Huysmans, Joris-Karl
(1848 – 1907), französischer Romancier, Kunstkritiker und Essayist, hielt sich im August 1888 in Berlin auf. (Stand 6/2020)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/2017 | »Man muß gelebt haben, um schreiben zu können«. Paul Verlaines religiöse Gedichte
- 4/2019 | In Hamburg und Lübeck
- 6/2020 | Das Berliner Aquarium
Ich habe auf diesen wenigen Seiten keineswegs vor, das Werk Verlaines aus literarischer Sicht zu behandeln. Diese Arbeit ist schon oft geleistet worden, und ich selbst habe vor langer Zeit, als sich niemand um den sturmverschlagenen Dichter bekümmerte, auf das einzigartige Werk dieses Mannes, der, nach Victor Hugo, Baudelaire und Leconte de Lisle, die Dichter unserer Zeit am nachhaltigsten geprägt hat, 1884 in "Gegen den Strich" Bezug genommen und es zu erklären versucht. Heute, aus Anlaß einer rein religiösen Verssammlung mit Auszügen aus den Bänden "Weisheit", "Liebe", "Glück" und "Intime Liturgien" sowie einigen posthumen Stücken, möchte ich mich allein aus katholischer Sicht mit Verlaine beschäftigen, (...)
LeseprobeHuysmans, Joris-Karl
»Man muß gelebt haben, um schreiben zu können«
Paul Verlaines religiöse Gedichte
Ich habe auf diesen wenigen Seiten keineswegs vor, das Werk Verlaines aus literarischer Sicht zu behandeln. Diese Arbeit ist schon oft geleistet worden, und ich selbst habe vor langer Zeit, als sich niemand um den sturmverschlagenen Dichter bekümmerte, auf das einzigartige Werk dieses Mannes, der, nach Victor Hugo, Baudelaire und Leconte de Lisle, die Dichter unserer Zeit am nachhaltigsten geprägt hat, 1884 in »Gegen den Strich« Bezug genommen und es zu erklären versucht.
Heute, aus Anlaß einer rein religiösen Verssammlung mit Auszügen aus den Bänden »Weisheit«, »Liebe«, »Glück« und »Intime Liturgien« sowie einigen posthumen Stücken, möchte ich mich allein aus katholischer Sicht mit Verlaine beschäftigen, das Mißverständnis zwischen ihm und jenen Gläubigen ausräumen, die seine Person und seine Bücher immer noch beargwöhnen, dann nach Möglichkeit erläutern, warum er entgegen ihrer Annahme kein unbußfertiger Sünder war, und schließlich beweisen, daß die Kirche auf ihren größten Dichter seit dem Mittelalter stolz sein müßte.
In der Tat hat er als einziger nach Jahrhunderten die Töne der Demut und Unbefangenheit, der klagenden und zaghaften Gebete, den Jubel des kleinen Kindes wiedergefunden, die seit der Rückkehr jenes stolzen, Renaissance genannten Heidentums vergessen waren.
Und diese fast volkstümliche Ungeniertheit, diese zutiefst rührende Zerknirschung hat er in eine seltsam beschwörende Sprache mit Umwegen und Ellipsen übersetzt, eine unkomplizierte und unkastrierte Sprache, die sich zugleich neuer oder verjüngter Rhythmen bedient und den von Victor Hugo und Banville begonnenen Bruch mit den alten Waffeleisen der Metrik vollendet, um sie durch ganz eigentümliche Gußformen, spezielle Druckplatten, hingetupfte Striche und treffende Abzüge zu ersetzen.
Nachdem er in seinen ersten Versuchen von Baudelaire und Leconte de Lisle, in manchen Gedichten von Banville und, wollte er bestimmte Kümmernisse des Gefühlslebens etwas gezierter ausdrücken, von Frau Desbordes-Valmore, die er vielleicht mehr als billig liebte, ausgegangen war, zögerte Verlaine nicht, das unvermeidliche Joch dieser Anfänge abzuschütteln, und resolut bezeugte sich seine Persönlichkeit »darin, daß er halblaut, in der Dämmerung gleichsam, vage und köstliche Geständnisse auszudrücken vermocht hatte; er allein konnte gewisse verwirrende Jenseitigkeiten der Seele, ein leises Flüstern der Gedanken, gemurmelte, unterbrochene Geständnisse ahnen lassen, daß das Ohr, das sie vernahm, zögernd verharrte, der Seele die Wehmut weiterzugeben, die durch das Geheimnis dieses mehr geahnten als erfühlten Hauchs entfacht wurde«.
Und unmittelbar nach diesen Zeilen aus »Gegen den Strich« zitierte ich als Beispiel eine inzwischen berühmte Strophe aus den »Galanten Festen«. Man könnte das Sonett »Mein vertrauter Traum« aus den »Saturnischen Gedichten« ergänzen, dessen Schlußterzett entschieden ein Wunder ist:
Ihr Blick hat sich wie der von Statuen erzeigt
Und aus ihr spricht das ferne, ruhige, tiefe Beben
Von mancher lieben Stimme kurz bevor sie schweigt.
Doch diese Art der Bezauberung handhabt er nicht nur in solchen weltlichen Stücken; wir finden sie auch in »Weisheit« wieder, sogar im vorliegenden Band:
Von Herbstseufzern erfüllt sind die Gefilde,
Der eintönige Abend wird so milde,
Wo eine schwerfällige Landschaft ruht.
Oder auch hier:
So daß mein untätiges Herz das delikate,
Enorme Mittelalter anzusteuern hatte,
Fern von fleischlichem Sinn und trister Leiblichkeit.
Erzeugen die letzten Verse dieser beiden Terzette nicht eine Art schmachtender Auszehrung und einen melancholischen Taumel, wie eine Beschwörung, deren okkulter Zauber uns entgeht? Unter allen Dichtern ist Verlaine sicherlich derjenige, der bis zu den äußersten Grenzen der Dichtkunst gegangen ist, dorthin, wo sie sich verflüchtigt und das Reich der Musik beginnt.
Victor Hugo, Théophile Gautier, Leconte de Lisle, Banville, um nur die vier zu nennen, sind in der Literatur ebenfalls bis zum Äußersten gegangen und haben die Grenze zur Malerei erreicht. Ihre Worte malen, suggerieren Schattierungen und Linien vielleicht besser als die wirklichen Farben der Maler. Verlaine ist auf anderem Wege zur Morgengabe der musikalischen Kunst gelangt, deren Ausdruckskraft Schmerzens- und Freudenschreie, Bewunderung und Furcht beredter zu übersetzen vermag, und gerade ihre ungenauen und fließenden Konturen befähigen sie mehr als die Dichtung zum Ausdruck konfuser Empfindungen der Seele, ihres vagen Verlangens, flüchtigen Behagens und ihrer subtilen Qualen.
Verlaines Persönlichkeit war schon in seinen ersten Büchern ganz enthalten; er bewahrte sie auch nach der Konversion; er stellte die von ihm geschaffene Form in den Dienst seiner Buße, denn sie war bereit und er geeigneter als jede andere, die rührenden Annehmlichkeiten der Umkehr zu erzählen, und so vermochte er dem Erlöser einen Strauß mystischer Blumen von derart köstlichem Duft darzureichen, daß man, um ein ähnliches Aroma zu finden, bis zu François Villon und auch Gaston Phoebus zurückgehen muß, diesem Grafen de Foix, dessen Gebete ähnlich ungezwungene Entschuldigungen und anrührende Klagen sind.
Ich brauche das Leben Verlaines nicht zu erzählen; er hat es in einer Tirade mehr fehlerhafter als launiger Prosa teilweise selbst beschrieben; es genügt zu sagen, daß er sich in einer der finstersten Krisen seines Daseins bekehrt hat.
Von dieser Bekehrung, die sich während seiner Haft im Gefängnis zu Mons ereignete, hat er in einem Band mit dem Titel »Meine Gefängnisse« berichtet:
»O Jesus, wie machtest du es, daß du mich gewannst?
Ah!
Eines Morgens trat der gute Direktor persönlich in meine Zelle ein.
›Armer Freund‹, redete er mich an, ›ich bringe Ihnen eine schlimme
Nachricht. Fassen Sie sich! Lesen Sie!‹"
Es war das gegen ihn und zugunsten seiner Frau ergangene Urteil über Trennung von Bett und Besitz durch das Zivilgericht an der Seine.
Und Verlaine fügte hinzu: »Ich warf mich über mein armes Bett und brach in Tränen aus.«
Und wie unter einem Peitschenschlag warf er sich nach der ersten Bestürzung zu Füßen des Kreuzes nieder und krempelte mit Hilfe eines wackeren Priesters, des Gefängnisseelsorgers, dem er beichtete, sein ganzes Leben um.
Damals schrieb er »Weisheit«.
Nach Verbüßung seiner Haftstrafe verließ er Belgien und kehrte nach Frankreich zurück. Die Öffentlichkeit kannte ihn kaum. – Niemand ahnte, daß ein katholischer Verlag dieses wunderbare, in einem Gefängnis entstandene Buch drucken würde. Nur wenige Exemplare, wenn überhaupt, gelangten in den Handel; der Titel erschien nicht einmal im Katalog der frommen Buchhandlung, die sich darauf beschränkte, ihr Markenzeichen und ihren Namen auf den Einband zu drucken. Allmählich setzte sich die Sammlung in der literarischen Welt durch und wurde auch von den Weltlichen gelesen; die Katholiken ignorierten sie weiter, und als sich später einige trauten, kursierten die ärgerlichsten Gerüchte über den armen Dichter. Man sprach von Trunksucht, unsäglichem Verkehr, Besuchen in zweifelhaften Hotels, Krankenhausaufenthalten; mehr bedurfte es nicht, um die Echtheit einer Bekehrung in Abrede zu stellen, die wirklich erfolgt war, mochte es dem schwarzgalligen Esel Doumic, der darin nur »eine Form von Zerrüttung, einen Fall trauriger Sinnlichkeit« sehen wollte, gefallen oder nicht.
Warum verschweigen, daß die Außenseitersituation Verlaines in der Welt der Gläubigen, die ihn nicht gelesen hat, fortbesteht? Ich habe Biedermänner sogar beklagen hören, daß man sich überhaupt mit der religiösen Dichtung eines Mannes abgebe, den ein anderer griesgrämiger Gaul, ein Herr Nordau, jüdischer Arzt mit einem Fimmel für Geisteskrankheiten, wie folgt darstellte: »Wir sehen einen abschreckenden Entarteten mit asymmetrischem Schädel und mongolischem Gesicht, einen impulsiven Landstreicher und Säufer, der wegen eines Sittlichkeitsverbrechens im Zuchthause gesessen hat, einen schwachsinnigen emotiven Träumer, der schmerzlich gegen seine bösen Triebe ankämpft und in seiner Noth manchmal rührende Klagetöne findet, einen Mystiker, dessen qualmiges
Bewußtsein Vorstellungen von Gott und Heiligen durchfluten, und einen Faselhans, der durch unzusammenhängende Sprache, Ausdrücke ohne Bedeutung und krause Bilder die Abwesenheit jedes bestimmten Gedankens in seinem Geiste bekundet.«
In diesem Porträt, worin der deutsche Quacksalber vor allem seinen Haß auf die Mystiker stillt, die er als die »schlimmsten Feinde der Gesellschaft« darstellt, wird immerhin eine Wahrheit ausgesprochen, nämlich daß Verlaine »schmerzlich gegen seine bösen Triebe ankämpft«. Ja, er hat gekämpft; er wurde meist besiegt; na und? Welcher Katholik wähnt sich im Recht, den ersten Stein auf ihn zu werfen?
[…]
Aus dem Französischen von Frank Stückemann
SINN UND FORM 2/2017, S. 204-212, hier S. 204-207
Hamburg Der in Paris so langweilige Regen ist anderen Orten eine Zierde. Fällt er in Europas Norden aus aschfarbenem Himmel hartnäckig und fein (...)
LeseprobeHuysmans, Joris-Karl
In Hamburg und Lübeck
Hamburg
Der in Paris so langweilige Regen ist anderen Orten eine Zierde. Fällt er in Europas Norden aus aschfarbenem Himmel hartnäckig und fein auf die großen, dem Handel geweihten Städte, so mildert er das grobe, manchmal unheimliche Aussehen ihrer Fabriken und Häfen; er läßt sie unter dem dünnen Flor seiner Fäden verschwimmen, dient als sachter Schleier, der allzu vulgäre und zu markante Gesichtszüge veredelt.
Solche Gedanken kommen mir oft, wenn Böen die Fenster zum Klirren bringen, und dann entsinne ich mich eines riesigen, im Nebel verlorenen, von Schauern verschrammten Hafens, dann denke ich zurück an Hamburg. Und ich durchlebe am Kamin wieder jene ruhigen Stunden an der Elbe. In Hamburg ist der Fluß über alle Maßen breit; er wäre ein Meeresarm, wenn man ihn ließe, doch der Kommerz zerteilte ihn in zahllose sich kreuzende Straßen mit verketteten Pfählen aus schwarzem Holz – Straßen, die statt von Häusern von Dampfschiffen gesäumt sind und deren schmaler Fahrdamm ein Treffpunkt der Kanaljugend, von Schaluppen und Barken, ist.
Überall, in alle Richtungen erstrecken sich Ziegeldocks, die Renaissanceschlösser nachäffen, von Gischt verschmiert, vom Rauch der Maschinen geschwärzt, von Schienen, von Güterzügen eingefaßt, so weit das Auge reicht, im Gänsemarsch, im Gleichschritt. Und man kann Meile um Meile an den Ufern entlanggehen, Stege überqueren und Brücken passieren; es folgen immer neue Docks auf diejenigen, die man gerade hinter sich gelassen hat; die Schuppen und Hallen marschieren unaufhörlich mit, und endlich begreift man, daß man nie ans Ende kommt. Sie können den Horizont absuchen, er erweist sich wie Ihr Standort als Gestrüpp von Masten, als Hochwald von Schornsteinen, gespickt mit Kränen, die in Schiffsbäuchen wühlen und hier wie dort in aller Ruhe gigantische, in Sackleinen verpackte und eisenbereifte Ballen hervorholen, Trauben von Tonnen aller Art, von kurzen und gedrungenen Branntweinfäßchen über blaue und vergipste Petroleum- und Leinöltonnen bis hin zu schweren Fuderfässern voller Talg. Und auf die Scheffel und Oxhofts Wein folgen Kisten, gewaltige Kisten mit Klavieren, welche neben Torferdehaufen abgeladen werden, in deren zerbröselnder Masse Queckenfasern zum Vorschein kommen.
Die Hafenarbeiter und Entlader tragen die Farben der Substanzen, die sie auftürmen, und die dazu passende Livree, schwarz von der Kohle, weiß vom Gips, gelb vom Schwefel, der sie bepudert, schneebedeckt, wenn sie Stierhörner zu Hügeln aufschütten oder in Salz konservierte Tierhäute zu Ebenen ausrollen. Man spürt eine ungeheure und stille Anstrengung; diese verbissene Arbeit geschieht lautlos; die Menschen sind gezähmt, ins Joch gespannt; kaum daß gelegentlich der Elefantenschrei das Weite suchender Steamboats ertönt, das Geräusch der Ketten an den Kränen, das Knarren der Blockrollen, mit denen Frachtstücke und Ballen in Bauten gehievt werden, die mit ihren in jedem Stockwerk aufklaffenden Toren wie gestapelte Keller aussehen.
Und der Regen fällt ohne Unterlaß, treibt mit seinen Peitschenschnüren die Pfützen im Pflaster vor sich her, sticht Nadeln ins Wasser der Hafenbecken, kariert den Himmel mit graubraunem Garn; man sieht die Gegend nur noch durch einen schmutzigen Musselinvorhang; alles verlischt und verraucht; und wenn man das Ufer verläßt, um über den Fahrdamm zum Gehweg zu flüchten, merkt man, daß jeder Platz im Hafen dem Profit zum Opfer fiel.
Selbst unter den Läden, an denen man vorbeikommt, tun sich knapp überm Boden weitläufige, mit Vorräten vollgestopfte, eng mit Nahrungsmitteln bepackte Lagerräume auf, zu denen ein paar Stufen hinabführen: Schinkenkeulen und köstlicher Dung sind zu erkennen, Garben von Aalen mit goldpolierten Asphaltleibern, Bündel getrockneter Lachse, die aussehen, als wären sie mit rosa Harz bestrichen, große Zuber mit Fischen, deren Silber sich in der Marinade löst; und in dieser gärenden Lake unterscheidet man glasige und fahle Zitronenscheiben mit leuchtenden Schalen, zinnoberrote, vom Pfeffer grün angelaufene Paprikaschoten.
Für das schwelgerische Auge ist das eine Gala der Farben; letztlich wird aus jeder Ecke dieser Stadt Gewinn geschlagen, wird in jeder Ecke etwas verkauft; oben wie unten wird geklaut; und richtet man, statt in die Proviantkeller einzutauchen, den Blick nach oben, so erscheinen auf den Dächern die Markzeichen der Seele dieser Stadt, dieses gewaltigen Protestanten- und Judennests, in dem nie von Gott die Rede ist.
Der Kommerz wirft sich wie ein Sperber auf die Stadt. Die Dachfirste verfangen sich im unglaublichen Wirrwarr der Telefonleitungen; es sind bizarr geformte Apparate, alberne Kitharen, sonderbare Harfen, komplizierte Instrumente, deren Namen und Handhabung man nicht kennt. Das Firmament wird zu einem riesigen Notenpapier, als dessen Noten die Porzellanbecher der Telegrafen fungieren; eine barbarische, unverständliche, weiß auf grau gravierte Partitur; und es kommen einem böse Gedanken über dieses Hamburg, das abends wollusttrunken ist und von Dirnen strotzt, diese Stadt des Schuftens und der Freude voller, aus ihren Republiken geflüchteter, Südamerikaner, Menschen aus Caracas, wie Möbel mit Nußschalenbeize poliert, rosige und blonde Lutheraner mit Goldbrillen und grausige Beschnittene; denn selbst im Hafen, zwischen den Büros der Reeder und den Kontoren der gehobenen Unterwelt, öffnen sich Ritzen, die in Parks voller Gesindel und verlauste Hasenwäldchen führen. Und dort im abendlichen Regendämmer, im Spülsteinmief schlüpft eine Schar Gören aus den Mauerspalten, verteilt sich über den Fahrdamm und spielt. Es sind schuftende Arbeiterkinder, und Not und Sauferei sind derart, daß es an Brot fehlt und nur Bettelei bleibt. Ich erinnere mich an eine Kleine mit wergartigem Haarknoten, kleiebemehltem Pappmachégesicht, die mit ihren schmutzigen Patschhändchen nach Groschen haschte, welche eine Mutter ihr vom Hochsitz schwungvoll zuwarf. Bitterste, durch billigen Fusel noch vermehrte Not und wahnsinniger, durch unbeschreibliche Gefräßigkeit und rauschende Feste kaum verminderter Überfluß, das ist Hamburg.
Ein Restaurant, in dem ich täglich schmauste, hielt freilich die Mitte zwischen den Extremen; es strahlte bürgerliche Ausgewogenheit aus, nicht zu ärmlich, nicht zu reich, und brachte die friedvolle, zutiefst schlemmerhafte, still behagliche Seite des Deutschen zum Vorschein.
Der Ort war bezaubernd und heimelig, ohne Spiegel und Vergoldungen, in warmen Brauntönen à la Rembrandt. Wie überall gab es Büsten der Kaiser Wilhelm und Friedrich, wuchtige Anrichten, auf denen schwere Fleischteile zerlegt wurden, und Regalbretter, auf denen Humpen mit wappengeschmückten Zinndekkeln aufgereiht waren. Die Speisen und Getränke waren tadellos und die eingekellerten Rheinweine verdienten höchstes Lob; doch das eigentlich Besondere der Schenke bestand darin, daß man sich im Bauch eines ankernden Schiffes wähnen konnte. Die Decke war niedrig, der Saal voller Ecken und Winkel, und die eng beieinanderstehenden Fenster glichen Bullaugen.
An bestimmten Tagen, wenn die Luft aus Wasserstaub bestand, konnte man sich einbilden, in einem Aquarium zu sitzen und hinter den Scheiben in trüber Flüssigkeit schwimmende Fische zu erblicken, vorgetäuscht von wehenden zweizackigen Fähnchen an den Masten der Barken, die gegenüber, am Ende der Straße, in den Hafen geschleppt wurden.
Und man sah zu, ruhig, entzückt, glücklich, vor Regen und Wind geschützt zu sein und sich trocknen zu können. Wie oft fand ich Gefallen daran, die Leute, die mich umgaben und deren Sprache ich nicht verstand, unter die Lupe zu nehmen!
Sie gliederten sich in mehrere gut zu unterscheidende Typen: Die einen waren klein und beleibt, blaß und aufgedunsen, mit Billardkugelaugen und langen gelben Bärten, Köpfe, die nach Kavallerieoffizier oder Apotheker stanken; andere waren groß und rosig mit zweifarbigen Bärten, rostbraune Ähren und frische Butter, tiefe Augen hinter runden Brillen, Pianistenstrubbelköpfe auf Metzgerschultern; wieder andere waren vom Typ Orang-Utan, mit roten Ohren, flußgleichen Bärten, aus den Händen sprießenden roten Haaren und aus den Ohrlöchern wie aus einem Graben hervorquellenden Büscheln; und wieder andere waren brünett mit gekenterten Augen, kahlen, von der Druckstelle des Hutbands rosa umrandeten Schädeln, Seegrasbärten, den Physiognomien von in die Politik gegangenen unzufriedenen Architekten, Kneipengelehrten, Straßenkreuzungsdenkern. In der erstaunlichen Kapazität ihrer Begierden waren sie alle einander gleich. Ihre Mägen waren Schlünde. Nie sah ich Menschen so langsam, so methodisch, so ausgiebig kauen.
Kaum hereingekommen, schnitten sie riesige Brotscheiben ab, gaben Essig, Öl, Pfeffer und Salz darauf, banden die Gewürze mit einer Senfschicht und schlangen dieses Senfpflaster als Aperitif hinunter; hierauf versenkten sie mehrere Gänge, als Vorspeise nahmen sie ein mächtiges Beefsteak zu sich, auf dem zwei Spiegeleier lagen. (…)
Ein Freund ist eingetreten, dessen Anwesenheit mich von diesen Erscheinungen ablenkt, und während wir das Hamburger Nationalgericht essen, eine Suppe von unbestimmtem und säuerlichem Geschmack, die mit Kräuterbouillon gemacht wird und an deren Oberfläche Aal- und Räucherspeckbrocken, Erbsen und Backpflaumen, Karotten und Birnen schwimmen, sagt er lachend: »Schauen Sie mal!« Und er holt eine Fotografie aus der Tasche, die den Kaiser Wilhelm darstellt, wie er nach seinem Tod von Engeln in den Himmel entrückt wird, und reicht sie mir. Mit Backenbart und Helm sieht er wie ein kriegslüsterner Amtsdiener oder ein seraphischer Quartiermeister aus. Ach, die dümmliche katholische Bildersymbolik ist liebenswert verglichen mit der Militärfrömmelei der Protestanten! »Wohlgemerkt«, ergänzt mein Freund, den meine Fassungslosigkeit amüsiert, »wohlgemerkt, dieses Porträt hat sich hier ungeheuer gut verkauft. Und in der Tat befriedigt es die hurrapatriotische Gefühlsseligkeit ebenso wie das unklare Bedürfnis nach Frömmigkeit, das in der havarierten Seele dieser Stadt trotz allem fortbesteht. Luther hat nicht gut daran getan, uns Deutschen die Verehrung der Seligen und der Gerechten wegzunehmen. Da wir sie nicht entbehren können, sind wir offensichtlich gezwungen, unsere Generäle und Könige seligzusprechen, kurz: uns dem Schmuggel mit Heiligen zu ergeben.«
[...]
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 4/2019, S. 485-493, hier S. 485-488