- 5/1993 | Fisch, Isaak, Blut
- 4/1994 | Die Unfähigkeit zu loben
- 2/1999 | Solo vor Jericho
- 3/2009 | Goethe, die Barbaren und das Jahr 2043. Stadtschreiber-Rede in Bergen-Enkheim
- 6/2012 | Peter Huchel oder Die Kunst, sich nicht zu uniformieren
- 1/2015 | Der Stolz der Akademie. Gruß an »Sinn und Form«
- 3/2017 | Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden?
- 3/2018 | Hat der Humor seinen Ernst verloren? Imre Kertész und Jan Böhmermann, Jean Paul und die »heute-show«
- 2/2020 | Nachruf auf Günter Kunert
Ein Abend von und mit "Sinn und Form". Es ist also auch eine, ja, was eigentlich, eine Institution zu begrüßen, die nicht leicht zu fassen ist, die selten im Rampenlicht steht, eine ehrwürdige, quicklebendige, weithin wirksame literarische Stimme, nein, eine schwer definierbare Summe von Stimmen. Die Zeitschrift "Sinn und Form" ist kein Sprachrohr der Akademie der Künste, aber sie erscheint unter dem Dach der Akademie der Künste – und wirkt als derzeit beste deutsche literarische Visitenkarte weit über Berlin und Brandenburg hinaus, vermutlich bis zu unseren Antipoden an irgendeiner Universität in Neuseeland. Diese Zeitschrift ist der Stolz der Akademie, unverzichtbar für Leute mit der Kernkompetenz Wort abseits des Mainstreams. Der Stolz der Akademie, gerade weil sie es nicht leicht hat, trotz steigender Auflage, im Gegenwind des vulgärbetriebswirtschaftlichen Effizienzdenkens zu segeln. (...)
Delius, Friedrich Christian
Der Stolz der Akademie
Gruß an Sinn und Form
Ein Abend von und mit »Sinn und Form«. Es ist also auch eine, ja, was eigentlich, eine Institution zu begrüßen, die nicht leicht zu fassen ist, die selten im Rampenlicht steht, eine ehrwürdige, quicklebendige, weithin wirksame literarische Stimme, nein, eine schwer definierbare Summe von Stimmen. Die Zeitschrift »Sinn und Form« ist kein Sprachrohr der Akademie der Künste, aber sie erscheint unter dem Dach der Akademie der Künste – und wirkt als derzeit beste deutsche literarische Visitenkarte weit über Berlin und Brandenburg hinaus, vermutlich bis zu unseren Antipoden an irgendeiner Universität in Neuseeland. Diese Zeitschrift ist der Stolz der Akademie, unverzichtbar für Leute mit der Kernkompetenz Wort abseits des Mainstreams. Der Stolz der Akademie, gerade weil sie es nicht leicht hat, trotz steigender Auflage, im Gegenwind des vulgärbetriebswirtschaftlichen Effizienzdenkens zu segeln.
Manche werden sagen: Kennen wir doch seit Jahren, seit Jahrzehnten, »Sinn und Form«, im sechsundsechzigsten Jahr, eine anständige, vielseitige Zeitschrift, ja, aber vielleicht heute doch ein bißchen altmodisch. Erlauben Sie, daß ich dem Vorurteil altmodisch, wenn es denn negativ gemeint sein sollte, entschieden widerspreche.
Natürlich lebt die Zeitschrift immer noch von ihrem Mythos, der mit dem Namen Peter Huchel verbunden ist. Der Mythos gründet, vereinfacht gesagt, auf Huchels programmatischem Satz aus dem Jahr 1949: »Wir werden uns nicht uniformieren.« Ein Satz, der damals mit unverschämtem, also angemessenem Selbstbewußtsein die Kulturpolitik der SED in die Schranken wies. Was einst gegen die Partei gemünzt war, galt unter Sebastian Kleinschmidt für die schwierige Übergangsperiode nach dem Ende der DDR und gilt heute für den gnadenlosen Markt. Mit dem Unterschied, daß wir uns alle auf diesem Markt tummeln und daß es auch ein wenig von uns abhängt, wer hier scheitert oder triumphiert. Aber eins steht fest – wer sich heute an den Satz hält: »Wir werden uns nicht uniformieren «, der ist alles andere als altmodisch, sondern vielmehr gegen die allgemeine Uniformierung der Gegenwart und der Zukunft schon recht gut gerüstet.
Uniformierung droht heute von vielen, insbesondere von zwei Seiten. Zum einen wird der Aberglaube geschürt, Literatur habe ihre Existenzberechtigung dadurch zu beweisen, daß sie sich noch mehr der Unterhaltungsindustrie und der Kriminalromantisierung der Welt anzupassen habe. Zum zweiten der Aberglaube, nur das, was heute elektronisch gelesen werde, was digitale Schreibweisen präsentiere, habe noch Zukunft. Nichts gegen E-Books und die technischen Errungenschaften, die den Zugang zu Büchern erleichtern, aber es ist ziemlich belanglos, wieviel Prozent der Bücher in Zukunft mittels Papier oder Silizium oder sogenannter Wolken ihre Kundschaft erreichen. Entscheidend ist, ob auf dem Umweg über Algorithmen neue ästhetische Formen entstehen, die der Uniformierung widerstehen – und da sieht es bislang noch ziemlich dürftig aus.
Die Zeitschrift »Sinn und Form« ist also unverzichtbar, solange die Kulturindustrie aus simplen Renditegründen gegen zwei kulturelle Errungenschaften kämpft, gegen Sinn und gegen Form. Deshalb sind die Debatten um Sinn und um Form nicht von gestern, sie sind von morgen.
Was zeichnet eine gute literarische Zeitschrift aus? Sie dient keiner Ideologie und keiner literarischen Richtung, das versteht sich. Ihr soziales Netzwerk gründet seit Jahrzehnten auf der Freundschaft zu Qualität und zu freiem Denken. Die Redaktion einer solchen Zeitschrift fördert den produktiven Austausch unter lesenden, denkenden Menschen. Außer dieser erfüllt sie keine Erwartungen. Im Gegenteil, sie ist für Überraschungen da. Ihre Leser sind nicht darauf angewiesen, in ihren Meinungen, ihrem Weltbild bestätigt zu werden. Sie müssen keine Anbiederung fürchten. Wer, wenn nicht die Redaktion einer solchen Zeitschrift, erinnert mit Erzählungen, Gedichten, Essays, Reden daran, was das ist oder sein kann: Niveau. Sie operiert mit den feinsten literarischen Kriterien. Sie liefert selten Antworten, sie treibt die Fragen weiter. Sie belehrt und erfreut mit klugen Gedanken ihre Leserschaft, vorzugsweise gerade dann, wenn diese es nicht erwartet. Sie blickt, zumindest potentiell, in jede Ecke der Welt, auf alle Weltliteraturen. Auch im neusten Heft wieder, dessen Vielfalt ich hier gar nicht wiedergeben kann.
Verzeihen Sie, meine Damen und Herren, heute mußte »Sinn und Form«, stets bescheiden und nobel zurückhaltend, einmal besonders begrüßt und gepriesen werden.
SINN UND FORM 1/2015, S. 138-139
Einen Punkt hab’ ich noch: Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden? fragte mich eine Studentin, und ich sagte ohne zu zögern: Nein. Aber Sie haben doch irgendwo geschrieben, jeder Mensch, jeder Konflikt, jedes Ereignis könne zum Gegenstand der Literatur werden, antwortete sie gegen Ende eines längeren Interviews, das sie für ihre Masterarbeit mit mir führte. Ja, dabei bleibe ich. Es gibt nichts, was mit sprachlicher Kunst nicht erfaßt werden könnte, entgegnete ich der jungen Frau, die ich hier E. nennen möchte. Dazu gehören von mir aus auch bekanntere oder unbekanntere Politikerinnen oder Politiker. Irgendeinen Stoff, irgendwelche Konflikte, irgendwelche Fallhöhen liefern die immer, aber es ist ja ein allgemeiner Irrtum zu glauben, Literatur entstünde durch den Stoff, (...)
LeseprobeDelius, Friedrich Christian
Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden?
Einen Punkt hab’ ich noch: Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden? fragte mich eine Studentin, und ich sagte ohne zu zögern: Nein.
Aber Sie haben doch irgendwo geschrieben, jeder Mensch, jeder Konflikt, jedes Ereignis könne zum Gegenstand der Literatur werden, antwortete sie gegen Ende eines längeren Interviews, das sie für ihre Masterarbeit mit mir führte.
Ja, dabei bleibe ich. Es gibt nichts, was mit sprachlicher Kunst nicht erfaßt werden könnte, entgegnete ich der jungen Frau, die ich hier E. nennen möchte. Dazu gehören von mir aus auch bekanntere oder unbekanntere Politikerinnen oder Politiker. Irgendeinen Stoff, irgendwelche Konflikte, irgendwelche Fallhöhen liefern die immer, aber es ist ja ein allgemeiner Irrtum zu glauben, Literatur entstünde durch den Stoff, die Konflikte, die Fallhöhen, die Handlung, durch eine oder mehrere interessante, irgendwie besondere Hauptfigur. Stoffe liegen ja immer noch buchstäblich auf der Straße, jedes Leben, jede Familie, jede Firma ist voll von Geschichten, jede Handlung läßt sich mit schrillen, raffinierten Einfällen effektvoll aufladen, Hauptfiguren kann man in ein bestimmtes Licht rücken, aber das alles reicht ja noch lange nicht, um Literatur zu werden. Entscheidend ist etwas ganz anderes, es ist die Perspektive auf diesen Stoff, also eine ästhetische Entscheidung, und es ist die Sprache, die man für diese Perspektive findet. Ohne subjektive, unverwechselbare Sprache kommt keine literarische Kunst zustande. Imre Kertész hat mal gesagt: »Im Roman sind nicht die Tatsachen das Entscheidende, sondern allein das, was man den Tatsachen hinzufügt.« Die Betonung liegt auf dem »allein"!
Verzeihen Sie, meinte Frau E., ein schönes Zitat, aber ganz so blöd sind wir heutigen Studenten auch nicht. Ich habe sehr wohl gelernt, Literatur nicht mit Handlung, dem Stoff eines Buches zu verwechseln.
Das freut mich, aber die meisten Leute, ich meine die lesenden Leute, sogar viele Kritiker, machen sich nicht klar, wie hoch der Anteil der meistens ja sehr bewußt gewählten, oft hart erarbeiteten Sprache ist. Die sprachliche Spannung zwischen zwei Punkten, zwischen den Worten, die Dichte, die Neuheit der Sätze, die Genauigkeit der Beobachtung und des sprachlichen Ausdrucks und im Idealfall das Poetische, also das Schöne, Überraschende, Bildliche, Mehrdeutige, die Strahlkraft der Wörter …
Das ist mir vom Prinzip her klar, fiel mir die Studentin ins Wort, aber das schließt doch nicht aus, daß jemand auch für eine Figur aus der Politik die passende Sprache und die passende Perspektive findet.
Ich will nicht so töricht sein und das völlig ausschließen, sagte ich. Es kann schon sein, daß anderen Autoren mit Geschick und Glück auf diesem Felde etwas gelingt, doch ich fürchte, da wird nicht viel mehr zu finden sein als die satirische oder die biographische Lösung, aber das sind ja noch keine ausreichenden Romanlösungen. Satirisch auf politische Figuren loszureiten oder an einer mehr oder weniger bekannten Biographie entlang zu erzählen, das ist eine leichte Übung, das mag, wenn es auf intelligente Weise gelingt, gutes Handwerk sein, aber keine literarische Kunst. Denn dazu gehört immer auch das Ungesagte, ein Geheimnis, vor allem das Einverständnis zwischen Autoren und Lesern, sich gemeinsam auf etwas Erfundenes einzulassen. Das Problem mit historischen Figuren ist nun aber, daß sie nicht erfunden sind und man relativ viel über sie weiß, daß sie in vielerlei Hinsicht schon definiert sind. Sie laufen oft sogar als ihr eigenes Klischee herum, jeder hat seine Meinung über sie und seine Vorurteile. Doch: Leser wollen nicht lesen, was sie schon wissen, Autoren wollen nicht über etwas schreiben, was allgemein bekannt ist. Und bei einer prominenten Figur noch eine ergiebige Lücke, eine originelle Perspektive zu finden und wirklich etwas Spannendes, etwas Neues, Widersprüchliches oder intelligent Unterhaltendes oder gar Geheimnisvolles herauszuholen aus dem Material, das eine Bundeskanzlerin so bietet, und speziell diese auf den ersten Blick so stocknüchterne und spannungsarme Kanzlerin, das scheint mir unmöglich. Deshalb bleibe ich dabei: Für mich ist Angela Merkel keine Romanfigur.
Aber Sie sind doch ein politischer Autor, warf Frau E. ein, Sie haben uns in so vielen Büchern politische Zusammenhänge beschrieben und erklärt, vom deutschen Herbst über die deutsche Einheit bis zur deutschen Familie und so weiter. Sie lassen sich feiern als Chronist der Bundesrepublik, da müßte es doch eine vergleichsweise leichte und naheliegende Aufgabe für Sie sein, die amtierende Kanzlerin mit all ihren Widersprüchen zu durchleuchten.
Langsam! sagte ich. Erstens gibt es in der Kunst keine leichten Aufgaben, auch nicht in der Romankunst. Zweitens müßten wir klären, was ein politischer Autor ist, ich wehre mich seit Jahrzehnten gegen diesen Stempel, auch mit politischen Argumenten, aber lassen wir das mal für den Moment. Drittens habe ich das Etikett des Chronisten nie für mich beansprucht, es ist als Kompliment ganz nett gemeint, aber ziemlich falsch. Nach meiner Vorstellung jedenfalls notiert ein Chronist die Fakten sauber und ordentlich hintereinander, und wenn was Neues passiert, hat er das qua Amt getreulich festzuhalten. Romanschreiber sind keine solchen Beamten, sie produzieren Unruhe und Verstörung. Romanschreiber tun viel mehr als Chronisten, sie wirbeln die Fakten durcheinander, vermengen sie mit Fiktion und setzen sie neu zusammen. Das Bild paßt also gar nicht. Der Chronist muß objektiv sein, der Schriftsteller subjektiv, radikal subjektiv. Er ist wie jeder Künstler Subjektivist durch und durch, was eine hohe Sensibilität für das sogenannte Objektive, für seine Umwelt einschließt. Das, was er herstellt, kann nur ein einziger Mensch auf der Welt so herstellen, nämlich er, mit einer eigenen Perspektive, einer eigenen Sprache, einem eigenen Stil. Ohne ein großes und demütiges Ich geht gar nichts. Der Kern der Sache muß mit mir zu tun haben.
Aber so weit können Sie doch gar nicht auseinander sein, Pfarrerstochter Merkel und Pfarrerssohn Delius …
Ganz schön forsch sind Sie, Frau E., das gefällt mir. Aber so schnell lass’ ich mich nicht verkuppeln, außerdem bin ich mit meinen Argumenten noch nicht am Ende. Ihre Frage ist noch lange nicht ausreichend beantwortet. Wenn Sie noch Zeit haben, können wir hier gern ein bißchen weiterfechten. Gut? Also, was ich sagen wollte: Mein Ich und die Kanzlerin, ich sehe da keine Brücke, also keine produktive Perspektive, also keine Sprache. Bei aller Liebe zum Grundgesetz, so weit geht mein staatsbürgerliches Engagement nicht, daß die amtierende Kanzlerin meinem Ich nahe oder mir zur Herzenssache geworden wäre. Im Gegenteil, solche Stimmungen bei anderen treiben mich erst recht in den kritischen Modus. Ich sehe in ihr auch nicht den Anker oder die Hoffnungsträgerin als letzte Protestantin zwischen lauter Oligarchen.
Das ist Ihre Sicht, sagte E., Sie sind nun mal ein, wie soll ich sagen, älterer Schriftsteller, der schon mit etwas Distanz auf die Gegenwart schaut, mit Gelassenheit oder auch Herablassung, was weiß ich. Aber ich stecke da mittendrin, in dieser Gegenwart, und seit ich denken kann, so ungefähr, gibt es diese Kanzlerin, tagaus, tagein und alle Jahre wieder, dunkel erinnere ich mich an Schröder und an die uralten Altkanzler. In dieser Frau bündeln sich alle Probleme, die wir haben, und sie demonstriert uns, oder mir, besser gesagt, daß sie selber nicht weiß, wo es langgeht, welchen Kurs sie fahren möchte und welchen sie wirklich fährt. Irgendwas rebelliert in mir gegen die ewige Merkel, irgendwas stimmt an ihr und läßt mich vorsichtig Vertrauen fassen und irgendwas stört mich wahnsinnig und macht mich sehr mißtrauisch. Ich hab’ keine richtigen Argumente, die ganz rechten und die ganz linken Ablehnerargumente sowieso nicht. Aber am schlimmsten finde ich die Meinung: Sie ist ja immer noch die beste weit und breit, nach ihr wird alles noch schlimmer. Das ist doch ein ganz fieser Mißtrauensantrag gegen uns, gegen die Jugend!
(…)
SINN UND FORM 3/2017, S. 377-386, hier S. 377-380