Horn, Eva
geb. 1965 in Frankfurt am Main, Professorin für Neuere deutsche Literatur in Wien. Zuletzt erschienen »Zukunft als Katastrophe. Fiktion und Prävention« (2014) und »Das Anthropozän. Zur Einführung« (mit Hannes Bergthaller, 2019). (Stand 5/2023)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 4/2015 | Air Conditioning. Die Zähmung des Klimas als Projekt der Moderne
- 6/2020 | Was vom Tag übrigbleibt. Über Selfies, Tagebücher und andere Dokumentationszwänge
- 5/2023 | Das Ende des Frühjahrs. Verschwinden und Wiederkehr der Jahreszeiten
Ankunft in Changi Airport, Singapur. Ich betrete eine luxuriöse Teppichlandschaft mit großen Orchideeninseln, kühl und geordnet, die Abfertigung verläuft zügig. Dann öffnen sich die Glastüren nach draußen. Es sind nur ein paar hundert Meter bis zum Taxistand. Ich trete in etwas ein, das nicht Luft, sondern ein kompaktes Medium zu sein scheint. Etwas, das sich zwar atmen läßt, aber meinen Körper wie eine Art Gelee umschließt. Durch diese feucht-heiße Dichte zerre ich mein Gepäck, ungeduldig, eilig, zunehmend kurzatmig und mit pochendem Schädel. Ich schwitze und werde innerhalb von Minuten schlapp und dumpf, der Kopf dröhnt, Finger und Gesicht sind geschwollen. Als ich mich schließlich ins klimatisierte Taxi fallenlasse, schnappe ich nach Luft (...)
LeseprobeHorn, Eva
AIR CONDITIONING
Die Zähmung des Klimas als Projekt der Moderne
Ankunft in Changi Airport, Singapur. Ich betrete eine luxuriöse Teppichlandschaft mit großen Orchideeninseln, kühl und geordnet, die Abfertigung verläuft zügig. Dann öffnen sich die Glastüren nach draußen. Es sind nur ein paar hundert Meter bis zum Taxistand. Ich trete in etwas ein, das nicht Luft, sondern ein kompaktes Medium zu sein scheint. Etwas, das sich zwar atmen läßt, aber meinen Körper wie eine Art Gelee umschließt. Durch diese feucht-heiße Dichte zerre ich mein Gepäck, ungeduldig, eilig, zunehmend kurzatmig und mit pochendem Schädel. Ich schwitze und werde innerhalb von Minuten schlapp und dumpf, der Kopf dröhnt, Finger und Gesicht sind geschwollen. Als ich mich schließlich ins klimatisierte Taxi fallenlasse, schnappe ich nach Luft und genieße einen Moment lang die trockene Kälte auf meinem nassen Körper. Erst dampfe ich noch die angestaute Hitze aus, dann wird die Haut im kalten Luftstrom schnell ungesund klamm. Eben noch einem Hitzekollaps entronnen, krame ich jetzt mit kühl-feuchten Gliedern benommen nach einer Jacke.
In dieser frösteligen Luft, mindestens 10 Grad Celsius unter der Außentemperatur, so weiß ich einige Wochen später, verbringt man heute in tropischen Städten den Großteil seiner Zeit. Nutzt man das Geflecht der U-Bahn-Schächte und Shopping-Malls, kann man Singapur, wo das ganze Jahr um die 30 Grad Celsius und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit herrschen, weitgehend in klimatisierten Zonen durchqueren. Ist man doch einmal »draußen«, muß man lernen, was jeder Bewohner Singapurs, so eilig er seinen Geschäften nachgehen mag, verinnerlicht hat: Schatten suchen, Mittagszeit vermeiden, nicht zuviel essen – und vor allem: sich langsam bewegen. Aber den Rest der Zeit verbringt man in Klimakapseln bei knapp 20 Grad und künstlich getrockneter Luft, immer eher zu kühl als zu warm. Und dort kann man sich genauso hektisch bewegen, wie man es aus den Arbeitswelten von Berlin, London oder New York gewohnt ist.
Der Aufstieg dieser Stadt in drückend warmem Klima zu einem der wichtigsten Wirtschaftszentren Südostasiens wäre nicht denkbar ohne eine Technologie, die es erst seit weniger als hundert Jahren gibt: Air conditioning. Nicht zufällig nannte der Singapurer Publizistik-Professor Cherian George seine Heimatstadt die »Air Conditioned Nation«, und natürlich gilt das gleiche für etliche andere Metropolen wie Dubai, Shanghai, Bangkok, Mumbai oder die sich mit Rentnern füllenden Großstädte des amerikanischen Sun Belt von Florida bis Kalifornien. Dabei wurde Air conditioning Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst nicht zur Erhöhung des menschlichen Komforts entwickelt. Die ersten Klimaanlagen dienten hitze- und feuchtigkeitsempfindlichen Produktionsprozessen, wie Druckverfahren oder Fleischverarbeitung. In den zwanziger Jahren zog die Klimaanlage in die amerikanischen Kinos und Kaufhäuser ein, die in der erstickenden Sommerhitze unter starkem Kundenschwund litten. Seit den fünfziger Jahren erobert die Klimatechnik von den USA aus die Privathaushalte und Großraumbüros der ganzen Welt. In Singapur geht über die Hälfte aller verbrauchten Energie in Kühlanlagen. In den USA haben nur noch fünf Prozent der neueren Bauten keine zentrale A/C. Indien und China sind explodierende Wachstumsmärkte für Klimatechnologie, und selbst in Mitteleuropa gibt es praktisch keine neueren Hochhäuser mehr, die keine Klimaanlage besäßen. Stan Cox, der ein Buch über den Siegeszug des Air conditioning in den USA geschrieben hat ("Losing our Cool«, 2012), schätzt, daß heute eine Trillion Kilowattstunden Strom jährlich für Kühlung verbraucht werden. Niederländische Forscher erwarten gar eine Verzehnfachung dieses Verbrauchs bis 2050. Auch in Deutschland boomt der Einbau von Klimaanlagen nicht nur in öffentlichen Gebäuden wie Krankenhäusern; seit den Hitzewellen von 2003, 2006, 2010 und 2013 werden sie auch zunehmend in Privathäusern installiert.
Air conditioning erfüllt einen der ältesten Menschheitsträume: eine Welt ohne Hitze oder Kälte, ohne Regen, Schnee oder Schwüle, ohne Staub und Wind. Die künstliche Klimatisierung erzeugt einen Raum ohne Wetter und ohne Temperaturextreme, eine Sphäre ohne meteorologische Überraschungen und saisonale Rhythmen. Sie temperiert einen Raum gemäß der immer schmaler werdenden menschlichen Komfortzone. »Gerade richtig«, wie es im englischen Märchen von »Goldilocks« heißt, weder zu warm noch zu kalt, weder zu naß noch zu trocken. Natürlich heißt das nicht notwendig Kühlung. Menschheitsgeschichtlich bedeutete das Projekt einer Temperierung der Umgebung zunächst, sich schützende Behausungen zu suchen oder zu bauen, eher Kapseln der Wärme als der Kühle. »Insulation« nennt das Peter Sloterdijk und sieht darin die grundlegende Geste eines menschlichen In-der-Welt-Seins, das sich lebbare »Sphären« schafft, in denen es vor feindlichen oder unangenehmen Einflüssen geschützt ist. Kleidung wird hergestellt, um ein wärmendes Mikroklima um die Haut zu legen. Steinhäuser erzeugen eine Modulation des Wohnklimas, indem sie sommers kühlen und winters Wärme speichern. Mit dem Übergang zum Ackerbau beginnt der Mensch schließlich, auch die ihn umgebenden Landschaften zu verändern. Er bewässert Felder, rodet Wälder oder legt Feuchtgebiete trocken, um darin wohnen, Pflanzen anbauen und Vieh halten zu können. Aus nassen Wäldern werden Steppen und Felder, aus Schwemmgebieten fruchtbares Ackerland, mit Folgen für deren Klima. Schon Johann Gottfried Herder bestimmte 1784 den Beginn jeder Kultur als Modulation des Klimas durch den Menschen: »Nun ist keine Frage, daß, wie das Klima ein Inbegriff von Kräften und Einflüssen ist, zu dem die Pflanze wie das Tier beiträgt und der allen Lebendigen in einem wechselseitigen Zusammenhange dienet, der Mensch auch darin zum Herrn der Erde gesetzt sei, daß er es durch Kunst ändre. Seitdem er das Feuer vom Himmel stahl und seine Faust das Eisen lenkte, seitdem er Tiere und seine Mitbrüder selbst zusammenzwang und sie sowohl als die Pflanze zu seinem Dienst erzog, hat er auf mancherlei Weise zur Veränderung desselben mitgewirkt. Europa war vormals ein feuchter Wald, und andre jetzt kultivierte Gegenden waren’s nicht minder: es ist gelichtet, und mit dem Klima haben sich die Einwohner selbst geändert.« (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit II, Buch 7)
Nicht nur prägt das Klima den Menschen, sondern er ändert sich selbst, indem er das Klima ändert und seinen Lebensformen anpaßt. Was sagt Air conditioning über uns? Der Mensch schafft sich seine Welt, indem er für sich komfortable Atmosphären schafft. So beginnt das Anthropozän – jene Epoche, in der der Mensch seinen unauslöschlichen Abdruck in den geologischen Schichten der Erde hinterlassen hat – vielleicht nicht erst, wie Paul Crutzen vorgeschlagen hat, mit der industriellen Revolution, die um 1800 durch die Dampfmaschine ihren Aufschwung nahm. Seit ihrer Seßhaftwerdung nach der Eiszeit ändern Menschen Landschaften und ihr jeweiliges Mikroklima durch Kulturtechniken. Zivilisation beginnt als Herstellung einer dem Menschen zunehmend angepaßten, von ihm bearbeiteten und genutzten Natur. Klima-Kontrolle ist damit nicht ein Produkt der Komfortgesellschaft des 20. Jahrhunderts, sondern Kern des zivilisatorischen Projekts, sich von den Fährnissen der Natur zu befreien, gerade da, wo sie sich uns nicht als greif- und gestaltbares Ding, sondern als flüchtige Atmosphäre zeigt. Diese Atmosphäre umfängt und durchdringt uns unausweichlich. Die Überraschungen des Wetters und der unerbittliche Gang der Jahreszeiten sind seit alters her Inbegriff dessen, was der Mensch weder planen noch beeinflussen kann. Das Wetter ist eine Bühne der Götter und ihrer Launen, das Klima eine Kraft, die Körper und Geist der Menschen prägt. Oder wie Herder schön wortspielerisch formulierte: »das Klima neigt«. Hitze neigt uns zur Schlaffheit, Kälte zur Bewegung. Schon Hippokrates wußte um den starken Einfluß klimatischer Faktoren auf Körper und Geist, auf Lebensweise und Krankheiten an einem gegebenen Ort: die Winde, die dort wehen, Böden, Wasserquellen, Temperaturen, ungute Dämpfe oder Feuchtigkeit, die Bedeutung der Jahreszeiten. Wer die Wirkungen des Klimas nicht kennt, versteht weder die Prozesse des menschlichen Körpers noch die Eigenheiten und Unterschiede zwischen den Gesellschaftsformen in verschiedenen Klimazonen. So gesehen ist Klima das, was einen Ort von anderen unterscheidet und die Eigenart der Menschen wie ihre Lebensform an einem gegebenen Ort bestimmt. Der Rechtsphilosoph Montesquieu dachte diesen Gedanken im 18. Jahrhundert weiter, als er die Gesetze und sozialen Institutionen der verschiedenen Zivilisationen auf das Klima bezog, in dem sie angesiedelt waren ("Vom Geist der Gesetze«, 1748, XIV. Buch). Hitze, so meinte er, mache den Körper schlaff und den Geist feig und träge, rege aber auch die Phantasie und erotische Begierden an. Kälte dagegen mache straff, stark, kühn, gesetzestreu und phantasielos, aber auch relativ unempfindlich gegen sinnliche Reize. Also brauchten Völker heißer Zonen andere Gesetze und Regierungsformen als die Bewohner kalter Zonen. Institutionen wie Polygamie, Sklaverei oder Despotie im hitzedurchwirkten Orient, die kältegewöhnte Europäer meist höchst befremdlich finden, verstand Montesquieu als Reaktionen auf das heiße Klima. Eine Erfindung wie die romantische Liebe begriff er als ein Mittel, die erotisch unlustigen Nordeuropäer doch noch zur Fortpflanzung anzuregen.
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SINN UND FORM 4/2015, S.455-462, hier S.455-458
Ich war immer ziemlich unfähig, Selfies zu machen. Von unten aufgenommen sieht man ein Doppelkinn, das ich sonst nicht habe, frontal die (...)
LeseprobeHorn, Eva
Was vom Tag übrigbleibt.
Über Selfies, Tagebücher und andere Dokumentationszwänge
Ich war immer ziemlich unfähig, Selfies zu machen. Von unten aufgenommen sieht man ein Doppelkinn, das ich sonst nicht habe, frontal die Stirnfalten, und ich glänze ungut. Von leicht oben sehe ich etwas mitleiderregend aus, schutzbedürftig, großäugig, nicht besonders schlau. Also, das habe ich schnell gelernt: am besten im diffusen Licht und freundlich gucken. Am Fehlen jenes Narzißmus, der Selfiemachern von allen Seiten vorgeworfen wird, kann es nicht liegen; eher an der technischen und visuellen Unbegabtheit meiner Generation, die ihr erstes Smartphone erst mit vierzig in der Hand hielt. Obwohl mich Freunde und Familie immer wieder auffordern, ihnen Selfies von meinen Reisen oder von Begegnungen mit Leuten zu schicken, die berühmter sind als ich, frage ich mich, warum man überhaupt solche Bilder schießen soll. Die Selfie-Culture, ohne die Facebook aussähe wie eine Seite aus »Sinn und Form« und ohne die es Instagram und Pinterest nicht gäbe, wird in letzter Zeit arg kritisiert. Wer sich ständig ablichtet, sei von sich selbst besessen, führe eine visuell optimierte Individualität vor, bei der es nur darum gehe, das eigene Leben perfekt in Szene zu setzen. Permanent ausgelebter Narzißmus, den man der ohnehin als verzogen und unreif geltenden Generation der Millennials nun auch noch anhängt. »Selfie – How the West became Self-Obsessed« reimt sich griffig die These des britischen Journalisten Will Storr in seinem Buch über Selfie-Culture. Mit Blick auf Kim Kardashians Youtube-Anleitungen, wie man das »perfekte Selfie« schießt, scheint das oberflächlich zu stimmen. Es geht um Selbstinszenierung, das Vorführen eines perfekten Lebens. Kardashian steht stark geschminkt in einem figurbetonten Abendkleid inmitten ihres zimmergroßen, begehbaren Kleiderschranks und gibt gar keine Tips, außer dem, daß jede selbst herausfinden solle, von welcher Seite sie am besten aussehe.
Aber vielleicht ist das nur die halbe Wahrheit. Das Selfie ist ja gar nicht das perfekte Porträt – das würde ein Photograph zweifellos besser machen als der eigene Arm. Es ist ein Dokument. Eine Momentaufnahme: »Das bin ich hier«, »So sehe ich jetzt gerade aus«, »Diese Person habe ich getroffen«. Der Beleg dafür, daß etwas wirklich passiert ist. Pics or it didn’t happen ist das heimliche Motto all der unzähligen, nicht immer schmeichelhaften Schnappschüsse, die jeden Tag millionenfach gepostet werden. Beweisstücke, Dokumente, Belege einer Wirklichkeit, die sonst – unphotographiert – eigentlich nicht stattgefunden hat. Sie sind der Versuch, etwas festzuhalten – für sich und für andere –, was sonst einfach flüchtig vorbeigezogen wäre, existent lediglich in der ungreifbaren und unbeweisbaren subjektiven Erinnerung. »Die Sache ist dagewesen«, hat Roland Barthes einmal die Essenz der Photographie auf den Punkt gebracht. Eine Licht-Spur der Wirklichkeit. Aber was heißt es, wenn eine Medientechnik der Dokumentation und Spurensicherung plötzlich überall und jederzeit zur Verfügung steht? Was tun wir damit?
Ganz offensichtlich geht es weniger um eine lustvolle Selbstinszenierung, eher um ein Festhalten der Gegenwart. »Was man von der Minute ausgeschlagen, / Gibt keine Ewigkeit zurück«, schreibt Schiller. Heute heißt das, diese Minute zuallererst einmal medial festzuhalten. Man feiert eine Party und verbringt die Hälfte der Zeit damit, Photos von sich und anderen Gästen zu schießen. Man verreist und vergißt nicht, vor jeder pittoresken Landschaft erst einmal sich selbst aufzunehmen. Man sieht einen Unfall oder eine Schlägerei und hält sofort mit dem Handy drauf. Früher schoß man sorgfältig inszenierte Urlaubsfotos, die dann meist in Schubladen herumlagen. Mit den allgegenwärtigen Smartphones ist nun in jedem Moment unseres wachen, wenngleich nicht immer nüchternen Lebens das Dokumentationsgerät dabei. Besoffene Reden, peinliche Mißgeschicke und stocklangweilige Vorträge werden gefilmt und ins Netz gestellt.
Symptomatisch ist das Photographieren von Essen. Schon vor zehn Jahren gab es gelegentlich einsame Esser in hochpreisigen, gern als experimentell beschriebenen Restaurants, die jeden Gang sorgfältig ablichteten. Damals dachte ich, das seien Leute von irgendeinem Foodblog, die dem Gault Millau Konkurrenz machen. Heute sieht man das auch in kulinarisch unambitionierten Bierkneipen, wo fröhliche Trinker ihren Stapel Spareribs mit Fritten knipsen. Ganz offensichtlich geht es dabei nicht um eine Ästhetik des Essens. Es geht darum, das Allervergänglichste im Bild festzuhalten: »Diese exotische, phantasievolle, fettige oder auch nur bizarre Speise habe ich gegessen.« Eine Bekannte hat eine Zeitlang Hundefutter gepostet – selten bekam sie so viele Likes und freundliche Kommentare. Angeblich veröffentlichen 63 % der Leute zwischen dreizehn und dreißig ihr Essen in verschiedenen sozialen Medien. Dokumentieren und Zurschaustellen sind untrennbar verkoppelt. Wer diese Inszenierungen verächtlich als »Foodporn« beschreibt, versteht – wie im Fall des Narzißmusvorwurfs gegen die Selfie-Culture – bestenfalls die Hälfte. Es geht um das Festhalten des Flüchtigsten, Fragilsten und zugleich des Üppigsten, Luxuriösesten – des Genusses selbst. Die Obst- oder Fisch-Stilleben des 17. Jahrhunderts waren nichts anderes: Sie feierten Fülle, Genuß, Schönheit, aber immer im Moment ihres Schwindens. Genau darum sind Lebensmomente mit Seltenheitswert, wie Feste oder Reisen, klassische Sujets des Dokumentationszwangs, aber längt nicht die einzigen. Neu ist, daß das Dokumentieren mittlerweile auf die gewöhnlichsten Alltagsvollzüge ausgedehnt wird: Kochen und Essen, Schminken und Haareföhnen, der Gesang noch unentdeckter Nachwuchsstars im heimischen Schlafzimmer, das lustige Treiben der Haustiere, die tägliche Yoga-Praxis. Nichts bleibt ungefilmt, nichts ungepostet. Pics or it didn’t happen.
Natürlich ist es alles andere als neu, festzuhalten, was vom Tag übrigbleibt. Früher schrieb man Tagebuch oder lange Briefe, gelegentlich auch Tätigkeitsberichte, die, nie gelesen, Aktenordner füllten. Interessant in diesem Zusammenhang ist vor allem das Tagebuch, gerade weil es (zumeist) keinen Adressaten und keine offizielle Funktion hat. Es geht einzig darum, in der Notiz die Zeit, das gelebte Leben, vielleicht auch Gedachtes zu einzelnen Sätzen zu kristallisieren, zu Beobachtungen, kleinen Berichten, Herzensergüssen, Bonmots, Geständnissen, endlosen Lamentos. Den Geschmack der Tage festhalten. Manche haben dabei fast mehr dokumentiert als gelebt. Der Schweizer Ästhetik-Professor Henri-Frédéric Amiel hat im späten 19. Jahrhundert 17 000 Seiten Tagebuch geschrieben, nebst sechzehn Büchern. Der Orientalist und Dichter Friedrich Rückert schrieb ständig kleine Gedichte, gerade auch in Situationen tiefster Verzweiflung. Seine »Kindertodtenlieder«, über vierhundert Gedichte, die er nach dem Tod seiner zwei jüngsten Kinder schrieb, entstanden in wenigen Wochen, in denen der Dichter sich ruhelos und nie ohne Schreibzeug durchs Haus bewegte und praktisch permanent schrieb. Ähnlich Ernst Jünger, der neben seinem ausufernden literarischen Werk noch über ein Dutzend Tagebuch-Bände herausgebracht hat. Nichts, was ihm durch den Kopf fliege, bleibe unaufgeschrieben und unpubliziert, höhnte sein Bekannter Carl Schmitt 1949, natürlich in seinem eigenen Tagebuch »Glossarium«: »Entsetzliche Sparsamkeit der ihre Einfälle restlos verwertenden Vollmonade.« Jünger verwurstete den Ersten und Zweiten Weltkrieg, Gespräche mit berühmten Zeitgenossen, Spaziergänge, Reisen, Lesefrüchte und seine Gedanken über die Zeitläufte. Kaum gedacht, ging es zu Klett-Cotta.
Der englische Marine-Staatssekretär Samuel Pepys schrieb im 17. Jahrhundert alles auf, was ihn umtrieb: seine Arbeit, politische Ereignisse, das Pestjahr 1665 in London, den Brand im folgenden Jahr, seine Ehestreitigkeiten, Gesundheitsprobleme und kleinen Affären. Anders als Jünger, der in jeder seiner kalkulierten Gesten nicht nur für eine Öffentlichkeit schrieb, sondern wohl auch für sie lebte, ist Pepys’ Tagebuch für niemanden als ihn selbst verfaßt. Ein Notat gelebten Lebens, aber wohl auch eine Art, sich der Ereignisse, Gefühle, Unsicherheiten und Zweifel zu entledigen, die es begleiteten. Ein Logbuch vielleicht nicht der Innerlichkeit, aber der Privatheit. Und anders als Jünger, der sich stets als wichtigen Zeugen und Kommentator des Jahrhunderts verstand, überließ Pepys die Entdeckung seiner in einer Kurzschrift verfaßten Notizen auch der Nachwelt. Er ließ die Aufzeichnungen binden und reihte sie einfach unter die anderen dreitausend Bücher seiner Bibliothek, die er seinem Neffen vermachte.
Tagebücher, schreibt Arno Dusini, sind materialisierte Zeit. Seine Studie »Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung« schmückt ein Bild aufgespießter toter Fliegen. Sind die Notate der Tagebuchschreiber die toten Fliegen ihres Lebens? Eingefangen, aufgespießt, getötet – aber immerhin zum Werk geronnen? Dann wäre Tagebuchschreiben nur eine Vorübung zur Autobiographie, zur großen Selbstinszenierung des Autors à la Jünger. Die aufgespießten Fliegen des eigenen Lebens als Ornament, als großes Narrativ der eigenen Unvergleichlichkeit. Dieser Monumentalismus trifft natürlich nicht das, was heute passiert. Das heutige Dokumentieren ist eher ein Stoffwechselprodukt, ein »Abfall für alle« – wie es ein anderer großer Selbstdokumentierer, Rainald Goetz, nannte. Hipster, der er war, schrieb er diesen »Abfall« des Jahres 1998 in Form eines Blogs – damals nannte man das noch »Netztagebuch«. Der Blog ist längst aus dem Internet verschwunden, das Buch, 850 Seiten dick, gibt es noch bei Suhrkamp. Goetz ging es um das »JETZT«, den festgehaltenen Alltag, die Telefonate, Partygespräche, Arbeit, To-do-Listen, Fernsehabende, Lektüren und viele längere, meist verachtungsvolle Auslassungen über diesen und jene – ein unredigierter Textstrom, der gedruckt oft wie Lyrik aussieht, aber weiß Gott keine ist. Als Buch ist das ungenießbar, außer vielleicht für Zeithistoriker. Als Blog, damals, als man noch mühsam mit fiependem Modem ins Netz ging, war es ein unabdingbarer Teil meines Frühstücks. Stoffwechsel eben. Es floß aus dem Netz wie aus dem Wasserhahn, das wunderbare, aufregende Nachwende-Berlin in Echtzeit. Eine Geschichte des flüchtigen Jetzt, der gehetzte, von Zeitangaben im Militärformat (1708 für acht Minuten nach fünf) durchsetzte Monolog eines Schnellsprechers.
»Abfall für alle. Mein tägliches Textgebet. Tagebuch, Reflexions-Baustelle, Existenz-Experiment. Geschichte des Augenblicks, der Zeit, Roman des Umbruch-Jahres 1998.
Schließlich war, ein Traum, der wahr geworden ist, das Buch entstanden, das ich bin. Das ich immer schreiben wollte, von dem ich immer dachte, wie könnte es gelingen, das einfach festzuhalten, wie ich denke, lebe, schreibe. Von seiten des Todes her gesehen. – Was mir also gefällt, am Buch Abfall:
der Realismus, der Ideen-Vorrang, die Banalität der Dämonie des Alltags, das Schreiberleben, die Stille, der mediale Lärm, die Fiktionalität der auftretenden Personen, die argumentative Pedanterie, das Tasten, das urteilsmäßige Rumholzen, die Gleichwertigkeit aller Dinge, die Poetologie, die ästhetische Theorie, strukturell fragmentarisch, fragmentiert von Zeit, die Zeitmaschine, das Jahr, die Minutendinger und ihre Plausibilität, die Sekundengedanken: der Wahn, Tag für Tag, die Erzählung, Zahlen und Ziffern, Alles ist Text, und über und unter und in allem: Melancholie.
Keiner weiß, was als nächstes passiert. Davon erzählt ›Abfall für alle‹. Wie es war, als man noch nicht tot war und nicht daran dachte, wie es weiter geht. Augenblick. Moment. Und jetzt?«
Im Buch ist das der Klappentext. Ich habe es mir nicht gekauft, sondern nur kurz das Bibliotheksexemplar angeguckt. Die Seiten fallen heraus, billige Bindung, auch egal, sogar passend. Bemerkenswert ist aber der Bezug auf den Tod. Goetz dokumentiert sich im Vorgriff auf jenen Moment, wo man schon tot ist, aber noch einmal zurückschaut, »wie es war, als man noch nicht tot war und nicht daran dachte, wie es weiter geht«. Um das zu schreiben, muß man natürlich daran denken, wie es weitergeht und wie es ist, wenn man tot ist.
Die Ironie an der Sache ist, daß dies eine alles andere als neue Pose ist. Sie stammt direkt aus der Romantik, den »Erinnerungen von jenseits des Grabes« eines anderen Hipsters und Kultautors, aber nicht des »Umbruchjahres 1998«, sondern der Französischen Revolution: François-René de Chateaubriand. Zum Schreiben seiner Lebenserinnerungen bedient er sich der pathetischen Fiktion, er schaue aufs eigene Leben zurück, wie es war, als man noch nicht tot war. Als auch die anderen noch nicht tot waren, die Freunde, die Familie und die Geliebten, die Opfer der Revolution, der Kriege, der Schwindsucht, des Alters geworden sind. In jedem erinnerten Jetzt seiner Jugend, das der alte Chateaubriand heraufbeschwört, sieht er nichts als Tod und Vergänglichkeit. »Dort«, heißt es über eine Bekannte, die er als junger Mann am Hof traf, »begegnete mir die Baronin von Montmorency, jung und schön. Jetzt gerade liegt sie im Sterben.« Alles verweist immer auf ein künftiges Ende – eins, das er (im Gegensatz zu Goetz) aber schon kennt. Goetz schaut aus der Gegenwart auf die Gegenwart, aber mit einer Reflexion auf eine Zukunft, in der man tot sein wird. Chateaubriand dagegen, ganz Romantiker, schreibt jeder Gegenwart, aus der Zukunft auf sie zurückblickend, ihre Endlichkeit ein. Veröffentlicht werden sollte das Ganze darum erst nach seinem Tod, ursprünglich sogar erst fünfzig Jahre danach. Eine heute kaum nachvollziehbare Vorstellung von Geschichte. Wer interessiert sich fünfzig Jahre später für die Helden der Großeltern? Chateaubriand denkt Gegenwart noch sub specie aeternitatis. Genau das können wir heute nicht mehr. Gegenwart ist ein reißender Fluß, ein festes Ufer gibt es nicht. Darum fühlt sich Goetz’ fetter Suhrkamp-Band nun, über zwanzig Jahre später, wo wir wissen, wie es weiterging, wirklich wie »Abfall« an, nicht etwas, das nebenher ab- und anfällt, sondern wie etwas, das man wegwirft, weil es alt geworden ist. Die Relikte eines gehetzten Anschreibens gegen die verfließende Zeit in einem manisch-lebendigen Berlin, das es heute nicht mehr gibt. Abfall, versteinert oder zu toxisch, um zu zerfallen. Ein mumifiziertes Jetzt.
[…]
SINN UND FORM 6/2020, S. 758-767, hier S. 758-763
Wer heute »vier Jahreszeiten« googelt, findet entweder Vivaldi oder eine Hotelkette, schlimmstenfalls auch noch ein paar handgestrickte Gedichte (...)
LeseprobeHorn, Eva
Das Ende des Frühjahrs. Verschwinden und Wiederkehr der Jahreszeiten
Wer heute »vier Jahreszeiten« googelt, findet entweder Vivaldi oder eine Hotelkette, schlimmstenfalls auch noch ein paar handgestrickte Gedichte oder Bildmotive mit fallenden Blättern. Jahreszeiten sind banal wie Wettergespräche, peinlich wie die Rede vom »Wonnemonat Mai«, langweilig wie alles, was so erwartbar ist wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Gelegentlich ist die Rede von untypischen Jahreszeiten, aber das ist mittlerweile so unoriginell wie der Reflex, jedes schlechte Wetter auf den Klimawandel zu schieben. Immerhin hat es der Frühling im Sommer 2022 mal in die Nachrichten geschafft. Zwei Mitglieder der italienischen »Letzten Generation« hatten sich in den Uffizien an ein Kunstwerk geklebt, das nicht besser gewählt sein konnte: Sandro Botticellis »Primavera«.
Botticellis Bild ist die wohl bekannteste Jahreszeiten-Allegorie, die je gemalt wurde. Im Zentrum steht Venus, die Göttin der Liebe, auf einem blumenübersäten Rasen in einem Orangenhain, neben der Gruppe der drei tanzenden Grazien. Rechts verfolgt der Westwind Zephyr die Nymphe Chloris, die sich, nach Ovid, in die Göttin Flora verwandelt, die blumengeschmückte Frauenfigur im Vordergrund. Flora ist eine der Vegetationsgottheiten, mit Hilfe des Windgotts bewirkt sie das Austreiben und Blühen der Pflanzen im Frühjahr. Links steht Merkur und schiebt mit seinem Stab dunkle Wolken zur Seite. Was das Gemälde aus dem 15. Jahrhundert zeigt, ist Klima – und insofern eine passende Folie für die Klimagerechtigkeitsbewegung.
Vielleicht aber gerade deshalb, weil Botticellis Bild eine Idee von Klima und Natur vorführt, die von unserer heutigen Vorstellung denkbar weit entfernt ist. Es ist eine anthropomorphe Natur, deren Kräfte durch Götter und Göttinnen verkörpert werden, über deren Köpfen ein kleiner, blinder Amor schwebt. Liebe regiert die Natur. Nicht zufällig ist der Schauplatz ein Hain von Orangenbäumen, die zugleich Blüten und Früchte tragen. Botticellis Frühlingsbild zeigt nicht allein den Frühling, sondern, ganz grundsätzlich, eine pulsierende Natur, die in Zyklen und Phasen organisiert ist, Natur als Wandel und ewige Wiederholung.
Heute leuchtet uns gerade noch die Assoziation von Frühling, Naturerwachen, jugendlicher Grazie und Liebe ein. Gelegentlich reden wir von erotischen Anwandlungen als »Frühlingsgefühlen«, aber im Grunde sind die Jahreszeiten längst dem Verdikt des Kitsches verfallen. Dabei waren sie einmal ein zentrales Thema der Literatur, der Kunst und Musik, von Hesiods »Werken und Tagen« über Ovids »Metamorphosen« bis zu dem Langgedicht »The Seasons« (1726 – 30) des Schotten James Thomson, das zur Vorlage für Haydns Jahreszeiten-Oratorium (1801) wurde. Nicht zu vergessen natürlich Vivaldis Violinkonzerte (1725), denen man heute in jeder Telefonwarteschleife lauschen darf, Poussins letzter Gemäldezyklus »Les saisons« (1660 – 64) und Hölderlins späte und rätselhafte Scardanelli-Gedichte (ca. 1807 – 43). Immer noch schön sind Rilkes Winterstimmungen und Herbstgleichnisse. Und auch Peter Maffay hat 2011 eine Art Kinderlied zum Thema beigesteuert. Von der Renaissance bis zur Aufklärung schmückten die Jahreszeiten Gobelins, Gebäude, Möbel, sie inspirierten Musik, sie strukturierten Almanache und Gesundheitsratgeber. Aber was waren sie, bevor sie zu Hotelketten und Kitschmotiven herabsanken?
Jahreszeiten gaben den Takt des Lebens vor, indem sie die Rhythmen der Natur mit den Zeitmodellen des Menschen verbanden. Die Zeit der Natur ist zyklisch, mit diesem regelmäßigen Takt vermittelt sie einen Sinn für den richtigen Moment: »Halte die Maße ein, denn alles hat seine Stunde«, heißt es bei Hesiod. Und dabei geht es nicht nur um Aussaat oder Seefahrt, sondern auch ums Heiraten, Geschäftemachen, Häuserbauen. Alles menschliche Handeln muß seinen rechten Zeitpunkt finden, wie es im Alten Testament heißt: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit, pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit …« (Pred. 3,1) Die Maße dieser Naturzeit einzuhalten heißt den richtigen Moment, den Kairos abwarten zu können, kommen zu sehen und zu ergreifen. Es heißt, ein Zeitmaß zu respektieren, das nicht einfach eines der menschlichen Entscheidungen ist.
Die zyklische Zeit bedeutet aber auch, immer wieder neu anfangen zu können, Schuld und Schulden zu vergeben. Der Neubeginn jedes Jahres (traditionell eher am Frühlingsanfang als in der dunkelsten Zeit des Jahres, dem heutigen Neujahr) bedeutet auch einen Neubeginn der Gemeinschaft. »Anläßlich dieses Zeiteinschnitts, den das ›Jahr‹ bedeutet, erleben wir (…) die Vernichtung des vergangenen Jahres (…), eine Annullierung der Sünden und Fehler des Individuums und der Gemeinschaft im ganzen«, schreibt Mircea Eliade. Die Rituale des Jahresanfangs stellen »die mythische und primordiale Zeit wieder her (…), die ›reine‹ Zeit, die Zeit, die im ›Augenblick‹ der Schöpfung war«. Genau das, so scheint es, ist die heimliche Bedeutung von Frühlingsfesten, Sommersonnenwenden oder auch des dunkelsten Tages im Jahr: Weihnachten, welches das Konzil von Nicäa 325 listig auf den heidnischen Feiertag des Sol Invictus – der unbesiegt wiederkehrenden Sonne – legte.
Die Kultur der Jahreszeiten zielt darauf, menschliche Kultur mit der zyklischen Zeit der Natur in Einklang zu bringen. Und zwar gerade deshalb, weil die menschliche Zeit eine andere Form hat als die sich immer wieder regenerierende Natur. Menschen wachsen, altern, sterben, sie akkumulieren und verlieren unwiederbringlich. Ihre Zeit ist linear und irreversibel, stagnierend oder sprunghaft, leer oder voll. Natürliche Zeit dagegen ist pulsierend, zirkulär, regelmäßig, und damit in gewissem Sinne endlos. Die Zeit der Natur ist Ausdruck einer kosmischen Ordnung, die man berechnen kann; die Zeit des Menschen ist unregelmäßig, hoffnungslos verstreichend, stets zu kurz. Der Tod ist ein Ende, der Untergang in der Natur die Rückkehr in einen ewigen Zyklus von Materie: Omnia mutantur, nihil interit. Alles verändert sich, nichts geht zugrunde, schreibt Ovid in den »Metamorphosen«. So ist die intensive kulturelle Anverwandlung dieser Rhythmen durch Feiertage der Versuch, an dieser Ordnung der Natur teilzuhaben.
Darum werden Jahreszeiten mit kultureller Bedeutung aufgeladen: der Frühling mit Jugend, Liebe und Aufbruch, der Sommer mit dem Höhepunkt des Lebens, Energie und Freude, aber auch Arbeit und Anstrengung, der Herbst mit Verfall und Melancholie, aber auch mit Ernte, Reife und Zufriedenheit, der Winter schließlich mit Zerstörung oder Tod, aber auch mit einer Fülle von Festen. So ist der Winter die vielleicht ambivalenteste Jahreszeit: Es ist die Zeit des schlechten Wetters, der Not und Tristesse, aber auch der Innenräume, des Zusammenkommens, der Lichterfeste und sozialen Wärme. Bezeichnend ist, daß gerade das Barock, das unter den eisigen und langen Wintern der »Kleinen Eiszeit« litt, den Winter mit seinen langen Nächten auch als Zeit erotischer Aktivitäten zu feiern wußte. Johann Christian Günther schwärmt unzweideutig: »Der Schönen in den Armen liegen, / Wenn draußen Nord und Regen pfeifft, / Macht so ein inniglich Vergnügen«.
Insgesamt ist der Zyklus der vier Jahreszeiten nicht selten ein Anlaß, über das Verhältnis von menschlicher Geschichte und anderen Formen der Zeit nachzudenken. So malt Nicolas Poussin zwischen 1660 und 1664 die Jahreszeiten als eine Serie von biblischen Szenen, die verschiedene Episoden des Alten Testaments zugleich im Licht verschiedener Jahres- und Tageszeiten präsentieren. Das Frühlingsbild zeigt das Paradies am Morgen, der Sommer die Begegnung von Ruth und Boas auf dem Erntefeld mittags, der Herbst die Rückkehr der Kundschafter aus dem Gelobten Land am Nachmittag, der Winter die Sintflut in einer blitzdurchzuckten Nacht. Die Zyklen der Natur bilden hier den Rahmen für menschliches Handeln. So faltet Poussin die Geschichte des Volkes Israel in eine Geschichte der Natur zwischen Paradiesgarten, Kairos, Hoffnung und Katastrophe ein. Bemerkenswert ist, daß die Schlange im Paradiesbild fehlt, aber dafür untypisch im Winterbild der Sintflut auftaucht. Das Ende verweist zurück auf den Sündenfall des Anfangs. Aber, so weiß man, nach dem Winter der Sintflut folgt gleichwohl ein Neuanfang. Das zeigt eine andere Seite der zyklischen Zeitform. Sie kann viele verschiedene Arten von Zeit integrieren: menschliche Geschichte mit ihrer linearen Zeitlichkeit, die Zyklen der Jahres- und Tageszeiten, den Kairos des richtigen Augenblicks, aber auch den Einbruch einer Zeit Gottes, die der menschlichen Zeit Anfang und Ende setzt.
(…)
SINN UND FORM 5/2023, S. 633-640, hier S. 633-636