Schacht, Ulrich
(1951-2018), Autor und Publizist.
Siehe auch SINN UND FORM:
- 1/1993 | Landnarben. Wintererde
- 5/1994 | Gedichte
- 6/1994 | 7 Uhr 39, vielleicht auch 40
- 3/1996 | Gedichte
- 3/1998 | Gedichte
- 2/2002 | Gedichte
- 5/2002 | Nidden oder das süße Salz der Poesie
- 4/2005 | Das Schwarz der Nacht
- 1/2008 | Abend Landschaft Dresden
- 2/2010 | Notate
- 4/2011 | Zeit des Lichts
- 2/2014 | Dem Geheimnis der Glaubwürdigkeit auf die Spur kommen. Begegnungen mit Erwin Strittmatter
- 6/2016 | Vom Licht über Skagen. Drei Balladen
I Warum einer Bäcker werden will? In meinem Fall erinnere ich mich an den Grund genau. Ich war gerade mal vierzehn, die Lust am Spielen war immer (...)
LeseprobeSchacht, Ulrich
DEM GEHEIMNIS DER GLAUBWÜRDIGKEIT AUF DIE SPUR KOMMEN
Begegnungen mit Erwin Strittmatter
I
Warum einer Bäcker werden will? In meinem Fall erinnere ich mich an den Grund genau. Ich war gerade mal vierzehn, die Lust am Spielen war immer noch groß, und die Spiele bestanden darin, sich bis spät in die Abendstunden herumzutreiben, so daß jeder Schulbeginn morgens zur Qual wurde. Man wollte im Bett bleiben, bis das Licht der Mittagssonne den Raum erfüllte und auch die Wachträume ausgeträumt waren.
Warum dann um fünf Uhr in der Frühe, wenn alles noch schläft und die Stadt gerade erst zu leben beginnt, eine vor Hitze flirrende Backstube betreten? In Pepitahose, weißem Turnhemd und Jackett, mit weißer Schürze um die Hüfte und einem weißen Schiffchen auf dem Kopf, das nach einer Woche Arbeit genauso waschmaschinenreif ist wie die ganze schöne Uniform. Am Wochenanfang von strahlender Reinheit, am Wochenende ein fett-, mehl und teigstarrendes Schmutzwäschebündel. Warum ich mir das alles antat? Die Antwort ist einfach: Ich haßte die Schule.
Der Preis für die Flucht ins Arbeitsleben war hoch: sie kostete das Kostbarste, nämlich den Schlaf. Denn ich hörte nicht auf zu träumen, sondern trieb diese Leidenschaft nun auf die Spitze: in Form von Lektüreabenteuern, unternommen am liebsten spät in der Nacht. Das Erwachen nach den beseligenden Räuschen und dem viel zu kurzen Schlaf war grausam.
So manche erste Berufsschulstunde ließ ich eigenmächtig ausfallen, was natürlich Ärger einbrachte. Nach drei Jahren Lehrzeit und dem Erhalt des Gesellenbriefs war es endlich vorbei: Ich betrat nie wieder eine Bäckerei, jedenfalls nicht, um darin zu arbeiten. Dennoch mochte ich die Zeit nicht missen, erlebte ich sie doch an manchen Tagen wie einen Roman. Einen Roman, den wir kannten – ob Lehrlinge, Gesellen oder Meister – und der den schönen, aber irgendwie auch merkwürdigen Titel »Der Wundertäter« trug. Er war von jenem Schriftsteller, den ich bereits aus der Grundschule kannte. Wie hieß doch noch das Buch, das wir damals behandelten? War es »Tinko"? Oder war es »Ole Bienkopp"? Offenbar war nichts davon hängengeblieben außer dem Namen des Autors. Es war derselbe wie der auf dem dicken Taschenbuch, das mir eines Tages der Chef unserer Bäckerei, eines Privatbetriebs mit acht Angestellten, nach Feierabend in seinem Büro zwischen Laden und Backstube überreichte. »Hier«, sagte er, und sein böhmischer Akzent war deutlich herauszuhören, »›Der Wundertäter‹ von Strittmatter, den mußt du lesen! Das ist der Roman unserer Innung, in unserer Bäckerei gehört er wie die Kümmelstangen mit zur Ausbildung!« Kümmelstangen, in Mecklenburg nie Tradition, waren in meiner Heimatstadt Wismar die Mitgift des Chefs aus seiner böhmischen Heimat, die er nach dem Krieg, wie so viele andere auch, erzwungenermaßen hatte verlassen müssen. Der Chef schien nicht zu ahnen, was er sich mit diesem Auftrag antat, war ich doch in den nächsten Wochen, wenn ich morgens die Bäckerei betrat, noch müder als sonst, und schuld daran war einzig und allein das empfohlene Buch. Stanislaus Büdner, sein jugendlicher Held, machte mich, wenn ich wie immer erst spät nachts zu Bett ging, rasch wieder wach, und ich las und las, lachend und lüstern, bis mir die Augen zufielen und ich nicht einmal mehr merkte, ob die Kerze neben der Couch, auf der ich schlief, noch brannte oder nicht. Ich glaube nicht, daß man Bäcker sein muß, um sich von diesem Roman verzaubern zu lassen; aber natürlich war es ein spezielles Vergnügen ihn zu lesen, wenn man Bäcker war oder werden wollte: es brachte einem Stolz auf das Handwerk bei, das man erlernte. Man war nun etwas Besonderes, ein Held, der aus der Welt der Bücher kam und das eigene Leben in ein Buch verwandelte, das alle lesen konnten, wenn sie nur wollten. Ich fühlte mich nach der Lektüre des Romans regelrecht geadelt, und ich glaube, meinem Chef und den Gesellen, allen, die ihn gelesen hatten, ging es ebenso. Strittmatters Buch machte uns, gleich den jährlichen Bäckerbällen der Innung, zu Mitgliedern einer verschworenen Gemeinschaft, und kein noch so großer Krach während der Arbeitszeit, weil wieder einmal irgend etwas angebrannt oder sonstwie schiefgegangen war, konnte etwas daran ändern. An jedem Wochenende erzählte einer von uns eine Anekdote aus dem »Wundertäter«, als würde sie aus dem eigenen Leben stammen, so sehr waren wir Teil des Romangeschehens geworden. Und ich? Was war mit mir? Ich war genauso schwer zu erziehen wie der Bäckerbursche Stanislaus; nur traf das Buch in einem Punkt doch nicht ganz zu: Mein Meister behielt mich, und er bootete mich nicht, wie Stanislaus’ erster Lehrherr ihn, vor versammelter Innung mit den Worten aus: »Wer übernimmt einen schwererziehbaren Lehrling zum Auslernen?« Nicht daß ich renitent gewesen wäre, das nicht, ich war nur müde, immer nur müde, und deshalb manchmal einfach nicht da. Oder kam zu spät. Oder schlief ein, bei der Arbeit, beim Hörnchenaufrollen, Semmelkneten, Brot mit Wasser bestreichen, beim Sauberkratzen der Kuchenbleche, Ausspülen der Sahnekessel oder Bestreuen der Kümmelstangen. Hin und wieder weckte mich ein Tritt des Meisters in den Hintern oder das Guten-Morgen-Gebrüll eines Gesellen direkt in mein Ohr. Aber das alles änderte nichts an der Tatsache, daß ich ein müder Lehrling war und bis ans Ende meiner Lehrzeit blieb. Und das vertrug sich eben nicht mit diesem Beruf, der ansonsten auch bei mir so aussah wie bei Stanislaus Büdner: »Mehl wurde Teig, Teig wurde Gebäck. Das Gebäck verschlangen die Menschen. Am Abend waren Backstube und Laden leer. Neues Mehl mußte zu Teig, neuer Teig zu Gebäck geformt werden. Die Freude des Gärtners über Blumen und Sträucher währt ein Jahr und länger; die Freude des Bäckers über das Gebackene währte einen Tag, nur Stunden.« Stanislaus rettete sich aus dem allzu flüchtigen Glück durch ein einziges Buch, es hieß »Die Kunst der Hypnose«; ich ließ mich von ganzen Bücherwelten hypnotisieren und verabschiedete mich schließlich im Mißklang – wegen eines ertrotzten Urlaubs ins politisch brodelnde Prag 1968 – für immer von meinem Chef und seiner Bäckerei. Strittmatters »Wundertäter« Band I aber blieb mir erhalten. Bis heute. Seinen zweiten Teil allerdings, der 1973 erschien, las ich ganz woanders, an einem Ort, an dem ich zwar auch eine Uniform trug, aber nicht mehr die eines Bäckers. Es war die Uniform eines Strafgefangenen, und ich las das Buch im Gefängnis, als politischer Häftling der DDR und ihrer führenden Partei, der Stanislaus’ geistiger Schöpfer wie selbstverständlich jahrzehntelang angehörte. Aber eigenartigerweise machte diese Tatsache das Leben und die Abenteuer seines Helden nicht unglaubwürdig, und vielleicht war das schon eine Erklärung dafür, was später in diesem Zusammenhang noch kommen sollte.
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SINN UND FORM 2/2014, S. 170-181, hier S. 170-172