Joas, Hans
geb. 1948 in München, Soziologe und Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Jüngste Veröffentlichungen u. a.: »Friedensprojekt Europa?« (2020) und »Warum Kirche? Selbstoptimierung in der Glaubensgemeinschaft« (2022). Rede zum achtzigsten Geburtstag von Wolfgang Thierse am 8. November 2023 im Willy-Brandt-Haus in Berlin. (Stand 4/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/1994 | Der Traum von der gewaltfreien Moderne
- 4/2013 | Theologie unter freiem Himmel. Wie aktuell ist Rudolf Otto?
- 6/2015 | Ein Christ durch Krieg und Revolution. Alfred Döblins Erzählwerk »November 1918«
- 4/2023 | Die Wolke über der Autobahn. Über die Unausweichlichkeit mystischer Erfahrungen
- 4/2024 | Schönheit und Geschichte. Wolfgang Thierse zu Ehren
Wie der Selbstmord erscheint uns die religiöse Konversion als individueller Akt im reinsten Sinne. Wir nehmen an, daß erschütternde existentielle Erfahrungen den Ausschlag geben, wenn jemand sein Leben nicht mehr fortsetzen will oder seine tiefsten, identitätsbestimmenden Überzeugungen ändert. Gewiß können beim bloßen Übertritt zu einer anderen Glaubensgemeinschaft auch oberflächlichere Erwägungen oder Zwang eine Rolle spielen: steuerliche Vorteile etwa, die Bemühung um eine Heiratserlaubnis, politische Loyalitäten. In diesen Fällen aber zögern wir, den Begriff Konversion auf den Wechsel der Mitgliedschaft überhaupt anzuwenden. Am Fall des Selbstmords hat eine der Pionierarbeiten aus der Gründungsphase der Disziplin Soziologie eindrucksvoll demonstriert, daß auch bei höchst individuellen existentiellen Akten soziale Muster auszumachen sind. Protestanten, so behauptete in einer großen Studie 1897 der französische Begründer der Soziologie, Émile Durkheim, begingen häufiger Selbstmord als Katholiken und Juden, (...)
LeseprobeJoas, Hans
EIN CHRIST DURCH KRIEG UND REVOLUTION
Alfred Döblins Erzählwerk »November 1918«
Wie der Selbstmord erscheint uns die religiöse Konversion als individueller Akt im reinsten Sinne. Wir nehmen an, daß erschütternde existentielle Erfahrungen den Ausschlag geben, wenn jemand sein Leben nicht mehr fortsetzen will oder seine tiefsten, identitätsbestimmenden Überzeugungen ändert. Gewiß können beim bloßen Übertritt zu einer anderen Glaubensgemeinschaft auch oberflächlichere Erwägungen oder Zwang eine Rolle spielen: steuerliche Vorteile etwa, die Bemühung um eine Heiratserlaubnis, politische Loyalitäten. In diesen Fällen aber zögern wir, den Begriff Konversion auf den Wechsel der Mitgliedschaft überhaupt anzuwenden. Am Fall des Selbstmords hat eine der Pionierarbeiten aus der Gründungsphase der Disziplin Soziologie eindrucksvoll demonstriert, daß auch bei höchst individuellen existentiellen Akten soziale Muster auszumachen sind. Protestanten, so behauptete in einer großen Studie 1897 der französische Begründer der Soziologie, Émile Durkheim, begingen häufiger Selbstmord als Katholiken und Juden, Unverheiratete häufiger als Verheiratete, kinderlose Ehepaare häufiger als solche mit Kindern. In Zeiten wirtschaftlicher Krise nähmen Selbstmorde zu, aber auch in Zeiten rapiden ökonomischen Aufschwungs. Revolutionen und Kriege senkten im Regelfall eher die Selbstmordhäufigkeit. Wichtig sind hier nicht diese Befunde im einzelnen, sondern ist die Einsicht, daß individuelle Akte, ohne dadurch weniger persönlich zu werden, in ihrer sozialen Verteilung doch auf Kräfte hinweisen, die sich nicht auf Individuelles zurückführen lassen. Durch die Forschung nach Durkheim haben wir zudem gelernt, daß schon in die statistische Erfassung eines Todesfalls als eines Selbstmords Definitionsprozesse eingehen, die in verschiedenen Kulturen und Milieus verschiedenen Charakter haben und die Vergleichbarkeit der Daten damit mindern.
All das gilt auch für Konversionen. Jeder einzelne Mensch, der sich von einer religiösen Gemeinschaft löst, in der er aufgewachsen ist; jeder Mensch, der vielleicht gegen den Widerstand seines Umfelds den Weg zu einer neuen Überzeugung und Gemeinschaft findet, kann dies als dramatischen Einschnitt empfinden, der sein Leben in ein Vorher und Nachher gliedert. Aber auch hier gelten soziale Muster – wie etwa der enorme Schub an Kirchenaustritten in westeuropäischen Ländern seit den 1960er Jahren zeigt, der massenhafte Übertritt zu protestantischen Gruppen in Lateinamerika und bei nordamerikanischen Hispanics, die Christianisierung in Südkorea und Teilen Chinas heute. In diesen Formulierungen durfte schon deutlich geworden sein, was ich dennoch ausdrücklich hervorheben möchte: daß »Konversion« in den Sozialwissenschaften ein wertfreier Begriff ist, also nicht das Finden höherer oder objektiver Wahrheit bezeichnet, sondern auf subjektiven Überzeugungswandel zielt. Deshalb ist der Weg etwa zum christlichen Glauben damit ebenso gemeint wie der Weg weg von ihm. Es geht auch nicht nur um religiösen Glauben, sondern um alle tiefsitzenden und weitreichenden Überzeugungssysteme. In diesem Sinne konvertieren Menschen auch zum Marxismus oder Faschismus oder islamistischen Fundamentalismus, aber natürlich auch zum Liberalismus, säkularen Humanismus oder einem leidenschaftlichen Einsatz für soziale Gleichheit oder Menschenrechte. Wie bei der Forschung zum Selbstmord hat sich auch hier als unabdingbar herausgestellt, die Konversionserzählungen als Genre anzuerkennen und nicht anzunehmen, daß jeder Mensch die Erzählform, in der er von seinem Überzeugungswandel berichtet, jeweils neu erfindet. In manchen Traditionen gibt es Mustererzählungen, die für den einzelnen bereitstehen und schon seine Erwartungen und sein Erleben präformieren. Auch die Erzählung über den Glaubensverlust, etwa in James Joyce’ »Porträt des Künstlers als junger Mann«, als dem Jesuitenschüler am sommerlichen Strand angesichts eines Mädchens, das mit geschürztem Rock ins Wasser watet, schlagartig klar wird, wovon er sich lösen will, hat erzähltechnisch die Struktur des klassischen christlichen Konversionsnarrativs. Erfahrung und Artikulation der Erfahrung sind hier im Einzelfall kaum zu entwirren.
Einige Gedanken, die mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig sind, möchte ich an einem literarischen Werk entwickeln: dem vierbändigen »Erzählwerk«, wie der Autor es nannte, »November 1918«, das wie alle Bücher Alfred Döblins, außer dem einen unsterblichen Erfolgsbuch »Berlin Alexanderplatz«, zum Leidwesen seines Verfassers und in diesem Falle mit verursacht durch eine besonders unglückliche Publikationsgeschichte nie so ganz die Aufmerksamkeit gefunden hat, die es nach meinem Urteil verdient. Das Desinteresse ist zumindest hierzulande überraschend, da es sich bei diesem Buch zu weiten Teilen ja um einen Berlin-Roman handelt. Döblin kehrte im französischen und amerikanischen Exil, wo er das Werk 1937– 43 verfaßte, imaginär zu der »Häuserwucherung « zurück, »die sich flach und düster in der sandigen Mark ausbreitete«, durchzogen von einem »armseligen Rinnsal« namens Spree, mit »schwarzen und schillernden Farben von den Abwässern, die man hineinleitete«, und dem die Häuser den Rücken zuwandten, während Schuppen und Kohlenlager die Ufer des »trüben, proletarischen Gewässers« bedeckten (Band II, 9). In der heutigen postindustriellen Stadt Berlin, in der künstliche Sandstrände und zahllose Cafés oder pseudobayerische Biergärten den Fluß begleiten und Touristen aus aller Welt und junge Leute mit viel Freizeit ihr Leben dort demonstrativ genießen, wirkt das von Döblin evozierte arme, graue, industrielle Berlin fast schon exotisch. In seiner an die historischen Ereignisse eng angelehnten Chronologie vom 10. November 1918, dem Tag nach dem Sturz und der Flucht des Kaisers, bis zum 15. Januar 1919, dem Tag der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, wird die Topographie Berlins ständig körperlich spürbar, und zwar nicht nur im historischen Zentrum, vom Polizeipräsidium am Alex bis zur Reichskanzlei in der Wilhelmstraße, auch nicht nur bis hin zum Landwehrkanal im Tiergarten, wo sich die schaurigen Szenen des Mordes an Karl und Rosa abspielen, sondern vom Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain bis hinein ins bürgerliche Wilmersdorf, etwa zur Mannheimer Straße, wo man Liebknecht in der Wohnung verhaftete, in der er sich verborgen hielt, oder zum Heidelberger Platz, über den die geschlagenen Fronttruppen in Berlin einzogen, durch Straßen, die schwarz waren von Menschen, von Hochrufen begleitet und sich ihrer Niederlage und der gigantischen Verluste an Kameraden doch bewußt. Vor allem aber handelt es sich bei diesem Werk um ein Buch der Konversionen.
Damit meine ich nicht, daß es verfaßt wurde, als Döblin, der säkulare Jude, sich immer mehr dem katholischen Christentum annäherte, bis er sich schließlich am 30. November 1941 im kalifornischen Santa Monica taufen ließ. Die Zusammenhänge zwischen Autorenbiographie und innerer Logik des literarischen Werks sind nicht so simpel, als würde ein Autor von Döblins Format sein Werk einfach zum Sprachrohr einer vorgefaßten missionarischen Intention machen. Ganz unzulänglich und als Vorurteile aus dem Weg zu räumen sind auch die Vorstellungen, Döblin sei aus Schwäche, durch einen Zusammenbruch seiner Persönlichkeit, zum Christen geworden, wie man von Brecht bis Grass lesen kann, ebenso auch die Versuche, Döblin gewissermaßen der Gattung Renegatenliteratur einzugliedern, den Schriften ehemaliger revolutionärer Sozialisten, die an die Stelle ihrer politischen Utopie nun etwas anderes, z. B. ein verklärtes Jenseits stellen. Döblins »November 1918« enthält in einem seiner Stränge tatsächlich eine klassische Konversionserzählung, die des kriegstraumatisierten Offiziers und Berliner Gymnasiallehrers Friedrich Becker. Ich werde aber zu zeigen versuchen, daß Döblin auch den Krieg insgesamt ins Licht der Konversionsfragen rückt, weil er sich außer für alles Militärische, Politische und Ökonomische auch für die »psychiatrischen« Fragen der persönlichkeitsverändernden Wirkungen von Gewalterfahrung öffnet. Auch die Revolution wird neu beleuchtet, weil sie nicht nur als politisches Ereignis im Roman zum Gegenstand wird, sondern als etwas Imaginäres, als mythische Gestalt des Traums von einem neuen Menschen und einer neuen Welt. Nur durch diese Tiefe des Konversionsverständnisses wird auch der Mut nachvollziehbar, mit dem Döblin seine zweite individuelle Konversionsgeschichte in diesem Werk entfaltet, die der Rosa Luxemburg. Erst durch die Verknüpfung all dieser Stränge und weiterer entsteht eine Antwort auf die beiden Fragen, die Döblin in diesem Werk stellt und die ich durch die Doppeldeutigkeit der Präposition »durch« im Titel meines Aufsatzes ausdrücken will: Wie kann ein Mensch angesichts des Weltkriegs, dieser Bankrotterklärung des christlichen Europa, zum Christen werden, und wie kann ein Christ die Revolutionszeit als Christ durchleben? Wie hätte sich ein Christ zum Krieg und zur Revolution stellen sollen, wenn für ihn Christsein nicht konfessionelle Milieuzugehörigkeit mit entsprechendem Wahlverhalten bedeutet, sondern: das Evangelium. [...]
SINN UND FORM 6/2015, S. 784-799, hier S. 784-787