Kirsch, Sarah
(1935 – 2013), Lyrik und Prosa. 2019 erschien unter dem Titel »Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt« ihr Briefwechsel mit Christa Wolf (Hg. Sabine Wolf), 2020 »Freie Verse«, eine Gedichtauswahl mit bislang unveröffentlichten Texten.
Siehe auch SINN UND FORM:
- 3/1976 | Gedichte
- 6/2013 | Im Spiegel. Poetische Konfession. Mit einer Vorbemerkung von Isabelle Lehn, Sascha Macht und Katja Stopka
- 5/2021 | »Die flach ausgedehnte Landschaft des Bewusstseins«. Briefwechsel mit Inger Christensen 1986 –2001. Mit einer Vorbemerkung von Carola Opitz-Wiemers
(...) 1965, an der Schwelle »zwischen nicht mehr und noch nicht«, entstand kurz vor Beginn ihres Lebens als freie Schriftstellerin ein kleiner, noch unveröffentlichter Text, ihre Abschlußarbeit am Leipziger Institut für Literatur Johannes R. Becher. Im vorgegebenen Rahmen einer »poetischen Konfession« stellt sich Kirsch den Ausgangsfragen ihrer Literatur. Der Text gibt Einblicke in die Werkstattüberlegungen einer jungen Dichterin, über deren Lyrik Heinz Czechowski – ebenfalls Absolvent des Instituts – im Rückblick sagte: »Sie war damals schon selbständig, naiv vielleicht, aber echt.« (...)
LeseprobeKirsch, Sarah
IM SPIEGEL
Poetische Konfession
Vorbemerkung
»Ich hatte mehrere Leben, die sich voneinander stark unterschieden«, schreibt Sarah Kirsch in ihrer Chronik »Allerlei-Rauh«. Im Mai verstarb die 1935 im Harz geborene Dichterin mit 78 Jahren. Sowohl ihr vielfach ausgezeichnetes lyrisches Werk als auch ihre Prosaarbeiten sind vom unverwechselbaren »Sarah-Sound« (Peter Hacks) geprägt. 1965, an der Schwelle »zwischen nicht mehr und noch nicht«, entstand kurz vor Beginn ihres Lebens als freie Schriftstellerin ein kleiner, noch unveröffentlichter Text, ihre Abschlußarbeit am Leipziger Institut für Literatur Johannes R. Becher. Im vorgegebenen Rahmen einer »poetischen Konfession« stellt sich Kirsch den Ausgangsfragen ihrer Literatur. Der Text gibt Einblicke in die Werkstattüberlegungen einer jungen Dichterin, über deren Lyrik Heinz Czechowski – ebenfalls Absolvent des Instituts – im Rückblick sagte: »Sie war damals schon selbständig, naiv vielleicht, aber echt.« Aufgefunden wurde er kürzlich im Archiv des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, das sich – in Nachfolge der 1993 abgewickelten Einrichtung – der Förderung des literarischen Nachwuchses im vereinigten Deutschland widmet. Dort wird seit dem Frühjahr 2013 die Geschichte der institutionalisierten Schriftstellerausbildung in der DDR erforscht.
Gemeinsam mit ihrem Mann Rainer Kirsch nahm die 28jährige 1963 ihr Studium in Leipzig auf. Zuvor hatte sie in Halle (Saale) ein Biologiestudium absolviert, ihren Geburtsnamen Ingrid Hella Irmelinde Bernstein abgelegt und den Rufnamen Sarah gewählt, um ein Zeichen gegen den Antisemitismus in der eigenen Familie zu setzen. Durch ihre Heirat 1958 entstand der Name, unter dem sie erste Gedichte in Zeitschriften publizierte und später zu einer der bedeutendsten deutschen Lyrikerinnen wurde. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns verließ sie – mittlerweile geschieden – die DDR und zog 1977 mit ihrem Sohn zunächst nach West-Berlin und dann nach Schleswig-Holstein, wo ein weiteres ihrer Leben begann. In der kleinen Gemeinde Tielenhemme lebte sie bis zu ihrem Tode.
Sarah Kirsch kam auf Vorschlag des Deutschen Schriftstellerverbands ans Literaturinstitut, nachdem sie in Halle an der von Gerhard Wolf geleiteten »Arbeitsgemeinschaft junger Autoren« (AJA) teilgenommen hatte. Wolf war es auch, der ihre Gedichte Stephan Hermlin empfahl, als dieser im Dezember 1962 eine Lesung mit ausgewählten Nachwuchslyrikern in der Akademie der Künste plante. Die Veranstaltung, die in der Literaturlandschaft der DDR eine regelrechte »Lyrik-Welle« auslöste, zog zahlreiche weitere Lesungen und Veröffentlichungen nach sich.
Das Literaturinstitut Johannes R. Becher war in den sechziger Jahren durchaus renommiert, zumal die Bewerber einen Talentnachweis erbringen und Publikationserfahrung nachweisen mußten. Dennoch war das Studium, die letzte Stufe im vorgezeichneten Weg der staatlichen Autorenausbildung, unter den angehenden Schriftstellern umstritten. Schließlich erfüllte die auf SED-Beschluß gegründete und dem Ministerium für Kultur (MfK) unterstellte Einrichtung einen Auftrag der Partei. Laut Hochschulprogramm galt es, literarische Talente »zu sozialistischen Schriftstellern« auszubilden und darin zu schulen, »mit den Mitteln der Kunst die sozialistische Bewußtseinsbildung der Menschen zu unterstützen«. Dazu sollten die jungen Autoren eine an den Bedürfnissen des Arbeiter-und-Bauern-Staats orientierte, volksnahe und aufklärende Literatur hervorbringen, die nach den Maßgaben des sozialistischen Realismus unter Aussparung allzu abstrakter und moderner Elemente auf große Wirklichkeitsnähe setzte. Vor allem das Arbeitsleben und der sozialistische Alltag, mit dem Bitterfelder Programm 1959 zu Leitmotiven ausgerufen, sollten am Institut ihren Niederschlag finden, u. a. durch einen Fernstudiengang für schreibende Arbeiter und obligatorische Praktika, mit denen Studierende »ihre Kontakte mit der werktätigen Bevölkerung vertiefen « und ihre Darstellung an der Wirklichkeit schulen konnten.
Zu Kirschs Zeit umfaßte der Stundenplan zur »fachlichen Bildung« überwiegend theoretische Lehrveranstaltungen zu deutscher, sowjetischer und Weltliteratur, dazu Ästhetik, Kulturwissenschaft, Stilistik, Literaturkritik sowie der an allen DDR-Hochschulen zum Pflichtfach erhobene Marxismus-Leninismus. Der »künstlerischen Persönlichkeitsentwicklung « – der Begriff war in einem Entwurf des Gründungsstatuts im MfK mit einem handschriftlichen Fragezeichen versehen worden und verschwand dann vollständig – dienten »Schöpferische Seminare«, in denen die Arbeit an eigenen literarischen Texten in den Gattungen Lyrik, Prosa und Dramatik im Mittelpunkt stand. In diesen Veranstaltungen, deren Inhalte und Lehrverfahren nur bedingt kontrolliert werden konnten, ergaben sich Freiräume jenseits ideologischer Vorgaben. So etwa in den Prosaseminaren, die der ehemalige Wismutarbeiter und Institutsabsolvent Werner Bräunig leitete. Er galt als einer der Hoffnungsträger des Bitterfelder Weges, stand aber wegen seiner Parteinahme für Studierende in der Kritik. Sein »Rummelplatz«-Manuskript geriet 1965 auf dem 11. Plenum der SED ins Kreuzfeuer. Schließlich verließ er nach Eröffnung eines Parteiverfahrens »freiwillig« das Institut.
Die prägende Figur für Sarah Kirsch war jedoch der Dichter Georg Maurer, Dozent von 1955 bis 1970, an den sich Kirsch 1993 in einem Interview anläßlich der Verleihung des Peter-Huchel-Preises erinnerte: »Dieses Leipziger Institut war außerordentlich schön, weil Georg Maurer dort lehrte, das Lyrikseminar hielt. Er hatte die wunderbare Methode, sich unsere Gedichte anzusehen und uns dann, eine Woche später, alles zum gleichen Thema aus der Weltliteratur vorzulegen. Diese Bücher gab es im Literaturinstitut. Wenn wir Regengedichte hatten, oder wenn ein Spiegel drin vorkam, da hatte er dazu alles. Von der Droste bis zu William Carlos Williams. Dann hörten wir die wunderbaren Texte und hatten alles gelernt, indem wir unsere nämlich wegschmeißen konnten.« Bei Maurer, der sich in seinen Seminaren über die Kanonisierung hinwegsetzte und seine Schüler zu »Genauigkeit« verpflichtete, habe sie gelernt, »daß man nicht die großen ›philosophischen‹ Gedichte machen soll, wie das im Sozialismus üblich war, so etwas wie der späte Becher machte, soviel Verblasenes hat man ja selten gehört. Davon hat uns Maurer wenigstens abgehalten, das nachzuahmen. Er sagte, wir sollten lieber den kleinen Gegenstand nehmen.«
Für das Diplom reichte Sarah Kirsch im September 1965, wie in der Prüfungsordnung vorgesehen, eine künstlerische und eine theoretische Abschlußarbeit ein. Erstere bestand in dem mit Rainer Kirsch geschriebenen Gedichtband »Gespräch mit dem Saurier«, der ebenso bereits vorlag wie die Reportage »Berlin-Sonnenseite«, die das Paar 1964 zum »Deutschlandtreffen der Jugend« in Ost-Berlin verfaßt hatte, und die in der Anthologie »mitternachtstrolleybus« erschienenen Nachdichtungen aus dem Russischen. Für ihre theoretische Arbeit wählte Sarah Kirsch die freiere Form der »Poetischen Konfession«, die den Studierenden als Alternative zu einer literaturwissenschaftlichen Arbeit möglich war.
So kritisch wie gewitzt befaßt sich Sarah Kirsch darin mit der Tauglichkeit des sozialistischen Realismus und dem Stellenwert der Lyrik im Vergleich zur Prosa. Nicht zufällig trägt ihre poetische Selbstbetrachtung den Titel »Im Spiegel«. Die Ich-Erzählerin rückt ihren Schreibtisch vor den Spiegel, um den eigenen Arbeitsprozeß zu betrachten und sich mit dem Motiv des Spiegels auseinanderzusetzen: Er erzeugt einerseits einen Widerschein, andererseits eine Brechung der Wirklichkeit – bezeichnenderweise hat der in ihrem Text vorkommende Spiegel einen Sprung. Damit erhalten ihre Reflexionen den Charakter eines Metadiskurses über die Frage, was Lyrik vermag, was sie sein kann und möglicherweise nicht sein darf. Der Spiegel wird damit bereits 1965 zum Zentrum von Kirschs Poetik – Günter Kunert wies 1985 im Nachwort zu ihrem Gedichtband »Landwege« auf die besondere Stellung dieses Motivs hin. Die sozialistische Realität und wohl auch die Vorgaben des sozialistischen Realismus scheint die Autorin hier nicht allzu ernst zu nehmen, taucht doch in der zunächst ganz realistischen Situationsbeschreibung ein Drachentöter aus der Artussage auf. Wie in ihrer Lyrik nutzt sie auch hier Märchenmotive zur ironischen Brechung der Wirklichkeit: Lanzelot trägt Bluejeans, hat das Drachentöten aufgegeben und ist in einem Forschungsinstitut angestellt.
Der Ritter, dem Kirsch in späteren Jahren ein eigenes Gedicht widmet, entpuppt sich als ebenso geistreicher wie streitbarer Gesprächspartner der mit ihrer Kunst hadernden Ich-Erzählerin. So entspinnt sich ein doppelbödiger Dialog über poetologische Positionen, dessen ernsthafte Argumentation ständig unterlaufen wird – von ironischen Wendungen und Pointen im typischen Sarah-Sound, unter Einbeziehung von Schlüsselbegriffen wie Grunderlebnis oder Selbstkritik. Ersterer stammt von Anna Seghers und bezeichnet eine Art Initiationserlebnis, das jeder Künstler benötige, um sein Talent an eine Aufgabe zu binden. Für Sarah Kirsch bestand diese Erfahrung nicht zuletzt in der Zugehörigkeit zu einer Lyrikergeneration, die auf dem Wert der eigenen Erfahrung bestand und sich von den »alten Genossen«, den »alten Männer(n)« abgrenzte, so wie ihre Mitstreiter Rainer Kirsch, Wolf Biermann und Volker Braun, die sich nicht auf vorgefertigte ideologische oder ästhetische Positionen einließen, sondern auf »Vorläufigem« beharrten. »Wir waren merkwürdigerweise fast alle vom Jahrgang 1935«, erinnerte sich Sarah Kirsch 1993, »und wir hatten einen gewissen Hochmut. Der blühte, und den brauchten wir auch, um uns gegen die Parteidichter behaupten zu können.«
Demgegenüber kann Selbstkritik als Grundhaltung des engagierten Sozialisten verstanden werden, der sich hinsichtlich seines Auftrags stets kritisch zu hinterfragen hat (was selbstverständlich auch als Synonym für Selbstzensur verstanden werden kann). Doch die scheinbare Ernsthaftigkeit wird durch andere Assoziationen unterminiert – etwa wenn das Segherssche Grunderlebnis mit dem Blick in ein Whiskyglas in Verbindung gebracht wird. Die »doppelte Brechung«, die durch den Glasboden im Spiegel entsteht, kommt einer Selbstbehauptung, einem Beharren auf der eigenen Wahrnehmung gleich: Nur gebrochen ist die Wirklichkeit darstellbar. Die Äußerung zur Selbstkritik ist von so enervierter Flapsigkeit, daß man darüber lachen muß.
Lanzelot fordert von ihren Texten weniger Selbstbespiegelung und tut Gegenstände wie Liebe und Kummer als »Damengeschwätz« ab, wo es doch allerorten »nach Napalm und Atompilzen« rieche. Dahinter ist wohl ein Seitenhieb auf jene Lyrikerkollegen zu vermuten, die Kirschs frühen Gedichten »Mädchenhaftigkeit« oder »Baby-Talk« (Adolf Endler) unterstellten oder, wie Georg Maurer in seinem Prüfungsgutachten, betonten, sie verstehe es, »Vorgänge in der intimen fraulichen Sphäre ebenso ehrlich wie zart auszusprechen«.
Sarah Kirsch setzt dagegen ihr zweites poetologisches Grundverfahren ein, die Verkleinerung, wodurch die Welt im Spiegel ihrer Gedichte »ein bißchen kleiner als in Wirklichkeit « erscheint: Es sind »die trippelnden Vögel, Menschen, struppige Hunde, ein sanfter Garten, der vornehme Verkäufer, ein Fisch«. Es sind die scheinbar nebensächlichen Dinge, die in Kirschs Gedichten große Wirkung entfalten, weil sie Kontraste setzen und die Fallhöhe des Großen und Ganzen verdeutlichen. Auch ihr vermeintlich naiver Tonfall folgt diesem Prinzip der Verkleinerung, die einfache, aber doppelbödige Sprache eröffnet ihr auf unerwartete Weise den Spielraum zur Brechung aller Erwartungen.
So auch in ihrem Gedicht »Kleine Adresse« von 1964, dem erst die Vögel zur vielgeforderten »Welthaltigkeit« verhelfen: als Flug- oder Reisemotiv, das sich antithetisch oder auch spiegelbildlich zu den Grenzen der politischen Welt verhält und »eine ungeheure Sehnsucht nach außen« zum Ausdruck bringt. »Aufstehn möchte ich, fortgehn und sehn, / ach, wär ich Vogel, Fluß oder Eisenbahn, / besichtigen möchte ich den Umbruch der Welt.« Die »Kleine Adresse« ist denn auch eine der wenigen frühen Arbeiten, die Kirsch in ihrer »Poetischen Konfession« noch gelten läßt. Die meisten verwirft sie, sie zweifelt am Erreichten, sucht Rat bei ihren literarischen Vorbildern und spürt den Druck erster Erfolge. Eben dreißig geworden, sorgt sie sich »ein wenig um die Schönheit und sehr um die Leistung«.
Am Ende der »Poetischen Konfession« trinkt Lanzelot den letzten Whisky und verläßt seine Gesprächspartnerin. »Nieder mit dem Gefälligen!« ruft er ihr noch zu. Die Autorin bleibt »etwas klüger als zuvor und unzufrieden« zurück. Doch trotz aller Unwägbarkeiten »zwischen nicht mehr und noch nicht« spricht sie sich noch einmal Mut zu: »Mach weiter«, ermahnt sie sich mit der ihr eigenen Zähigkeit – jener »Zähigkeit, mit der sie Niederlagen überdauert, ihr Recht im Sichnichtverlieren« behauptet, wie Peter Hacks Jahre später schreibt: »›Ich möchte‹, so fühlt Sarah, ›die Welt lieben; sie ist nicht liebenswürdig, weder zu mir, noch als solche. (…) Sie werden mich ein wenig flennen oder ein wenig aufmotzen oder ein wenig kichern hören, aber kleinkriegen, das werden sie mich nicht. So, Sie finden mich schnurrig? Sie glauben, nur Katzen schnurrten, die Guten; sie vergessen die Tiger.‹«
Isabelle Lehn, Sascha Macht und Katja Stopka
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SINN UND FORM 6/2013, S. 848-855