Prochasko, Jurko
geb. 1970 in Iwano-Frankiwsk, Mitarbeiter am Institut für Literaturforschung der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften, Übersetzer von Joseph Roth, Schleiermacher, Freud, Heidegger, Musil, Benn, Eich und Ingo Schulze. (Stand 4/2008)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 4/2008 | Mein Fenster zur Welt. Dankrede für den Friedrich-Gundolf-Preis
Es kam, wie es kommen mußte. Es kommt so: es kommt der Frühling, er ist noch jung. Der wilde Wein auf dem großen langen Balkon beginnt erst, (...)
LeseprobeProchasko, Jurko
Mein Fenster zur Welt. Dankrede für den Friedrich-Gundolf-Preis
Es kam, wie es kommen mußte. Es kommt so: es kommt der Frühling, er ist noch jung. Der wilde Wein auf dem großen langen Balkon beginnt erst, Knospen zu treiben. Es ist ein ganz zartes Grün, ein blasser Schimmer vielmehr. Eine Ahnung. Die Rebe braucht ihre Zeit. Sie kommt spät. Junge Blätter an alten, faserigen Zweigen. Aber die Sonne ist schon stark genug, um die lange erwarteten Gerüche zum Leben zu erwecken: der warme körnige Verputz der Mauer, das alte Holz der Blumenkästen, die trockene, silbrige Erde in den Tontöpfen, der feine, spitze Staub auf der hölzernen Schwelle zwischen den beiden Türen, der winterliche Anflug an den Fensterscheiben, der wie Wachteleier gefleckte Balkonboden, die abblätternde Farbe an den Türen, außen rostrot, innen gelblichweiß. Der süßliche Geruch der sonnenheißen Messingtürklinken.
Dann geht es in das halbrunde Zimmer hinein. Der Sonnenschein erwärmt den alten schwarzen Flügel, die grobe Leinendecke darauf. Er steht hier wie eine schöne große schwarze Leiche, gänzlich bedeckt mit dem weißen Stoff. Meine in Wien geborene Tante, die ich nie kennengelernt habe, hat darauf gespielt. Unlängst hat man einen bekannten alten Klavierstimmer kommen lassen, nach seinen Eingriffen riecht der Flügel jetzt auch nach Medizin, ältlich. Es ist mittlerweile so warm draußen, daß man die Balkontür mehrere Stunden am Tag offenlassen möchte. Man tut das. Jetzt erreichen die Strahlen auch den massiven dunkelbraunen Schreibtisch meines Großvaters. Er riecht ganz anders. Er riecht streng und präzise. Dunkelblaugold schimmernde herbe Pelikan-Tinte und reglose Rechenschieber im Lederetui. Die Tante mit dem Klavier war seine erste Tochter.
Sie war sehr schön und ist mit siebzehn gestorben. Hier, in dieser Wohnung in Stanislau.
Und dann kommt es, wie es kommen muß. Wie jeden Frühling. Die Sonnenstrahlen erreichen den Bücherschrank am anderen Ende des Zimmers. Und dann dauert es nicht mehr lange, bis der Geruch kommt. Der betörendste aller Frühlingsgerüche in diesem Zimmer: so konnte nur der warme Meyer riechen. Ganz oben stand es, »Meyers Großes Konversations-Lexikon«. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens in 22 Bänden, Sechste, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig und Wien. Bibliographisches Institut. 1902–1909. Das trockene dicke Leder des Einbands mit goldgeprägtem Jugendstilmuster roch anders als die leicht vergilbten, elfenbeinfarbenen Seiten innen. Und darum ging es, um diesen inneren Geruch. Die Seiten rochen unter dem Einfluß der Sonne wie warmer Strudelteig aus dem Backofen, wie frische Oblaten waren die hauchdünnen Zigarettenpapierblätter zwischen den Farbtafeln, und die Farbbilder selbst waren so schwer und dick aufgetragen und klebten süß und glitzernd wie Marzipan. Die Bände waren dick und schwer wie der Pischinger. Das Alter der Bücher roch nach der Frische der Bäckerei, hatte das Gewürz des Frühlings, es war ein behaglicher, abgestandener und doch flüchtiger Geruch, den man nur aus nächster Nähe wahrnehmen konnte. Obstsorten und Menschenrassen, Tätowierungen und Vögel, Wappen und Blumen waren dort abgebildet und vieles mehr.
Sie war hier drinnen, in diesem Lexikon, komplett, diese alte Zivilisation von Grandhotels und Kurhäusern, paneuropäischem Eisenbahnnetz und erster Globalisierung, Kolonialwaren, die noch aus den Kolonien kamen und in Kolonialläden verkauft wurden, perfekten englischen Tuchen und deutschen Universitäten, die ihren Ruf zu Recht hatten, europäischen Gegengewichten und Eindämmungen, europäischem Kräfteausgleich, der einzigen allgemein anerkannten und von niemandem hinterfragten Hauptstadt des guten Geschmacks, Paris, Übereinkunft darüber, was ein Necessaire alles beinhalten soll, was ein Picknickkorb und was der Bildungskanon, die Zivilisation des übernationalen Hochadels und des transnationalen Hochhandels, des europäischen Judentums und eines noch so gut wie unbefleckten Sozialismus, der deutschen Technik und Romantik, französischer Moden und raisons d’état, von skandinavischen Theaterstücken, russischen Romanen und Romanows, italienischem Tourismus, Schweizer Alpenstöcken, schlechten österreichischen Vorahnungen und wunderbar wuchernden Liebesneurosen, Bahnhöfen mit gußeisernen Hallen und Messinggeländern, Ozeandampfern, erkennbaren Druckschriften, universalen Pässen, ersten Radiowellen und Aviationsversuchen, den Baedekers und der frühen Elektrizität.
Perfekt gezeichnete technische Geräte, Elektroturbinen, Dampfloks und Haubitzen. Exakte Stadtpläne. Tadellos ausgearbeitete Schraffur bei Bildnissen von Fürsten und Feldherrn, Dichtern und Denkern, Kaisern und Königen. Akademische Kupferstiche von wichtigen Gebäuden, solide und doch raffinierte Frakturschrift. Wissensfülle, Geordnetheit, Verläßlichkeit. Hierarchien und Kategorien. Es war die ganze wohltemperierte Welt von damals hier drinnen.
Diese Folianten begannen also im Frühling immer entzückend zu riechen. Einen ähnlichen Geruch habe ich später in verschiedenen Bibliotheken und Buchsammlungen Europas wiedergefunden, keiner konnte sich aber mit dem Original messen. Einen vergleichbaren hatten allenfalls die Bücher meiner Lemberger Tante. Den zweitbesten besaß der große Lesesaal der Universitätsbibliothek in Lemberg, in der Drahomanowa-Straße. Nach Lemberg ging ich mit siebzehn, um Germanistik zu studieren. Erst nachträglich habe ich die Bedeutung dieser Entscheidung begriffen. Wenn es darum ging, Kinder in eine Schule zu schicken, dann sollte das eine Schule mit Deutsch sein. Ging es darum, die Welt durch das Studium zu erschließen, war das für mich Germanistik – die Weltsprache, die Weltkultur, die Weltliteratur meiner Kindheit. Das war mein offenes Fenster in die verschlossene Welt von damals. Und dieser Instinkt saß in unserer Familie sehr tief, trotz aller Erschütterungen, trotz allen Selbstzweifels dieser Kultur. Er war alt, dieser Instinkt, alt und stark. Die Erschütterungen des Glaubens ans Deutsche haben meine Großeltern sehr wohl mit- und durchgemacht. Seinen Selbstzweifel durch die mittlerweile fest verschlossene Grenze wohl nicht mehr. Es war nie ihr ausdrücklicher ausdrücklicher Wunsch gewesen, daß ihre Kinder oder Enkelkinder Deutsch lernen sollten. Auch nicht der meiner Eltern. Wohl aber meiner.
Diese Universität ist – wie auch später meine Geburtsstadt – nach Iwan Franko benannt. Mein Urgroßvater, der nach Stanislau gekommen und hier Kirchenchorleiter an der griechisch-katholischen Kathedrale geworden ist, und dank dem wir überhaupt ein Stanislauer Geschlecht geworden sind, war derselbe Jahrgang wie die beiden großen mit Galizien so oder anders verbundenen F-Männer: Franko und Freud. Seine Tochter, meine Großmutter, hörte Freuds Vorlesungen in Wien. Dort hat sie Medizin studiert und praktiziert. Dort haben meine Großeltern geheiratet. Dort ist ihre erste Tochter auf die Welt gekommen. Als sie nach Stanislau zurückkamen, brachten sie mit: mein Großvater das Meyer-Lexikon, meine Großmutter Großmutter die schwarze Anatomie, meine Tante den schwarzen Gustav-Rösler-Flügel.
Das haben sie alles aus Wien mitgebracht, als sie nach Großvaters Studienabschluß 1932 nach Stanislau zurückkehrten. Ganz oben im Schrank standen die Meyer-Reihe, ganz unten die sechs schwarzen Anatomie-Bände. »Rauber’s Lehrbuch der Anatomie des Menschen«, von Prof. Dr. Fr. Kopsch, Privatdozent und Oberassistent am Anatomischen Institut der Universität Berlin, neu bearbeitet und herausgegeben. 10., vermehrte und verbesserte Auflage. Verlag von Georg Thieme, Leipzig 1914. Es könnte, alles könnte vielleicht auch weiterhin vermehrt und verbessert werden, aber vorne, auf dem Schmutztitel, war schon das Jahr 1914 zu lesen. Dazwischen standen die übrigen Bücher. Meine Großeltern haben die riesige, in Wien in vielen Jahren gesammelte deutschsprachige Bibliothek mitgebracht, den gesamten bildungsbürgerlichen Kanon des späten 18., des ganzen 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. Sie haben diese Bücher in dieser Wohnung heimisch gemacht. Sie haben sich hier schön und modern und nach neuesten Standards einrichten wollen. Sie hofften, hier eine sinnvolle Existenz aufzubauen. Die zivilisatorischen Vorbilder aus Karlsruhe und Wien hierher mitzunehmen und hier umzusetzen. Sie ließen sich ein Haus bauen, nach dem neuesten Stand der Technik, sie haben dort diese Bibliothek eingerichtet. Sie haben sich verrechnet. Sie haben sich alle verrechnet, die das Jahr 1939 und die darauffolgenden Jahre, die auch in Wien nicht unbedingt besser waren, miterleben sollten. Aber 1940 wurde hier meine Mutter geboren. Sie haben sich also doch nicht verrechnet.
Im Sommer gingen wir immer in das Huzulenland. Im Städtchen Delatyn, wo wir, mein Bruder, der genau heute, am 16.Mai 2008, in dieser Wohnung in Iwano-Frankiws’k vierzig wird, und ich, unsere Schulferien verbrachten, gab es damals einen ganz passablen Buchladen. Unerwartete Schätze konnte man dort antreffen. Aus dieser Buchhandlung stammten unter anderem die beiden Bücher, die ich mir als Schüler gekauft und dann im Schatten unseres riesigen Nußbaums im Garten zelebriert habe: Hölderlins Lyrik, übersetzt von Mykola Bažan, in der schönen kleinformatigen Reihe mit exquisiten Holzschnitten oben auf dem Umschlag, »Perlen der Weltlyrik« hieß die Reihe. Das andere Buch waren die »Lebens-Ansichten des Katers Murr« von E.T.A. Hoffmann, ins Ukrainische übertragen von Jewhen Popowyè. Bei diesen Büchern ist mir zum ersten Mal bewußt geworden, daß es übersetzte Bücher sind: nicht etwa weil sie schlecht, sondern weil sie so exzellent übersetzt waren, daß es sogar mir auffiel.
Jewhen Popowyè, dessen Ukrainisch mich sehr ansprach, weil es dem meiner Großeltern so ähnelte, lebte in Kiew und übersetzte viele hervorragende deutsche Bücher. Unter anderem auch den »Tim Taler« von James Krüss, der bei mir erst die richtige Lust aufs Lesen erweckt hat. Jewhen Popowyè starb letzten Sommer in Kiew, ungefähr um die gleiche Zeit wie Ingmar Bergman und Antonioni, und kaum einer hat es zur Kenntnis genommen. Seinem Alter nach könnte er der Generation meiner Großeltern zugerechnet werden. Noch vor ihm starb Anatolij Onyško aus Kalusch, der Nietzsche und E.A. Poe übersetzt hat, und auch dieser Tod blieb so gut wie unbemerkt. Von seinem Tod habe ich – sein Kollege und Verehrer – erst viele Monate später, und das nur durch den schwarzen Rahmen um seinen Namen in seiner Curtius-Übersetzung erfahren. Er war derselbe Jahrgang wie meine Eltern: 1940.
Ich erwähne diese beiden Männer aus diesen zwei Generationen stellvertretend für all diejenigen ukrainischen Übersetzer, die diesen Preis viel mehr verdient hätten als ich und die ihn nicht mehr bekommen werden, weder vom Land der Ausgangssprache Ausgangssprache noch von dem der Zielsprache. Ihr Ziel war aber die Sprache selbst, und das haben sie selten verfehlt.
Ich wuchs in einem Teil Europas auf, der noch sehr ähnlich wie das Europa ausschaute, das im alten Meyer-Lexikon in der obersten Reihe des Bücherschranks festgehalten war. Die Lebensbedingungen waren mit denen des Jahres 1906 durchaus vergleichbar: Eisenbahnviadukte und Schmalspurbahnen, Landmaschinen, der Holzofen in unserem Haus. So war dieses Ostgalizien mit seiner alten Architektur und den weitgehend unveränderten Landschaften. Die sahen aus wie viele europäische Landschaften, auch deutsche, im Meyer-Lexikon, in welchen ich aufwuchs. Auch diejenigen, die ich nicht kannte, Meeresansichten, skandinavische Städte oder Bremen und Hamburg, die dort abgebildeten Schiffe waren mir aus den Familienerzählungen und unzähligen Postkarten in den Schubladen aus den Memoiren meines anderen Urgroßvaters, der griechisch-katholischer Priester war und sich auf einem dieser Ozeandampfer, über Bremen und Bremerhaven, nach Übersee aufmachte. Die Kanonen und Gewehre, die Uniformen europäischer Armeen waren 1906 die gleichen wie im Ersten Weltkrieg, wie mein Großvater, der Sohn dieses amerikanisch gewordenen Priesters, der später in Wien studierte und das Lexikon 1932 nach Stanislau brachte, wenige Jahre später als k.-u.-k. Unteroffizier feststellen sollte. In Delatyn fand ich in Blumenbeeten und im Garten die Hülsen und mit etwas Glück auch Patronen aus diesem Krieg. Die Welt kam zu uns mit dem Krieg. Die Enzyklopädie meiner Kindheit, die Enzyklopädie der Lebenswelt meiner Großeltern. Die Stadtpläne von Wien, New York, Hamburg, Karlsruhe, Venedig und Triest waren dieselben, nach welchen sich meine Vorfahren orientierten. Viele haben sich inzwischen sehr stark verändert, nicht aber ihre innerste Topographie verloren.
Das Lexikon roch für mich im Frühling, das Huzulenland im Sommer. Alles hat gepaßt. Deshalb wuchs ich mit dem zärtlichen Gefühl der Übereinstimmung auf. Das Europa, das ich erlebte, war fast identisch mit dem, das auf den Seiten der Enzyklopädie dargestellt war. Das vermittelte Ruhe und Zuversicht. Die Überzeugung, daß die Welt genau so ist wie in den Büchern, und umgekehrt – was mir fast noch wichtiger war –, daß die Bücher die Welt so abbilden, wie sie wirklich ist. Von neueren Entwicklungen wußte ich noch nichts. Das war ein Zustand vollkommener Harmonie. Einer vollständigen, natürlichen, selbstverständlichen und offenbarten Zugehörigkeit. Und dieses später nie mehr erlebte Gefühl sprach damals zu mir auf deutsch. Das war das alte Europa meiner jungen Großeltern. Das Europa meiner Kindheit.
Ich bin sehr froh, diesen Preis als ein noch relativ junger Mann zu bekommen.
Ich freue mich, daß ich Lust und Kraft habe, mich darüber zu freuen, mich daran zu erfreuen, mich darauf zu freuen, was er mit sich bringen wird.
Ich bin sehr froh, daß diese Freude und diese Lust so ähnlich sind wie die, die ich spüre, wenn ich mich an eine neue Übersetzung mache. Leidenschaft für die Literatur und Lust auf das Leben. Denn das ist dann nicht nur ein Zeichen der Anerkennung, sondern auch etwas, das einem Lebenslust macht. Es ist überhaupt ein wunderbares Paar: Lust und Dankbarkeit. Es ist großartig, beide gleichzeitig erleben zu dürfen. Das eine macht Lust weiterzugehen, das andere gibt Anlaß sich umzuschauen, zurückzuschauen. Das zweite ermöglicht das erste. Das erste berechtigt zum zweiten. Heute stehe ich in der Mitte. Mitten im Leben, mitten in Europa. Ein Mittler. Ein Vermittler zwischen Lust und Dankbarkeit. Zwischen meinen Großeltern und Hölderlin, zwischen meinen Eltern und Freud, zwischen Franko und Hoffmann, zwischen den verstorbenen und den lebenden Kollegen, zwischen deutsch und europäisch. Zwischen Alteuropa und dem von heute. Zwischen der Lust auf das Schreiben und der Dankbarkeit für das Gelesene.
SINN UND FORM 4/2008, S. 566-570