Kienlechner, Sabina
geb. 1948 in Murnau / Staffelsee, Essays, Drehbücher, Dokumentationen, lebt in Berlin. (Stand 5/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/2000 | Dichter in der deutschen Wüste. Was Ingeborg Bachmann in Berlin sah und hörte.
- 1/2001 | Die drei Identitäten des Ignazio Silone
- 6/2010 | »Unter dem Einfluß der bürgerlichen Ideologie.« »Die Aktionsgruppe Banat« in den Akten der Securitate
- 3/2014 | Der arme Spitzel. Die rumäniendeutschen Schriftsteller und das juristische Debakel der Securitate-Aufarbeitung
- 3/2018 | Ingeborg, ein letztes Mal
- 3/2020 | Deutschland Abendland
- 2/2021 | Die Mutter, das dritte Geschlecht
- 5/2024 | Kafka und die Fakten
Die Verleihung des Nobelpreises 2009 an Herta Müller hat die Öffentlichkeit auf eine Gegend aufmerksam gemacht, von der bisher nur wenige etwas (...)
LeseprobeKienlechner, Sabina
»Unter dem Einfluß der bürgerlichen Ideologie«. Die »Aktionsgruppe Banat« in den Akten der Securitate
Die Verleihung des Nobelpreises 2009 an Herta Müller hat die Öffentlichkeit auf eine Gegend aufmerksam gemacht, von der bisher nur wenige etwas wußten: das rumänische Banat. Im Grenzgebiet zwischen Rumänien, Ungarn und Serbien gelegen, war dieser Raum seit dem 18. Jahrhundert von Deutschen besiedelt, hier war einst eine blühende bäuerliche Landschaft mit über einer viertel Million deutschsprachigen Einwohnern. Im zweiten Weltkrieg wurde diese Bevölkerung durch Deportation und Vertreibung stark reduziert, doch um 1950 herum lebten dort immer noch etwa 170000 Deutsche, es gab deutsche Schulen, deutsche Zeitungen, deutsche Theater, deutsche Verlage – und es gab eine rumäniendeutsche Literatur. In den siebziger und achtziger Jahren aber begannen die Banater Schwaben zu Zigtausenden auszuwandern, zumeist in die Bundesrepublik. Heute ist die Zahl der noch im Banat verbliebenen Deutschen verschwindend gering. Mit zu den Auswanderern gehörten die Schriftsteller; sie ließen sich im Westen nieder und verwandelten sich, so gut es ging, in bundesdeutsche Autoren. Die rumäniendeutsche Literatur schien nicht mehr zu existieren, um 1990 herum begann man, Nachrufe auf sie zu verfassen.
Auch die Tatsache, daß der Nobelpreis 2009 an eine rumäniendeutsche Autorin ging, hätte allein wohl nicht ausgereicht, das Phänomen wiederzubeleben. Doch im Hintergrund des Preises steht ein weit umfassenderes Ereignis, das die Geschichte dieser Literatur auf eine ebenso erschütternde wie erlösende Weise wieder aufscheinen läßt: die Öffnung der rumänischen Geheimdienstarchive. Bereits im Jahr 1999 war die CNSAS (Consiliul Nat¸ional pentru Studierea Arhivelor Securităt¸ii, eine Art rumänische Gauck-Behörde) gegründet worden, doch kam der Aufbau des Archivs nur schleppend und gegen diverse politische Widerstände in Gang. Im Jahr 2006 aber hieß es, die Übergabe der Akten an die CNSAS sei abgeschlossen. Etwa seit 2007 ist es für Betroffene, Journalisten und Forscher nicht mehr nur »theoretisch«, sondern tatsächlich möglich, Einsicht in die Akten zu nehmen. Angehörige des Instituts für südosteuropäische Forschung stießen im Frühjahr 2008 auf Akten, die der rumänische Geheimdienst über einigeMitglieder der »Aktionsgruppe Banat« angelegt hatte. Auch die übrigen Mitglieder sowie andere, ihnen nahestehende Schriftsteller begannen daraufhin, ihre Securitate-Akten anzufordern, und seitdem gelangen mehr und mehr Dossiers aus den Bukarester Archiven ans Tageslicht. Es scheint kaum einen rumäniendeutschen Schriftsteller zu geben, über den die Securitate nicht eine oder mehrere Akten geführt hat: Beobachtungsakten (dosar de problemă), Verfolgungsakten (dosar de urmărire informativă), Strafakten (dosar de urmărire penală) – und manchmal leider auch IM-Akten (dosar de ret¸ea). Den größten Raum nehmen die dosare de urmărire informativă (D.U.I.) ein, in denen die operativen Vorgänge zu den einzelnen Schriftstellern dokumentiert sind. Die Rubrik, der sie ungeachtet ihrer marxistischen Einstellung zugeordnet wurden, war: Deutsche Nationalisten und Faschisten. Die Frage, ob die Akten manipuliert wurden oder nicht, läßt sich nicht eindeutig beantworten. Es gibt Hinweise darauf, daß Passagen herausgenommen wurden. Das vorhandene Material ist jedoch so umfangreich, daß es in jedem Fall aussagekräftig bleibt. Anders als die DDR-Akten sind die Kopien der rumänischen Akten kaum geschwärzt, auch die Namen blieben stehen. Eine Liste mit den Klarnamen der Informanten aber wurde von der CNSAS bisher nicht geliefert.
Die Aktionsgruppe Banat entstand in den frühen siebziger Jahren. Mit ihr begann eine etwa fünfzehn Jahre dauernde Periode, während der es ein paar Rumäniendeutschen – nicht etwa allen – trotz ihrer isolierten und bedrohlichen Lage gelang, eine hochklassige, moderne, kritische Literatur hervorzubringen. Das Verdienst gebührt tatsächlich einigen wenigen – denn das Gros hätte lieber eine ganz andere Literatur gehabt. Die damals sehr jungen Schriftsteller der Aktionsgruppe befanden sich von Anfang an in einer doppelten Opposition: zum einen gegen ihre deutschen Landsleute, zum anderen gegen Ceauşescus
Diktatur. Die beiden feindlichen Bereiche waren keineswegs sauber voneinander getrennt; und auch die jungen Schriftsteller selbst agierten nicht fehlerlos. Am Ende hatten sie gegen ihre Landsleute einen triumphalen Sieg errungen, während Ceauşescus Diktatur sie auf eine vernichtende Weise geschlagen hatte. Fast alle Gruppenmitglieder sahen sich gezwungen, schon Jahre vor dem Umsturz Rumänien zu verlassen. Nicht alle haben die Repressalien des Regimes überlebt. Nur wenige schafften es, weiterhin zu schreiben. Alle aber haben jahrzehntelang mit biographischen Unklarheiten und Widersprüchen, auch mit Mißtrauen und gegenseitigen Verdächtigungen leben müssen, die erst durch das Auftauchen der Akten ausgeräumt werden konnten. Die Aktenauszüge, die im folgenden wiedergegeben werden, sind aus dem Rumänischen übersetzt; sie können nicht mehr als einen ersten Eindruck vermitteln. Noch liegen bei weitem nicht alle Akten vor, noch sind keineswegs alle Spitzel enttarnt. Die Rekonstruktion der Geschichte hat gerade erst begonnen.
Als sich die Aktionsgruppe Banat 1972 bildete, waren ihre Mitglieder kaum zwanzig Jahre alt. Zum engeren Kreis gehörten: Albert Bohn, Rolf Bossert, Werner Kremm, Johann Lippet, Gerhard Ortinau, Anton Sterbling, William Totok, Richard Wagner und Ernest Wichner, wobei Richard Wagner die Rolle eines Primus inter pares innehatte. Sie trafen sich an der Universität von Temeswar, wo sie Germanistik studieren wollten. Sie kamen aus den Dörfern der Banater Ebene, von den Höfen und Ländereien, die ihren Vorvätern einst gehörten, jedoch im Zuge der kommunistischen Enteignung verstaatlicht worden waren. Die bäuerliche Banater Minderheit hielt, wenngleich nun in jeder Hinsicht »grundlos«, unerschütterlich an ihrer Mentalität und den landsmannschaftlichen Traditionen, Kirchweihfesten, Heimatliedern, Trachten, Blaskapellen fest. Die Banater hatten es geschafft, über zwei Jahrhunderte hinweg alle »fremden« Einflüsse von sich fernzuhalten und durch und durch »deutsch« zu bleiben. Der Groll über Deportation, Enteignung und Demütigung, die ihnen nach dem Krieg von seiten der Russen widerfahren waren, half ihnen, ihre eigene Nazivergangenheit und den Dienst in der Waffen-SS, der die männlichen Banater in großer Zahl angehört hatten, zu verdrängen. Statt dessen pflegten sie mit Hingabe die Sekundärtugenden Ordnung, Sauberkeit, Pflichtgefühl, was dazu führte, daß sie sich den Rumänen, die ihrer Meinung nach diese Tugenden nicht besaßen, haushoch überlegen fühlten. Nur leider reichte ihr Überlegenheitsgefühl nicht aus, um sich auch gegen die rumänische Diktatur aufzulehnen. »Im Dorf waren alle vor dem Staat geduckt«, schreibt Herta Müller, »aber untereinander und gegen sich selbst kontrollwütig bis zur Selbstzerstörung.«
Die jungen Autoren lehnten sich auf gegen diese Welt; sie weigerten sich, in ihren Texten das Schicksal der deutschen Minderheit zu besingen und den donauschwäbischen Volksgeist zu preisen, wie es die Dichter der vorangegangenen Generationen getan hatten und noch immer taten. Sie wollten eine ganz andere, innovative Literatur schreiben: ebenfalls eine deutsche Literatur, doch eine, die modern war, zeitgemäß, und die mit der des Westens konkurrieren konnte. Sie waren die erste Generation, die im real existierenden Sozialismus aufgewachsen war, und wie ihre westlichen Altersgenossen glaubten sie an Marx und Marcuse, Brecht und Berlinguer, Janis Joplin und Che Guevara und an die Verwirklichung eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Im Gegensatz zu ihren westlichen Altersgenossen freilich lebten sie in einem Land, in dem der Sozialismus bereits verwirklicht war, er hatte nur leider kein »menschliches Antlitz«. Doch auch darin schien sich eine Annäherung anzubahnen zwischen Ost und West. Seit Ceauşescu sich 1968 anläßlich des Prager Frühlings gegen die Sowjets gewendet und einen Freundschaftspakt mit Dubček unterzeichnet hatte, konnte man meinen, Rumänien befinde sich auf dem Weg zu einer dauerhaften Liberalisierung. Der Westen blickte voller Sympathien auf Bukarest. Es herrschte Tauwetter; die schlimme stalinistische Zeit schien vorüber.
Die jungen Schriftsteller setzten sich zusammen und formulierten ein Programm. Sie nahmen darin ästhetisch vorweg, worauf sie politisch hinarbeiten wollten: daß Ost und West eines Tages, vielleicht schon bald, dasselbe meinen könnten, wenn sie »Sozialismus« sagten. Sie gingen mit gutem Beispiel voran und vertraten mitten im Osten einen westlichen Marxismus. Sie bekannten sich zu Brecht und nahmen sich vor, ein »neues Realitätsbewußtsein« zu schaffen, »falsche Denkschemata« zu überwinden, kritisch zu sein, zu provozieren und »auf der Grenze zu gehen«. Ein Journalist, der über sie berichtete, gab ihnen den Namen »Aktionsgruppe Banat«, ein Begriff, der den Freunden wegen des Verwirrungspotentials, das er enthielt, gefiel.
Sie wußten, daß es in Rumänien auch im schönsten »Tauwetter« höchst riskant war, eine Gruppe, gar eine Gruppe mit politischen Ambitionen zu organisieren; aber eben darin wollten sie ihrer Zeit vorauseilen. Ihr vages Vorbild war die Wiener Gruppe, die in den fünfziger Jahren in Österreich mit Gemeinschaftslesungen, Textmontagen und surrealistischen Sketches die Öffentlichkeit provoziert hatte. Ähnliches im realsozialistischen Rumänien des Jahres 1972 zu veranstalten, war so tollkühn wie der Flug des Ikarus. Aber sie ließen sich durch nichts und niemanden davon abhalten. »Man hat die Freiheit, die man sich nimmt, dachten wir«, schrieb Richard Wagner Jahre später. »Was für unsere Umgebung unerhört war, war für uns nicht einmal ein Wagnis. Wir traten mit einem Ton der Selbstverständlichkeit auf, der sogar den Behörden die Sprache verschlug. Für eine Weile jedenfalls. Für eine Weile, in der sie uns argwöhnisch beobachteten.«
Die literarische Produktion der Gruppe erreichte erstaunlich schnell ein professionelles Niveau. Man schrieb Lyrik und kurze Prosa, witzige, vertrackte, skurrile Texte, verwandte die unterschiedlichsten Stile und Techniken und war doch unverkennbar. Die Gruppe wurde rasch über die Grenzen von Temeswar hinaus bekannt, bis hin ins ferne Bukarest, denn sie war einzig in ihrer Art. Entscheidend war, daß es in den deutschsprachigen Zeitungen Rumäniens Redakteure gab, die mit ihr sympathisierten und ihre Erzeugnisse druckten. Insbesondere galt dies für die Zeitschrift »Neue Literatur« (NL), die monatlich in Bukarest erschien. Die NL war ebenso erstaunlich wie das gesamte Phänomen der jungen rumäniendeutschen Dichtung, deren Motor sie war: eigentlich unterstand sie dem offiziellen rumänischen Schriftstellerverband, war aber längst »unterwandert« von kritischen und kundigen Redakteuren, meist selber Schriftstellern, die es irgendwie fertigbrachten, die »Ringmauern« der Zensur zu durchbrechen. Sie publizierten nicht nur die neue, kritische Literatur aus Siebenbürgen, dem Banat und Bukarest, sie veröffentlichten auch Werke aus der DDR, die dort nicht erscheinen durften.
Nach ihren Debüts auf den Schülerseiten des Lokalblatts »Neue Banater Zeitung«, die ihnen der Chefredakteur Nikolaus Berwanger einräumte, landeten die jungen Schriftsteller bald bei der NL. Sie stießen dort auf den Redakteur und Literaturkritiker Gerhardt Csejka, der sie nicht nur veröffentlichte und unterstützte, sondern im wahrsten Sinn des Wortes ihr Schicksalsgefährte wurde. Von ihm und (am Anfang) auch von dem Schriftsteller Paul Schuster bekamen sie entscheidende Tips und Orientierungshilfen, um sich mit der im Westen erscheinenden Literatur vertraut zu machen. Sie beschafften sie sich auf allen nur erdenklichen Wegen, sie lasen soviel sie konnten, bald kannten sie mehr Bücher, als die germanistische Fakultät ihnen zu bieten hatte, und sie gaben ihre Kenntnisse weiter an jene, die selbst noch nicht schrieben oder gerade erst damit begonnen hatten. Herta Müller, die erst einige Jahre später mit ihren Arbeiten an die Öffentlichkeit trat, sagte: »Ich glaube, ich wurde eigentlich ausgebildet von der Aktionsgruppe, und nicht etwa an der Universität.«
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SINN UND FORM 6/2010, S. 746-769
Moral, Recht und Wahrheit Auf die bekannte, sozusagen seit Menschengedenken gestellte Frage, wie Recht und Moral sich zueinander verhalten, erhält (...)
LeseprobeKienlechner, Sabina
DER ARME SPITZEL
Die rumäniendeutschen Schriftsteller und das juristische Debakel der Securitate-Aufarbeitung
Moral, Recht und Wahrheit
Auf die bekannte, sozusagen seit Menschengedenken gestellte Frage, wie Recht und Moral sich zueinander verhalten, erhält man heute meist verschwommene und ausweichende Antworten. Es heißt, Recht und Moral seien zwar nicht dasselbe, aber gewissermaßen ineinander »verschränkt«; sie würden sich »mehr oder minder stark überschneiden« oder gingen auseinander hervor bzw. bauten aufeinander auf. Daneben gibt es allerdings eine gewichtige (von Max Weber angeführte) Fraktion von Gelehrten, die die Auffassung vertritt, Recht und Moral seien unvereinbar.
Tatsächlich aber zeigen Recht und Moral eine Tendenz, sich umgekehrt proportional zueinander zu verhalten: wo das eine zunimmt, nimmt das andere ab, und umgekehrt. Daß dort, wo es kein Recht gibt, die Moral an Bedeutung gewinnt, liegt eigentlich auf der Hand. In einem Unrechtsstaat kann nur die Moral die Menschen davor retten, sich schuldig zu machen. Natürlich ist das nicht so einfach: Es bedarf einigen Muts und gehöriger Widerstandskraft, um sich gegen den Unrechtsstaat moralisch zu behaupten; denn dieser fordert ja in der Regel, daß man sich an seine unrechten Maximen und Praktiken hält.
Überraschender und widersinniger scheint der zweite Fall: nämlich daß dort, wo das Recht herrscht, die Moral tatsächlich an Bedeutung verliert. Zunächst ist zu beobachten, daß gerade in der rechtsstaatlich verfaßten Bundesrepublik der Moralskeptizismus im Laufe der Jahrzehnte ständig zugenommen hat. Spricht man heute über Moral, trifft man auf Achselzucken; einem Großteil der Menschen bedeutet sie nichts. Sie vertreten die Auffassung, die Gesellschaft komme sehr gut ohne Moral aus; es genüge, wenn alle sich an die Gesetze halten. Was einer darüber hinaus tut, ob er sich mehr oder weniger »moralisch« verhält, sei seine Sache. Für die Öffentlichkeit ist das relativ egal.
Sollte man also, zumindest für den Rechtsstaat, sagen: Moral ist Privatsache, in der Öffentlichkeit entscheidet das Recht? Nein: Der Umkehrschluß, daß man dort, wo die Rechtsprechung funktioniert, auf Moral verzichten könne, ist gewiß falsch. Es gibt unzählige Fälle nicht nur moralischen Unrechts, für die gar keine Rechtsgrundlage existiert. Wir müssen ohne Richter damit fertig werden, angewiesen auf unser spontanes Rechts- bzw. Unrechtsempfinden. In diesen Momenten wird uns meist bewußt, daß der Verzicht auf die Moral nicht nur nicht empfehlenswert, sondern gar nicht möglich ist. Denn Moral ist keine Privatsache, sondern – ähnlich wie die Sprache – eine öffentliche, omnipräsente Praxis, die das Zusammenleben konstituiert.
Gleichwohl müssen wir bei näherem Hinsehen jenen beipflichten, die sich für die Unvereinbarkeit von Recht und Moral aussprechen. Mit einer Präzisierung jedoch: Nicht Gesetz und Moral schließen einander aus, sondern Recht und Moral. Denn natürlich kann es unmoralische Gesetze geben, sie sollten tunlichst geändert werden. Das Prinzip der Rechtsprechung aber ist nicht die Moral, sondern allemal die Wahrheitsfindung. Wir würden uns vermutlich bedanken, wenn irgendein Gericht uns aufgrund von moralischen Sentenzen verurteilen würde, anstatt auf Beweisen und Tatbeständen zu bestehen. Wir wissen sehr gut: der Weg zur Gerechtigkeit führt allein über die Wahrheit, nicht über die Moral.
Es darf sogar als ein Zeichen von Moderne und Fortschritt gelten, daß unsere Gerichte auf die Implikation der Moral verzichten. Und wir könnten rundum zufrieden sein – wenn sich nicht gerade durch die Modernisierung ein anderes Übel eingeschlichen hätte: die Relativierung des Wahrheitsbegriffs. Daß Wahrheit ganz und gar relativ sei, ist eine Überzeugung, die heute in jedem Konflikt, jedem Disput, ja schon bei jedem Meinungsaustausch Anwendung findet. Es gilt als hoffnungslos naiv zu glauben, die eine unbezweifelbare Wahrheit könne jemals gefunden werden. Wahrheit ist vielmehr relativ zur Kultur, relativ zur Epoche, relativ zum Standort, und vor allem ist sie, dieser verbreiteten Auffassung zufolge, ihrem Wesen nach subjektiv. Objektivität, die per definitionem von allen anerkannt werden muß, läßt sich keineswegs immer und überall herstellen; aber selbst dort, wo sie tatsächlich hergestellt werden kann, ändert das nichts an der »Wahrheit« des subjektiven Erlebens, das ja nur den individuellen Bedingungen des einzelnen unterliegt. Nur muß dieses sich eben der Objektivität beugen.
Daraus könnte man nun schließen, daß dem einzelnen um so mehr Gerechtigkeit zuteil wird, je mehr man auf »seine« relative Wahrheit eingeht und sie in der Gesamtbeurteilung berücksichtigt; und vermutlich ist das in vielen zwischenmenschlichen Situationen auch richtig. Aber dort, wo die Belange öffentlich werden, wie etwa vor Gericht, wird dieses Konzept untauglich. Die Rechtsprechung kann sich einen Wahrheitsrelativismus nicht leisten. Sie operiert mit Begriffen wie Ermittlung, Befund, Sachverhalt, Tatbestand oder Tatsache und stützt sich auf eine einfache Korrespondenz von Aussage und Wirklichkeit – etwa in der Form: Die Behauptung »Es regnet« ist genau dann wahr, wenn es regnet. Und ob es tatsächlich regnet, muß eben ermittelt werden. Nicht nur der Wahrheits-, sondern auch der Wirklichkeitsbegriff ist also für die Rechtsprechung kein Problem. Wirklichkeit wird schlicht als gegeben angesehen. Dieser einfache Wahrheitsbegriff steht nun im glatten Widerspruch zur allenthalben behaupteten Relativität der Wahrheit. Er ist, bei Lichte besehen, dennoch der einzige, den wir akzeptieren, insbesondere wenn es um unser Recht geht. Wir wären wahrscheinlich entsetzt, wenn ein Gericht uns statt dessen nach einer komplizierten modernen Wahrheitstheorie beurteilen würde, etwa der Pragmatischen Theorie, der Konsenstheorie oder der Sprechakttheorie, die ohne Wirklichkeit auskommen. Denn wir wissen sehr gut: Der Weg zur Erkenntnis dessen, was tatsächlich ist, war oder sein wird, führt nur über die eindeutige, uns allen in gleicher Weise gegebene und verständliche Wirklichkeit (und nicht über Sprechakte oder Konsens oder pragmatische Überlegungen).
Kein Zweifel: Die Theorien eröffnen neue Aspekte und verschaffen uns ungeahnte Einsichten – sei es psychologischer, kultureller, historischer oder wissenschaftlicher Art. Wir sind von ihnen fasziniert und ziehen sie oft der platten, trivialen Wahrheit vor. Aber doch nur bis zu dem Augenblick, in dem es darauf ankommt, daß uns Recht widerfährt und unser Handeln richtig beurteilt wird: Dann wird uns schlagartig klar, daß die einfache, anhand der Wirklichkeit ermittelbare Wahrheit zu den selbstverständlichen, schlechthin unverzichtbaren Voraussetzungen unseres gesamten Daseins gehört. Und daß wir sie möglicherweise zu gering achten.
Persönlichkeitsrechte
Als der Literaturnobelpreis des Jahres 2009 der rumäniendeutschen Schriftstellerin Herta Müller zugesprochen wurde, erfüllte das ihre Kollegen und einstigen Mitstreiter von der »Aktionsgruppe Banat«, die mit ihr die schweren Jahre in der rumänischen Diktatur durchgestanden hatten, mit einer großen Hoffnung. Es schien, als böte sich damit eine einmalige Gelegenheit, fiel die Preisverleihung doch in denselben Zeitraum, in dem in Bukarest die CNSAS, die man als rumänische Gauck-Behörde bezeichnen könnte, die Geheimdienstakten aus der Ceauşescu-Ära zur Einsicht freigab. Vom ersten Moment an waren diese Akten und die darin enthaltenen Verfolgungsgeschichten ein Hauptthema bei diesem Nobelpreis; und es schien, als könnten in dem Licht, das nun von Herta Müller und ihrem Preis ausging, endlich auch die Täter von einst so unerbittlich bloßgestellt werden, wie sie es nach Meinung der Opfer verdienten. Das betraf neben den früheren rumänischen Securisten (die nach Ceauşescu Ende zu einem guten Teil als »Demokraten« recycelt worden waren) vor allem die Spitzel aus dem rumäniendeutschen Umkreis, von denen sich haufenweise Berichte und Denunziationen in den Akten fanden. Die allermeisten der Denunzianten leben inzwischen in Deutschland. »Sie sind Lehrer, Professoren, Beamte, Journalisten, Schauspieler«, schrieb Herta Müller im Sommer 2009. »Nie hat sie jemand behelligt. Die seit dem Fall der Mauer anhaltende Stasi-Debatte kann ihnen den Buckel runterrutschen. Sie sind alle deutsche Staatsbürger, aber für die deutschen Behörden undurchschaubar.« Die Schonzeit für die rumäniendeutschen Spitzel war allerdings mit der Bekanntgabe des Literaturnobelpreises erst einmal zu Ende. Aber ob sie dadurch für die deutschen Behörden durchschaubarer wurden, bleibt zweifelhaft.
Die Aufarbeitung, die zunächst zügig begann, wurde schon nach einem guten Jahr wieder unterbrochen. Noch bevor die Öffentlichkeit einen tieferen Einblick in die Vorfälle gewinnen konnte, landeten diese vor Gericht. Es stellte sich alsbald heraus, daß dies nicht der richtige Ort dafür ist. Denn was sich zunächst gut anhört - daß eine unabhängige Institution sich die strittigen und teils verbissen diskutierten Fälle genauer ansieht und die Wahrheit herausfindet –, kann von den deutschen Gerichten in dieser Sache nicht geleistet werden. Dafür ist die Beweislage zu kompliziert und zu undurchsichtig: die Akten sind in rumänischer Sprache, sie sind unvollständig und eng miteinander verflochten, sie handeln von dreißig bis vierzig Jahre zurückliegenden Ereignissen und beziehen sich auf ein Land, von dem man in Deutschland notorisch wenig weiß. Es bedürfte eines unverhältnismäßig hohen Aufwands, um die Lage zu klären. Hinzu kommt, daß die deutschen Gerichte den rumänischen Behörden offensichtlich nicht recht trauen und zögern, deren Auskünfte und Forschungsergebnisse als Beweismittel anzuerkennen. Tatsächlich scheinen sie nicht einmal den Securitate-Akten selbst zu trauen.
Unter diesen Umständen kann ein sachgerechtes Urteil kaum gefunden werden; ein Argument scheint so gut wie das andere, und die Anwälte können alles nur Mögliche behaupten. Es ist vielleicht nicht verwunderlich, daß die Richter in diesem Fall sich für das Persönlichkeitsrecht entscheiden, das in unserer Gesellschaft in höchstem Ansehen steht und mit dem man sozusagen nichts falsch macht. Sie entscheiden damit zugunsten des als Spitzel Verdächtigten – der so den Verdacht zum Schweigen bringen kann, ohne daß mit letzter Sicherheit geklärt wurde, ob er zu Recht oder zu Unrecht besteht.
Das Nachsehen haben die Opfer, die hier die Beklagten sind: denn sie sind von den mit dem Urteil einhergehenden Äußerungsverboten und Publikationseinschränkungen in erster Linie betroffen. Es drängt sich unmittelbar die Frage auf, ob nicht ihr Persönlichkeitsrecht hier letztlich auf der Strecke bleibt. Selbstverständlich haben sie den Wunsch, mit dem Ergebnis ihrer Studien an die Öffentlichkeit zu treten und diese wissen zu lassen, wen sie nach Lage der Akten der früheren Geheimdienst-Mitarbeit verdächtigen: Denn diese geheime Mitarbeit hatte wesentlich beigetragen zu den Verhaftungen, Gefängnisstrafen, Berufsverboten und Zersetzungen, denen sie einst unterworfen waren. Sie aber haben keine Möglichkeit, die an ihnen verübten Verbrechen vor Gericht einzuklagen; es ist einer jener Fälle, für die es keine rechtliche Grundlage gibt. Wenn ihnen nun untersagt wird, ihre Verfolgungsgeschichten zu veröffentlichen, beraubt man sie des einzigen Mittels, mit dem sie auf das ihnen geschehene Unrecht aufmerksam machen können.
Mildernde Umstände
Dem Münchner Gericht mußte klar sein, wie empfindlich sein Urteil die Aufarbeitungsbemühungen der rumäniendeutschen Schriftsteller treffen würde. Fast könnte man meinen, es wollte ihnen nahelegen, die Abrechnung mit den Spitzeln und Denunzianten am besten ganz bleiben zu lassen. Eine solche Botschaft entspräche jedenfalls einer Tendenz, die sich nicht nur bei Gerichten, sondern allgemein in der Öffentlichkeit beobachten läßt. Diese nämlich legt nicht selten eine merkwürdige Unsicherheit, ja Widersprüchlichkeit im Umgang mit Spitzeln an den Tag. Wiewohl sie auf Enttarnungen ehemaliger IMs regelmäßig mit einem Skandal reagiert, ist sie fast ebenso regelmäßig bereit, alle möglichen mildernden Umstände in der Beurteilung der Enttarnten geltend zu machen. In den seltenen Fällen, in denen ein Spitzel sich selbst enttarnt, kann er damit rechnen, nicht nur verständnisvoll angehört, sondern sogar gelobt und bewundert zu werden. Als der Dichter Werner Söllner […] sich 2009 auf einer Münchner Tagung als IM »Walter« zu erkennen gab (nach jahrzehntelangem Schweigen und kurz bevor die Sache von anderer Seite bekanntgegeben werden sollte), wurde er umgehend gebeten, aufs Podium zu steigen und sich neben die Veranstalter zu setzen. Dort erklärte er mit stockender Stimme, er sei damals noch so jung gewesen und habe sich der Securitate einfach nicht zu widersetzen gewußt. Die Zuhörer waren gerührt, sie zeigten Mitgefühl und Verständnis. Sie vergaßen, daß jene, die Söllner bespitzelt und die sich selbst nicht mit der Securitate eingelassen hatten, damals ebenso jung waren wie er.
Im Handumdrehen werden aus Tätern Opfer: ein mittlerweile bekanntes, aber stets noch ungeklärtes Phänomen. Es ist dazu nicht einmal notwendig, daß der Täter ein Geständnis ablegt; es reicht, daß seine Täterschaft nicht recht ins Bild paßt. Als im Oktober 2010 bekannt wurde, daß auch Oskar Pastior in den sechziger Jahren für die Securitate gespitzelt hatte, war die Bestürzung groß. Pastior war damals schon seit einigen Jahren tot. Auch er hatte in den Jahrzehnten nach seiner Ausreise aus Rumänien niemandem etwas von seiner IM-Tätigkeit erzählt. Momentweise schien es, als würde nun, nach der Entdeckung, die allgemeine Wertschätzung und Hochachtung, die man dem Büchner-Preisträger und neben Herta Müller berühmtesten rumäniendeutschen Dichter entgegenbrachte, in ihr glattes Gegenteil umschlagen. Doch auf einer Tagung, die 2012 zur Klärung eben dieses Problems veranstaltet wurde, war die versammelte Pastior-Gemeinde sich weitgehend einig darüber, daß es eigentlich gar keinen Grund zur Aufregung gäbe: Die wenigen Spitzel-Berichte, die Pastior verfaßt hat (nur sechs sind bisher gefunden worden), seien denkbar dürr und informationsarm; und generell sei die große Angst, unter der Pastior in Rumänien jahre- oder gar jahrzehntelang gelitten habe, bei der Beurteilung seiner Spitzel-Tätigkeit unbedingt zu berücksichtigen ("Versuchte Rekonstruktion «, Sonderband Text+Kritik, XII /12).
Nun ist das im Fall Oskar Pastiors sicher nicht ganz verkehrt: Er war durch seine fünfjährige Lagerhaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit schwer vorbelastet und mußte in den düsteren stalinistischen sechziger Jahren ständig mit Inhaftierung rechnen, sei es wegen seiner (verheimlichten) Homosexualität, sei es wegen seiner angeblich subversiven Gesinnung. Außerdem scheint es tatsächlich so, als habe er sich durch seine siebenjährige IM-Zeit lavieren können, ohne größere Schuld auf sich zu laden.
Gleichwohl führt die verbreitete Praxis der mildernden Umstände – die meist psychologisch begründet werden – uns in eine Lage, in der wir schließlich nicht mehr wissen, wie wir das Ausspionieren überhaupt beurteilen sollen. Muß denn jeder Spitzel persönlich überprüft werden, bevor wir sein Tun verurteilen? Müssen wir grundsätzlich seine Psyche, seine Biographie, seinen Charakter berücksichtigen? Müssen wir immer erst fragen, ob er irgendwann ein Trauma erlitten hat? Wohin führt das? Wo ist die Grenze? Einer ist traumatisiert, ein andrer blutjung, einer hatte eine schlimme Kindheit, dieser ist ein Trinker, jener ein Genie und deshalb nicht mit normalem Maß zu messen. Sollen wir sie alle entschuldigen?
Es liegt auf der Hand, daß das weder sinnvoll noch praktikabel ist. Intuitiv wissen wir, daß Bespitzelung grundsätzlich zu verurteilen ist und wir nur in seltenen, wohlbegründeten Fällen eine Ausnahme machen können. Aber nach welchen Kriterien gehen wir vor, wenn wir keine Ausnahme machen, wenn wir also den Normalfall beurteilen sollen? Was werfen wir Spitzeln eigentlich vor? Verrat, Unehrlichkeit, mangelnde Solidarität? Doppelgesichtigkeit? Oder nehmen wir ihnen übel, daß sie sich auf die Seite der Mächtigen schlagen? Tatsächlich stellt sich schnell heraus, daß der Normalfall beinahe noch schwerer zu begründen ist als der Ausnahmefall. Was sollen wir etwa von einem Spitzel oder Denunzianten halten, der von seinem Tun überzeugt ist und es politisch und ethisch für gerechtfertigt hält? Es hat unter den IMs in der DDR immer wieder solche gegeben, die behaupteten, ehrlich an die Staatsdoktrin geglaubt und sie gegen die »zersetzenden Elemente« verteidigt zu haben. Wenn wir jedoch bereit sind, solchen Überzeugungs- oder auch Verblendungstätern mit Nachsicht zu begegnen, müßten wir dann mit den überzeugten Denunzianten des Nazi-Regimes nicht ebenso verfahren? Dazu ist man jedoch heute im allgemeinen nicht mehr bereit; möglicherweise deshalb, weil das Ausspionieren und Denunzieren eines Nachbarn oder Kollegen bei den Nazis sehr viel öfter zu dessen Tod führte als in der DDR oder im Ceauşescu-Regime, wo »nur« Verhöre, Verhaftungen, Berufsverbote oder Ausweisung zu befürchten waren. Haben wir also Verrat und Denunziation nach der Schwere der Folgen zu bewerten, die sie bewirken? Sollen wir einen Spitzel danach beurteilen, welchen Schaden er angerichtet hat – und ist dann auch nur jener wirklich zu verurteilen, dem die Verursachung eines Schadens nachgewiesen werden kann?
Unsere Justiz scheint sich für diese Lösung entschieden zu haben. Theoretisch verfolgt sie strafrechtlich (nach § 241a StGB) solche »politischen Anzeigen oder Verdächtigungen«, die zu schweren Verstößen gegen die Menschenrechte führten. Aber solche Verstöße sind so gut wie nie nachzuweisen. In den seit 1989 gegen DDR-Denunzianten durchgeführten Verfahren wurde kein einziger strafrechtlich verurteilt. Alle anderen Verfahren sind zivilrechtlicher Art […], in denen ebenfalls keine politischen Denunzianten verurteilt werden, sondern nur ein fälschlich oder zumindest nicht beweiskräftig als Spitzel Beschuldigter um seine Persönlichkeitsrechte kämpfen darf. Es bleibt also nichts anderes als das moralische Urteil. Doch wie man sehen wird, ist es auch um dieses nicht gut bestellt.
Loyalität
Einer, der sich diesen Fragen literarisch und essayistisch immer wieder zugewandt hat, ist Bernhard Schlink. Schlink ist nicht nur ein weltweit bekannter Schriftsteller, sondern auch Professor für Öffentliches Recht und zudem Verfassungsrichter. Auch ihn interessiert der Verrat jedoch nicht in juristischer, sondern in menschlich-moralischer Hinsicht. Dabei spielt der politische Verrat für ihn offenbar keine gesonderte Rolle, er ist nicht grundsätzlich von anderen Fällen des Verrats zu unterscheiden, zum Beispiel dem eines Mannes an seiner Ehefrau. In einem Essay legt Schlink dar, daß Verrat dort geschieht, wo ein Loyalitätsverhältnis vorliegt. Die Loyalität ist sozusagen der moralische Wert, der im Verrat verletzt wird – und den wir deshalb auch als verletzend empfinden. Loyalität erscheint hier als ein elementarer, ja fundamental-psychologischer Wert; denn »unsere Loyalitäten konstituieren unsere Identität«, schreibt Schlink. Schwierig wird es dort, wo sich, wie heutzutage fast überall, verschiedene Loyalitäten in ein und demselben Menschen vereinen. Nicht, weil sich dadurch Konflikte ergeben können – das passiert zwar immer wieder, ist aber nicht notwendig der Fall –, sondern weil der Verrat nicht mehr als Verrat empfunden wird; denn die Identität ist gespalten. Als »Beleg« dafür, »daß die Beschäftigung mit Verrat im Kern eine Beschäftigung mit Loyalität und Identität ist«, führt Bernhard Schlink die Fälle der Schriftsteller Sascha Anderson und Knud Wollenberger an. Beide sind eklatante Beispiele für die loyale Gespaltenheit des modernen Menschen. Sie erinnern an jene Kapitäne oder Geschäftsleute, »von denen man gelegentlich lesen kann, die viel in der einen und viel in der anderen Stadt zu tun und hier wie dort eine Familie haben «, schreibt Bernhard Schlink. »Sie sind liebevolle Partner und engagierte Väter, erfüllen, weil nicht immer präsent, ihre Pflichten sogar besonders liebevoll (…). Sie empfinden sich als loyal. Schaden sie einer ihrer Frauen, einem ihrer Kinder? Geben sie nicht jeder der beiden Familien, was eine Familie (…) erwarten kann? So nahm auch Sascha Anderson einerseits am Leben und an den Arbeiten der Künstler- und Schriftstellerkollegen interessiert und engagiert Anteil und setzte andererseits die Staatssicherheit kundig ins Bild; so war Knud Wollenberger einerseits ein liebevoller Ehemann, andererseits ein verläßlicher Informant. Auch sie fanden, daß sie gaben, was die anderen brauchten, und niemandem schadeten, sondern sogar nützten, indem sie Sachverhalte, die die Staatssicherheit leicht hätte mißverstehen können, so übersetzten, daß sie keine falschen Reaktionen auslösen konnten.« ("Der willkommene Verrat«, hg. von Michael Schröter, Weilerswist 2007)
Mit den Beispielen von Anderson und Wollenberger gibt Schlink uns Gelegenheit, von der Opferseite zur Täterseite zu wechseln. Wir bekommen jedoch auch hier keine Kriterien dafür genannt, wie Täter moralisch zu beurteilen sind. Schlink legt uns vielmehr nahe, die Täter zu verstehen. Das fällt nicht schwer, solange wir der inneren Perspektive ihrer Loyalitäten und deren Implikationen folgen. Die Rekonstruktion der psychischen Vorgänge ergibt in den allermeisten Fällen ein schlüssiges Bild, das begreiflich macht, weshalb der Täter so gehandelt hat. Es ist sogar typisch für die »innere« Sicht des Vorgangs, daß er einer geradezu zwingenden Kausalität zu unterliegen scheint: als habe der Täter gar keine andere Wahl gehabt. Es scheint, als könne man ihn gar nicht verurteilen. Der ganze moralische Wertekatalog mit seinen Imperativen wirkt plötzlich steif und abstrakt, ja nahezu gewalttätig, wenn man versucht, ihn auf den konkreten Einzelfall anzuwenden. Offenbar prävaliert auch im Moralischen das Persönlichkeitsrecht, das sich naturgemäß auch auf die Identität und die sie konstituierenden Loyalitäten erstrecken muß.
Aber spielt Loyalität tatsächlich eine so fundamentale Rolle, wenn ein Mensch einen anderen verrät? Wir gehen üblicherweise doch von etwas ganz anderem aus: Wir nennen einen Spitzel auch dann einen Spitzel, und zwar in einem durchaus negativen Sinn, wenn er seinem Opfer gegenüber auch nicht einen Funken von Loyalität verspürt. Er muß sein Opfer weder achten noch mögen, kann es sogar gründlich verabscheuen: Wir finden es trotzdem nicht in Ordnung, wenn er es ausspioniert und seine Kenntnisse heimlich weitergibt, etwa an einen Geheimdienst. Umgekehrt nennen wir einen Menschen auch dann einen Spitzel, wenn er aus ehrlich empfundener Loyalität gegenüber dem Geheimdienst handelt: Er müßte trotzdem wissen, daß er sich niemals in dieser Weise über das Leben seiner Mitmenschen hinwegsetzen darf. Wir beziehen uns dabei nicht auf moralische Werte oder Imperative. Was wir verurteilen, ist die Handlung selbst, und zwar nicht wegen eines Wertes, den sie mißachtet, sondern ganz einfach wegen ihrer praktischen Unanständigkeit.
Tatsächlich ist der Umweg über die »Werte« eher hinderlich und verunsichernd. Die Moral ist ein unmittelbares, konstitutives Element unserer Daseinspraxis, wir müssen nicht erst zu ihr verpflichtet werden, etwa über Imperative oder innere Konditionierungen wie zum Beispiel Loyalität. Anders gesagt: Moral ist Teil der Normalität. Es ist für uns normal und selbstverständlich anzunehmen, daß unsere Mitmenschen uns nicht systematisch belügen, wenn wir mit ihnen zu tun haben, daß sie uns Informationen, die uns persönlich angehen, nicht absichtlich verschweigen, daß sie im unmittelbaren Umgang mit uns nicht strategisch vorgehen, daß sie uns in unserer Lebensplanung nicht hinterrücks behindern, uns nicht mutwillig in Gefahr bringen. Die Liste könnte noch lange fortgesetzt werden. Entscheidend ist, daß man dafür keine Loyalität benötigt, und man braucht auch sonst keinen besonderen Grund oder Anreiz, um sich so zu verhalten, wie wir es selbstverständlich erwarten.
Auch der Zustand der Psyche hat damit zunächst nichts zu tun. Man wird nicht dadurch zum Täter, daß man seelisch zu schwach, zu jung oder zu verängstigt ist, um die Regeln einhalten zu können. Die Regeln, von denen hier die Rede ist, sind keine Verhaltensnormen oder Ideale, nach denen sich der einzelne strecken und recken müßte; sie erfordern überhaupt keine besondere Anstrengung. Im Gegenteil, sie sind die Grundlage unseres Handelns, und wir wären ohne sie schlechthin orientierungslos. Es gibt natürlich Fälle solcher Orientierungslosigkeit, wenn der psychische Zustand eines Menschen so schwer beeinträchtigt ist, daß ihm auch die normale Lebenspraxis nicht mehr möglich ist. Aber das ist in der Regel nicht der Zustand, in dem unsere Spitzel sich befanden.
Im übrigen steht auch auf seiten der Opfer keineswegs die psychische Verletzung oder Schädigung im Vordergrund. Nicht daß der Spitzel sein Opfer enttäuscht oder verletzt hat, daß er die Freundschaft verraten, die Loyalität gebrochen, das Vertrauen mißbraucht hat, ist entscheidend. Wäre ihm nichts weiter vorzuwerfen als das, so würde das Ganze sich von einem privaten zwischenmenschlichen Konflikt kaum unterscheiden, und wir hätten keinen Grund, öffentlich darüber zu verhandeln oder gar eine Aufarbeitung anzustreben. Erst die Tatsache, daß sie systematisch und zersetzend in die praktische Lebensplanung ihrer Opfer eingreifen, macht die Spitzel zu Tätern. Das ist auch der Punkt, an dem sie sich von den Kapitänen oder Geschäftsleuten mit Familien in verschiedenen Städten unterscheiden. Während letztere, wenn auch mit Verstellung, Lüge und Betrug, ihre Opfer immerhin in der praktischen Lebensführung positiv unterstützen und um ihr Wohl besorgt sind, besteht das Geschäft der anderen darin, diese Lebensführung systematisch zu zerstören.
Damit zeichnet sich deutlich ab, was für die Ausübung einer Spitzel- bzw. IM-Tätigkeit erforderlich ist. Wir dürfen uns diese Tätigkeit keinesfalls als ein bloß verschrecktes Nachgeben vorstellen. Es reicht nicht aus, daß der Spitzel Angst hat, daß ihm gedroht wird, daß er verwirrt ist oder nicht weiß, wie er sich der Sache widersetzen soll: Er muß in jedem Fall eine Menge kriminelle Energie aufwenden, um seine Tätigkeit auszuüben und ins Werk zu setzen, und er muß diese Anstrengung nicht nur einmal, nicht nur anfänglich erbringen, sondern wieder und wieder: jedesmal, wenn er seinen Freund und Kollegen ausspioniert, ihm gezielte Fragen stellt, ihm verschweigt, daß seine Wohnung verwanzt ist, heimlich seine Manuskripte zur Securitate trägt, Notizen macht, Berichte schreibt … Er hat viel zu tun. Selbst wenn er aus irgendeinem Grund von seinem Tun überzeugt ist, muß ihm doch geradezu stündlich auffallen, wie sehr er damit den Regeln des normalen menschlichen Umgangs zuwiderhandelt.
Wahr ist, daß totalitäre Regime die normale, an den praktischen Lebensformen orientierte Moral zu untergraben suchen. Sie ist einer ihrer stärksten Gegenspieler, denn das unsichtbare Netz der traditionellen Lebensformen macht eine Gesellschaft autark. Die gewachsenen Strukturen zu zerstören ist nicht leicht. Ihretwegen müssen totalitäre Regime einen immensen, ständig wachsamen Unterdrückungsapparat unterhalten, ihretwegen müssen sie – ja, gerade sie – strikte Loyalität bei ihren Bürgern durchsetzen, meistens mit Gewalt. In einer demokratischen Welt ist es grundsätzlich jedem freigestellt, ob und wem gegenüber er loyal sein will, gleich welche bedeutsame Rolle die Loyalität für die sozialen Identitäten einnehmen mag. Für die Konstitution der Moral ist Loyalität nicht entscheidend.
Doch wir Demokraten drohen die Moral auf unsere eigene Weise auszuhebeln, indem wir sie auf den »inneren« Schauplatz der Psyche verlagern und sie damit privatisieren. Es ist ein verbreiteter Irrtum zu meinen, die Bedingungen der Moral müßten im »Inneren« des Individuums verankert sein. Die Moral ist ein durch und durch »äußeres« Geschehen, sie ist ebenso ein Gemeingut wie etwa die Sprache. Nur als gemeinsame Praxis hat sie überhaupt einen Sinn: eine »Privatmoral« ist ein ebensolches Unding wie eine Privatsprache. Und so wenig sich die Regeln der Sprache »in« uns konstituieren, so wenig finden wir dort die Kriterien für das, was zu tun richtig oder falsch ist.
Doch wiewohl die Moral ein »äußeres« Geschehen ist, hat sie keinerlei Ähnlichkeit mit einer Straßenverkehrsordnung oder sonst einem Kodex. Was moralisch richtig oder falsch ist, wird nicht durch Vorschriften oder Imperative bestimmt. Der moralisch Handelnde befindet sich eher in der Situation eines Schachspielers, der herausfinden muß, welcher Zug der richtige ist, oder eines Komponisten, der sich für einen Akkord entscheiden muß. Es gibt fast immer mehrere Möglichkeiten, niemand schreibt ihm vor, was zu tun ist: und doch fällt sofort auf, wenn er das Falsche tut.
Moral ist niemals etwas, das zum intendierten Handeln erst »hinzukommt« – so wenig wie die Schachregeln zum Schach, die Harmonielehre zur Musik oder die Grammatik zur Sprache hinzukommen. Wir könnten nicht sprechen, wenn uns nicht mit der Sprache selbst auch schon die Gegenwarts- und Vergangenheitsformen, die Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Wunschformen gegeben wären, und vieles mehr. Wir könnten nicht handeln, wenn nicht in jeder Handlung die Formen der Moral impliziert wären.
Die Regeln der Moral sind nicht dazu da, Grenzen zu setzen oder uns in die Schranken zu weisen – so wenig wie die Regeln der Sprache uns begrenzen oder beschränken. Im Gegenteil: sie strukturieren die Welt, sie schaffen die Wege, auf denen wir sie begehen und miteinander agieren können. Sie konstituieren die Normalität unseres gemeinsamen Daseins.
An dieser Normalität sollte jede Handlung gemessen werden – nicht an den inneren Konditionen der Individuen; denn diese bezeichnen nur den Sonderfall. Wenn wir uns daran nicht halten, laufen wir Gefahr, nicht mehr dieselbe Sprache zu sprechen und einander nicht mehr zu verstehen: Opfer und Täter, Justiz und Gesellschaft, Schriftsteller und Leser, der eine und der andere.
SINN UND FORM 3/2014, S. 307-319
I Drei- oder sogar viermal in ihrem Leben kam Ingeborg Bachmann nach Rom, um hier eine Weile zu leben. Wir waren immer schon da: in den fünfziger (...)
LeseprobeKienlechner, Sabina
Ingeborg, ein letztes Mal
I
Drei- oder sogar viermal in ihrem Leben kam Ingeborg Bachmann nach Rom, um hier eine Weile zu leben. Wir waren immer schon da: in den fünfziger Jahren, als sie Rom zu ihrer »Wahlheimat« machte (in Wahrheit aber kam und ging wie ein Zugvogel), dann 1960, als sie und Max Frisch sich hier als Paar niederließen (für etwa zwei Jahre), und schließlich von 1965 bis zu ihrem Tod 1973, als sie nicht mehr nur sporadisch, sondern »fest«, wie wir, als Ausländerin und Exterritoriale in Rom lebte.
In allen Perioden ihres römischen Lebens kam sie uns besuchen. Wir wohnten in einer etwas verblichenen Jugendstil-Villa am Rande der Stadt, umgeben von einem großen, verwilderten Garten mit Gipsstatuen darin: Wenn man um die hochgeschossenen Buchsbaumhecken bog, stand man plötzlich vor Paulina Borghese, Cäsar, den Dioskuren. Viele deutsche Schriftsteller und Dichter kamen zu uns, früher oder später waren fast alle mal in Rom oder lebten sogar eine Weile hier. Manche besuchten uns nur einmal, andere kamen häufig, oder man traf sich zu Spaziergängen in der Campagna. Damals hätte ich mir nicht vorstellen können, daß Jahrzehnte später jemand fragen würde: »Wer war Ingeborg Bachmann?«, wie Ina Hartwig in ihrer »Biographie in Bruchstücken« von 2017. Für uns war sie einfach Ingeborg, oder manchmal auch: die Bachmann. Ich möchte noch ein paar Bruchstücke hinzufügen und bei dieser Gelegenheit einige Passagen aus einem Brief wiedergeben, den meine Mutter Toni Kienlechner an Ingrid Bachér schrieb, nachdem Ingeborg Bachmann gestorben war. Und vielleicht gelingt es mir am Ende zu erklären, warum man in Rom so viel leichter leben – und auch leichter sterben konnte als zum Beispiel in Wien, Berlin oder Zürich.
II
Ich war damals, als Ingeborg uns die ersten Male besuchte, noch ein Kind, dann eine Jugendliche, und meine Erinnerung ist entsprechend anders und dürftiger als die der Erwachsenen, die mit ihr über wichtige Dinge sprachen. Aber ich hatte, weil ich nichts zu sagen hatte, viel Zeit, sie zu beobachten, und ihr Eindruck auf mich war nicht minder stark als der auf die Erwachsenen. Ich habe ihre Verwandlung im Laufe der Jahre genau registriert: daß sie erst akkurat so aussah, wie wir uns eine »deutsche Dichterin« vorstellten, mit schlichtem, braunfransigem Bubikopf, daß sie dann, während wir Kinder heranwuchsen, immer schicker, blonder und »italienischer« wurde, à la mode, zuweilen bunt wie ein Papagei, andere Male schwarzschillernd wie Patty Pravo. Ich habe bemerkt, daß sie ab einem gewissen Zeitpunkt nur noch in vollkommener Aufmachung ihre Wohnung verließ, und immer seltener. Bei sich zu Hause, wo sie nur noch vertraute Personen und solche, die nichts zu sagen hatten, einließ, traf man sie nachlässig an, ungeschminkt, oft im Bett und immer verstört, fast panisch, aber hingebungsvoll freundlich und buchstäblich suchend nach Worten der Freundlichkeit. Mehrmals habe ich beobachtet, wie sie heiterer wurde, während meine Mutter an ihrem Bett saß und mit ihr sprach, wie sie nach einer Weile heraussprang, wegen eines kleinen »Whiskerl« für sich und den Besuch, Zigaretten lagen ohnehin auf dem Nachttisch. Dann, als sie wieder zu Leben gezogen war, wurde das Zusammensitzen aufgehoben. Die Ängste, die sie geplagt hatten, waren für diesmal vorüber.
Wenn sie uns besuchte, kam sie stets allein; auch in ihrer Zeit mit Max Frisch. Auch er besuchte uns gelegentlich, aber nie zusammen mit Ingeborg. Er kam, wenn sie verreist war, was häufig der Fall war. Ingeborg achtete sehr darauf, ihre Freunde und Bekannten zu separieren und sich nach Möglichkeit jedem gesondert zuzuwenden. Meine Schwester und ich beobachteten sie einmal unbemerkt, als wir sie zufällig über die Piazza di Spagna laufen sahen. Sie hatte eine auffällig schillernde, enge Hose an und schritt zielstrebig aus, die Haare waren streng nach hinten gekämmt zu einem hochsitzenden langen Zopf, der nicht ihrer war, und auch das Gesicht war merkwürdig verändert durch ein Paar künstlicher Wimpern, die ihr dickschwarz an den Augen klebten. Wir staunten. Das dort war unzweifelhaft Ingeborg, aber zugleich eine ganz andere Person als die, die wir kannten, bis hinein in ihre Bewegungen: Sonst bewegte sie sich eher zögerlich, mit kurzsichtiger Behutsamkeit, nichts Forsches oder Zielstrebiges schien ihr eigen. Es berührte uns merkwürdig, sie so verändert zu sehen, sie war offensichtlich eine Rollenspielerin, und in unserem noch halbkindlichen Alter kam uns das vor wie eine Unehrlichkeit, eine Art Betrug. Vielleicht stellten auch wir uns damals, ohne es recht zu begreifen, die Frage: Wer war Ingeborg Bachmann, wer war sie wirklich?
Wie naiv, ja töricht diese Frage tatsächlich war, zeigte sich in den Wochen, als sie im Sterben lag und ihre Freunde und Bekannten im Vorraum des Krankenhauszimmers unversehens zusammentrafen, etliche zum ersten Mal. Hier stellte sich heraus, daß sie für jeden eine andere war, und eine große Verwirrung erfaßte die besorgte Besucherschar. Es muß ihnen zumute gewesen sein wie nach einer Blendung, wenn die Augen sich langsam wieder an die Dunkelheit gewöhnen: dunkel war es, weil Ingeborg über jeden ihrer Schritte einen Schatten der Diskretion und Verschwiegenheit gelegt hatte; geblendet waren sie, weil sie jedem gegenübergetreten war, als sei er der einzige, Wichtigste, tatsächlich die einzig wichtige Begegnung in ihrer Welt. Das hat sie »hingekriegt«, und in dieser Antinomie der Beziehungen irrten ihre Freunde, Verwandten und Gefährten nach ihrem Tod herum, trafen sich, merkten, daß sie zu wenig und nur Widersprüchliches von ihr wußten, verstritten und verloren sich, teils für immer.
[…]
SINN UND FORM 3/2018, S. 308-319, hier S. 308-310
Tübingen, um 1825 Es heißt, er sei sehr gerne spazierengegangen, er war ein großer, kräftiger Mann und litt unter dem chronischen Mangel an (...)
LeseprobeKienlechner, Sabina
Deutschland Abendland
Tübingen, um 1825
Es heißt, er sei sehr gerne spazierengegangen, er war ein großer, kräftiger Mann und litt unter dem chronischen Mangel an Bewegung. Manchmal erbarmte sich jemand seiner und führte ihn hinaus aufs Feld vor die Tore der Stadt. Dort pflückte er Blumen, ganze Sträuße, zerriß sie sodann in kleine Stücke und steckte sie in die Hosentasche. Wenn man ihm griechische Verse vorlas, lachte er und sagte: »Das versteh ich nicht! Das ist Kalamattasprache.« Wenn man ihn fragte, wie er heiße, sagte er: »Killalusimeno. Oui, Eure Majestät.« Andere Male sagte er: »Buonarotti«, meistens aber: »Scardanelli, oder Scaliger Rosa oder so was.«
Nur »Hölderlin« wollte er nicht genannt werden, da wurde er rasend vor Wut. Auf Bestellung verfaßte er bereitwillig kleine Oden und Hymnen, im feinen antiken Versmaß, die er mit »Scardanelli« unterschrieb. Wenn jemand ihn um ein Gedicht bat, sagte er etwas wie: »Oui, Sie befehlen das« und: »Soll ich über Griechenland, Frühling, Zeitgeist?« Dann stellte er sich ans Schreibpult, schrieb fließend mit der Rechten die Verse nieder und klopfte mit der Linken den Takt auf das Holz. Er war noch immer ein unfehlbarer Metriker.
In Wahrheit beherrschte er auch die Kalamattasprache sehr gut, wahrscheinlich auch jetzt noch. Sein Leben lang hatte er sich mit kaum etwas anderem so intensiv beschäftigt wie mit dem Land der Griechen. Aber er selbst war nie in Griechenland gewesen. Für seinen »Hyperion« hatte er zwei englische Reisebeschreibungen gelesen und, so gut es ging, die seit 1770 immer wieder aufflakkernden Aufstände gegen die osmanische Herrschaft verfolgt. Sonst wußte er über die griechische Antike zwar sehr viel, über das moderne Griechenland aber vermutlich nur wenig; kein Wort über die Armut der Bevölkerung, den Analphabetismus, die Rückständigkeit des Landes. Das interessierte ihn auch gar nicht. Was ihn dagegen brennend interessierte: mit seiner Dichtung etwas ebenso vollendet Schönes zu schaffen, wie es den antiken griechischen Künstlern und Dichtern gelungen war. Und zwar ohne sie einfach nur nachzuahmen – darauf kam es an.
Das zu wollen, ja nur zu denken, war neu, kühn und über die Maßen schwierig. Es forderte die klügsten Köpfe der Zeit heraus. Denn es mußte tatsächlich eine vollkommen neue Denkungsart gefunden werden.
Rom, 1755
Es war etwa ein Menschenalter her, daß Johann Joachim Winckelmann den Deutschen die antiken griechischen Kunstwerke ans Herz gelegt hatte: aber nicht als etwas, das nur schön anzusehen war, sondern als das transzendentale Ereignis der Kunst schlechthin. Seine »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst« waren wie ein Erdbeben oder ein Vulkanausbruch. Nicht nur führte Winckelmann seinen Landsleuten einen neuen, höchst plastischen, ja kunstlüsternen Blick auf die griechischen Werke vor, er erklärte ihnen auch, warum diese Kunst so vollkommen und absolut unübertrefflich war. Das liege nämlich an der Natur der Griechen und an dem »sanften und reinen Himmel« Griechenlands, wo die schönen jungen Leute an den Gestaden spielten und »nackend« in den Gymnasien ihre Leibesübungen trieben, ohne »pressende und klemmende Kleidung«, schon die Säuglinge trügen keine Windeln, keine Krankheiten zerstörten die schönen Körper, man studierte die Umrisse, die Wendungen der Körper, die Abdrücke der jungen Ringer im Sand. Es ist außerordentlich viel von Körpern die Rede in dieser Schrift. Winckelmanns Blicke gleiten über die »sanft gezogene Haut« und die »schwellenden Adern« der Marmorstatuen und dringen mühelos vor bis in die Tiefenschichten der gesunden Muskulatur.
Die Zeitgenossen staunten; dergleichen hatten sie noch nicht gelesen. Zwar war auch Winckelmann zeit seines Lebens niemals in Griechenland; aber seit 1755 lebte er in Rom. Daß die »griechischen« Skulpturen, die er dort studierte, in Wahrheit römische Kopien von verschollenen Werken waren, ahnte er nicht. Aber das war alles nicht wichtig: Winckelmann brauchte weder das reale Griechenland noch die griechischen Originale, und eigentlich auch nicht einmal das reale Rom. Egal wo er hinkam, überall war Griechenland. Dreizehn Jahre lang wirkte Winckelmann dergestalt in Rom und sandte von dort ein kunstvolles »Sendschreiben« nach dem anderen nach Deutschland. Auf eine zugleich autoritäre und wollüstige Art bearbeitete er die Zeitgenossen so lange, bis sie fast meinten, selbst alte Griechen zu sein.
Indes wurde ihnen alsbald klar, was die römischen »Sendschreiben« in Wahrheit bedeuteten. Winckelmann schrieb ja nicht einfach über die griechischen Kunstwerke, sondern, wie der Titel schon sagte, über deren Nachahmung. Und gleich auf den ersten Seiten war zu lesen: »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.« In einem ganz bestimmten Sinn war das verheerend. Um es in einem Bild auszudrücken: Dem Winckelmannschen Vulkanausbruch, der die deutschen Künstler, Dichter und Denker aus ihren Häusern getrieben hatte, folgte eine pyroklastische Wolke; und als sich Glut und Asche gelegt hatten, standen sie mitsamt ihrer Kunst versteinert da, für alle Zeit gebannt in die Pose der griechischen Antike.
Frankfurt, 1797
Einer, den das besonders störte, war Hölderlin. Er war nicht der einzige; aber von einer »Knechtschaft, womit wir uns verhalten gegen das Altertum« hatte außer ihm wohl noch keiner gesprochen. Für ihn nahm diese Knechtschaft geradezu dramatische Züge an. Das Problem war: Hölderlin war selbst ein hingebungsvoller Verehrer der griechischen Dichtung und Kunst, er ging förmlich darin auf und zweifelte keinen Augenblick an ihrer Vorbildlichkeit. Vom Prinzip der Nachahmung hielt er dennoch nichts. »Es scheint wirklich fast keine andere Wahl offen zu seyn«, schrieb er, als »erdrükt zu werden von Angenommenem, Positivem, oder, mit gewaltsamer Anmaßung, sich gegen alles erlernte, gegebene positive, als lebendige Kraft entgegenzusezen«. Eine solche gewaltsame Anmaßung aber war ihm nicht weniger zuwider als das Prinzip der Nachahmung. Dagegen sehnte er sich verzweifelt nach dem Eigenen, »Lebendigen« ("Ich fühle so tief, wie weit ich noch davon bin, es zu treffen, und dennoch ringt meine ganze Seele danach und es ergreift mich oft, daß ich weinen muß, wie ein Kind«, schreibt er an einen Freund), aber er hatte keine Ahnung, wie er sich gegen das Diktat der »griechischen Vortrefflichkeit« behaupten könnte ("Weißt Du mir einen guten Rat, so gieb mir ihn«).
Es dauerte Jahre, bis er eine Lösung fand. Sie zeichnete sich erst ab, als ihm klarwurde, daß das antike Griechenland ja längst untergegangen war. Diese Erkenntnis war weit weniger banal, als sie klingt, denn sie bedeutete, daß auch die Schönheit der Griechen untergegangen war; und das zu denken war alles andere als selbstverständlich. Selbstverständlich schien vielmehr, daß das Schöne als Ideal gar nicht untergehen konnte – so wenig, wie etwa auch das Gute, das Wahre, das Edle und, umgekehrt, das Böse, Verwerfliche nicht einfach irgendwann »untergingen« oder hinfällig wurden.
Ein zeitloses griechisches Schönheitsideal aber war nicht aufrechtzuerhalten, wenn man selbst eine lebendige, ursprüngliche Kunst hervorbringen wollte: In diesem Fall müßte die Kunst sich schon auf ihren eigenen Ursprung besinnen, und der war eben weder griechisch noch antik. »Ich habe lange daran laborirt«, schreibt Hölderlin, »und weiß nun, daß außer dem, was bei den Griechen und uns das höchste seyn muß, nemlich dem lebendigen Verhältnis und Geschik, wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen.« Mit anderen Worten: Lebendigkeit und künstlerisches Können waren die einzigen Konstanten, alles andere mußte sich wandeln.
Was aber bedeutete das? Es wurde Hölderlin schnell klar, daß es wenig Sinn hatte, als einzelner Künstler einen solchen Wandel vollziehen und etwas Eigenes, »Lebendiges« schaffen zu wollen. Solange die übrige Welt am griechischen Vorbild und am Prinzip der Nachahmung festhielt, würde man ihn schlicht nicht verstehen. Es galt vielmehr zu begreifen, daß die griechische Kunst selbst zwar sehr wohl lebendig war, daß aber ihre Nachahmung niemals lebendig sein konnte: eben weil sie nichts »Eigenes« war. Um eine ebenso lebendige Kunst hervorbringen zu können wie einst die Griechen, war es unbedingt notwendig, von der Nachahmung Abstand zu nehmen und sich auf das Eigene zu besinnen – selbst um den Preis, daß die eigene Kunst dann um vieles schlechter ausfiel als die der alten Griechen.
Dies ist der Moment, in dem Hölderlin beginnt, vom »Nationellen« und vom »Vaterländischen« zu sprechen. Damit war wohl etwas wie der Geist der jeweiligen Zeit gemeint. Die Griechen hatten es zu ihrer Zeit verstanden, das »Nationelle «, das heißt das eigene Sein und den eigenen Geist lebendig darzustellen; und darin waren sie noch immer vorbildlich. Die Kunst der Gegenwart aber mußte erst noch lernen, sich ihres Geistes und Seins bewußt zu werden, um die gleiche Lebendigkeit zu erreichen. Dazu war nicht weniger als eine »vaterländische Umkehr aller Vorstellungsarten und Formen« notwendig. Eine Umkehr, um die »der Mensch« sich zwar bemühen, die er aber nicht erzwingen konnte. Es war ein schicksalhaftes Geschehen – das Geschehen eines suchenden, sich seiner selbst vergewissernden Geistes, das Hölderlin, da er nun mal ein Dichter war, in die Hand der Götter legte.
Damit hatte Hölderlin das leidige Prinzip der Nachahmung überwunden. Erstaunlich ist, daß er es nicht etwa durch irgendwelche Kunstregeln oder eine neue Methode überwand, sondern indem er das Problem ins Historische wendete. Hölderlin war nicht allein, vielmehr begann sich in jener Zeit ganz allgemein ein Geschichtsbewußtsein zu regen. Aber Hölderlin war doch der einzige Dichter, bei dem dieses Bewußtsein philosophische Qualitäten annahm. Denn er begriff, daß das Prinzip der Nachahmung naturgemäß ahistorisch war – und man ihm nur ebenfalls prinzipiell, durch ein Gesetz der Geschichte, beikommen konnte. Und daß dieses Gesetz sich vor allem um die Vergangenheit bemühen mußte (die anderen hatten, wenn sie historisch dachten, in der Regel nur an die Zukunft gedacht).
Es war die Geburt der Geschichtsphilosophie aus dem Geiste der Poetik. Hegel, der Hölderlin seit dem gemeinsamen Studium nahestand und auch jetzt, in seiner Frankfurter Zeit, nur ein paar Straßen weiter wohnte, gab dem Ganzen eine sehr anschauliche Gestalt, indem er sagte, es sei der Weltgeist, der sich da durch die Zeiten bewege. Er beschrieb den Weltgeist wie ein Individuum, das sich vom Kind über den Jüngling bis zum Mann entwickelt.
Nachdem die Bewegung des Weltgeists glücklich entdeckt war, stellte man fest: Er wandert von Osten nach Westen, von Asien nach Europa oder, wie man in Deutschland lieber sagte, ins Abendland. Dabei waren sich die Zeitgenossen eigentlich einig, daß von allen »Abendländern« Deutschland dasjenige war, in dem der Geist am hellsten leuchtete; dasjenige, das die größte Nähe und innere Verwandtschaft zum antiken hellenischen Geist besaß. Genau das hatten die Winckelmannschen Sendschreiben in ihrer Leidenschaftlichkeit doch bewiesen; und auch Hegel verkündete: »Wir (gemeint war: wir Deutschen) haben den höheren Beruf von der Natur erhalten, die Bewahrer dieses heiligen Feuers zu sein«.
Hölderlin verwandte für das deutsche Abendland einen eigenen Ausdruck, nämlich »Hesperien« (nach Hesperos, dem Abendstern). Hesperien, meinte Hölderlin, solle nun die neue »Kolonie« des Weltgeistes sein. In der Folgezeit schreibt er Gedichte mit Titeln wie »An die Deutschen«; »Deutscher Gesang«; »Der Tod fürs Vaterland«; »Stimme des Volkes«; »Germanien«; »Stutgard«; »Heidelberg«; »Die Heimath«; »Der Rhein«; »Der Main«; »Der Nekar«; »Am Quell der Donau« … Alles Gedichte in einer neuen »originellen Sangart, vaterländisch und natürlich« – aber gewiß keine platten National-Hymnen. Im Gegenteil, die hesperische Gegenwart ist dem Dichter zufolge durchaus »dürftig«, der Geist scheint hier noch nicht richtig angekommen, der Gott »waltet sprachlos und unbekannt«. Aber eben darin sieht Hölderlin seine Aufgabe – in stetiger dialektischer Auseinandersetzung mit dem griechischen Erbe ein neues »Reich der Kunst« zu etablieren. Er tat das in einem orakelnden, spruchartigen Weisheitston, und ihm war klar, daß er seinen Lesern damit einiges zumutete: »Sollten (…) einige eine solche Sprache zu wenig konventionell finden, so muß ich ihnen gestehen: ich kann nicht anders«.
Bis etwa 1820 war der Weltgeist unter der Federführung Hegels weitgehend zu sich selbst gekommen. Hegel verkündete die Lehre von seinem Berliner Katheder vor einem wachsenden Auditorium, unter dem sich zu seinem Erstaunen auch »Majores, Obristen, Geheime Räte« befanden. Der arme Hölderlin aber war zu dieser Zeit längst abgestürzt in den Wahnsinn. Doch er überlebte seinen Freund Hegel um zwölf Jahre und starb erst 1843, nachdem er 36 Jahre als Pflegefall verbracht hatte, körperlich gesund, aber geistig nur noch ein Zerrbild seiner selbst.
SINN UND FORM 3/2020, S. 293-306, hier S. 293-297
(...)
Die Menschen um sie herum, Arzt, Hebamme, Hebammenschülerin, Kindsvater und wer sonst noch dem Ereignis assistiert, erscheinen ihr (...)
Kienlechner, Sabina
Die Mutter, das dritte Geschlecht
(...)
Die Menschen um sie herum, Arzt, Hebamme, Hebammenschülerin, Kindsvater und wer sonst noch dem Ereignis assistiert, erscheinen ihr ungewohnt plastisch, charaktervoller denn je, wie Titanen in ein Tun involviert, dessen taghelle Oberflächlichkeit ihr noch niemals aufgegangen war. Ihr eigener dunkler Blick ruht auf ihren geschäftigen Gesichtern: Wie aus tiefstem Meeresgrund blickt sie hinaus in das, was man Wirklichkeit nennt. Sie ist überzeugt, daß nie ein Strahl des menschlichen Geistes in diese physiologischen Tiefen vordrang oder jemals vordringen wird: aus denen aber doch soeben ein Mensch geboren werden soll. Alles, woran sie bisher geglaubt hatte, stürzt lautlos in sich zusammen, und vor Staunen wird der Frau ganz kalt.
Nach einer Weile überläßt sich die Frau dem Schmerz; sie achtet nur noch darauf, ihre Atmung seinem rhythmischen Wellengang anzupassen und dem Geschehen keine Hindernisse in den Weg zu legen. Sie hat begriffen: Ihrem Körper, ihrem eigenen Körper geht es jetzt nicht mehr um sie, sondern nur noch um den Menschen in ihr. Es ist ein absolut einzigartiger Zustand: Niemals hätte sie sich vorstellen können, daß ihrem Körper je etwas anderes wichtiger sein könnte als der Erhalt ihrer selbst. Deutlich hat sie das Gefühl, daß nicht er es ist, der das alles in Bewegung gesetzt hat. Es ist das Organ, welches das Kind umschließt: Es ist in ihr, aber es gehört nicht zu ihr, es gehört zum Kind. Es arbeitet nur für das Kind. Unter Mißachtung sämtlicher Gesetze und anscheinend bereit, wenn nötig auch über Leichen zu gehen, nimmt und verwertet es alles, dessen es nur habhaft werden kann, für diesen einzigen Zweck. Nur der absoluten Entschlossenheit dieses Organs ist es zu verdanken, daß ihr Körper es geschehen läßt und sogar den Verstand aufgibt, der noch kleinlaut versucht, Einspruch zu erheben; wie eine lästige, nutzlose Hülle bleibt er zurück.
Mit grenzenlosem Staunen unterwirft sich die Frau. Ihr gehorsam pumpendes Herz füllt sich mit einer fast demütigen Hochachtung vor diesem Organ, das zu solch rücksichtsloser Mütterlichkeit fähig ist. Keine Menschenseele könnte je mit ihm konkurrieren. Die Evolution hat das Organ in ihren Körper verlegt oder dort belassen: eine Evolution, die bis ans äußerste gegangen ist, an den äußersten Rand einer stets noch naturimmanenten Widersprüchlichkeit. Sie ließ zu, daß der Mensch einen Menschenverstand entwickelte, mit dem er alles zu seinem Nutzen auslegt – dem Kind aber reservierte sie eine rein physiologische Mutter: als wolle sie die größten und elementarsten Aufgaben dem Menschenverstand lieber nicht anvertrauen.
Wenn das Kind geboren ist, hört das mütterliche Organ fast augenblicklich auf zu arbeiten; eine einzige Wehe noch für die Nachgeburt: und dann nichts mehr. Die Frau schlägt die Augen auf und betrachtet das Kind mit Neugier und Befremden. Keinen Augenblick hat sie das Gefühl, das Kind sei ein Stück von ihr. In der Somatotopie ihrer Großhirnrinde ist das Kind nicht repräsentiert. Es ist ein absolut eigenes Wesen.
Die Frau ist wieder Frau: ein ganz normaler Mensch. Nichts Mütterliches regt sich mehr in ihrer Tiefe. Es gehört zu den Eigenschaften des Gattungswesens Mensch, daß das biologisch Mütterliche auf die Tätigkeit der Gebärmutter beschränkt ist. Alles weitere muß erlernt werden, auch das Stillen. Während die Frau zuvor, in den Stunden der Geburt, sich schlechthin nicht zu den Geschehnissen verhalten konnte, ist sie jetzt wiederum in der Lage, sich schlechthin zu allem verhalten zu müssen. Für jeden weiteren Schritt, den sie tut, ist sie verantwortlich, bei jedem muß sie ihren Verstand zu Hilfe nehmen. Es ist nicht selbstverständlich, daß sie sich des Kindes annimmt. Es mag für sie außer Frage stehen, aus den verschiedensten Gründen: aber die Natur gebietet es ihr nicht. Nichts von der physiologischen Mutter ist auf die Frau übergegangen. Dafür aber auf das Kind: Das Kind hat die Natur dieser Mutter geerbt. Tatsächlich ist dies seine einzige Natur: denn vorerst gibt es nichts an dem Kind, das irgendwie anders als in physiologischen Termini beschrieben werden könnte. Was immer das Kind auch »mitbringen« mag ins Leben – es hat bisher keine weltliche Gestalt; keine Eigenschaften, keine Werte, keine Inhalte. Man sagt der Frau: das Kind erkenne seine Mutter, es kenne ihren Herzschlag, ihre Stimme ... Aber das ist ein Mißverständnis. Das Kind kennt ihren inneren, das heißt physiologischen Herzschlag, ihre physiologische Stimme. Es ist das physiologische Kind einer physiologischen Mutter.
Nichts aber kann darüber hinwegtäuschen, daß es von dieser Mutter nun entbunden ist. Die pumpende, rauschende Zuverlässigkeit der physiologischen Tiefe hat es vertauscht mit der Offenheit der Welt. Die Nähe, die zuvor in absoluter Weise gegeben war, muß nun von Augenblick zu Augenblick erst entdeckt und erobert werden. Jede Art der Begegnung ist völlig neu.
Der Frau ergeht es nicht viel anders: Auch für sie ist diese Begegnung völlig neu. Kein »Instinkt« ist ihr behilflich; im Gegenteil. Ihr »Instinkt« scheint sich partout an das halten zu wollen, was sie über Kindererziehung schon zu wissen glaubt: Angelesenes, Gehörtes, Zusammengereimtes, Gewähntes, Gewolltes und das, was Intuition und Liebe ihr vorgaukeln. Nichts von alldem läßt sich anwenden; es steht nur im Wege. Die Frau ist von dem Kind eine Welt weit entfernt, im buchstäblichen Sinn. Was immer sie wahrnimmt, ist vom Vorurteil des Weltlichen vereinnahmt.
Bestürzt stellt die Frau fest, daß sie auf die Präsenz des Kindes in keiner Weise vorbereitet ist. Der Schrei des Kindes vermag ihr nicht zu sagen, was das Kind »will«; das Kind will nichts; der Schrei besagt nur, daß bereits etwas schiefgelaufen ist. Die Frau muß darauf eingehen, sie muß ihr Verhalten ändern, muß Abhilfe schaffen, möglichst sofort – aber wie? Wie kann sie in die Welt des Kindes eindringen, die mit der Welt, die sie kennt, nichts zu tun hat? Sie kann ihre »Intuition« zu Hilfe nehmen, gewiß ... aber sie wird doch merken, wie sehr auch die Intuition an die Erfahrung des Weltlichen gebunden ist. Immer wieder fällt sie in die gewohnten Denkbahnen zurück, sie kann es gar nicht verhindern. Immer wieder ist sie versucht, das Kind zu interpretieren, als gälte es herauszufinden, was es eigentlich im Schilde führt, immer wieder beurteilt sie es nach dem Maßstab eines zwar noch sprachlosen, aber doch schon eigensinnigen Menschen; sie kann sich einfach nicht vorstellen, daß seine Existenz sich nicht nach irgendwelchen Normen richtet. Wieder und wieder ertappt sie sich dabei, dem Kind etwas beibringen zu wollen, mit den Mitteln der Domestikation. Ihre Augen blicken auf das Kind, aber sie haben nicht gelernt zu beobachten. Sie erkennen nichts.
Sie wird es nicht schaffen, ohne den Verstand zu Hilfe zu nehmen. Es ist eine durch und durch paradoxe Leistung, die ihm abverlangt wird: die Rückkehr zur totalen Präsenz. Der Verstand muß lernen zu verzichten, keine seiner gewohnten Hochleistungen ist hier gefragt. Statt dessen beginnt die Frau, sich auf das Nächste und Unmittelbarste zu konzentrieren, auf die tausend Handgriffe, die sie tut von morgens bis abends, auf die kurzen Wege, die sie geht, auf die Räume, die sie so selbstverständlich umgeben, sie hört die unendliche Folge der Töne und Geräusche, an denen ihr Ohr schon seit langem nicht mehr interessiert war, sie sieht die zahllosen unscheinbaren Gebrauchsgegenstände, die immer zur Hand sind. In einem kleinen Umkreis entfaltet sich die Welt auf eine längst vergessene Weise, sie gibt das Unbeachtete preis, sie zeigt ihr ganz und gar alltägliches Gesicht: als sei es ihr höchstes Gut. Mit einem Mal fühlt die Frau die Nähe ihres Kindes; sie hat es endlich gefunden. Ihre Blicke kreuzen sich, und sie sieht in seinen Augen die ersten Zeichen des Verstehens und erstmals ein Lächeln, das etwas zu sagen hat; es sagt: Wir sind zusammen in der Welt.
SINN UND FORM 2/2021, S. 178-183, hier S. 180-183
I.
Möglicherweise begann das Ganze ja tatsächlich schon zu biblischen Zeiten, mit Pontius Pilatus, als er fragte: »Was ist Wahrheit?« (...)
Kienlechner, Sabina
Kafka und die Fakten
I.
Möglicherweise begann das Ganze ja tatsächlich schon zu biblischen Zeiten, mit Pontius Pilatus, als er fragte: »Was ist Wahrheit?« Jedenfalls will man uns das offenbar glauben machen, denn nahezu alle, die sich mit dem Thema befassen – Philosophen, Theologen, Journalisten, Wissenschaftler –, eröffnen ihre Abhandlungen mit eben dieser Episode. Geht man aber davon aus, daß es damals begann, dann gab es mit der Wahrheit von Anfang an ein Problem. Denn Pontius Pilatus stellte die Frage ja nicht wie einer, der etwas wissen will oder der überhaupt eine Antwort erwartet. Er stellte vielmehr die Wahrheit selbst in Frage, im Sinne von: Was heißt schon Wahrheit, oder: Wahrheit – was soll das denn sein …?
Doch die Wahrheit selbst in Frage zu stellen – das ist und bleibt ein Skandal. Gewiß: Man muß dem römischen Pontius zugute halten, daß er seine Frage an einen richtete, der nicht nur behauptet hatte, er sei ein König, sondern obendrein noch angab, er wolle »Wahrheit zeugen«, was immer das heißen mochte. Dennoch hätte Pilatus, da er über diesen wirr daherredenden Menschen richten sollte, die Frage anders stellen müssen, nämlich etwa: Was ist in diesem Fall die Wahrheit? Oder: Was meinst du? Drück dich genauer aus, Jeshua! Aber das tat Pilatus nicht. Michail Bulgakow behauptet, er sei an jenem Tag nicht ganz auf der Höhe gewesen, habe Kopfschmerzen gehabt; ein Migräneanfall, ausgelöst durch den Geruch von Rosenöl. Und »nichts auf der Welt verabscheute der Prokurator so sehr wie den Geruch von Rosenöl«, berichtet Bulgakow, »und jetzt stand ein schlechter Tag zu erwarten, denn dieser Geruch verfolgte ihn schon seit Tagesanbruch (…). Mit trüben Augen blickte er den Gefangenen an und schwieg einige Zeit. Qualvoll überlegte er, warum der Mann mit dem von Schlägen verunstalteten Gesicht in der erbarmungslosen morgendlichen Jershalaimer Sonnenglut vor ihm stand und was für überflüssige Fragen er ihm noch stellen sollte.«
Mit der Frage, die er dann stellte, verlieh er seiner Unlust Ausdruck, sich mit Überflüssigem zu beschäftigen: Die Frage nach dem »Wesen von Wahrheit« schien ihm gewiß die überflüssigste überhaupt zu sein. Nietzsche frohlockte Jahrhunderte später, mit seinem »vornehmen Hohn« habe der römische Statthalter mit einem einzigen Streich das ganze Testament »vernichtet«. Richtiger ist wohl die Annahme, daß der Pontius die Grundlage für eine Art Spaltung schuf.
Denn es dauerte nicht lange, bis ein Teil der Menschen sich jene »Wahrheit« aneignete, von der der Gefangene geredet hatte. Schließlich hatte er nicht weniger als ein Himmelreich versprochen, und von den ersten, die an ihn glaubten, hatten die meisten auf Erden nicht viel zu verlieren. Doch auch der Pontius hatte von Anfang an eine Art Gefolgschaft. Durch sein unbeirrbares Vorgehen hatte er alle jene auf seiner Seite, die aus irgendeinem Grund skeptischer waren und erst einmal wissen wollten, was man unter »Wahrheit« zu verstehen habe.
Insofern hatte Nietzsche nicht recht, als er meinte, der römische Statthalter habe das Testament mit einem einzigen Wort vernichtet. Im Gegenteil, gar nichts wurde vernichtet an jenem Tag in Jershalaim (etwa 753 Jahre nach der Gründung Roms); vielmehr standen sich mit diesen beiden Männern zwei Hauptkategorien der Wahrheit gegenüber, ihre Worte entwarfen sozusagen das Programm dieser Kategorien: »Ich bezeuge die Wahrheit«, sagt die eine, die religiöse, und »Was ist Wahrheit?« fragt ohne Ende die andere, die philosophische.
Nietzsche, der sich mit unerhörter Wucht daranmachte, die göttliche Wahrheit zu zertrümmern, sah in Pontius Pilatus etwas anderes. Er betrachtete ihn nicht nur als einen, der auf Anhieb die unsägliche Anmaßung erfaßte, die dieser »göttlichen Wahrheitsverkündung« eigen war. Nietzsche meinte, aus der Frage »Was ist Wahrheit« (oder besser: aus dem »Hohn«, mit dem sie gestellt wurde) heraushören zu können, daß Pilatus gleich das ganze Konzept »Wahrheit« vernichten wollte; so als impliziere die Frage auch schon die Antwort, die da lautete: Wahrheit ist gar nichts, Wahrheit ist ein Trug. Er sah in Pontius Pilatus einen Seelenverwandten, denn auch er, Nietzsche, fand, daß der menschliche »Wahrheitstrieb«, auch der nach den sogenannten Tatsachen, im Grunde lächerlich sei: An das »Wesen der Dinge« komme der Mensch ohnehin nie heran. Tatsachen? »Nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen«, schrieb er.
In den anderthalb Jahrhunderten, die seit Nietzsche vergangen sind, hat die eine Hälfte seiner Zertrümmerungsaktion, nämlich die Vernichtung der göttlichen Wahrheit, sich mit großem Erfolg durchgesetzt, während die andere Hälfte zunächst weitgehend wirkungslos blieb. Zumindest an der Tatsachenwahrheit wollte man festhalten, denn eine Tatsache ist eben eine Tatsache, an ihr kann keiner rütteln. Tatsachen sind Realitäten. Zumindest glaubte man das, bis im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (französische) Stimmen laut wurden, die endlich auch die Tatsachen- oder »Faktenwahrheit« aufweichten: indem sie, durchaus beeindruckend, darlegten, daß auch die Wahrheit der Fakten abhängig ist von allen möglichen Voraussetzungen, von Zeitgeist, Identitäten, Perspektiven, Strukturen … »Auch Leute, die glauben, daß sie nur an Fakten glauben, glauben nicht nur an Fakten, sondern vor allem an ihr eigenes Weltbild.« (Karl-Heinz Ott)
Ein paar Jahrzehnte blieb die Relativierung der Faktenwahrheit vielleicht noch strittig, doch mit Beginn des 21. Jahrhunderts nahm sie geradezu den Charakter einer Lehrmeinung an und bildet inzwischen selbst den Zeitgeist. Man trifft heute an jeder Ecke einen Jünger des Pilatus, der, gefragt oder ungefragt, verkündet: »Die Wahrheit gibt es nicht«, mit Betonung auf dem »die«. Und auf Nachfrage: »Wie? Wahr und falsch gibt es nicht?« wird er erwidern: »Nein. Es gibt nur Perspektiven.« »Keiner soll sich einbilden, er sei im Besitz der Wahrheit«, sagt er noch. Aber auch dann nicht, wenn man etwas mit Sicherheit weiß, wenn man es beweisen kann? »Ja, auch dann nicht.«
Der Pilatus-Jünger hat freilich gut reden. Ein angesehener, geradezu glamouröser Zweig der Philosophie stützt ihm den Rücken, dazu die halbe Akademie. Die Urteile und Entscheidungen darüber, was wahr ist und was falsch, sind immer »Gegenstand einer Idee« (sagt Jean-François Lyotard). »Wahr« zu sprechen ist eine Form, Macht auszuüben (sagt Michel Foucault). »Wahrheit ist weder etwas, das ans Licht kommt, noch gibt es so viele Wahrheiten wie es Menschen gibt. Wahrheit ist schlicht ein sozialer Operator.« (Bernhard Kleeberg, Professor) »Meine Meinung, meine Fakten.« (Jan-Werner Müller, Professor) »Wo, bitte, geht’s zur Realität?« (Sven Papcke, Professor) »Warum wirkt die Wahrheit so gestrig?« (Jan Söffner, Professor)
(…)
SINN UND FORM 5/2024, S. 638-645, hier S. 638-640