Lehr, Thomas
geb. 1957 in Speyer, Schriftsteller, Mitglied der Akademie der Künste, lebt in Berlin. Zuletzt erschienen »Nabokovs Katze« (2016) und »Frühling« (2019). (Stand 5/2022)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 5/2014 | Der verborgene Sisyphos
- 5/2015 | Die Tage ohne Kopf
- 2/2016 | Der Schmetterling der Zeit. Versuch über die literarische Gegenwart
- 4/2018 | Der Künstlerbesuch
- 5/2022 | Der Freund, der zuhören konnte. Totenrede für Friedrich Christian Delius
Ich besuche mich wie einen Kranken, mit einem Blumenstrauß, einer Schachtel Pralinen, mit Äpfeln, Bananen, Orangen, einem neuen Buch. Doch nichts (...)
LeseprobeLehr, Thomas
Der Künstlerbesuch
Ich besuche mich wie einen Kranken, mit einem Blumenstrauß, einer Schachtel Pralinen, mit Äpfeln, Bananen, Orangen, einem neuen Buch. Doch nichts davon kann ich annehmen. Mein Gesicht scheint gegen eine Wand gepreßt, und wenn ich den Kopf heben will, um etwas zu sehen, muß ich ihn weit ins Genick biegen. Gute Besserung! rufe ich mir zu, bin mir aber nicht sicher, ob dieser Satz aus dem Mund des Besuchten oder dem des Besuchers kommt. Meine Arme scheinen nach unten zu hängen. Beim mühevollen Blick hinab kann ich etwas Unruhiges, sich matt Bewegendes erkennen, schwarzes Wasser anscheinend, auf dem sich nichts widerspiegelt. Ich besuche mich wie einen Freund, mit einer Flasche Rotwein. Auf dem Etikett ist zu lesen: Vorsicht! Enthält Gift der bittersten Stunden! Enthält Triumph! Die hängenden Arme scheinen mich eher zu stützen. Meine Hände greifen in den Fels einer Wand. Ich scheine eine Art Handstand zu machen. Allerdings berührt meine gesamte Vorderseite den Fels, so daß ich, wenn ich es recht bedenke, kopfüber, mit dem Gesicht zur Wand, abstürzen müßte, was jedoch nicht geschieht. Ich klebe an der Wand wie ein abwärts kletterndes Insekt. Der Krankenbesucher und der Freund, der ich mir zu sein versuche, bewundern meine Haltung. Du scheinst voranzukommen, sagen sie tröstend. Tatsächlich habe ich das Gefühl, daß sich das schwarze Wasser von mir entfernt, daß ich nicht stürze, nicht hinabgleite, sondern langsam und stetig aufwärts strebe. Nichts stimmt mich fröhlicher. Offenbar fürchte ich auch nichts mehr als dieses Wasser. Nur weil ich jederzeit in der Lage sein will, einen Blick darauf zu werfen, bewege ich mich auf eine solch groteske Weise nach oben. Ich besuche mich wie eine Geliebte. Da ist die Wand, sie reibt gegen mein Geschlecht. Was ich hinter mir gelassen habe, eine vertikale Kriechspur, ist alles, was von mir bleiben wird. Glücklicherweise ist es nichts Persönliches. Man könnte sagen, die Wand habe zuvor schon dieses Aussehen gehabt. Alles, was ich wollte, war, Teil des Steins zu werden. Ich besuche mich wie einen Irren. Niemand bewegt sich auf eine solche Weise fort, keiner versucht dem Wasser des Vergessens auf eine derart aufwendige, einzigartige und bizarre Weise zu entkommen. So scheint es mir wenigstens, in meiner selbstsüchtigen Isolation. Aber den Besuchern, die auf den Kähnen vorbeigleiten, bietet sich das gesamte Bild, wenn sie es wagen, sich von der Wand zu entfernen. Manche waren wohl so unvorsichtig, eine Hand oder einen Fuß in das Wasser zu halten, dessen stumpfe Oberfläche das Gegenteil eines Spiegels zu sein scheint. Große Gruppen von Amputierten stehen auf den Kähnen, klaglos, staunend. Es ist schwer vorstellbar, daß so viele den Fehler gemacht haben, ihre Gliedmaßen ins schwarze Wasser zu tauchen, da sie doch die Verluste der anderen direkt vor Augen hatten. Nicht nur Hände, Arme, Füße und Beine sind verschwunden, sondern auch Teile der Schultern, des Torsos. Bei einigen fehlt schon der halbe Kopf. Etwas wie Strahlung scheint von dem flüssigen Medium auszugehen, durch das sich die Kähne bewegen, und unerbittlich löscht es die Fahrgäste einen nach dem anderen aus. Ich besuche mich ein letztes Mal, nachdem ich – wie mir scheint, ein Leben lang – in der unendlich mühsamen Art einer kopfüber und rückwärts emporkriechenden Eidechse an Höhe gewonnen und an Kraft verloren habe. Meine Spur ist nichts als ein schwach glimmender Streifen am Fels. Ich dachte mir einmal, es müßte ein vertikaler silberner Balken sein, eine Klinge, ein Pfeiler, ein Turm. Kurz bevor ich loslasse und endlich genauso schrecklich hinabstürze wie befürchtet, sehe ich die anderen Künstler, gleichfalls rückwärts emporkriechend, zitternd an die Wand geklebt. Ich bin nicht weit genug gekommen in der Senkrechten, um einen guten Überblick zu haben. Nur von den Kähnen aus, auf denen sich unaufhaltsam das Löschwerk vollzieht und ein Zuschauer nach dem anderen zu Teilen und schließlich ganz eliminiert wird, ausradiert von der Schattenstrahlung, kann man das große Schauspiel der Kletterkunst genießen. Nur von dort sieht man Hunderte, gar Tausende von Künstlern, kopfüber, immer nur auf das schwarze Wasser starrend und nie auf den Nebenmann, grotesk an der Wand emporzucken. Lautlos fallen sie hinab, sobald ihre Zeit gekommen ist. Wenn sich die Besucher auf den Kähnen fragen, was die Kletterkünstler ihnen voraushaben, dann müssen sie nur an die grandiose Tiefe denken, die allein die Aufgestiegenen infolge ihrer lebenslangen Bemühung beim Hinabstürzen und Eintauchen ins Vergessen erreichen. Besonders Wagemutige und Glückliche, heißt es, gelangten sogar bis zum Grund. Von dort könnten sie, für Äonen auf dem Rücken liegend wie tote Kaiser, mit neuen, ungeheuren Augen versehen, zuschauen, wie sich die Kähne an der Oberfläche bewegten und mit welch anrührenden, arabesken Silberspuren ihre Kollegen von oben herab in die Namenlosigkeit einschlügen. Natürlich ertaucht kaum einer den Grund. Fast jeder treibt empor zu den Kähnen, wird von dort hinaufgezogen und verschwindet dann langsam, auf die übliche Art. Immerhin sieht er als gewöhnlicher Passagier und Teil des Publikums noch eine Zeitlang das wunderbare, erbarmungswürdige Bild, das die Kletterkünstler formen, und er könnte auf die Idee kommen, einen von ihnen zu besuchen wie einen Kranken, mit einem Blumenstrauß, einer Orange oder einem Buch.
SINN UND FORM 4/2018, S. 460-461
Wenn ich mutig wie Christian wäre, würde ich seine Totenrede mit einem Geständnis beginnen: Ich habe nicht alle seine Bücher gelesen! Schon sehe (...)
LeseprobeLehr, Thomas
Der Freund, der zuhören konnte.
Totenrede für Friedrich Christian Delius
Wenn ich mutig wie Christian wäre, würde ich seine Totenrede mit einem Geständnis beginnen: Ich habe nicht alle seine Bücher gelesen! Schon sehe ich ihn schmunzeln, auf seine unnachahmliche Grandseigneur- Art, und es könnte sogar sein, daß er mir leicht und salopp mit der Hand auf die Schulter klopft.
»Allerdings«, würde er mir dann empfehlen, »solltest du dein Licht nicht unter den Scheffel stellen und also besser sagen: Ich habe nicht alle seine Bücher gelesen, aber von den wichtigen die meisten. Und füge locker hinzu: Ich habe sie auch verstanden.«
Zurückhaltend, aber nicht falsch bescheiden sein, präzise, aber nicht pedantisch, nicht die Zuhörer oder Leser damit langweilen, daß man in die Breite wirtschaftet – solche Dinge hat mein großer Freund und Kollege Christian versucht mir beizubringen. Bei einem der vielen Freundes- und Werkstattgespräche, die ich in den vergangenen zehn Jahren mit ihm geführt habe, schilderte ich ihm ein akutes Problem mit meinem neuen, umfangreichen Roman. Ich fühlte mich getrieben, das bereits Geschriebene, Hunderte von Seiten, immer wieder durchzugehen und zu perfektionieren, so daß ich kaum noch vorankam. Da hob er kurz den Kopf, sah auf seine zugleich oberlehrerhafte und lausbübische Art durch die Brillengläser und sagte ohne eine Sekunde zu überlegen: »Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.« »Du alter Pfarrerssohn«, sagte ich ergriffen, »schon wieder hat dich Gott als sein Instrument benutzt.«
Die Belesenen werden leicht Lukas 9,62 erraten. Wir beide stritten im folgenden darüber, ob es Pflug oder Pflugschar heißen müsse oder ob man die oder seine Hand daran lege. Geeinigt haben wir uns, glaube ich, nicht.
Wenn ich in diesem Rahmen einen unserer bibelkundigen Dialoge wiedergebe, dann in der Hoffnung, Christian möge sich darüber freuen und ironisch applaudieren, mit der linken Hand des Papstes und der rechten seines von ihm so knapp wie furios beschriebenen gestrengen Priester-Vaters. Christian hat lange gebraucht, um die heitere Gelassenheit des Agnostikers zu erreichen, das Paradies des Nichtglaubens, wie er es einmal mit Lichtenberg sagte. Und niemand außer Christian selbst kann so knapp und treffend seine Kindheit zusammenfassen im Rückblick auf seine berühmte Erzählung »Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde«: »Meine Kindheit in einem evangelischen Pfarrhaus sollte ausgeleuchtet werden, der Einfluß der Bibelsätze, Gebete, Choräle usw. auf die Seele des Elfjährigen und die subtile Herrschaft des wortmächtigen und gotteswortmächtigen Vaters über seinen stotternden Sohn, der vorübergehend in der Fußballanbetung sein Glück findet.«
»Was war denn gut an ihm?« habe ich Christian einmal über seinen frommen Erzeuger gefragt. »Ach, doch auch einiges, zum Beispiel, daß er einmal ein Dutzend Kinder in sein Auto packte und mit ihnen zum Eisessen über den nächsten Hügel fuhr.« Und einmal schrieb er auch: »Bei aller Distanz zu meiner christlichen Erziehung weiß ich inzwischen, was ich ihr an Bildung, Sprachkraft, Empathiekultur verdanke.« Christian konnte die Dinge von zwei und von drei Seiten sehen, und auch das machte ihn zu einem großen Freund.
In den letzten Jahren fanden unsere Zweiergespräche vor allem in Charlottenburg statt, im zwei- oder dreiwöchigen Abstand, zur Lunchzeit, als Arbeitsessen, das wir nicht steuerlich absetzten. Es konnte der Amerikaner in der Sophie-Charlotte-Straße sein, der uns beide an unsere New-York- Aufenthalte erinnerte, oder der Luxemburger in der Leonhardtstraße. Zum Schluß war es das Café Manstein, wenige Meter von Christians Wohnhaus entfernt, »an der Ecke« gelegen, an der wir uns davor auch trafen, um bereits im Gehen über unsere Bücher, unsere Frauen oder unsere Töchter zu sprechen. Ich muß sofort hinzufügen: Nur wenn es um Bücher ging, war Christian indiskret. Auf Ulla, Mara und Charlotte und erst recht auch die kleine Dalia war Christian nur stolz. Ich habe ihn auch nie – das fiel mir erst beim Schreiben auf – über irgend jemanden schlecht reden hören im Sinne einer Verurteilung der gesamten Person, nicht einmal über seine schlimmsten Kritiker. Er verzieh ihnen den Angriff nur schwer, aber er machte aus ihnen keine Monstren. Und wie sollte man jetzt nicht darauf kommen: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!
Der glänzende und freudig-polemische Stilist, denke ich heute, war auch ein stiller Moralist – und damit gingen Tugenden wie Höflichkeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Dezenz ganz leicht einher. Christian war old school, im allerbesten Sinne. Wenn er seinen Borsalino aufsetzte, einen Trenchcoat aus den neunziger Jahren anlegte oder in Sakko und gestreiftem Hemd in seinem Arbeitszimmer saß, dann paßte das eben ganz genau für jemanden, für den Form keine Frage des aktuellen Mitlaufens war.
Zur guten Form gehörte auch etwas, das all seine Freunde an Christian kennen, nämlich seine Fähigkeit zuzuhören, die eine Facette seiner Offenheit und Neugierde war. Über die Fußgängerbrücke seiner Toleranz, möchte ich sagen – und ich markiere hier das wichtige Wort Fußgänger –, habe ich ihn, haben ihn viele jüngere Autoren kennengelernt. In meinem Fall war es eine Autorentagung im Literarischen Colloquium vor etwa zwanzig Jahren, bei der Christian, damals schon renommiert und berühmt, als so ziemlich der einzige ältere Autor sich zwanglos unter uns Jüngere mischte und hören wollte, was wir zu sagen hatten. Noch dazu beließ er es nicht beim Zuhören. Er las die jüngeren Autorinnen und Autoren auch! Unter allen Schriftstellern, die ich kenne, habe ich keinen so großen Leser wie Christian getroffen und niemanden, der so konsequent, noch im vergangenen schweren Jahr der Krankheiten, so empathisch und aufmerksam die Entwicklung der Gegenwartsliteratur verfolgte.
Wenn Autoren prima miteinander auskommen, dann zumeist, weil sie sich nicht lesen. Wenn sie aber eine lange und enge Freundschaft führen wollen, dann kommen sie nicht drumherum, des andern Bücher aufzuklappen und tatsächlich hineinzusehen. In unserem Falle war dieser doppelt prekäre Vorgang ganz ungefährlich. Schon Jahre bevor ich Christian kannte, war ich ein staunender und begeisterter Leser seiner kühnen Romantrilogie zum Deutschen Herbst gewesen – und als wir uns richtig anfreundeten, im Sommer 2011 in Rom, als ich bei seiner lieben Frau und vollendeten Gastgeberin Ulla Bongaerts in der Casa di Goethe meinen Roman »September« vorstellte, legten wir beide so richtig los und lasen uns, was das Zeug hielt.
Vielleicht kann ich ganz einfach geographisch begründen, weshalb das gutging: Christian und Ulla zogen 2013 nach vielen gemeinsamen römischen Jahren nach Berlin, ans nördliche Ufer des Lietzensees, während ich mit meiner Familie gerade an das südliche gezogen war. Die beiden Ufer liegen nicht weit auseinander – und so kamen der 68er Friedrich Christian Delius und der 79er Thomas Josef Lehr, der agnostische Protestant und der entlaufene Katholik, der ältere, aber viel schnellere literarische Kurz- und Mittelstreckenspezialist und der langsame vergrübelte Marathon-Man spielend zusammen. Wir lasen unsere neuen Bücher, besprachen die entstehenden und studierten, wenn es uns darauf ankam, Werke des anderen auch ein zweites Mal.
Im übrigen empfahlen wir uns auch etwas, denn wir wurden ja in guter Freundschaft zehn Jahre älter, und bei allem, was uns unvermeidlicherweise zu fehlen begann, halfen wir uns auch, die Lücken zu stopfen. »Es kann nicht sein, daß du Joseph Roths ›Radetzkymarsch‹ noch nicht gelesen hast!«, konnte man Christian inmitten der engstehenden Tische beim Amerikaner ausrufen hören. Ich dagegen fand, daß man nicht siebenundsiebzig werden könne, ohne Georges Perecs »Das Leben. Gebrauchsanweisung« studiert zu haben. Im letzteren Fall verblüfften mich Christian und Ulla gleichermaßen: Sie kamen aus einem kurzen Urlaub zurück und hatten sich den Roman gegenseitig vorgelesen. Wer das 850seitige Buch kennt, wird mir beipflichten, daß dies eine große Liebe gewesen sein muß!
Am Ende ziehen immer wieder die Begegnungen mit Christian vorbei, nicht nur die zahlreichen Zweier-Tischgespräche, sondern auch die großen Gesellschaften, die Ulla und Christian in ihrer schönen Dachgeschoßwohnung in der Witzlebenstraße gegeben haben, denn ausgezeichnete Gastgeber waren sie beide – von Natur aus, möchte ich fast sagen. Ich will und kann nicht schildern, was meine Frau und ich dort alles an wunderbaren Gesprächen geführt haben. Statt dessen gehe ich noch einmal im Geist in Christians Arbeitszimmer, in dem ich ihn in seinen letzten Lebenswochen besucht habe, mittwochnachmittags zumeist, auf einen Kaffee, für den wir oft zwei Stunden brauchten. Unter der Dachschräge steht sein Schreibtisch vor dem Fenster, von dem aus man das wuchtige Gebäude des ehemaligen Kammergerichts und Reichskriegsgerichts sehen kann, umfunktioniert zu Luxus-Eigentumswohnungen. Wer hätte eine solche Ironie der Geschichte besser in Worte fassen können als Christian?
Doch schauen wir zurück auf sein Regal. Beim Anblick der zahlreichen Belegexemplare und der dichten Reihe von Dutzenden stets schwarz eingebundener Notizhefte muß auch ich immer wieder staunen, und ich denke: Was hast du nur alles geschrieben, Christian! Bücher, die aus dem kecken satirischen Geist entstanden sind, wie »Unsere Siemenswelt« oder schon die gedruckte Dissertation »Der Held und sein Wetter«. Bücher, die aus deiner großen Kunst des Zuhörens zu kommen scheinen, wie »Der Spaziergang nach Syrakus« oder »Mein Jahr als Mörder«. Bücher, die sich deiner Musikalität verdanken, wie »Die Zukunft der Schönheit«, oder solche, die flammend aus dem Protest hervorgingen wie die »Himmelsfahrt eines Staatsfeindes«. Wo du eben noch als in sieben Sprachen Schweigender still und ehrerbietig während des Irakkriegs neben Imre Kertész durch Jena gewandert bist, holst du dir morgen, zum fünfhundertsten Jahrestag des Thesenanschlags, den bronzenen Martin Luther vom Podest, um ein Bier nach unverändertem deutschen Reinheitsgebot mit ihm zu trinken und ihm in einer 96. These den Kopf dafür zu waschen, daß er mit der Übernahme des Augustinischen Konzepts der Erbsünde und der Schuldbeladung von Sexualität im Grunde die Reformation versemmelt hat.
»Als die Bücher noch geholfen haben« … In dem Verlust eines einzigartigen Freundes gibt es nur ein Glück: daß man ihm in seinen Werken wiederbegegnen und sich von ihnen helfen lassen kann. »Er ging voran, ich folgte seinen Schritten«, heißt es bei dem von Christian so benannten frechsten Dichter der Welt, Dante Alighieri, der den größten Fußweg oder extremsten Spaziergang der Weltliteratur unternommen hat. Wie ein Vergil wird Christian, mit wiedergewonnener sonorer Stimme, durch seine Romane, Gedichte, Aufsätze, Erzählungen und inspirierten Polemiken geleiten. Und oft wird es einem dann ganz genau so vorkommen, wie es Christian bei der Beschäftigung mit Dante erging: »Als wäre die Dichtung, als wäre die Kunst das einzige Konstante in einer taumelnden Welt.«
SINN UND FORM 5/2022, S. 689-692