Mosebach, Martin
geb. 1951 in Frankfurt am Main, wo er auch lebt, Mitglied der Akademie der Künste. Jüngste Veröffentlichungen: »Die schöne Gewohnheit zu leben. Eine italienische Reise« und »Die 21. Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer« (beide 2018). (Stand 3/2018)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 6/1996 | Stumme Musik der Geometrie - Zur Epik Heimito von Doderers
- 4/1997 | Frankfurt am Main - Porträt einer Stadt
- 3/1998 | Nichts, nichts! So, so! Tot, Tot! Zu Kleists »Penthesilea« und Shakespeares »Sommernachtstraum«
- 4/2001 | Bildersturm und Liturgie
- 1/2005 | Nicolás Gómez Dávila - Einsiedler am Rand der bewohnten Erde
- 2/2004 | Brigitte Kronauer und die Malerei
- 3/2005 | Die Schrecken des Sports
- 1/2009 | Ein Winter in Shio Mghvime
- 4/2009 | Die Kirche Hagios Georgios in Frankfurt
- 1/2011 | Wer einen Roman schreibt - sollte der wissen, was ein Roman ist?
- 2/2013 | Stefan Georges Religion
- 4/2013 | Architektur - Gedächtnis der Menschheit. Vierzig Jahre Hilmer & Sattler und Albrecht
- 1/2014 | Der Feind
- 2/2018 | Der Aquarellblock als Tagebuch. Über die Malerin Elisabeth von Förster
- 3/2018 | Wiedersehen mit Rom
I.
Das Kloster Shio Mghvime liegt in der Nähe der alten georgischen Königsstadt Mzcheta. Der heilige Einsiedler Shio, ein syrischer Mönch, (...)
Mosebach, Martin
Ein Winter in Shio Mghvime
I.
Das Kloster Shio Mghvime liegt in der Nähe der alten georgischen Königsstadt Mzcheta. Der heilige Einsiedler Shio, ein syrischer Mönch, hauste hier in einer Höhle und sammelte einen Kreis von Nachfolgern um sich, der nach seinem Tod beständig wuchs; im ersten nachchristlichen Jahrtausend haben in manchen Zeiten mehr als zweitausend Mönche in den Höhlen gelebt, die sie in die Steilhänge gruben. So darf Shio Mghvime, das heißt »Shios Höhle«, sich zu den frühesten Klöstern der Christenheit zählen. Und tatsächlich kommt die bergige Landschaft, in der das Kloster liegt, einer ägyptischen Thebais sehr nahe. Dies Gebirge besteht aus einem fest zusammengebackenen, steinhart gepreßten Geröll- und Sandgemisch, das sich Wasser und Wind zu beständiger Formung anbietet. In das Hochplateau hat der Fluß ein tiefes Tal gegraben. Steilwände begrenzen den Blick, zu ihren Füßen fällt das Gelände sanft hügelig ab, aber die Hügel sind von Schluchten durchschnitten, die hinunter zum urzeitlich schlangenhaft sich windenden Fluß führen. Das andere Ufer sieht weniger dramatisch aus, die Abstürze sind hier nicht so steil; in der Talsohle steht eine verlassene und verrostete Fabrik, in majestätisch leerer Mondlandschaft das Zeugnis eines gescheiterten Versuchs der Industrialisierung.
Vor den Steilwänden von Shio Mghvime leuchtete mir der Gedanke ein, alle monumentale Architektur sei im Grunde eine Nachahmung der Berge. Die konkave Riesenwand, die gleichsam über dem Kloster schwebte, glich einem monumentalen Sperriegel, hinter dem gewaltige Wassermassen hätten stehen können. Sie wirkte wie eine menschliche Schöpfung; in diese Wand Höhlen zu graben schien nur die Vervollständigung eines vorgefundenen Bauwerks zu sein. Hier verstand ich den Vers des Matthias Claudius: «... o, wie ist der Mann zu loben, der solch fürchterliches Toben / schon im Voraus hat bedacht / und die Häuser hohl gemacht«, als seien Häuser ursprünglich Skulpturen ohne Innenleben gewesen.
Neben der mächtigen Muschel, in die das winzig wirkende Kloster sich schmiegte, reihten sich hochragende felsige Festungsmauern mit runden Türmen und Bastionen. Die Erosion hatte Titanenburgen geschaffen, die von den Mönchen wie von Termiten durchlöchert worden waren. Die Felstürme blickten in eine weite, von Schneebergen begrenzte Ebene, die immer wieder Schauplatz großer Schlachten war. Meist hatten die Georgier verloren, dann wurden sie von Invasoren unterworfen, wie die Landschaft den Wettergewalten unterworfen war. Sie war von lehmig-staubigem Ockergrau, windflüchtende schwärzliche Pinien klammerten sich an Felsvorsprünge, ein Lieblingsmotiv chinesischer Rollbilder. Aber am Tag, nachdem der letzte Schnee getaut war, begannen sich die Hänge schon mit Zyklamenteppichen zu bedecken, über denen rostrote und hellgelbe Schmetterlinge flatterten, einer war so hellblau, daß er vor dem Himmel manchmal unsichtbar wurde.
II.
Weil ich keine Übersetzungen der langen Lesungen während der Nachtwachen besaß, habe ich eine Weile, beim Schein einer kleinen Kerzenflamme, im Kirchendunkel Dante gelesen. Meine Ausgabe war sehr klein und hatte einen schwarzen Lederrücken und Lederecken. Sie sah wie ein Gebetbuch aus und erregte kein Mißtrauen. Ganz wohl war mir nicht in meinem Gewissen bei meiner Lektüre, die durch eine Reihe kreisrunder gelber Wachsflecken auf den Seiten dokumentiert ist. Nicht etwa weil Dante keine geistliche Literatur gewesen wäre - dafür mag er trotz der großen Freiheiten, die er sich nimmt, wohl durchgehen -, sondern weil er so ausgeprägt katholisch im lateinisch-konfessionellen Sinne war - als »katholisch« im Sinn des Credo versteht sich die georgische Orthodoxie natürlich ebenfalls. Bei Dante, der doch vorgeblich eine ganze Welt beschrieb, gähnte an der Stelle, wo die griechisch-orthodoxe Christenheit hingehört hätte, ein großes Loch, dem er sich noch nicht einmal zu nähern traute. Konstantins und Justinians Größe wird zwar gepriesen, aber Konstantinopel, jenes Wunder einer Stadt, das die beiden Kaiser hervorgebracht und beherrscht haben, findet keine Erwähnung, obwohl Dante ein Zeitgenosse der Kreuzfahrer war und auch die fatale Periode des lateinischen Kaiserreiches in seine Lebenszeit hineinragt. Der Prophet Mohammed, der Kalif Ali und der Philosoph Ibn Rushd sind in Dantes Jenseits bekannt, aber kein Byzantiner. Die für die Entwicklung des Christentums so prägenden Gestalten der östlichen Kirchenväter, die Heiligen Basilius, Johannes Chrysosthomos, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz, fehlen genauso wie die für die Formulierung des Dogmas verantwortlichen Athanasios und Kyrill von Alexandrien. Nur Nikolaus von Myra und der Mönchsvater Antonius aus Ägypten kommen zu Fußnotenehren.
Und dabei ist Dante das Griechenland der Antike mit seinen Göttern, Halbgöttern und Heroen so gegenwärtig, als seien sie besonders ehrfürchtig zu betrachtende Florentiner - nein, eben nicht Florentiner, denn der Autor spricht kein Griechisch und weiß, daß er sich dafür zu schämen hat. Als er in der Hölle zwei Flammen ansprechen möchte, tritt Vergil dazwischen: „Sie könnten deine Rede wohl verachten, weil sie Griechen waren«, Odysseus und Diomedes nämlich.
Das ist der Verdacht, den Dantes auffälliges Schweigen über die griechischen Christen bei mir auslöst: hinderten ihn vielleicht eine ihm peinlich bewußte Unwissenheit und ein allzu großer Respekt daran, mit den christlichen Nachfahren der großen Griechen der Antike so unbekümmert ins Gericht zu gehen wie mit den Abendländern? Dante, der unübertroffene Verflucher und Beschimpfer, sagt kein einziges böses Wort gegen die orthodoxen Schismatiker. Die Verderber der Christenheit sind bei ihm vor allem die Päpste, die sich nicht mit ihrem Priesteramt, ihrer Binde- und Lösegewalt zufriedengeben, sondern weltliche Fürsten geworden sind. Und nichts anderes warfen die Orthodoxen den Päpsten vor. Oder sollte die Pointe am Ende darin liegen, daß Dante die Orthodoxen aus der »Commedia« heraushielt, weil er ihre Papstkritik so vollständig übernahm?
Die Sprachbarriere machte es mir unmöglich, den Mönchen von Shio Mghvime eine umfassende und gründliche Antwort zu geben, wenn sie mich fragten, warum ich nicht orthodox würde. Was ich ihnen hätte sagen müssen, das hätten sie nicht verstanden: ich könne nicht orthodox werden, weil ich es schon sei.
Ich gebe zu, daß es vielleicht sträfliche Sorglosigkeit verrät, sich als Katholik so selbstverständlich der Orthodoxie zuzurechnen. Womöglich verbirgt sich darin sogar jene rücksichtslose Vereinnahmung aus schierer Herrschsucht, wie sie die Orthodoxen von den Katholiken in den tausend Jahren der Trennung leidvoll erfahren haben. Wenn Orthodoxe stolz und kämpferisch auf die Eigenart ihrer Theologie verweisen, die mit der katholischen Theologie unvereinbar sei, dann hören sie ungläubig zu, wenn ein Katholik darauf antwortet, es gebe nichts in der orthodoxen Doktrin, was ein strenggläubiger römischer Katholik sich nicht zu eigen machen dürfte. Das betrifft sogar die Haltung zum Papsttum, dessen Ehrenprimat auch in der Orthodoxie unbestritten ist. Die dogmatisierte Unfehlbarkeit in Fragen des Glaubens und der Sitten begründet ja keine päpstliche Souveränität, sondern steht unter der Bedingung, daß der Papst in Übereinstimmung mit der gesamten kirchlichen Tradition spricht. Sie unterwirft den Papst der Tradition. Der von den Päpsten beanspruchte juridische Primat mit dem Recht, die Kirche zentralistisch zu führen, ist demgegenüber keine Glaubensfrage, sondern Ergebnis der Kirchengeschichte des Westens und steht, wie der gegenwärtig regierende Papst schon als Kardinal angedeutet hat, bei einer gemeinsamen Zukunft mit der Ostkirche durchaus zur Disposition.
Es kann hier aber nicht darum gehen, und es ging mir auch in Shio Mghvime nicht darum, das Trennende und Verbindende zwischen katholischer und orthodoxer Kirche theologisch präzis und argumentativ gegeneinander abzuwägen und die Unterschiede kleinzureden. Es sei dahingestellt, ob der Papst, der im elften Jahrhundert in das niceo-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis die berühmt-berüchtigte Formel des »filioque« einfügte und damit den Heiligen Geist nicht nur, wie es im Johannes-Evangelium heißt, vom Vater, sondern auch vom Sohne seinen Ausgang nehmen ließ, bloß in grober Weise seine Befugnisse überschritten oder ob er damit eine Häresie begründet hat. Denn der Hinweis auf die zahlreichen Schriftstellen, die der Papst zugunsten seiner Entscheidung hätte anführen können, auf die orthodoxen Väter, die bereits im ersten Jahrtausend eine dem »filioque« verwandte Formel gebrauchten, und auf moderne katholisch-orthodoxe Theologenkommissionen, die in den unterschiedlichen Formeln kein trennendes Element mehr erkennen wollten, hätte die Mönche von Shio Mghvime nicht in ihrer Überzeugung erschüttert, daß die katholische Kirche die Einheit des Christentums bis heute beschädigt habe.
Damit war eine wichtige Voraussetzung für meine Teilnahme an den »Mysterien« oder den »Sakramenten«, wie sie im Westen genannt werden, verlorengegangen. Nur in der Einheit des Glaubens war das Ereignis des »Mysteriums« möglich. Die Heiligenbilder, die die Innenwände einer orthodoxen Kirche bedecken, umgrenzten den Raum, innerhalb dessen nur Eingeweihte, und das heißt Getaufte, anwesend sein durften, um Zeugen der liturgischen Begegnung mit dem Erlöser zu werden. Aber wie konnte ein Mensch behaupten, getauft zu sein, wenn er in einem Irrtum über die Natur des Heiligen Geistes befangen war und Priestern anhing, die diesen Irrtum in das Herz des Glaubens, das Glaubensbekenntnis der großen frühen Konzile, gepflanzt hatten? Da half es wenig, daß inzwischen Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. gemeinsam mit dem Patriarchen von Konstantinopel das Glaubensbekenntnis ohne das inkriminierte »filioque« gesprochen hatten; das war in diese Berge nicht vorgedrungen. Es dauerte eine Weile, bis ich endlich verstand: in den Augen der Mönche von Shio Mghvime war ich gar nicht getauft.
Meiner Begriffsstutzigkeit wurde freilich aufgeholfen. Das erste nächtliche Stundengebet, das ich erlebte, war zu Ende gegangen; nun begann die eucharistische Liturgie. Die heiligen Türen der Ikonostase wurden geöffnet, der Priester trat in goldenem Mantel und mit langem, über den Rücken herabfallendem schwarzem Schleier an den Altar. Epistel und Evangelium wurden vorgetragen, das Glaubensbekenntnis gebetet, alles vielfach unterbrochen durch die langen Kyrie-eleison-Rufe. Die Seitentür tat sich auf und der Priester kam mit den hocherhobenen verhüllten Opfergaben heraus, um sie durch den dunklen Kirchenraum zu tragen. Zugleich trat ein Novize auf mich zu - gelbgesichtig wegen eines Leberleidens, ausgezehrt, mit harten Augen, er war früher Sportlehrer in London - und winkte mir, ihm zu folgen. Im Vorraum warf er sich vor mir auf den Boden und bat mich um Vergebung. »Als Ungetaufter ist es Ihnen verboten, an den heiligen Mysterien teilzunehmen. Lassen Sie sich taufen, dann dürfen Sie bleiben.«
Ich gebe zu, ich fühlte mich gekränkt. War ich nicht als vorbehaltloser Bewunderer der Orthodoxie hierhergekommen? Erklärte ich nicht jedermann, die westliche Kirche habe sich die Orthodoxie zum Vorbild zu nehmen, weil nur in ihr das authentische Christentum des ersten Jahrtausends, des Zeitalters der sieben ökumenischen Konzile, verwirklicht sei? Fühlte ich mich in meinem Katholizismus nicht längst selbst als Orthodoxer? Man sprach mir allen Ernstes die 1951 nach den Riten der Alten Kirche gespendete Taufe ab, während die katholische Kirche doch selbst die Taufe der Protestanten, von denen sie so viel trennt, ohne weiteres anerkennt und alle Sakramente der Orthodoxie als ebenso gültig betrachtet, als kämen sie aus den Händen eines katholischen Priesters. Hier stand ich nun vor einer Mauer.
Aber es dauerte nicht lange, bis ich mich mit diesem Ausgeschlossenwerden abfinden und es sogar als einen bedeutenden Gewinn erleben konnte. Ich machte mir klar, wie tief meine Empörung in einer Haltung wurzelte, die ich bei andern Zeitgenossen widerwärtig fand: in dem Anspruch, überall und zu jeder Zeit zugelassen zu sein, keine Grenzen gelten zu lassen, jedes Phänomen selbstverständlich und aus Bildungsinteresse unter die Lupe nehmen zu dürfen. In Shio Mghvime, am Ende der Welt, war ich nun endlich auf ein »Nein!« gestoßen, und noch dazu auf einem Feld, auf dem ich mich als besonders kompetent empfand. Und es lagen ja nicht bloß Ausschluß und Abwehr in diesem Gebot, die Liturgie vor dem Beginn der Mysterien zu verlassen. Auch dies Hinausgehen und draußen im Dunkel Alleinbleiben - ganz dunkel war es auch gar nicht, eine einsame Glühbirne schaukelte im Schneesturm und erzeugte Riesenschatten, in denen die Nacht sich vertiefte -, dieser Aufenthalt im Narthex - der Vorhalle - war als geistliche Übung zu verstehen, als liturgisches Handeln durch Abwesenheit. Mein Hinausgehen trug dazu bei, den heiligen Raum und seine Grenzen sichtbar zu machen. Die Grenzziehung zwischen dem Heiligen und dem Profanen war eine religiöse Uraktion; wer die Liturgie verlassen mußte, erhielt einen Einblick in die Natur der Welt, in der beides voneinander geschieden ist, und durfte erkennen, wohin er selbst gehörte. War es nicht auch schön, daß auf den Ruf des Priesters »Ihr Ungetauften, entfernt euch! Die Türen! Achtet auf die Türen!« (nämlich daß sie geschlossen sind) nun endlich auch einmal einer den Raum verließ und der uralte Ruf nicht bloß ein Überbleibsel aus frühen Jahrhunderten der Erwachsenentaufe war, sondern konkrete Konsequenzen hatte? Wer Riten liebt, darf nicht an ihnen irre werden, wenn sie sich zu seinem Nachteil auswirken - und ob in meiner Entfernung ein Nachteil lag, dessen war ich mir, wie gesagt, bald gar nicht mehr so sicher.
Meine Lage in Shio Mghvime lernte ich aus Dantes »Commedia« zu begreifen. Vor mir, so lange ich im stockdunklen Kirchenschiff ausharren durfte, lag die Ikonostase, hinter deren geschlossenen Türen der siebenarmige Leuchter auf dem Altar brannte, nur ein schwacher Lichtschein drang nach außen, wie in der Kindheitserinnerung an den Türspalt, durch den der Christbaum leuchtete... Die Priester, die sich hinter den Türen bewegten, waren nur als Schatten zu erahnen. Durch die schwarzen Schleier wurden ihre Umrisse bis zur Unheimlichkeit vergrößert. Sie umkreisten den Altar, so stellte ich mir vor. Dieser Raum hinter den Türen und Vorhängen war der Himmel. Ich war mit meinem Kerzchen und mit den andern Mönchen in einem nächtlichen Purgatorium - stehend, stehend, stehend, bis ich die Beine nicht mehr spürte; gewiß, bei Dante herrscht im Purgatorium ein frostig- frisches Morgenlicht, eine Frühlingsstimmung, aber gemütlich wird es gleichfalls nicht. Und die Hölle? Auch die gab es, und zwar in Gestalt einer greulichen Latrine weit von der Kirche, wie Dante sie als Straflager der Schmeichler und Dirnen beschreibt. Während meines ganzen Aufenthalts in Shio Mghvime verlor ich nicht die Angst, in dies große, übel dampfende Loch hineinzufallen.
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SINN UND FORM 1/2009, S. 44-49
Ich war dreißig Jahre alt und hatte soeben meine juristischen Studien mehr schlecht als recht abgeschlossen und noch keine der kleinen Erzählungen (...)
LeseprobeMosebach, Martin
Wer einen Roman schreibt – sollte der wissen, was ein Roman ist?
Ich war dreißig Jahre alt und hatte soeben meine juristischen Studien mehr schlecht als recht abgeschlossen und noch keine der kleinen Erzählungen und Stilexperimente aus meiner Referendarzeit veröffentlicht, als mich die Lektorin eines Verlages, die die Manuskripte gelesen hatte, fragte, ob ich nicht auch einen Roman schreiben könne. Ich hatte bisher noch keinen Gedanken auf einen eigenen Roman verwandt und zögerte dennoch keinen Augenblick, ja zu sagen, wie ich mehr oder weniger zu allen Zumutungen oder Versuchungen in meinem Leben ja gesagt habe. Ich hatte trotz meiner Neigung zur Literatur Jura studiert, weil ich einen ausgeprägten Widerwillen gegen jede Art von literarischer Theorie verspürte, und das ohne sie näher zu kennen als alles, was sonst so an einen herangespült wird. Es war meine grundsätzliche Überzeugung, es sei besser, ein Gegenstand der Philosophie zu sein, als selbst zu philosophieren. So begann ich denn recht bedenkenlos drauflos zu erzählen, mit großer Handschrift, wie d'Annunzio Berge von Papier verbrauchend, bis ich nach etwa einem Jahr ins Stocken geriet; die Planlosigkeit rächte sich, alles war möglich, und diese Unbeschränktheit erzeugte unüberwindliche Blockaden. Damals lernte ich eine Wienerin kennen, die Förster-Streffleur hieß; ich schrieb ihr einen Brief und betrachtete auf dem Umschlag eine Weile unverwandt ihren Namen, bis ich plötzlich feststellte, daß der zweite Teil dieses Namens beinah ein Anagramm des ersten Teils war – nur das L war überzählig. So kam ich zur Lösung meines Problems: ich würde den zweiten Teil meines Romans einfach mit denselben Figuren wie im ersten erzählen, nur in anderer Anordnung, unter Hinzufügung von ein oder zwei neuen Elementen. Ich kann nicht behaupten, daß dieser Roman mit dem Titel »Das Bett« mir aus den Händen gerissen worden wäre, aber ich blicke immer noch freundlich auf ihn.
Der zweite Roman wurde durch eine Goethe-Maxime inspiriert: »Wir sind naturforschend Pantheisten, episch Polytheisten, moralisch Monotheisten.« Ich nahm mir Tschechows Kirschgarten-Stoff und stellte mir vor, seine Protagonisten seien bürgerlich-modern kostümierte griechische Götter. Götter haben die Eigenschaft, in ihren Ressorts einander feindselig gegenüberzustehen, zugleich aber allesamt recht zu haben und in ihren Kämpfen und Göttermählern ewig zu leben. Die Verkleidung meiner Götter ist mir offenbar allzu gut gelungen; die wenigen Leser von »Ruppertshain« glaubten, es sei ein Roman über Immobilienspekulation, und fanden, daß ich mit diesem ernsten Thema zu leichtfertig umgegangen sei. Danach begann ich den Roman »Westend«, drohte nach munterem Anfang bald schon in ihm zu versinken und stellte nach drei oder vier Jahren fest, daß es nun an der Zeit sei, mich zu entscheiden, ob ich wirklich Schriftsteller werden wolle.
Das Bild selig-theorielosen Produzierens, das ich hier entworfen habe, entbehrt nicht einer gewissen Unwahrhaftigkeit, denn es war selbstverständlich keinen Augenblick so, als sei mir oder einem meiner Zeitgenossen ein voraussetzungsloses Erzählen auch nur im Traum möglich gewesen. So begeisternd für den jungen Autor die Vorstellung auch sein mag, er schreibe den ersten Roman – nicht den ersten eigenen wohlgemerkt, sondern den ersten überhaupt –, sie wird sich nur in den flüchtigen Augenblicken der Berauschtheit durchhalten lassen. Das Reich der Romane ist übervölkert; es wird von einem Riesengeschlecht toter Schriftsteller bewohnt, die mit der Zeit immer noch weiter wachsen, wie der Prophet Samuel, der in seinem Sarkophag zu Samarkand beständig größer wird und inzwischen schon über sechs Meter mißt. Aber auch die neueren, kleineren Autoren haben eindringliche Stimmen, die verführerisch dissonant klingen. Da hatte die Warnung meines Vaters viel für sich, es sei ein sinnloses Unterfangen, dem Romankosmos noch eigene Bücher hinzuzufügen, wenn meine Lebenszeit ohnehin nicht ausreiche, dem bereits Geleisteten auch nur annähernd gerecht zu werden. Schon nach oberflächlicher Würdigung auch nur einiger der großen Romane mußte mir klar sein, daß es Gesetze des Erzählens gab, die sich in Jahrhunderten herausgebildet hatten, ja, daß es einen großen, manchmal unhörbaren, aber immer gegenwärtigen Rhythmus gab, nach dem die europäischen Erzähler hüpften, tanzten oder würdig voranschritten, je nach Temperament, aber bei aller Verschiedenheit eben doch einer grundsätzlichen gemeinschaftlichen Ordnung verpflichtet. Diese gemeinsame Tradition und ihre allmähliche Verwandlung oder besser Entfaltung, so wie sich ein großer Organismus beim Altern und Reifen entwickelt, nehmen die Leser als unterirdische Strömung unter dem äußeren Gang der Handlung wahr. Auf die Frage, was ein Roman sei, gibt es unzählige Antworten, aber die Leser wissen es besser, auch ohne Definition; so ungreifbar, so proteushaft, wie die Legende tut, ist der Roman gar nicht. Seine kühnsten Formsprengungen und Gattungsüberwindungen waren von Beginn an in ihm angelegt. Als Horaz an der Ilias rühmte, daß Homer nicht pedantisch »ab ovo« erzähle, sondern den zehnjährigen Krieg in ein paar Wochen zusammendränge – ohne sich im übrigen das spektakuläre Ende, das er einfach unter den Tisch fallen ließ, als Schmankerl aufzusparen –, da war dies Werk schon sechs- oder achthundert Jahre alt; die gegenwärtige Forschung neigt wohl eher zur Spätdatierung. Und wenn dies Mittel der Zeitverdichtung heute angewandt wird, kann es immer noch so frisch wirken, als sei es eine originelle Erfindung, die alle überrascht. Also nichts da von Unschuld und Naivität des theorieunkundigen Neophyten: Wer Romane liest – und das habe ich, bevor ich welche zu schreiben begann, in reichlichem Maße getan –, in den ist genug Modellhaftes, Erzähltechnisches, Typologisches eingesickert, auch wenn er sich darüber noch keine Rechenschaft abgelegt hat. Und die Pseudo-Unschuld des sich mit seiner Theorielosigkeit brüstenden Autors, im besten Fall einer novellistischen demi-vierge, birgt auch Gefahren. Dalí's Wort, wer die Tradition nicht kenne, könne nur Plagiate hervorbringen, spricht von der Neigung des Originalgenies, bei sich für neuartig zu halten, was lange vor ihm schon meisterhaft bewältigt worden ist.
Auch ich habe aber schließlich, nachdem ich die mir wichtigsten Bücher schon geschrieben hatte, einen Romantheoretiker gefunden, den ich dankbar als meinen Romantheoretiker annehmen konnte, der beim Namen nannte, was ich nur geahnt hatte, und den ich mit der Liebe gelesen habe, die nur ein Buch in uns wecken kann, das uns in unseren Anschauungen bestätigt – dieser Satz gilt natürlich nicht für Wissenschaftler, die sich bekanntlich gern und vorbehaltlos in ihren vorgefaßten Meinungen erschüttern und revidieren lassen. Erich Auerbachs Werk »Mimesis« ist nun über sechzig Jahre alt, und ich bedaure unendlich, daß ich nicht zu Füßen dieses großen Lehrers sitzen konnte, dessen Lebenszeit sich mit der meinen um wenige Jahre überschneidet. Er hat die Gründungssätze des nachantiken, des europäischen und damit auch des modernen Romans benannt; jeder kennt sie, sie stehen im zweiten Kapitel des Lukas-Evangeliums: »Es begab sich aber zu jener Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzet würde, ein jeglicher in seiner Stadt; da machte sich auch auf Joseph aus Galilea aus der Stadt Nazareth nach der Stadt Davids, die da heißet Bethlehem in dem jüdischen Land, daß er sich schätzen ließe mit Maria seinem angetrauten Weibe, die war schwanger.« Mit diesen Zeilen eröffnet sich die Möglichkeit eines neuen Blicks auf die Welt: die große Geschichte, die Weltpolitik, der Gründer des römischen Kaisertums, dessen Wirken bis in die Gegenwart reicht, werden darin mit einer armen Handwerkerfamilie aus einer vernachlässigten Kolonie des Römerreichs zusammengespannt, und so etwas ist bis dahin undenkbar gewesen. Von nun an können Werke entstehen, die die Gattungsbegriffe der Antike aufheben. Bis zu diesem historischen Moment waren in der Literatur das Erhabene und das Alltägliche, die Sphären der Heroen und der kleinen Leute, die großen Zeremonien und die formlose Banalität streng voneinander geschieden. Aber nun verschmolzen sermo sublimis und sermo humilis zu einer Prosa, die die Sprache des europäischen Romans werden sollte. Auerbach hat sein Werk während des Kriegs in Istanbul geschrieben; der Istanbuler Universität müssen die Deutschen ewig dankbar sein, daß sie den Flüchtling auf einen Lehrstuhl berief, doch eine dieser Arbeit genügende Bibliothek gab es am Bosporus damals nicht. So hat Auerbach die »Mimesis«, wie er berichtet, weitgehend ohne Bücher geschrieben – er bekennt sogar, daß sein Buch anders wahrscheinlich nie entstanden wäre. Liegt in dieser Entstehungsweise auch der Grund, warum ich es mit solcher Freude gelesen habe?
Wenn ich nun beginne, einige Gedanken über den Roman auszusprechen, geschieht dies gleichsam im Gespräch mit Erich Auerbach, durch ihn angeregt, ihn gelegentlich weiterspinnend und mit Eigenem vermischend. Die Frage, was diese Überlegungen für meine Romane bedeuten könnten, stelle ich mir nicht, aber da mein Denken und mein Tun nicht mehr als üblich auseinanderklaffen, wird sich ein gewisser Zusammenhang nicht leugnen lassen.
Ist Realismus etwas Wirkliches?
Es war ein alter Verfassungsrechtler, der mich mit seinem Mißvergnügen und seinen Bedenken gegen die literarische Form des Romans in Verlegenheit brachte: »Ich verstehe nicht, weshalb man Romane liest«, sagte er. »Da heißt es dann: ‚Der Baron stand auf den Zinnen seiner Burg und blickte über die Felder, die in der Abendsonne lagen‹ – wenn er das in Wahrheit doch gar nicht getan hat, ja, wenn es diesen Baron doch überhaupt nicht gab.« Man sieht, welchen Typus Roman der Jurist im Auge hatte, aber er hätte seine Bedenken auch äußern dürfen, wenn der Roman mit den Worten begonnen hätte: »Der Junkie Kevin öffnete den Eisschrank und blickte auf eine angebohrte, verschimmelte Velveta-Ecke.« Wann das Interesse der Menschheit an fiktionalen Erzählungen erwacht ist und welche Gründe es dafür gegeben haben mag, wann aus Mythen, die keinesfalls Fiktionen sein wollten, wann aus Epen, die sich als Geschichtswerke begriffen, Mythologien wurden, deren sich die individuelle künstlerische Phantasie bemächtigte, wann Märchen, die in ihrem Kern historische Ereignisse aufbewahrten, sich in Unterhaltungsstoff verwandelten, der zur literarischen Disposition der Erzähler stand – das soll hier nicht weiter erörtert werden. Und zwar nicht aus Geringschätzung für die Vielzahl der dazu angehäuften Erklärungen, sondern weil es für den Romancier unfruchtbar ist, sich die Welt ohne Romane vorzustellen, so wenig wie ein Pianist beim Einstudieren einer Haydn-Sonate von dem Gedanken profitieren kann, die Erfindung des Pianoforte sei im Grunde eine Absurdität. Es gibt ihn halt, den Roman, er erzählt, was sich niemals oder nicht in dieser Form ereignet hat, oder schlimmer: er exzediert im heillosen Verdrehen, Verknüpfen und Durcheinanderwerfen von Erfundenem und Tatsächlichem auf moralisch bedenklichste Weise – das Durcheinanderwerfen ist bekanntlich das Metier des Diabolos. Und das wahrhaft Unbegreifliche, meinen würdigen Juristen Verstimmende liegt dabei doch in der Übung, den größten Teil der in den letzten Jahrhunderten geschriebenen Romane ganz selbstverständlich einem »Realismus« zuzuordnen – was mag das wohl für ein Verhältnis zur Realität sein, das eine solche Verbindung des Unvereinbaren immer wieder erlaubt?
Es scheint da ein etwas fragwürdiges Spiel mit sehr feinen Kategorien zu geben: da treten eine »Wahrheit« und eine »Wirklichkeit« und eine »Wahrscheinlichkeit« gegeneinander an und versuchen zu beweisen, daß man ihren Ansprüchen auch genügen könne, wenn das im Roman Dargestellte nicht mit kriminalistischen Methoden zu sistieren sein sollte, wenn es sich vor den Schranken des Gerichts und unter Eid gar als schiere Lüge erwiese.
Ich greife zum Anekdotischen, um zu illustrieren, wie der Begriff des Realismus im Roman vielleicht am besten verstanden werden könnte. Ein inzwischen verstorbener Pianist erzählte mir von den Verhältnissen im Hause Rubinstein, die er kannte, weil er dort so lange zu Gast gewesen war, bis Madame Rubinstein ihn auf die Straße setzte. Er bewahrte der Dame deshalb kein gutes Andenken. »Sie war eine fürchterliche Frau«, sagte er, »stellen Sie sich vor: sie hatte auf dem Klo einen Goya hängen.« Ein Zuhörer protestierte: »Aber bitte – sie hatte doch keinen Goya auf dem Klo hängen!« Der Pianist revidierte sich etwas gereizt: »Natürlich hatte sie keinen Goya auf dem Klo hängen – aber so war sie!«
Mein Jurist ist mit solchen Mätzchen nicht zu trösten, aber ich muß ihn seinem Gram überlassen, denn auch »der kreative Umgang mit der Wahrheit« im Roman, um eine berüchtigte Formel zu gebrauchen, kann auf verschiedene Weise gehandhabt werden. Zwei Schulen sind es, die mich beschäftigt haben: der Naturalismus und der eigentliche Realismus. Das Bestreben, die Welt mit den Mitteln der Erfindung zu zeigen, wie sie ist, scheint dem Naturalismus und dem Realismus gemeinsam, aber der Naturalismus hat hier offenbar einen Vorsprung. Er sammelt bei seinen Recherchen unerschrocken alle Phänomene der Wirklichkeit, er blendet kein Wahrnehmungsorgan aus und weigert sich, den Ekel, die Scham, den Takt, die Rücksicht als Grenzen seines Tuns zu akzeptieren. Er befürchtet, daß all dies von dem Interesse geleitet sein könnte, die geschilderten Verhältnisse irgendwie zu beschönigen, und daß solche Beschönigungs-Absichten ein Zeugnis unwürdiger Ängste oder gar des handfesten Betrugs seien. Und diese Befürchtung trifft ja allzu oft ins Schwarze. Allzu oft werden unter dem Anschein realistischer Schilderung Verhältnisse idealisiert, harmonisiert, geschminkt und veredelt, und das nicht nur in der Absicht, eine angenehme Unterhaltung herzustellen, sondern auch, mit durchaus politischen Nebengedanken, um die Verfälschung in den Dienst einer Propaganda zu stellen. Aber ist das Objektiv des Naturalismus mit der angestrebten eisigen, gnadenlosen Apperzeption denn wirklich so unbeteiligt, so unparteiisch gegenüber den Phänomenen, die es registriert? Könnte es nicht sein, daß der schonungslose Blick auf das Häßliche, das Abstoßende, das Übelriechende und Verfaulte in Wahrheit Symptom einer Gequältheit ist? Verbirgt sich hinter der Kälte des Naturalismus nicht vielleicht eine große Bitterkeit, eine tiefe Enttäuschung darüber, »daß nicht alle Blütenträume reiften"? Wird das Grausame und Abscheuerregende am Ende gar nicht deshalb ausgebreitet, weil es eben da ist, sondern weil es, ginge es mit rechten Dingen zu, gerade nicht da sein sollte? Wenn er auf die Eingeweide des Menschen zu sprechen kommt, ist da nicht eine geheime Verletztheit spürbar, daß wir innerlich nicht aus einem Röhrensystem aus Straßburger Fayence bestehen? Bis heute bewahren die Hervorbringungen des Naturalismus ihre Herkunft aus der barocken Vanitas-Mentalität, wenn auch zersprungene Lauten und elfenbeinpolierte Totenköpfe sich dekorativer ausnehmen als das Erbrochene neben der halbleeren O-Saft-Tüte, aber das sind Fragen des Zeitgeschmacks. So würde ich es für mich definieren: der Naturalismus will, seinem tiefsten Antrieb entsprechend, darstellen, was nicht da sein sollte, empörenderweise aber dennoch da ist, um die Leser zum Aufstand gegen das existierende Böse zu ermutigen – und der Verdacht bleibt: alles Daseiende ist böse. In seiner Darstellung der faktischen Verhältnisse ist er nicht zu übertreffen, aber dieser Gefühls- und Gedankenhintergrund schiebt sich während der Lektüre immer mehr nach vorn, bis sich in den Blut- und Urinlachen das verwundete Herz des Autors spiegelt, der sich für eine schönere Welt geboren glaubte. Alles zu sagen, das ist freilich auch das Ziel des nicht- oder gar antinaturalistischen Realismus. Ein Ausweichen vor den tristen und schlimmen Aspekten der Welt will auch er sich nicht gestatten, obwohl er nicht davon überzeugt ist, daß gerade diese schlimmen Aspekte vor allem wahrheitsträchtig seien. Die Beschränkungen, die er sich auferlegt, entstammen aber nicht dem verhohlenen Wunsch, dem Unangenehmen ausweichen zu wollen, im Gegenteil. Aber zum Alles-Sagen des Realismus gehört oft genug auch das beredte Schweigen, ja, das Schweigen ist für ihn ein so bezeichnendes Mittel, daß seine Liebhaber einen Autor oft nicht nur dafür rühmen, was und wie er spricht, sondern auch dafür, was alles er nicht gesagt hat. Bemerkenswert ist da zunächst seine Art zu sehen, nicht mit dem Mikroskop auf die Details gerichtet, sondern wie das menschliche Auge sieht, das die zahllosen Einzelheiten eines Bildes verbindet und blitzschnell zu einer Komposition zusammenfaßt, in der Licht, Stimmung, Duft und Geräusch sich mit den Bildern unauflöslich vermählen. Realistisches Erzählen versucht unsere Erlebensweise nachzuahmen, die nicht analysiert, sondern das einzeln Wahrgenommene und unwillkürlich Ausgewählte mit einer Gesamtstimmung auflädt. In der Erinnerung kann diese Gesamtstimmung einer Situation durch die Evozierung eines einzelnen Details, in dem sie wie in einer verschlossenen Büchse gefangengehalten wurde, wieder frei werden – sie ist wortlos, aber an ein Wort gebunden, sie überschreitet dies Wort, hätte sich ohne das Wort aber verflüchtigt. Man denke nur an die Häuser in Dostojewski-Romanen, die der Leser durchwandert zu haben glaubt, obwohl er beim Nachlesen zu seinem Verwundern feststellen muß, daß sie eigentlich kaum beschrieben worden sind.
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SINN UND FORM 1/2011, S. 46-64
Ein junger Autor fragte einmal Ernst Jünger um Rat; er plane einen Essay mit dem Thema »Die Insel« – Jünger riet ab, das Thema sei nicht in den (...)
LeseprobeMosebach, Martin
Der Feind
Ein junger Autor fragte einmal Ernst Jünger um Rat; er plane einen Essay mit dem Thema »Die Insel« – Jünger riet ab, das Thema sei nicht in den Griff zu bekommen, es sei zu groß. Für einen Aufsatz über den Feind müßte dasselbe gelten, schon gar in einer Kultur, in deren Grundfesten ein Bewußtsein von ewiger, unüberwindlicher Feindschaft eingemauert ist: der Glaube an den Satan, den Menschenmörder und Menschenfeind schlechthin. Große mythische Erzählungen berichten von seinem Aufstand gegen Gott, von der Eifersucht eines der ersten unter den Engeln, von seinem Sturz aus dem Himmel in die Bereiche, die von da an die Hölle sind, das Reich des Bösen. Er ist Fürst dieser Welt, Gott läßt ihn hier schalten und walten, und zugleich ist er schon gerichtet; während des Weltenlaufs darf er sich über immer neue Etappensiege freuen und hat aufs ganze gesehen doch schon jetzt verloren. Wie es einem Dämon entspricht, hat er viele Gesichter: Man kennt ihn als dummen und als armen Teufel, als schönen und als häßlichen, als Fratze und als Titan. Nur eines steht fest: Mit diesem Person gewordenen Mysterium iniquitatis gibt es keine Verhandlungen und keine Kompromisse, keinen Waffenstillstand und schon gar keinen Frieden. Und zugleich ist er notwendig – so wie es Gott gefallen hat, die Welt einzurichten, war ohne den Teufel nicht auszukommen. Der Teufel garantiert die Freiheit der Menschen, sich gegen Gott zu entscheiden, und an dieser Freiheit scheint dem Schöpfer alles gelegen. Und umgekehrt: Der Herr wünscht offenbar, daß sein menschliches Ebenbild angesichts des scheinbaren Sieges des bösen Feindes, im Eindruck der Übermacht des Bösen und der Vergeblichkeit, dagegen zu kämpfen, dennoch das Gute und damit Ihn wählt. Die christliche Religion spricht in vielfacher Weise vom Frieden, aber sie ist eine Religion des Kampfes; sie begreift die Welt als Kampfplatz und verleiht denen die Palme, die auf Erden diesen Kampf mit ihrem Leben bezahlen.
Carl Schmitt hat sich besonders mit dem eigentümlichen Prozeß beschäftigt, in dem sich theologische Begriffe und Auffassungen in den letzten dreihundert Jahren säkularisierten; mit der Krise des Glaubens verschwanden die theologischen Denkmuster nicht einfach, sondern wanderten ins Politische ab. Eine der gefährlichsten dieser Transformationen erlebte der böse Feind. An den Dämon, den Versucher, den aufständischen Engel wollte man nicht mehr glauben, dafür entdeckte man ihn nun unter den Menschen. Zum Satan erklärt wird der Feind, der nicht einfach besiegt, sondern ausgerottet werden muß. Es war ohnehin alarmierend, daß der Begriff der Feindschaft in der politischen Theorie eine Rolle spielen sollte, denn politisch sind solche Festlegungen eigentlich gerade nicht. Politisch ist das Offenhalten aller erdenklichen Optionen, im Feind von heute den Verbündeten von morgen, im Verbündeten von heute den künftigen Feind zu sehen. Die englische Devise sagt es am knappsten: »England hat keine Freunde und keine Feinde. England hat Interessen«, was bekanntlich nicht pazifistisch gemeint ist. Politik ist ein Schachspiel, bei dem die geschlagenen Figuren meist auf dem Brett bleiben; Siege sind anstrengend, Niederlagen nicht aussichtslos – wer wüßte das besser als die Deutschen. Und doch hat auch in jüngster Vergangenheit noch der Begriff einer »Achse des Bösen« eine unheilvolle Rolle spielen dürfen. Nur das militärische und wirtschaftliche Scheitern hat die Verkündung der bedingungslosen Feindschaft verhindert, schmähliche Blamagen haben die Rückkehr zu einer maßvolleren Sprache erzwungen, wer weiß wie lange. Denn die Rede von der totalen Feindschaft ist ja eben nicht nur eine Entgleisung politischer Abenteurer, sie gehört zu den Gesetzmäßigkeiten einer vom Geist der Säkularisation bestimmten Öffentlichkeit. Ächten, An-den-Pranger-Stellen, Teeren und Federn, öffentliche Hinrichtungen gehörten seit jeher zur Domäne der Massen, deren Eintritt in die Geschichte dies Gesetz bestätigt hat.
Aus dem Riesenkomplex der »Feindschaft« möchte ich auf höchst impressionistische Weise einzelne Bilder herausgreifen, wie es sich für mich gehört als Erzähler, dem alle Theorie fremd ist, wenn sie nicht theoria – Anschauung – wird. Und ich möchte dabei vor allem Zusammenhänge betrachten, in denen Feindschaft fruchtbar war. Als Europäer stammt man von einem Kontinent, der seine spezifische, in der ganzen Welt unübertroffene Vielgestalt der Feindschaft unter seinen Völkern verdankt. Die europäische Geschichte bietet ein Schauspiel ohnegleichen. An ihrem Anfang steht das Römische Reich, das viel mehr als ein zusammengerafftes Imperium war. Goethe hat es in den »Zahmen Xenien« in einem Kurzdialog auf den Punkt gebracht: »Jesus: Und unser Pakt, er gilt für alle Zeit? / Rom: Jetzt heiß ich Rom, dann heiß ich Menschlichkeit. « Das war die Verwandlung eines Staates in ein zivilisatorisch-religiöses, in ein nationenübergreifendes Ideal, das bestehen blieb, als das Reich zerfiel. Ob es wirklich aufhörte zu bestehen, war übrigens bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts umstritten. Aber dies war nicht die einzige Verwandlung. Wie in einer Kelter wurde die Substanz dieses Großreichs zerstampft und dann einer Gärung unterzogen. So entstand der köstliche Wein der europäischen Nationen. Was diese Völker aber auszeichnete, war, daß sie sich allesamt als legitime Erben Roms betrachteten und andern diese Erbschaft eifersüchtig absprachen. Rom lebte in vielen Töchtern weiter – nicht nur in der römischen Kirche mit dem Papst, der die Stelle des römischen Kaisers einnahm und Anspruch auf die Universalität seiner Herrschaft erhob, sondern auch in Deutschland mit seiner translatio imperii, in Frankreich, dessen König kaiserliche Würde behauptete (noch Joseph II. konnte mit seinem Schwager Ludwig XVI. nicht öffentlich zusammentreffen, weil die Frage des Vortritts nicht geklärt war), und in England, dessen Herrscher Heinrich VIII. erklärte: In England ist der König Kaiser. Alle diese Ansprüche bestanden durchaus zu Recht und lösten einen Wettstreit aus, der oft blutig, oft zerstörerisch bis zum Selbstmord war, der aber zugleich die Eigentümlichkeit der Volkscharaktere zu skulpturaler Deutlichkeit steigerte. Es kam schließlich zur Überspitzung des Nationalen, das sich mit dem imperialen Prinzip verband. Im neunzehnten Jahrhundert war fast jede europäische Nation ein Kaiserreich: England, Deutschland, die Donaumonarchie, Rußland, Frankreich, den türkischen Kaiser zu Stambul nicht zu vergessen, Portugal mit Brasilien – im zwanzigsten gelangte selbst Italien noch kurzzeitig zu einer Kaiserkrone. Jetzt schlug die agonale Tradition in Selbstvernichtung um, wie sie das einst auch im antiken Griechenland getan hatte – aber sprach das in allen Epochen gegen sie? Nachdem sich von Deutschland aus ein Kreis von Catilinariern aus der europäischen Konkursmasse ein Verbrecherreich erobert hatte, wurde der Agon geächtet, begreiflich genug, es war auch keine Kraft mehr da. Ein post-histoire gibt es freilich nicht. Die Zeit, die keine nationalen Interessen mehr kennen wollte, scheint an ihr Ende gelangt zu sein, nur daß der neue Nationalismus sich nicht mehr aus gewaltigen historischen Träumen speist, sondern ohne auf Vergangenheit und Zukunft zu blicken an Wagenburgen für eine Notgemeinschaft baut. Prophezeiungen für die weitere Entwicklung werde ich mir versagen. Statt dessen richte ich den Blick zurück, denn die Vergangenheit ist die Utopie des Romantikers.
Die Feindschaft der Brahmanen
Der Nachfahre der Herrscher eines kleinen indischen Königreiches, das seit 1947 im Bundesstaat Rajastan aufgegangen ist, führte mich durch sein Staatsarchiv. Auf vielen Regalen lagen Aktenstapel, die in großzügig verknotete Baumwolltücher eingeschlagen waren. Die Einnahmen und Ausgaben des Staates, die Kosten für die Armee, die Gerichtsurteile, die Aufwendungen für die Hofhaltung bis hin zum Schmuck der Frauen des fürstlichen Harems sowie das Futter für die Elefanten waren hier dokumentiert, in Kalligraphien, die jede Seite der Buchführung zum Kunstwerk machten. Nur eines ließ mich stutzen: Die Herrscherfamilie führte ihren Ursprung auf den Mond zurück, auf unvordenkliche Zeiten also, die ältesten Dokumente des Archivs reichten hingegen nur bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert, bis zum Eintreffen der Engländer also, die durch ihren Agenten die Außenpolitik des Königreichs zu lenken begannen. Was mit den älteren Teilen des Archivs geschehen sei? »In den Jahrhunderten vor der indirekten Herrschaft der Engländer haben wir uns unablässig im Krieg mit unseren Nachbarn befunden«, sagte der Maharaj Kumar. Alle paar Jahre sei alles zerstört worden. Die Kriege hatten die Vergangenheit abgeschafft und für ein andauerndes Jetzt gesorgt. Dabei wurden sie keineswegs als Unglück empfunden – hier gab es keinen Raum für Klagen à la »Wir sind doch nunmehr gantz / ja mehr den gantz verheret!«, keinen bitteren Blick auf die unerhörten Verluste à la »Das hat der Feind getan!« Wechselseitige Zerstörung, Belagerung, Überfälle, Beutezüge hatten zum Lebensrhythmus dieser Reiche gehört, die Fürsten nahmen einen Krieg wie die Fortsetzung einer Tigerjagd, die ja gleichfalls nicht völlig ungefährlich war. Die Rajputen, die Kaste, der die Fürsten angehörten, waren für den Krieg geschaffen, so wie die Vaishas für den Handel und die Shudras für die Feldarbeit.
Gewisse Gesten aus dieser Vergangenheit lebten noch in den Gewohnheiten des Maharaj Kumar: Nachdem er mir die meisterlich geschmiedete Klinge seines Säbels gezeigt hatte, fügte er sich damit einen kleinen Schnitt auf dem Handrücken zu – »Ein gezogener Säbel darf erst wieder in die Scheide gesteckt werden, nachdem er Blut geschmeckt hat«. Zum Rajputen Dharma gehörte das Töten; sie erfüllten ein ihnen innewohnendes Gesetz, wenn sie zu Felde zogen. Erst als die erzwungene Pax britannica begann, stieg aus der Stille der verwaisten Schlachtfelder die Geschichte empor. Der erste englische Resident, der legendäre Colonel Tod, sammelte, was es an Überlieferung noch gab, in seinem Werk »Annals and Antiquities of Rajastan«, das zu den großen Historienbüchern des neunzehnten Jahrhunderts gehört, und gab den in unwirklichen Frieden gesunkenen Kriegern ihre Vergangenheit zurück, die in bunter Einförmigkeit eine nicht abreißende Folge von Kämpfen gewesen war. Fruchtbar wird man diese Jahrhunderte nur mit Einschränkung nennen dürfen, aber der Frieden war gleichfalls wenig fruchtbar. Aus den Hauptstädten streitsüchtiger Königreiche wurden graue, armselige Provinzstädte.
Mehr noch als in Tods Geschichtswerk wurde die Vergangenheit mir aber durch ein dickes, aus dem Leim gegangenes Buch aus der königlichen Bibliothek lebendig. Auf meinem Nachttisch lag eine der großen brahmanischen Enzyklopädien, die im ersten nachchristlichen Jahrtausend zusammengetragen worden sind, vor den muslimischen Eroberungen also, als die Kriege noch nicht religiös motiviert waren und die Aggression noch reine, man möchte sagen, begründungsunabhängige Grundfigur der Reiche war. Mein Purana war das Agnipurana, in den zwanziger Jahren ins Englische übersetzt, ein Fürstenspiegel, ein Ritenkompendium, eine Rhetorikschule, eine Lehre der Götter und der Sterne, des Hausbaus und der Behandlung der Frauen, aber eben auch ein Lehrbuch über Feindschaft und Krieg. Im zweihundertvierzigsten Kapitel wird dem König geraten, stets einen Kreis von zwölf ihn umgebenden Königen im Auge zu behalten: den Feind, den Freund, den Verbündeten des Feindes, den Verbündeten des eigenen Verbündeten, den Verbündeten eines Verbündeten des Feindes – sie liegen vor dem Eroberer. Die hinter ihm liegenden Heere werden gleichfalls in die durch ihre Lage zur Feindschaft verurteilten, die durch ihre Lage zur Freundschaft befähigten und die neutralen differenziert. Zwanzig Kategorien werden aufgezählt für die Mächte, mit denen kein Vertrag möglich ist; fünf Klassen von Feindschaft existieren; vier Voraussetzungen werden genannt, die einen Krieg ratsam erscheinen lassen. Aber es wird auch zu bedenken gegeben: Niemand ist nur aus sich heraus Freund oder Feind. Es gibt immer einen Grund; auch ein Verbündeter kann zum Feind werden. Das Agnipurana war ein ganz auf die Liturgie praktischer Gottesverehrung ausgerichtetes Buch; deshalb berührte es sonderbar, daß Priester, heilige Asketen und Astrologen beim Kampf gegen den Feind im Sinne der lächelnden römischen Auguren hinzuzuziehen waren, mit erdichteten Weissagungen, die den Feind entmutigen sollten. Es lag nahe, die Muster dieser Sammlung auch auf die europäischen Verhältnisse anzuwenden; die Kämpfe des Abendlands, in denen es für unser Verständnis immer auch um die Durchsetzung kultureller Prinzipien ging, erschienen unversehens in kälterem Licht, wurden zu physikalischen Vorgängen, Dynamiken zwischen Kräften und Gegenkräften – Feindschaft ohne Haß, beinahe ohne Emotion, Krieg und Frieden gleichsam als Ein- und Ausatmen. Ein fahles Element der Ehrsucht brachte nur das Schicksal der Frauen ins Kriegstheater; es mochte sich aber erst in den Kämpfen mit den islamischen Moguln so verschlimmert haben. Mein Gastgeber sprach stolz von den Hunderten Frauen, die vor Eroberung der Festung Chittorgharh auf einen riesigen Scheiterhaufen gesprungen waren, um sich dem Zugriff der Eroberer zu entziehen. Und auch das mit Miniaturen im persischen Stil erlesen geschmückte Empfangszimmer seiner eigenen Festung besaß ein grausiges Geheimnis. Hinter der Marmorwand war die Ehefrau eines Monarchen, vom Feind geraubt, in einen fremden Harem verschleppt und schließlich daraus wieder befreit, bei lebendigem Leibe eingemauert worden.
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SINN UND FORM 1/2014, S. 5-9
Mit fünfzehn Jahren habe ich Rom zum ersten Mal betreten, eine Schwester meiner Mutter lud mich ein; wir wohnten in einem kleinen Hotel nahe der Via (...)
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Wiedersehen mit Rom
Mit fünfzehn Jahren habe ich Rom zum ersten Mal betreten, eine Schwester meiner Mutter lud mich ein; wir wohnten in einem kleinen Hotel nahe der Via Nomentana und waren von morgens bis abends auf den Beinen, denn ich hatte die Absicht, »alles« zu sehen, und reiste auch in der Überzeugung ab, nun »alles« gesehen zu haben. Es dauerte noch einige Jahre, bis mir dämmerte, daß ich niemals »alles« in Rom würde gesehen haben, und brächte ich auch mein restliches Leben vorwiegend mit seiner Erforschung zu. Wer nach dem Krieg im westlichen Teil Deutschlands aufgewachsen ist, in unseren zerstörten und fade wiederaufgebauten Städten, der kam 1966 in ein Rom, das die scharfen Einschnitte der Modernisierung noch vor sich zu haben schien. Ich sah Papst Paul V. noch auf einem goldenen Tragsessel, der sedia gestatoria der republikanischen Konsuln, an mir vorüberschweben, getragen von acht in roten Damast gekleideten »sediarii«; die Kardinäle, die ihn begleiteten, trugen Hermelinmozetten um die Schultern und hatten ihre langen roten Atlasschleppen hochgeknöpft, so daß sie sich in ihrem Rücken bauschten. Da waren die radikalen Entscheidungen für einen Bruch mit der liturgischen Tradition schon gefallen, aber die alten Bilder wurden noch reproduziert, so wie von der Erde aus gesehen gewisse Sterne noch funkeln, deren Licht bereits erloschen ist. Rom war eine düstere Stadt in diesen Jahren, die Kirchen und Paläste waren braun-rot verputzt, Sonne und Wasser hatten diesen Putz fleckig gemacht, jede Wand glich einem Gemälde von Tàpies. In dieser braunen Dunkelheit schien die Stadt wie aus anderen Erdepochen in die Gegenwart hineinzuragen. Die barocken Paläste und die antiken Backsteinruinen waren dadurch nicht streng geschieden, sondern verschmolzen farblich miteinander. Daß Rom während der Herrschaft Mussolinis, die so lange schließlich noch nicht zurücklag, und schon vorher unter den Savoyer-Königen eine Reihe von rabiaten Modernisierungen hinter sich hatte, die den Vergleich mit dem Abriß des mittelalterlichen Paris unter Napoleon III. nicht scheuen mußten, war für mich in meinen jungen Jahren nicht spürbar. Ich erlebte die Stadt, als stehe in ihr, nach ungeheuren gewaltsamen Verwerfungen in vergangenen Jahrhunderten, die Zeit nun für immer still.
»Still« freilich nicht im Sinne von Lautlosigkeit. Bis zum Ende der achtziger Jahre gab es keine Bedenken in Rom, dem anwachsenden Verkehr in allen Straßen und Plätzen der Stadt Freiheit zu gewähren. Die engen Gassen des Marsfeldes waren von Autoschlangen blockiert, die sich manchmal erst nach Stunden auflösten. Wo freie Fahrt möglich war, rasten knallend die Motorräder, die Passanten drückten sich an die Hauswände. Der Verkehrslärm war allgegenwärtig, nur auf den Dachterrassen im siebenten Stock eines Palazzo verwandelte er sich zu einem Meeresrauschen. Lange waren die berühmtesten Plätze Roms – die Piazza del Popolo, die Piazza Navona, sogar der Petersplatz – vor allem Parkplätze. Das alles war nicht schön, aber es wirkte unbekümmert. Die Stadt wurde nicht unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie sie am besten von Reisenden besichtigt werden könne. Die alte Auffassung, daß eine Stadt ein Raum der Freiheit bis hin zur Anarchie, des ungeregelten Aufeinanderprallens vieler Kräfte sei, die ungesteuert in ein Zusammenwirken hineinfinden, das sich von staatlicher Gesetzlichkeit unterscheidet und dem Außenstehenden überhaupt undurchschaubar bleibt, die Stadt als harmonisches Chaos, sie war in diesem Rom noch zu finden, wenngleich die Urbs aeterna dabei war, in die Selbstvernichtung zu gleiten. Noch 1986, als ich im Ghetto meinen Roman »Westend« zu schreiben begann, waren die Plätze voller Abfall, streunten die Katzen, entleerten sich die Tauben, verstärkten die Straßenschluchten das Motorendröhnen zum Donner. Aber aus dem Erdendreck hoben sich die braunverkrusteten Riesensäulen in den pflaumenfarbenen Nachthimmel; die Stadt ächzte unter der Last ihrer Geschichte – für mich war eine Befreiung von dem verödeten Deutschland des Wiederaufbaus, eine Überwindung des großen historischen Bruchs mit dem Aufenthalt in römischen Mauern verbunden.
Über vergangene Zeiten zu sprechen geht oft auch mit Klagen über Verluste einher. Man muß vernünftig sein – so wie es war, konnte es nicht weitergehen. Rom hat sich seitdem verändert, und viele würden sagen, daß diese Veränderungen vorteilhaft waren. Überall in Europa sind die kleinen Geschäfte und Handwerkerateliers aus den Innenstädten verschwunden – warum nicht auch in Rom? Überall sind die kostbaren historischen Altstädte nicht mehr von den kleinen Leuten bewohnt, die sie einst in so unnachahmlicher Weise belebten. Wenn London auf den alten Markt von Covent Garden und Paris auf die Hallen verzichten dürfen, warum muß dann auf dem römischen Campo dei Fiori alles beim geräuschvollgemüseduftenden alten bleiben? Nach den Fußgängerzonen des Nordens, die unsere Stadtkerne in Einkaufszentren verwandelt haben, hätte man sich in Rom nicht sehnen dürfen? Warum nicht aufatmen, daß der gewalttätige Krach aus der Stadt verschwunden ist? Denn die alten Steine sind schließlich nicht verrückt worden. Wenn man durch die Gassen schlendert und nicht zu genau hinsieht, ist alles noch wie vor hundert Jahren – die Kulisse steht doch, auch wenn in den Läden nicht mehr Salat und Kartoffeln angeboten, sondern Jeans und Touristenschnickschnack verhökert werden. Die Kunsthistoriker haben inzwischen herausgefunden, daß das römische Braun-Rot, das der Stadt ihre Monumentalität verliehen hatte und das so großartig alterte, nicht der Farbigkeit des Barock entspreche – es sei erst von den Savoyer-Königen eingeführt worden. Seitdem wird überall, wo eine Kirche oder ein Palazzo zur Restaurierung ansteht, Weiß gemalt – ein schönes Weiß übrigens, ein leicht gebrochener Knochen- oder Elfenbeinton, der den Gebäuden die Massigkeit und Schwere nimmt. Aber war es nicht gerade diese Schwere, die der Stadt ihre in Zeitlosigkeit brütende Großartigkeit gab? Die Palazzi auf der Piazza Navona, der Palazzo Farnese, die Architektur rund um die Spanische Treppe, die Galleria Borghese, sie sind nun weiß oder doch gereinigt, und auch St. Peter wurde so gründlich abgewaschen, daß der Stein wie weißes Styropor aussieht. Die Plätze sind frei, die Autos vertrieben, der Tourismus findet kein anderes Hindernis mehr vor als sich selbst – in den wärmeren Jahreszeiten wälzen sich die Heerscharen in Freizeitkleidung hinter Führern mit emporgereckten Fähnchen und versperren sich gegenseitig die Sicht. Zwischen März und November sind die großen Museen, die Vatikanischen an der Spitze, unbetretbar – selbst streng demokratische Volksfreunde geraten im Massenandrang in der Sixtinischen Kapelle in elitäre Empörung. Wer weiß, wo man noch römisches Volksleben – »come una volta« – erleben kann, schweigt und verrät es nicht. Und wo sind die Katzen geblieben und die verwirrten alten Frauen, die ihnen an den Straßenecken einen Haufen Spaghetti mit Tomatensauce hingeschüttet haben – das war kein appetitlicher, aber ein sehr römischer Anblick, vor allem wenn an dieser Straßenecke die Trommel einer antiken Säule im mittelalterlichen Gemäuer steckte. Die Taubenschwärme werden hingegen von den Möwen dezimiert, die seit längerem in die Stadt vorgedrungen sind und mit ihrem scharfen Schnabel die erjagten Vögel wie Sardinenbüchsen aufschneiden.
Lange hat sich Rom gegen die Modernisierung gewehrt; schließlich ist sie doch angekommen. Für den Besucher hat das auch Vorteile: Es gibt viel weniger Streiks als früher – die paar Streiktage werden gewiß nur aus folkloristischen Gründen aufrechterhalten –, es gibt mehr Museen mit großzügigeren Öffnungszeiten, auch an die Leute im Rollstuhl wird überall gedacht. Die ganze Altstadt ist zu einem einzigen riesigen Restaurant geworden, das um die Piazza Navona herum erst um vier Uhr früh schließt.
Kein Raum für Rom-Romantik also mehr? Aber obwohl im Begriff Romantik der Name Rom aufgehoben ist, gehört sie eigentlich nicht nach Rom. Das Wunder Rom besteht weniger in seinen zahlreichen Untergängen als in seinen Auferstehungen. Die römische Symphonie ist nicht in Moll, sondern in Dur geschrieben – ganz wörtlich, denn Dur steht für jene Härte, die eine lange Dauer verleiht. Wer aus Sentimentalität – auf Moll gestimmt! – im einundzwanzigsten Jahrhundert das Rom der sechziger Jahre sucht, wird enttäuscht sein, wer einen Blick für die epochenübergreifende lange Dauer entwickelt hat, wird sie auch heute in Rom finden.
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SINN UND FORM 3/2018, S.293-307, hier S. 293-296