den neuen Ideologien die mütterliche Existenz, dieser friedlichste aller sozialen Entwürfe aus nichts als Liebe und Sorge, mit dem Krieg verbunden. In allen politischen Modellen wird die Mutter zum ersten und wichtigsten Waffenlieferanten: Sie stellt das Menschenmaterial für den Krieg. Ihre vorzüglichste Eigenschaft ist es, einen Sohn zu haben, dem sie alle Pflege zukommen läßt, nur um ihn dem Vaterland oder einer Idee zu opfern. Mit der Mutter tritt die Heimat in den Krieg ein.
Brecht beteiligt sich in allen Werkphasen an der ideologischen Umdeutung der einst privaten Rolle. Seine Position wandelt sich vom kriegsbegeisterten Sohn zum politischen Erzieher der Mütter und schließlich zum Kritiker jener Mütter, die sich vom Nationalsozialismus zum Verrat an ihrem friedlichen Auftrag verführen ließen. Während in den dreißiger Jahren aus dem sozialistischen Kämpfer ein antifaschistischer Pazifist wird, entwickelt sich die Mutter in seinem Werk zur Kämpferin für die »Dritte Sache«, die stets die gute des Sozialismus ist: »Die dritte Sache«, so Brecht an Ruth Berlau, »ist der Sozialismus (…) keiner schuldet keinem etwas, jeder schuldet alles der dritten Sache.« Die Mutter im gleichnamigen Stück singt das »Lob der dritten Sache« und rühmt sich ihres Einsatzes dafür: »aber ich / Behielt meinen Sohn. Wie behielt ich ihn? Durch / Die dritte Sache.«
Angesichts der zunehmenden Kriegspropaganda der Nationalsozialisten zeigt jedoch auch Brecht am Beispiel der Mutterfigur, welche Folgen der Dienst an der falschen Sache hat. »Mutter Courage«, das Drama, das in Deutschland nicht zur rechten Zeit, nämlich während des Krieges, sondern erst 1949 in Berlin aufgeführt wurde, erfuhr durch die verspätete Rezeption eine Interpretation, die Brechts eigentliches Thema, die Auseinandersetzung mit der Mutterideologie des Dritten Reichs, in den Hintergrund rückte. Das Unglück der Kriegsgewinnlerin ist nicht nur, wie linke Deutungen annehmen, eine Kritik des Kapitalismus, der am Krieg verdienen will; vor allem ist es eine Farce über das Mutterglück, das der NS-Staat verspricht. Das Stück parodiert das Wörterbuch der Propaganda, die der Mutter das Opfer des Sohnes als heilige Pflicht einredet: »Deutschland muß erst wieder ein blühendes Mutter- und Kinderland sein, dann wird es ein mächtiges Vaterland werden«, verspricht 1938 ein Aufsatz über »Deutsche Mutter und deutscher Aufstieg« in der Zeitschrift »Politische Biologie«. Dagegen inszeniert, wie sich zeigen soll, Brecht mit seiner »Mutter Courage« ein regelrechtes Kabarett über diese Art Mutter-Gottesdienst.
Brecht schließt damit einen Lernprozeß ab, der 1914 mit einem zeitgemäßen Irrtum, dem Glauben an die Opferrolle der Mutter, beginnt. Der Glaube mündet in den Versuch, diesem Opfer einen Sinn als Beitrag zur kommunistischen Weltverbesserung zu verleihen, bis endlich Brecht der Ehrlichkeit des mütterlichen Opfers überhaupt mißtraut.
In den frühen Gedichten feiert Brecht, wie die meisten jungen Männer seiner Zeit, die Mutter als Muse des Krieges. Seine Vorstellung von ihren nationalen Aufgaben bezieht er aus der Stimmungslage zu Beginn des Ersten Weltkriegs. 1914 veröffentlicht er in der »München-Augsburger Abendzeitung« seine »Augsburger Kriegsbriefe«, in denen er mit Begeisterung den Krieg begrüßt: »Und das Große, was wir Deutschen wollen, ist einzig und allein: Unsere Ehre wahren. Unsere Freiheit wahren, unser Selbst wahren. / Und das ist aller Opfer wert.« In dem Gedicht »Der heilige Gewinn« rühmt er die Mutter: »Das ist schön, schön über all’ Ermessen / Daß Mütter klaglos die Söhne sterben sehn / Daß alle ihre Sorgen still vergessen / Und um den großen Sieg nun beten gehen«. Die Rolle, die die sozialistische wie die faschistische Propaganda der Mutter zumutet, ist 1914 vollständig entfaltet, und Brecht übernimmt sie: »Mutter sein in unseren Zeiten heißt: Leiden« und »eines anderen Leben leben«, so erklärt er im Gedicht »Mutter sein«. Leiden aber heißt »tausendmal sterben« mit dem Sohn und allen Söhnen.
Von Anbeginn an umgibt die Mutter – und auch diesmal folgt Brecht dem allgemeinen Entwurf – der marianische Glorienschein der Gottesmutter. Noch 1922 verklären sich die armseligen Umstände der Geburt Jesu im Glanz, den der Sohn auf das Gesicht der Mutter wirft: »Alles dies / Kam vom Gesicht ihres Sohnes, der leicht war / Gesang liebte / Arme zu sich lud / Und / Die Gewohnheit hatte, unter Königen zu leben«. ("Maria«) In diese Nachfolge ordnet sich auch Pelagea Wlassowa ein, die Heldin aus dem viel später entstandenen Stück »Die Mutter«, die der Sohn zur Sozialistin bekehrt: »ich habe Glück: ich / habe einen Sohn, der nötig ist.«
Wenngleich der Gymnasiast Brecht schnell von seiner Kriegsbegeisterung geheilt wird, da er sich die Toten, Kinder und Armen vergegenwärtigt, die der Krieg zurückläßt, erlischt das 1914 übernommene Bild der Mutter als Lebensspenderin des Krieges doch nicht so rasch. Mit dieser Figur besetzt er die Stücke der dreißiger Jahre, jener Zeit, da sich in Deutschland die Auseinandersetzung zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten verschärfte. Mit der Arbeit an »Die Mutter« nach Gorkis gleichnamigem Roman begann er 1931; 1937 entstand als Parteinahme für den Spanischen Bürgerkrieg »Die Gewehre der Frau Carrar«, 1938/39 entwarf er »Mutter Courage« und plante gleichzeitig den »Kaukasischen Kreidekreis«; 1940 schickte er dem Stück eine Erzählung voraus. Es ist ein Unterschied, ob Brecht am Anfang oder im Verlauf der dreißiger Jahre, mit zunehmender Kriegspropaganda der Faschisten, an Mutterdramen arbeitet: je nach Zeitpunkt wird das Drama für die Mutterfigur zur Hagiographie oder zum Letzten Gericht.
[...]
SINN UND FORM 6/2014, S. 792-800, hier S. 792-794
Eine Sammlung von Szenen wäre aus der Weltliteratur, aus Romanen und Erzählungen zusammenzutragen, die vergessen sind und doch nicht hätten (...)
LeseprobeSchlaffer, Hannelore
Liebe vor dem Sündenfall oder Das Paradies im Roman
Eine Sammlung von Szenen wäre aus der Weltliteratur, aus Romanen und Erzählungen zusammenzutragen, die vergessen sind und doch nicht hätten vergessen werden dürfen. Es sind dies anrührende Bilder einer erwachenden Liebe, die von sich noch nichts weiß. Die große Leidenschaft, die das – meist männliche – Gemüt entfacht und zur Eroberung einer Geliebten anfeuert, die Klage über deren Verlust, die Verführung zum Ehebruch, diese offenbaren Aufregungen aus lauter Liebe, die sich zum Motor einer Handlung so gut eignen, ist viel besprochen, theatralisch genutzt und lyrisch besungen worden. Doch gibt es Romane, Jean Pauls »Titan« etwa, Kellers »Grünen Heinrich« oder die Erzählungen Stifters, die nicht die Dramatik der großen Leidenschaft vorführen, sondern den Zauber einer erwachenden Neigung, die von Sünde kaum etwas ahnt und von Tragik nichts weiß. Während die literarisch zubereitete Leidenschaft durch starke Affekte enorme Effekte hervorbringt, äußert sich die erwachende Liebe in unscheinbaren Gesten, die im Gedächtnis des Lesers leicht wieder verblassen. Und doch sind häufig sie es, die, auch wenn sie nicht den Gang der Handlung bestimmen, der Erzählung Farbe geben und in der Erinnerung das Glück dieser Lektüren ausmachen.
Im Unterschied zur handlungsbestimmenden Leidenschaft steht für diesen Zustand der von der Pädagogik geprägte Begriff »Pubertät« zur Verfügung oder dessen poetische, durch Wedekind geprägte Version »Frühlings Erwachen«. Beide Bezeichnungen für den jugendlichen Liebesmorgen sind um die Jahrhundertwende entstanden, als Freud, Krafft-Ebing, Ricord, Charcot die Sexualität von einer Sünde zum Forschungsgegenstand erhoben. Die Leidenschaft war vom Skandal zum wissenschaftlichen Problem geworden, und damit entstand eine andere Literatur der Jugendlichkeit, die die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zog und ihren Niederschlag in den Internatsromanen fand, in Musils »Törleß« etwa, der den groben Sadismus erotisch erregter Pennäler darstellt, oder in Günter Grass’ witzigen Unanständigkeiten in der Novelle »Katz und Maus«.
Den Autoren dieser Werke war, im Unterschied zu ihren schüchternen Vorgängern, durch die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas Pubertät bereits die Romantik abhanden gekommen, die früher solche Jugendspiele verklärte und die eben in Roman und Erzählung jene versteckten, aber so anrührenden Szenarien der Liebe vor dem Sündenfall hervorgebracht hat. Von »Daphnis und Chloe«, dem antiken Hirtenroman, bis zu Stifters »Bunten Steinen« hat sich für die ahnende und scheue Liebe ein Repertoire von Gesten entwickelt, das Furcht und Seligkeit dieses Zustands zu fassen sucht.
Nahezu zwei Jahrtausende liegen zwischen Longos’ Roman und den Erzählungen von Musil und Grass, und dennoch stehen sie sich nah. Sie gehören der Idylle an, jener Gattung, die den Menschen in einem der Natur nahen Zustand und in einer zeitlich wie räumlich geschlossenen, befriedeten Umgebung vorführt. Der Hirtenknabe und die Hirtin der Antike sind solche idyllischen Charaktere, was man von den Figuren der modernen Erzähler nicht behaupten kann – und doch: Sie sind deren letzte Version, denn sie führen die Zerstörung des Idylls vor. Die Figuren beider Werke befinden sich in eben dem Lebensalter wie Figuren dieser Gattung immer. Sie kennen die Normen der Gesellschaft nicht genau, und auch sie leben, wie die Bewohner der Idylle, für eine begrenzte Zeit in einem geschlossenen Revier, dem Internat. Dieses allerdings ist als Ort strengster Erziehung das Paradox der Idylle, ein idyllisches Gefängnis. Das Erwachen der Liebe, die hier, dem aufgeklärten Jahrhundert und seiner Wissenschaft entsprechend, als Sexualität zu bezeichnen ist, führt die von dieser Erfahrung überraschten Jugendlichen ebenso in Verwirrung wie das Hirtenpaar des Longos. Die weitgespannte Geschichte der sündelosen Liebe also führt aus dem bukolischen Milieu der Antike ins Internat der Moderne, aus dem unschuldigen Spiel der Naturkinder zur verstörten Psyche moderner Jugendlicher. Die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen vollzieht sich am Anfang ihrer literarischen Darstellung als tapsende Erfahrung, an ihrem Ende als Teil einer Erziehung, die sie stört und verstört, sie wird von der Wiese in eine geschlossene Anstalt verlegt, immer aber schildert sie eine Initiation.
Zwischen diesen Polen, Entstehung und Ende einer erotischen Gattung, sind in der Roman- und Erzählliteratur zahlreiche Szenen versteckt, die das in der Antike begründete Schema der Idylle nutzen und variieren. Es lohnt, mit Daphnis’ und Chloes Liebe beginnend, sich der Mittel zu erinnern, mit denen jene dem Leser so wohlgefälligen Einschübe, diese Paradiese im Roman, hergestellt werden.
Naivität ist der wesentliche Zug, den der Autor seinen Figuren verleiht, sobald er das Frühlingserlebnis der Liebe darstellt. In Erscheinung tritt die kindliche Unschuld gerade dadurch, daß die Sinne rege werden, was der Leser bemerkt, was Knabe und Mädchen selbst aber kaum wahrnehmen und gar nicht verstehen. Nachdem Chloe Daphnis, den Knaben, im Bade nackt gesehen hat, nachdem also das Kleid, Symbol der Sitte, abgelegt und der Mensch in seiner natürlichen Gestalt vor Chloes Blick erschienen ist, setzt für sie ein Zustand ein, der sie überrascht. Jede Begegnung versetzt von nun an das Paar in selig-unselige Verwirrung: »Als aber der Tag wieder heraufkam, litten sie wieder wie zuvor. Sie waren selig, wenn sie sich sahen, und trauerten, sooft sie voneinander gehen mußten. Sie litten und sehnten sich nach etwas, wußten aber nicht, wonach sie sich sehnten. Nur so viel wußten sie, daß für ihn der Kuß, für sie das Bad der Anfang des Unheils gewesen war.«
Zum Kuß war es zwischen den beiden Paaren, die Jean Paul im »Titan« zu einer der schönsten Szenen jugendlicher Liebesahnung zusammenführt, nicht gekommen, doch führt auch hier die Begegnung von Albano und Liane, von Rabette und Roquairol zu geheimer Verwirrung in den Gemütern aller vier Freunde. Der Autor situiert die Gruppe, dem Modell der Idylle gehorchend, »tief in den dreifachen Blüten der Jugend, der Natur und der Zukunft«, dort also, wo sie »den weitesten Himmel in sich trug, den die Menschenbrust umspannen kann«.
Im Jahrhundert der sexuellen Aufklärung ist es leicht zu erkennen, woher diese schöne Verwirrung rührt, aus der quasi-idyllischen Unschuld nämlich, in der die Erziehung damals den Zögling noch zu halten suchte. Man braucht dazu nicht aus Jean Pauls Erziehungsbuch »Levana«, seiner Antwort auf Rousseaus »Émile«, zu zitieren, um zu wissen, daß »Mädchen, wie Perlen und Pfauen« sind, und man sie »schätzt (…) nach keiner andern Farbe als der weißesten«. Verwirrung war das Resultat einer sexuellen Nicht-Erziehung, einer Erziehung zur Unwissenheit, die Mädchen vor allem, aber auch Jünglingen in jenen Zeiten angetan wurde. Die Jungfrau sei, so Jean Paul in der »Levana«, »ein von der Gegenwart eng umkettetes Gemüte«, womit er die strenge Erziehung zur sogenannten Unschuld meint, vor dem ein Jüngling »auf einmal Glück und Freiheit weit ausbreitet«. Der Geliebte überrasche nun als der, »der alle Träume verkörpert, die bisher die uneigennützige Seele in Sterne, in Frühlinge, in Freundinnen und kindliche Pflichten eingekleidet hatte«. Diese »kräftig und rein erzogene Jungfrau ist eine so poetische Blume der matten Welt«, daß sie gehütet werden muß.
Aber auch für den Jüngling setzt ein Zustand ein, der zum ersten Mal jenseits aller bürgerlichen Erziehung seine Entscheidung herausfordert. Für ihn ist die Liebe die erste Entdeckungsreise, die er unternimmt. Die Selbsterforschung des ahnungslosen Knaben, an deren Ende die Selbsterkenntnis als erotisches Subjekt steht, nimmt, wie jegliche Entdeckungsreise, den Umweg über viele Irrwege. Jean Paul weiß diese Antriebe, die Ziel und Zweck noch nicht gefunden haben, in Szenen eines Quidproquo zu fassen, wobei die Verwirrung der Herzen nicht mehr ausdrücklich eingestanden werden muß, sondern gestisch dargestellt und durch geradezu tänzerische Fehltritte der Paare angedeutet werden kann.
(…)
SINN UND FORM 2/2022, S. 238-247, hier S. 238-240