Meerapfel, Jeanine
geb. 1943 in Buenos Aires, Filmregisseurin, Drehbuchautorin (siehe www.meerapfel.de), kam 1964 mit einem DAAD-Stipendium nach Deutschland, 1990 – 2008 Professorin an der Kunsthochschule für Medien in Köln, seit 2015 Präsidentin der Akademie der Künste, lebt in Berlin. (Stand 5/2023)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 6/2016 | Über Phantasie und Biographie. Die Erschaffung einer Filmfigur
- 5/2023 | Eine Frau
Bei jedem Umzug – wenn die Fotoalben, die alten Schellackplatten, die Dokumente wieder aus den Schränken herausgenommen werden müssen – springt (...)
LeseprobeMeerapfel, Jeanine
Eine Frau
Bei jedem Umzug – wenn die Fotoalben, die alten Schellackplatten, die Dokumente wieder aus den Schränken herausgenommen werden müssen – springt mich die Notwendigkeit an, Erinnerungen zu verarbeiten und eine endgültige Ordnung dafür zu finden. Vielleicht geht es darum, mich so lange zu erinnern, bis ich vergessen kann.
Ich erfinde immer neue Ordnungssysteme, die ich dann wieder verwerfe. Immer wieder stellt sich die Sehnsucht nach einer logischen Archivierung ein. Es ist, wie wenn die Dinge nach einer Erzählung verlangten, die sie in einen übersichtlichen Zusammenhang bringt.
Andererseits birgt die Unordnung ein enormes Versprechen; sie verspricht eine Zeit, in der alles geordnet werden wird … eine zukünftige Zeit. Also bleibe ich dabei, die Erinnerungen durch eine Erzählung zu ordnen …
Ich suche nach einer Erinnerung. Nach meiner eigenen verschütteten Erinnerung an Marie Louise Chatelaine, meine Mutter.
Ich suche nach »einem kohärenten Bild der Vergangenheit«.
Man nannte sie – oder sie nannte sich – Malou. Ich habe vor vielen Jahren einen Film mit diesem Titel gemacht, mein erster langer Spielfilm: Darin wurde einiges aus ihrem Leben erzählt, aber vieles auch im Dienste einer nachvollziehbaren Dramaturgie hingedreht – ein gutes Wort, hingedreht.
Jetzt will ich versuchen, die Reste, Bruchstücke, Fundstücke in einen Zusammenhang zu stellen. Erinnerungen aufheben. Aus den biographischen Materialien, Fotos, 8-mm-Filmen, Dokumenten kristallisiert sich die Geschichte einer Emigration, einer Emigration von Europa nach Südamerika heraus und wie dieses »Leben woanders«, wie die Verpflanzung eines Menschen das Schicksal dieses Menschen verändern kann. Aber nicht nur das.
Im letzten Haus, in dem meine Mutter in Buenos Aires lebte, fand ich die Dinge, die ich heute noch von ihr habe.
Ich nahm so viel ich konnte mit nach Deutschland. Das Silberbesteck mit den Initialen »c« und »m« (für Carl und Malou – oder vielleicht doch nur für Carl Meerapfel?). Das Besteck, das sie so liebte, sie hatte es als Geschenk zur Hochzeit mit meinem Vater in Untergrombach bekommen.
Einen alten, silbernen Brotkorb, silberne Aschenbecher. 24 Mal Fischbesteck, 24 große Eßlöffel, 24 große Messer, 24 große Gabeln, 24 mittlere Löffel, 24 mittlere Messer, 24 mittlere Gabeln. Aber von den kleinen Teelöffeln ist nur einer übrig. Das erzählt wieder eine andere Geschichte: daß einer ihrer Freunde die Löffelchen einen nach dem anderen mitnahm. Oder daß sie versehentlich im Abfall gelandet sind … Oder … Die kleinen Löffel existieren nur in meinem Gedächtnis, als eine Lücke, als etwas, das fehlt.
Ihren Kroko-Koffer für die Schminksachen, einen Ring mit Tigerauge – nichts Wertvolles mehr, denn alles Wertvolle hatte sie verkauft oder verschenkt. Drei Handtäschchen aus Kroko im Stil der fünfziger Jahre, ein braunes Kleid mit Pailletten, Bücher, viele Bücher, auf französisch. Ein »Catéchisme« – eine religiöse und moralische Unterweisung für junge Juden, eine Bibel, Guy de Maupassant, Honoré de Balzac … Aquarelle, teilweise verblaßt, von trinkenden Menschen in einer Pariser Kneipe, ein Nähkästchen auf vier Beinen aus gedrechseltem Holz, in dem sie Knöpfe und farbige Seidengarne aufbewahrte.
Papiere, Pässe, Geburtsurkunden, Todesurkunden, Fotoalben, viele Fotoalben. Massen von Fotos, und 8-mm-Filmmaterial.
Die meisten Aufnahmen stammen wohl aus der Zeit, nachdem Malou meinen Vater, Carl Meerapfel, kennengelernt hatte, den wohlhabenden Mann aus Untergrombach, einer kleinen Stadt in Süddeutschland, der mit ihr Reisen unternahm, überallhin, nach Italien, zum Skifahren, in die Schweiz … Und alles fotografierte. Es sieht aus wie ein wunderbares Leben.
Fotos aus Neapel, aus Florenz, Sorrent, Rom. Sonnendurchflutete Fotos, Malou immer elegant und geschmackvoll gekleidet, meist umrahmt von Carl und von Franz, seinem Bruder (meinem Onkel), zwei gutaussehende Männer in passender Reisekleidung.
Sie war blond, zierlich, hatte blaue Augen, ein sonniges Lächeln. Manchmal, ganz im Stil der Zeit, sah sie auch leicht melancholisch aus.
In den Archives Municipales de Mâcon, im südlichen Burgund, ist Monsieur Franck Metrot stolz, das, was ich suche, gefunden zu haben: die Geburtsurkunde. Am 3. November 1911 wurde in der Maternité der Stadt Mâcon um zehn Uhr abends ein eheliches Kind weiblichen Geschlechts geboren, Tochter des Ehepaars Antoine Chatelaine, 24 Jahre alt, arbeitslos und ohne Adresse, und Françoise Chateau, 24 Jahre alt, Näherin in Saint-Martin-en-Bresse. Sie geben dem Kind den Namen Marie Louise.
Marie Louise Chatelaine, genannt Malou.
Ihre Eltern ließen sie in einem Waisenhaus in Chalon-sur-Saône, wo sie ihre ersten Lebensjahre verbrachte.
Dann, als sie vermutlich etwa sechs Jahre alt war, hat ihre Tante Jeanne, die Schwester ihrer Mutter, sie mit nach Hause genommen, in die Rue des Tonneliers. Die Mutter war gestorben, der Vater mußte 1914 in den Krieg.
Ihre Adresse finde ich in einem alten, mit Tesa beklebten Dokument, eine Zuwendung des Militärs. Allocation militaire. Darin heißt es: Unterstützung für Soldaten, die während des Krieges die Familienernährer sind.
Das Kind Chatelaine »est admis à toucher pour la famille«: die folgende Familie ist berechtigt, das Geld anzunehmen: Chatelaine Vieublé.
Die Existenz des Kindes wurde also benutzt, um Geld für die Familie zu bekommen.
In der Rue des Tonneliers ist es schwierig, in das Haus zu gelangen. Wir treffen Alexis, der eine Kneipe nebenan besitzt und bereit ist, uns den Durchgang zum Innenhof des Hauses zu öffnen, in dem Malou lebte. Aber er sagt, wir bräuchten die Erlaubnis der Wohnungseigentümer, um hier zu drehen. Eine helle Stimme ruft von oben: Es ist Hélène Frigiolini, die uns in ihre Wohnung läßt und meint, wir könnten bei ihr drehen. Eine Lichtgestalt bildet sich oben an der Wand ab …
Wenn man nach einer solchen Geschichte sucht, findet man überall Zeichen und Hinweise.
Meine Überraschung, als ich eine große Karte von Lateinamerika sehe: Hélène erzählt, daß sie Professorin für Spanisch ist. Sie erzählt mir von ihrem Liebeskummer, von ihrer Katze Chachou, die sie auf der Straße fand. Seit unserer Begegnung schreiben wir uns E-Mails …
Ich kann mir nicht erklären, warum ich nicht früher hierhergefahren bin, nach Mâcon und nach Chalon-sur-Saône. Ich habe Hinweise, Adressen … Kann man eine Biographie, ein Schicksal an den Orten, an denen sie sich abgespielt haben, ablesen, verstehen? Die Städtchen Mâcon und auch Chalon-sur-Saône liegen am Ufer der Saône … Dieser Fluß, der in die Loire mündet, ist vielleicht schon ein Hinweis auf die Bedeutung, die ein anderer Fluß, der Río de la Plata, in Malous Leben haben wird.
Das wenige, was sie mir von ihrer Herkunft erzählte, war: Sie sei ein Waisenkind gewesen und von einer Tante großgezogen worden.
Eine Tante, die Jeanne hieß. Ansonsten gab es wohl nur noch einen Bruder, das erzählte sie mir, einen Bruder, den sie sehr geliebt hat und der dann weg war. Weg wohin? In den Krieg? In die Fremdenlegion?
Sie hat unter den vielen Papieren besonders eines aufbewahrt: den Beweis, daß sie die Grundschule erfolgreich abgeschlossen hat. Als ich es Monsieur Pascal Voisin, dem Leiter der École du Centre, zeige, erlaubt er uns, in seiner Schule zu drehen. Mit einem Lächeln.
Einmal bat ich Malou, ihre Kindheitsgeschichte für mich aufzuschreiben.
»Ich wurde am 2. November 1911 geboren. Ich lebte bei meiner Tante Jeanne und meinem Onkel. Ich war zwei Jahre alt, meine Mutter kannte ich nicht. Sie hatte eine Arbeit als Hausmädchen. Einmal kam sie mich besuchen und brachte mir eine große Puppe mit. Die Puppe zerbrach, ich weinte viel. Ich ging zur Schule, ohne je einen Tag zu versäumen. Meine Tante war eine Hexe. Jeden Abend mußte ich im Schein einer Kerze meine Hausaufgaben machen. Wenn ich aus der Schule kam, ließ mich meine Tante Hausschuhe nähen, Kleider nähen, die Kleider meines Onkels reparieren, der als Bauarbeiter arbeitete. Ich sah die anderen Mädchen auf der Straße spielen, ich mußte viel weinen, aber so war es nun einmal.«
Die Kathedrale erinnert mich an meine Suche als Fünfzehnjährige, an der Hand meiner zwei Jahre älteren Schwester Denise. Sie schleppte mich in die Kirchen in Buenos Aires. Denise meinte, Gott wäre da zu finden.
Bist du hier gewesen, Maman? Hast du das sinnliche Gesicht von Jesus gesehen? Mußtest du zur Kommunion gehen? Beichten? Hast du dich hier zumindest eine Zeitlang zu Hause gefühlt?
(…)
SINN UND FORM 5/2023, S. 597-616, hHier S. 597-600