Hamburger, Michael
(1924 – 2007), deutsch-britischer Lyriker, Essayist, Literaturkritiker und Übersetzer, Mitglied der Akademie der Künste. (Stand 2/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/2001 | Philip Larkin: Ein Rückblick
- 2/2024 | Moderne deutsche Literatur in England. Ein persönlicher Erfahrungsbericht (1981). Mit einer Vorbemerkung von Till Greite
Michael Hamburger, Übersetzer aus der Not des Übersetztwerdens. Eine Vorbemerkung
Der mit dem Werk Michael Hamburgers vertraute Leser (...)
Hamburger, Michael
Moderne deutsche Literatur in England. Ein persönlicher Erfahrungsbericht (1981)
Michael Hamburger, Übersetzer aus der Not des Übersetztwerdens. Eine Vorbemerkung
Der mit dem Werk Michael Hamburgers vertraute Leser mag in der erstmals auf deutsch abgedruckten Rede über eine bemerkenswerte Auslassung stolpern. Denn anders als in seiner Autobiographie »Verlorener Einsatz« oder in seiner Essaysammlung »Zwischen den Sprachen« bleibt die Urszene seiner literarischen Existenz, seiner dreifachen Identität als Dichter, Übersetzer und Kritiker hier unberührt. Immer wieder greift Hamburger in seinem Werk ein Schlüsselerlebnis auf: den Schreck des verstummenden Kindes, dem in der Fremde keine Worte mehr zur Verfügung stehen. Es beginnt 1933 mit einem neunjährigen Jungen aus Berlin-Charlottenburg, der über die Flure einer britischen Schule geistert. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft – von der er ein paar Monate zuvor noch nichts wußte – ist er aus Nazi-Deutschland vertrieben worden. Den Blick in den wortlosen Abgrund hat Hamburger, der später zum entscheidenden »cultural mediator« deutschsprachiger Literatur in Großbritannien werden sollte, auf unterschiedliche Weise geschildert. Berichtete er in seiner Muttersprache Deutsch von dem Erlebnis, so nahm er eine aufschlußreiche Verschiebung des Wortes Übersetzung vor: Statt der aktiven Form betonte er die ungewollte Variante eines Übersetztwerdens.
In diesem Sinne beantwortete er dreißig Jahre später in einer deutschen Zeitung die selbstgestellte Frage »Warum ich übersetze«: Er sehe da zwei Jungen, ihn und seinen Bruder, in einem Edinburgher Schulgebäude die richtige Schwelle in eine neue Welt suchen: »Ich selber war ins Englische übersetzt worden. Nun galt es, das fremde Element (…) zu bewältigen – oder unterzugehen.« Und in seiner Autobiographie schrieb er: »Es war, als sollte man schwimmen lernen, indem man in tiefes Wasser geworfen wurde.« Doch, so seine Deutung dieser »linguistic transplantation«, gerade die Erfahrung der Sprachnot mobilisierte eine eigene Dringlichkeit zu verstehen – und zu übersetzen. Diese Grunderfahrung haben auch andere jüdische Exilanten und Exilantinnen seiner Generation geschildert. So etwa Georges-Arthur Goldschmidt, den der schockhafte Weltwechsel bei der Emigration unvermittelt in die »Wahrheit der Sprache« stellte. Hamburger drückte es so aus: »Es kann geschehen, daß man anfängt, Sprache als etwas nicht mehr Selbstverständliches zu begreifen, so wie die meisten Menschen Sprache für selbstverständlich nehmen.« Es ist die Erfahrung einer Zerrüttung, bei der die Mehrsprachigkeit zunächst weniger als Bereicherung denn als »Gebrechen« erfahren wird.
Goldschmidt hat dafür den Begriff der Doppelsprachigkeit geprägt. In Abgrenzung von der Zweisprachigkeit bestimmt er ihn durch die Geschichte: »Sie ist ein persönliches Schicksal, sie ist zu jeder Zeit eine verdoppelte Seinserfahrung.« In seiner Selbstvorstellung 1973 vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung meinte Hamburger, daß es nicht allein seine »Geschichte« gewesen sei, die ihn nach Großbritannien »versetzt« habe. Es war die Erfahrung eines »age of dispersion«, wie es in seinem literaturgeschichtlichen Werk »After the Second Flood« heißt, das ihn zum »displaced poet« und Übersetzer in der Fremde habe werden lassen.
Die Übersetzungserfahrung wird zum herstellungsästhetischen Problem. Jüngst hat der britische Germanist Jeremy Adler davon gesprochen, daß der exilierte Schriftsteller nicht nur zum Verstehen der ihn umgebenden Welt angehalten werde, sondern »notgedrungen « Neues erschaffe, so es ihm gelinge, seine Separierung produktiv werden zu lassen. In diesem Sinne vermochte Hamburger jenen Zwischenraum zwischen den Sprachen, den er mit dem deutschen Wort Niemandsland umschrieb, fruchtbar zu machen. Er nannte seine Tätigkeit daher ein »carrying over«, ein Vorgang, der in den Bau seiner Arche aus Übersetzungen in England mündete. Inwiefern dieses Überlieferungsbewußtsein auch ein Erbteil seiner Herkunft aus dem assimilierten Berliner Judentum war, dazu hat er nur Andeutungen gemacht: Er hielt fest, daß ihn die Begegnungszonen des Geistes interessiert hätten, aus denen das Beste einer »deutsch-jüdischen Verschmelzung « entstanden sei. Darauf verweist der weite Bogen seines Werks als Übersetzer, von Friedrich Hölderlin bis zu Paul Celan. Daß der gerade eingebürgerte Neuzehnjährige 1943 seine erste Publikation Hölderlin, dem Dichter eines Leidens an der Suche nach dem Ausdruck schlechthin, widmete, fügt sich zur eigenen Sprachnot im Exil. Vermutlich ging es ihm aber auch darum, Hölderlin den Händen des NS-Regimes zu entwinden, indem er ihn mitten im Krieg zum Dichter »in desolate times«, zum Unbehausten machte.
So wurde Hamburger schließlich selbst – im Sinne Jean Pauls – zu einem »Bindegeist« zwischen den Kulturen in der Epoche nach 1945, die er in seinem literaturkritischen Hauptwerk »Wahrheit und Poesie« als an allen Enden lose charakterisierte. Er wurde zu einem Hermes im Transitraum der Sprachen. Es sei ihm darum gegangen, ein Verfahren der »Verpflanzung« zu entwickeln, das weder freie »Nachdichtung« noch »Besitzergreifung « sei. In seinem maßgeblichen Aufsatz »Erfahrungen des Übersetzers« merkte Hamburger nicht ohne Ironie an, er habe dieses Verfahren der deutschen Literatur abgeschaut, die immer wieder bewiesen habe, wie fruchtbar die »Einbürgerung von Fremdem « sein könne.
In Anlehnung an den Dichter und Kritiker John Dryden (1631–1700) unterschied er drei Übersetzungsarten, die Metaphrase, die Paraphrase und die Imitation. Man könnte auch von einer wörtlichen, einer allegorischen und einer poetischen Übersetzungsweise sprechen. Die wörtliche schied für Hamburger als zu bedeutungsfixiert aus, die poetische war ihm allzu frei und zu besitzergreifend. Insofern bevorzugte er die umschreibend-allegorische Vorgehensweise und versuchte, die Andersartigkeit des Textes, seinen Eigensinn oder seine »quiddity« in die Zielsprache hinüberzutragen. Seine Übersetzungen lassen eine Tendenz zur »foreignisation« statt zur »domestication« erkennen.
In dieser gewinnenden Fremdheit liegt ein Prinzip doppelter Anreicherung. Einerseits füllt die gelungene Übersetzung eine Lücke in der Zielsprache. Eine unbekannte Position scheint auf. Die Eigentümlichkeiten der Nationalliteraturen werden nach Hamburger erst dann ganz wirksam, wenn der neu eingeführte Autor in der anderen Sprache eine Lücke besetzt. Tut er dies, wie im Fall von Goethes »Faust« oder Hölderlins Lyrik, so bereichert er deren Literatur. Ist dieser Platz hingegen schon durch eine eigene Tradition besetzt – das gilt für Goethes Stücke der klassischen Periode –, so hat er es schwer, in die andere Überlieferung einzutreten. Andererseits aber kann das Übersetzen im Dialog mit einer kritischen Essayistik auf die Ausgangssprache zurückwirken.
Ein Beispiel dafür ist Hamburgers eigenes Werk, denn er schlug keine klassische akademische Karriere ein, sondern begleitete seine Übersetzungsarbeit vornehmlich mit Essays. Die Resultate, wie etwa die Bände »Vernunft und Rebellion« oder »Das Überleben der Lyrik«, haben ihren Weg auch in die deutschsprachige Öffentlichkeit gefunden. Im angelsächsischen Raum war es insbesondere die deutschsprachige Lyrik, der er eine Stimme verlieh. Daß der Bau dieser Arche auch persönlich motivierter Bewahrungsakt im Exil war, gehört zu den diskret verschwiegenen Aspekten seines hier abgedruckten, 1981 vor einem westdeutschen Publikum auf englisch gehaltenen Vortrags.
Daß in dessen ersten Sätzen die deutschen Begriffe »Wirkungsgeschichte« und »Rezeptionsgeschichte « verwendet werden, weist Hamburger als poeta doctus aus, der mit den jüngeren Strömungen der Hermeneutik vertraut war. Das Typoskript fand sich schließlich im Nachlaß Hans-Georg Gadamers im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Gleichwohl darf man annehmen, daß Hamburgers eigenes Modell produktiver Wirkungsgeschichte mehr gegen die von Hans Robert Jauß formulierte Position einer Rezeptionsgeschichte gerichtet war, führt er doch aus, es sei ihm um eine allmähliche Revision der Vorurteile gegen die deutsche Literatur gegangen, die sich nicht bloß in Absatzzahlen manifestiert habe. Hamburger ging es um die komplizierten Wege einer anderen Wirkungsgeschichte: jener Glut literarischer Überlieferung, wie sie von Autor zu Autor geht.
Aus den eigenen Produktionserfahrungen speist sich auch ein zu Beginn der Rede vorgebrachter Einwand, den man als Hamburgers Theorieskepsis bezeichnen kann. In einer Zeit, in der die Literaturwissenschaft begann, ihr Heil in der Methodisierbarkeit ihres Gegenstandes zu suchen, formulierte er unüberhörbar Kritik an einer »mißbräuchlichen Verwendung wissenschaftlicher Methoden« in den Geisteswissenschaften. Die alte Frage von Wahrheit oder Methode scheint auf. Hamburger hat sie auf seine Art noch in den neunziger Jahren in einem Gespräch im deutschen Rundfunk beantwortet, indem er den Nutzen der Methode mit den Worten »Und es geht doch in der Dichtung um Wahrheit« in die Schranken wies.
Was den Lyriker und Literaturkritiker betraf, konnte den Übersetzer nicht kalt lassen. So bestand Hamburger auf der kaum abschließbaren Annäherungsarbeit an den Kern des Gedichts, die sich durch dessen Wandlungen zieht. Der Fall Celans führte ihn als Übersetzer an seine eigenen Grenzen. Für Hamburger hatte das mit seinem verzweifelten »Ansturm gegen das Unsagbare« zu tun. Er eignete sich ein gewissenhaftes Verfahren an, dachte und fühlte sich in die Sphäre des osteuropäischen Judentums ein. Manche Gedichte mußten unübersetzt bleiben, wie er in »On Translating Celan« bekannte. In diesem Lassenkönnen hält er dem Unsagbaren die Treue. Doch das Scheitern des Übersetzers mag den Kritiker befruchtet haben. Für diesen war gerade der stille Zwischenraum der Sprachen sein eigentliches Zuhause: »Darum mußte ich«, so Hamburger in »Warum ich übersetze«, »Wörter suchen, zwei Sprachen verbinden, um in einer Sprache beheimatet zu sein.«
Till Greite
SINN UND FORM 2/2024, S. 238-52, hier S. 238-240