Detering, Heinrich
geb. 1959 in Neumünster, Professor für Neuere deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft in Göttingen, Lyriker und Übersetzer. Jüngste Veröffentlichungen u. a.: »Untertauchen. Gedichte« (2019) sowie »›Menschen im Weltgarten‹. Die Entdeckung der Ökologie in der Literatur von Haller bis Humboldt« (2020). (Stand 4/2022)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 1/2008 | Warnung vor Peter von Matt
- 5/2014 | Weltneugier. Lobrede auf Martin Mosebach
- 4/2022 | Könige und Communismus. Eine Erinnerung an Bettine von Arnim 437
Am offensichtlichsten ist der literarische Übergang von Romantik zu sozialkritischem Realismus im Werk Heinrich Heines, vom »Buch der Lieder« bis (...)
LeseprobeDetering, Heinrich
Könige und Communismus
Eine Erinnerung an Bettine von Arnim
Am offensichtlichsten ist der literarische Übergang von Romantik zu sozialkritischem Realismus im Werk Heinrich Heines, vom »Buch der Lieder« bis zum »Weberlied«. Aber auch so handfest agitatorische Texte wie die Dichtungen Georg Weerths – dieses »ersten Dichters des deutschen Proletariats«, wie Engels ihn genannt hat –, die »Lieder aus Lancashire« von 1845 etwa oder das »Hungerlied « ebenfalls aus der Zeit des schlesischen Weberaufstands 1844, lassen sich lesen als drastisch sozialrealistische Seitenstücke zu Achim von Arnims und Clemens Brentanos betont unpolitischem »Wunderhorn« (1805 – 08). Sie ergänzen die »Volkslieder« substantiell um die dort absichtsvoll ausgesparten Arbeiterlieder aus der Frühindustrialisierung. Von der Herkunft der revolutionären Lieder Ferdinand Freiligraths aus der exotistischen, orientalistisch-romantischen Dichtung, die er später selbstironisch »meine Wüsten- und Löwenpoesie « nannte, ist schon oft die Rede gewesen. Die Germanistik hat gezeigt, daß noch die 48er Revolutionsgedichte wie »Trotz alledem!« oder der revolutionäre Zyklus »Ça ira« oder der flammende Aufruf »Die Lebenden an die Toten« ähnliche wirkungsästhetische Verfahren erkennen lassen wie das Frühwerk: eine Wüsten- und Löwenpoesie der sozialen Revolution. Und wer hätte erwartet, daß eine der ersten – und verständnisvollsten – Besprechungen der Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff von keinem Geringeren verfaßt wurde als Friedrich Engels? In diesem Kontext könnte es lohnen, eine romantisch-sozialistische Dichterin so vorzustellen, als sei sie eine Unbekannte: die tatsächlich immer neu zu entdeckende, immer wieder überraschende, fremde und doch noch in unsere Zeit hineinsprechende Bettina von Arnim.
»Es ist alles beim Alten. Immer sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben, denen des Herzens und denen des Staats.« Die widerspenstige DDR-Schriftstellerin Sarah Kirsch hat das 1976 in einem Gedicht geschrieben, das den Titel »Wiepersdorf« trägt. Vertraulich redet Kirsch von Arnim mit »Bettine« an; das ganze lange Gedicht schreibt sie im Dialog mit der toten Romantikerin. Bettina oder Bettine – das kleine e macht den Unterschied zwischen offizieller und zutraulicher Namensform – war eine Autorität des geistigen Lebens im preußischen Berlin der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts, namentlich dort, wo die Romantik ins Politische ging. Sie war es nicht allein durch ihre Herkunft aus einer angesehenen Familie, sondern mehr noch durch die Souveränität, die sie sich als selbstbewußt auftretende Intellektuelle erschrieben hatte. Die privilegierte Position, in die sie hineingeboren war, blieb ihr lebenslang bewußt, und sie hat getan, was sie konnte, um sich von dieser Position aus den Marginalisierten, den Stigmatisierten der aristokratischen und bürgerlichen Gesellschaft zuzuwenden. Wie groß ihre Autorität war, zeigte sich schon darin, daß sie 1840 den eben erst auf den Thron gekommenen jungen und mit großen, allzu großen Hoffnungen begrüßten König Friedrich Wilhelm IV. allein durch ihr Insistieren dazu brachte, die liberalen Brüder Grimm, die Ende 1837 von einem reaktionären Welfenkönig aus ihren Göttinger Professuren entlassen worden waren, an die Berliner Universität zu berufen.
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Erfahrungen mit sozialer Marginalisierung und Stigmatisierung hat Bettine ihr Leben lang nicht nur gemacht, sondern aktiv gesucht. Das beginnt schon mit ihrer Sicht auf die Rolle von Frauen in der romantischen Bewegung. Anders als andere gab sich Bettine keineswegs mit den Rollen der Muse, der fürsorglichen Begleiterin, der »Frau an seiner Seite« zufrieden, auch nicht mit den traditionellen Tätigkeitsfeldern von Haushalt (oder in ihrem Fall: Gutshof) und Kirche. Sie suchte neue Rollen und Lebensbereiche nicht nur für sich – etwa in Berlin statt in Wiepersdorf –, sondern unterstützte rebellische Frauen wie die von Schiller als »Dame Luzifer« perhorreszierte Caroline Schlegel-Schelling, Dorothea Mendelssohn- Veit-Schelling oder die Günderrode und trug nach Kräften dazu bei, ein eigenes Netzwerk romantischer Frauen durch Briefe und Salons herzustellen. Schon die jugendliche Bettine wurde in ihrer Familie in Frankfurt am Main dadurch auffällig, daß sie immer wieder ins Ghetto lief, dahin, wo man als anständige, nicht-jüdische Bürgerstochter möglichst nicht ging, daß sie dort Freundinnen fand und über deren Lebensumstände berichtete. Sie wurde später eine der wichtigen Unterstützerinnen und Freundinnen einer Frau, die es schaffte, sich in einer frauen- und judenfeindlichen Gesellschaft zu behaupten, Rahel Varnhagen. Während derselben Jahre hat sie Erfahrungen mit sozialer und ökonomischer Verelendung nicht nur gesammelt, sondern aktiv gesucht. 1831 brach in Berlin eine Cholera-Epidemie aus, die zahllose Todesopfer forderte. Bettine, die leicht aufs Land nach Wiepersdorf hätte flüchten können, ging mitten ins Elend hinein und half mit einigen anderen zusammen tatkräftig mit, eine ärztliche Versorgung zu organisieren. Sie hat selbst erklärt, daß sie in dieser praktischen Arbeit begriffen habe, wie eine Epidemie die Ungerechtigkeiten einer Klassengesellschaft schlagartig zutage treten läßt: Die Armen sterben früher, schneller und elender als die Bessergestellten.
Es sind solche Erfahrungen, aus denen sich ein ohne jede Gattungsbezeichnung veröffentlichtes Buch speist, das den sonderbaren Titel trägt »Dies Buch gehört dem König«. Es erscheint 1843, und es war eines von vier ähnlichen Werken, mit denen Bettine von Arnim zu einer der großen Schriftstellerinnen der deutschen Romantik wurde. Das erste und bekannteste war 1835 in drei Bänden erschienen und trug den Titel »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde«. Es präsentierte sich als eine Dokumentation der Briefe, die ab 1807 zwischen dem alten, als Vaterfigur verehrten Goethe und der jugendlichen, sich als Kindfrau stilisierenden Bettine von Arnim gewechselt worden seien. Da waren allerdings Briefe zu lesen, die Goethe nie geschrieben, sondern die sich Bettine offensichtlich selbst ausgedacht hatte, und Briefe von ihr, die sie geschrieben, aber nie abgeschickt hatte; in den Briefen, die tatsächlich zwischen beiden gewechselt worden waren, standen Sätze, Abschnitte, die frei erfunden und nachträglich eingefügt worden waren. »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« wurde zum erfolgreichsten Buch in Bettines Laufbahn, weil hier die Goethe-Verehrung einer jungen Generation einen genuin romantischen Ausdruck fand.
Zum ersten Mal erprobte sie hier eine Schreibweise, die kalkuliert und ungeniert zwischen Fakten und Fiktionen hin und her wechselte, eine Art romantischer Briefroman; er beansprucht, Wirklichkeit zu dokumentieren, aber tut das offensichtlich in fabulierender Weise. Daß zwischen Fakten und Fiktionen nicht genau unterschieden wird, gehört zu den Regeln des ästhetischen Spiels. Auf ihre Weise beherzigt Bettine von Arnim damit den romantischen Grundsatz, den einst Novalis in Jena formuliert hatte und demzufolge die Welt »romantisirt« werden müsse. Was hier noch spielerisch war, wurde ernst in dem zweiten Buch dieser Art, dem Bettine von Arnim 1840 den Titel »Die Günderrode« gab. Aus ihrem Briefwechsel mit der Dichterin Karoline von Günderrode, die sich 1806 das Leben genommen hatte, machte Bettine abermals einen Briefroman, halb dokumentarisches Porträt, halb fiktionale Idealisierung und Modellierung ihrer Freundin zu einer idealisierten romantischen Gestalt. 1844 erschien dann ein Buch, dessen Grundlage die Jugendbriefe zwischen Bettine und ihrem Bruder Clemens Brentano bilden, »Clemens Brentano’s Frühlingskranz«. In die Reihe dieser eigenwilligen und schon zu Lebzeiten höchst umstrittenen Versuche zwischen Fälschung und Docufiction gehört nun als viertes, in der Chronologie als drittes von vier Hauptwerken »Dies Buch gehört dem König«. Hier schreibt die Hauptfigur keine Briefe, sondern führt Gespräche, zuerst mit der Mutter des preußischen Königs, und sie erzählt der Bettine bei Besuchen und Spaziergängen davon. Es ist Catharina Elisabeth Goethe, Goethes Mutter, die in Frankfurt am Main allseits verehrte, berühmte »Frau Rat«, die längst vor Bettine von Arnims Buch eine überaus populäre und beliebte Gestalt gewesen war und auf die Goethe seine »Lust zu fabulieren« zurückführte. Ihre Briefe wurden, schon bevor sie nach ihrem Tod veröffentlicht wurden, bewundert für ihre Frische, ihre Anschaulichkeit und Lebendigkeit. Die Lust zu fabulieren lernt auch Bettine von Arnim von ihrer mütterlichen Freundin, die sie seit 1806 gekannt und immer wieder in Frankfurt aufgesucht hat.
Mit diesen Begegnungen und Gesprächen geht Bettine nun in »Dies Buch gehört dem König« so frei um, wie sie es mit den Briefen Goethes, Günderrodes oder Brentanos getan hat. Sie benutzt die Frau Rat als Schild und Galionsfigur, durch deren Mund sie, zwischen anekdotischen Erzählungen und allerlei Lebensweisheiten, die ungeheuerlichsten sozialkritischen Dinge sagen kann, ohne persönlich angreifbar zu werden. Da sie das Ergebnis zusätzlich dem jungen preußischen König widmet, unterstellt sie es seinem persönlichen Schutz. In einem Band über die Romantik, den Gerhard und Christa Wolf 1985 gemeinsam veröffentlicht haben, heißt es im Kapitel über das »Königsbuch« der »Frau von Arnim, zu deren demokratischem Salon man sich drängt«: »Wie unzuverlässig die Schonung war, die sie kraft ihres Ansehens in weitesten Kreisen, durch Polizei und Zensur genoß, war ihr natürlich überscharf bewußt; der Spielraum war ihr ja nicht geschenkt worden; sie hatte ihn sich durch Kühnheit, manchmal Tollkühnheit, erobert und erweitert. Man wußte nicht recht: War sie naiv? Stellte sie sich so? War sie vielleicht gerissen?«
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SINN UND FORM 4/2022, S. 437-494, hier S.437 - 440