Prabala-Joslin, Avrina
geb. 1992 in Viluppuram (Tamil Nadu), Stipendiatin nichtdeutschsprachige Literatur für Berliner Autorinnen und Autoren, lebt in Berlin. 2010 erschien ihr Roman »The Apple Elusionist«. (Stand 3/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/2022 | Das Paradox der uneigentlichen Archive
- 3/2023 | Ein Panzer, ein Bataillon, ein Banyanbaum
- 3/2024 | Amma kennt den Weg. Gedicht
Er erzählt ihr, er sei achtundzwanzig. Sie erzählt ihm, sie sei sechzehn. Zu Hause stimmt etwas nicht. Sie weiß nicht was. Sie mag es, wenn (...)
LeseprobePrabala-Joslin, Avrina
Ein Panzer, ein Bataillon, ein Banyanbaum
Er erzählt ihr, er sei achtundzwanzig. Sie erzählt ihm, sie sei sechzehn.
Zu Hause stimmt etwas nicht. Sie weiß nicht was. Sie mag es, wenn niemand da ist und sie sich einfach an den neuen Computer setzen kann. Damals waren Computer noch eine große Neuheit und sie gehörten zu den wenigen Leuten in der ganzen Stadt, die einen zu Hause hatten.
Ihr Dad ist der Präsident von irgendwas. Nicht des Landes, nicht der Stadt. Es ist so etwas wie ein Geheimdienst, wie diese Bühnenarbeiter, die zwischen den Akten Möbel herumschieben. Blackouts. Sein Telefon klingelt ständig. Er sagt nicht »Chellaiya hier«, wenn er abhebt. Sagt nicht »Wiederhören«, wenn er auflegt. Sie findet, das sollte er. Zwei seiner Freunde sind vor kurzem gestorben.
Ihre Mom ist Wissenschaftlerin. Biotechnologin. Immunologin. Diese Wörter kannte sie schon, bevor sie wußte, wie man eine Geschichte nacherzählt. Das ist der erste Schritt im Niedergang vom Baby zum Kind. Mom hat acht Hände, auf jeder Seite vier. Mom ist nie am Telefon, obwohl sie so ein Klapphandy hat. Nichts als Schriftstücke. Die hat sie einmal aufeinandergestapelt, als ihre Mutter nicht zu Hause war. Sie wuchsen immer weiter in die Höhe, und sie brauchte erst einen Hocker, dann einen Stuhl, dann eine Leiter aus dem Keller, um mehr und mehr Schriftstücke aufzutürmen, bis sie keinen Halt mehr hatten und schwankend einstürzten.
Mom ist gleich Zeit. Dad ist gleich Ort.
Sie hätten einen Hund haben können.
Sie ist sechzehn minus zwei, fühlt sich aber wie plus acht. Er hat ihr ein Bild von sich mit Hut, Fliege und Hosenträgern geschickt. Ein Dinner mit Krimispiel, das er für seine Freunde gegeben hat. Auf einem anderen angelt er allein an der Ramganga im Jim Corbett Nationalpark. Er trägt ein Barett und eine Hose, die überall Taschen hat. Sie hat einen Ordner in einem Ordner in einem Ordner in einem Ordner namens »Brillante Tutorials – Mathe-Prüfung« angelegt, in dem sie seine Bilder abgespeichert hat, zusammen mit denen, die sie ihm geschickt hat. Angelruten hat sie bisher nur auf Bildern gesehen.
Mom kauft einen klobigen Drucker und verbindet ihn mit dem Computer in ihrem Zimmer. Der Drucker druckt noch, als sie im Bett liegt. Langsam einziehen, doppelseitig ausdrucken, eilends ausspucken. Dad ist ein Stift-und-Papier-Typ. Mom holt nachts eine Lampe hervor, und plötzlich ist der Eßtisch ein Gewächshaus. Bilder von allen möglichen Dingen sehen unter dem Mikroskop ziemlich ähnlich aus, so daß sie denkt, vielleicht ist am Ende doch alles gleich.
Dad weiß nicht, wie er sein Telefon stummschalten kann, oder er will es nicht. Er sollte als erster vom Sterben seiner Freunde erfahren oder vom Vater seines Freundes, den der Sohn seines Freundes umgebracht hat. Wenn sein Telefon nach ihrer Schlafenszeit klingelt und die Eingangstür aufgeht und zuklappt, setzt sie sich im Bett auf und überlegt, welche Geschichte jetzt auf sie zukommt, bis Mom eintritt, ihr die Schultern wieder ins Bett drückt und ihr erzählt, was passiert ist, oder irgendwem, der Luft oder der Erde erzählt, daß Dad weggegangen ist und wiederkommt, wenn er sich um die Sache gekümmert hat.
Mom ist eine Detektivin mikroskopischer Welten. Dad hält sichtbare Ökosysteme instand.
Im Internet machen die Leute, was sie wollen. Es gibt Bilder, die das beweisen. Sie sucht auf Google nach ihrem eigenen Namen und schaut sich die Bilder an. Da ist eine Hunderasse, die genauso heißt wie sie. Da ist ein Schmuckhersteller in London, der jung und alt zugleich ist. Ein Mann aus Málaga heißt auch wie sie, dabei ist seine Haut dunkler als ihre und er spricht eine ganz andere Sprache. Sie erscheint auch auf der Liste der Suchergebnisse, zumindest erscheint da das Bild von Halle Berry, das sie als ihr Profilbild auf MySpace hochgeladen hat. Wenn irgendwer irgendwo ihren Namen googelt, dann glaubt er, sie sehe aus wie Halle Berry.
In Yahoo-Chatrooms fragen die Leute nach Alter, Geschlecht und Wohnort, sie tippen »Hallo, ASL?« oder einfach nur »ASL?« für Age, Sex, Location ein, und sie sagt, sie ist sechzehn oder achtzehn. Weiblich oder männlich. Delhi oder Kairo oder Sydney. Ihr Paßwort heißt »godisgreat«.
Er weiß, wo sie den Koordinaten nach wohnt. Als er das im Internet eingab, sagte ihm die Betaversion einer Entfernungsrechner-Website, er wäre in drei Stunden und siebzehn Minuten bei ihr. Er weiß nicht, daß er so nur zu dem Munusamytempel drei Straßen weiter kommt.
Neben den Stapeln von bedrucktem Papier liegen leere Blätter, und obwohl die in ihrem Zimmer am Computertisch, der im Prinzip ein gemeinschaftlicher Bereich ist, Platz wegnehmen, macht ihr das nichts aus. Ab und zu nimmt sie sich ein paar Blätter und zeichnet ihre Vorstellung davon, wie die Haut unter ihrer Haut unter einem Mikroskop aussieht, oder ihr DNA-Profil, das im wesentlichen aus flachen bunten Kästchen auf zwei Fingerbreit auseinanderliegenden Linien besteht. Sie schiebt diese Blätter zwischen die Forschungsarbeiten ihrer Mutter, und das ist ein bißchen so wie die Zettel mit »Iß die Möhren« oder »Die geheime Zutat ist nicht Liebe, sondern Zimt«, die Mom ihr in die Lunchbox steckt.
In der Mittagspause sitzt sie auf dem Schulhof mit drei anderen Mädchen unter dem Neembaum. Sie nimmt den Liebesgruß ihrer Mutter heraus, steckt ihn in die Tasche und ißt Zitronenreisbällchen mit weichen Erdnüssen darin. Sie erzählt den anderen Mädchen die Geschichte vom Vater des Freundes ihres Dads, der vom Sohn des Freundes ihres Dads umgebracht wurde. Ihre drittbeste Freundin findet es zu gruselig, beim Essen darüber zu reden, daß jemand jemand anderen zerstückelt hat. Ihre zweitbeste Freundin findet es verrückt, daß jemand jemand anderen der Liebe wegen umbringt. Ihre beste Freundin findet es unheimlich traurig, wenn jemand nicht will, daß jemand mit jemandem zusammen ist, nur weil sie verschiedenen Kasten angehören.
Sie geht mit der besten Freundin zusammen in eine Kabine. Die beste Freundin holt ein Handy aus ihrem BH, schaltet es ein und wählt eine Nummer. Sie hockt sich über die Toilette und pinkelt, während die beste Freundin jemandem erzählt, daß sie ihn liebt. In der hinteren Ecke sitzt eine winzige Kakerlake. Es ist dieser Mann mit dem Fahrrad, der sie durch die ganze Stadt verfolgt. Das hat vor einem Jahr angefangen, und im Grunde hat er sich in ihrer beider Leben gebettelt. Die Tamil-Lehrerin, die sie dabei erwischt hat, wie sie Nachrichten zwischen Fahrradbettler und bester Freundin hin und her trug, hat gesagt, es gehöre sich nicht, wenn kleine Mädchen um erwachsene Männer herumhüpfen. Dabei machen sie im Film eigentlich nichts anderes, und alle lachen oder weinen darüber in der Nachmittagsvorstellung.
Die beste Freundin gibt ihr das geheime Telefon, das der Fahrradbettler ihr für diese Romanze gekauft hat. Als sie nach Hause kommt, sitzt Dad am Eßtisch, und sie schaut auf die Uhr, ob es schon sechs ist. Dad telefoniert. Sie kocht Milch auf, gießt sich eine Tasse ein und rührt etwas Honig hinein, und Dad legt die Hand auf das Telefon und bittet sie, ihm einen Kaffee zu kochen. Er spielt wieder dieses Spiel, bei dem er auf seinem Notizblock herumkritzelt, während er sich nach dem Wohlergehen irgendeiner Familie erkundigt, um seine menschliche Anteilnahme zu zeigen, dabei klopft er die Leute in Wirklichkeit nur langsam weich, damit er sie irgendwann später um einen Gefallen bitten kann. Er nennt das Kontaktpflege. Eigentlich ist es auch nichts anderes als das, was sie mit der besten Freundin macht. Als sie den Topf mit heißer Milch über Dads Tasse hält, vibriert das Telefon in ihrem BH, und sie läßt den Topf auf die Tasse fallen. Die Tasse bricht in der Mitte durch, und Milch läuft auf die Küchentheke. Ihr Brustkorb blinkt.
Sie zieht sich in die kleine Abstellkammer zurück, eine Kammer, die sich nur von außen öffnen läßt. Das Telefon brummt weiter. Die beste Freundin ließ das Handy in ihrem BH immer ausgeschaltet. Er ist dran. Als sie das Handy ausschaltet, ist es stockdunkel, und sie hämmert von innen an die Tür, die ganze Kammer riecht nach Reis in Kokosfasersäcken. Manchmal bittet Dad um Kaffee und geht dann einfach weg. Sie hämmert weiter. Ihre Tasse Honigmilch wird auf der Küchentheke kalt. Manchmal schert Dad sich herzlich wenig um Fragen von Leben und Tod.
[…]
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger
SINN UND FORM 3/2023, S. 380-389, hier S. 380-383