Buselmeier, Michael
geb. 1938 in Berlin, Schriftsteller und Kritiker, lebt in Heidelberg. Zuletzt erschienen »Mein Bruder mein Tier. Späte Gedichte« und »Alles will für dich erglühen. Das Heidelberger Schloß« (beide 2018). (Stand 2/2021)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 6/1998 | Gedichte
- 1/2002 | Vorsprechen. Meine Theatergeschichte. Monolog
- 3/2004 | Richard Benz und die Verteidigung der Tradition
- 1/2009 | Versuch über Dante
- 3/2011 | Schattenhunde / Nachträge zu Dante
- 3/2012 | Der Herr des Berges
- 1/2015 | Wir Renegaten. Dankrede zum Gustav-Regler-Preis
- 3/2016 | Heidelberg - Stadt der Dichter?
- 5/2018 | Rote Steine. Gedichte
- 2/2019 | Kurze Bilanz
- 2/2021 | Auf der Eiskante. Gedichte
Das Thema erlaubt, ja verlangt es, wie jedes andere hinterfragt zu werden. »Heidelberg – Stadt der Dichter«, ohne Fragezeichen hingesetzt – (...)
LeseprobeBuselmeier, Michael
Heidelberg - Stadt der Dichter?
Das Thema erlaubt, ja verlangt es, wie jedes andere hinterfragt zu werden. »Heidelberg – Stadt der Dichter«, ohne Fragezeichen hingesetzt – kann man das ernsthaft behaupten? Gibt es tatsächlich vor Ort eine durch die Jahrhunderte sich fortzeugende literarische Tradition, die etwa von Goethe bis Hilde Domin reichen könnte und so lebendig, produktiv und untereinander bindend ist, daß sie das Attribut rechtfertigt? Wem aber »Stadt der Dichter« doch etwas hochstapelnd vorkommt, der könnte ja immer noch auf »Stadt der Poesie« ausweichen, das klingt allgemeiner, die Landschaft spielt mit herein sowie das Große und Ganze der Kunst, Burgruine und Brücke: Heidelberg als »Symbol der Poesie« und »geweihte Stätte«, als »Wallfahrtsort unserer Dichtung«. Mit solchen heute leicht verstiegen klingenden Formeln feiert Philipp Witkop, einst Heidelberger Student, ab 1910 Germanistik-Professor in Freiburg, in seinem grundlegenden Buch »Heidelberg und die deutsche Dichtung« von 1916 eine imaginierte, eine spät- oder neuromantisch erträumte Stadt, die schon damals nicht in die ernüchterte (Kriegs-)Zeit paßte und in die heutige erst recht nicht, wo man Begriffe wie Transzendenz, Schöpfertum, Genieglaube ja längst höhnisch verabschiedet hat und emsig auf Vermarktung, Vernetzung und Verwurstung baut.
Und wen gäbe es unter den Lobrednern Heidelbergs vor Goethe zu beachten? Oswald von Wolkenstein und seine spätmittelalterlichen Strophen, die lateinisch schreibenden Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts, den vergessenen Barockdichter Julius Wilhelm Zincgref (ein Einheimischer immerhin, was selten vorkommt) und seinen Freund, den Poetologen Martin Opitz, als »Vater der deutschen Dichtkunst« schon im 17. Jahrhundert viel gerühmt – doch all diese formelhaften, grob gereimten und geschmiedeten Verse sind, man muß es zugeben, von begrenztem Reiz. Dann aber tauchen plötzlich die hochpoetischen Texte der sogenannten Stürmer und Dränger über das zerstörte Heidelberger Schloß auf, die als erste einen persönlichen Ton anschlugen, als Individuen den Blick auch über die Stadt hinaus in die Ebene schweifen ließen und dabei so etwas wie landschaftliche Schönheit erkannten. Mit ihnen würde ich heute ein Heidelberg gewidmetes Lesebuch eröffnen und mich nicht – wie 1986 – aus Unsicherheit und partieller Unwissenheit hinter der klassisch-souveränen Stadtbeschreibung Goethes von 1797 verstecken. Und natürlich würde ich Autoren, die damals noch nicht in meinen Heidelberg-Kanon gehörten, mit aufnehmen, etwa den Freiherrn Adolph von Knigge, Ludwig Börne oder Friedrich Rückert, den Dichter und späteren Orientalisten, der im Sommersemester 1808 in der Mittelbadgasse wohnte und bei Friedrich Creuzer Philologie studierte. Er soll 44 Sprachen beherrscht haben.
Ist die 1909 geborene Hilde Domin als zeitlicher Gegenpol zu Goethe und als zumindest vorläufiger Endpunkt dieser Poetenreihe vorstellbar? Wurde und wird sie als Dichterin nicht überschätzt? So viele jüngere Künstler drängen sich vor, sind keineswegs erfolglos und wollen auch dazugehören, nicht zuletzt der experimentelle Filmemacher und Opernregisseur Werner Schroeter, der 2010 an Krebs gestorben ist und den ich im Leben nicht kannte, obwohl er zur gleichen Zeit wie ich als Außenseiter in Heidelberger Schulen gelitten hat und seine ersten Aufnahmen für den Film »Eika Katappa« just 1968 auf dem Schloß und auf der Thingstätte stilistisch streng in Szene gesetzt hat. Oder Bernhard Schlink, der ebenfalls in Heidelberg aufgewachsen ist. Seine Romane »Der Vorleser« und »Die Heimkehr«, in denen er spezifische Erfahrungen seiner, unserer Generation in der Nachkriegszeit aufgeschrieben und reflektiert hat, lassen sich topographisch exakt in der Weststadt zwischen Wilhelmsplatz, Blumenstraße und Bahnhofstraße festmachen.
»Meine Freunde, die Poeten« (so der Titel eines Buches von Hermann Kesten, das ich in meiner Jugend las), also die Dichter meiner Zeit, sofern ich sie im Lauf der Jahre durch Heidelbergs Gassen und Antiquariate führen durfte, melden sich zu Wort; einige haben über Aspekte der Stadt geschrieben. Ich nenne nur Charles Bukowski, Uwe Kolbe, Guntram Vesper, Volker Braun, Wulf Kirsten, Martin Walser, Ulla Hahn, Wilhelm Genazino, Dieter Kühn, Peter Handke und selbst der vermutlich berühmteste von allen, John le Carré, der seinen zur Hälfte im revolutionär gestimmten Heidelberg spielenden Roman »Absolute Freunde« (2004) bis in die Dialoge hinein so gut wie fertig hatte und von mir nur noch die dafür geeigneten Schauplätze gezeigt bekommen wollte – ein mich irritierendes Vorgehen. Nicht vergessen seien der Underground-Poet Jörg Burkhard, der in Heidelberg ausgeharrt hat, und Jürgen Theobaldy aus Mannheim, der als Heidelberger Student in den siebziger Jahren mit alltagsnahen Gedichten weithin Anklang fand. Oder ältere, mit der Stadt seit den fünfziger Jahren eng verbundene Autoren, die ich anfangs von fern bewunderte: Fritz Nötzoldt, Hans Bender, Walter Helmut Fritz, Gert Kalow, Herbert Heckmann, Andreas Rasp, Arnfrid Astel. Und heute? Ralph Dutli, Hans Thill, Johann Lippet, Martin Grzimek, Hella Eckert …
Ein Leben lang arbeite ich nun an meiner Geschichte, die zugleich winziger Teil einer Geschichte der Stadt und ihrer Menschen und einer Geschichte Deutschlands ist, zumindest seiner Kulturgeschichte. Denn ich war ja eigentlich, an meine Mutter gebunden, immer hier, sah und hörte vieles, nahm manches unbewußt wahr. Haßte und liebte die »Mutterstadt«. Wir sollten noch einmal an die Wurzeln des Phänomens gehen und nachforschen, wie bedeutend, wie weltbewegend die mit Heidelberg verbundene Literatur, Kunst und Architektur tatsächlich sind. Wir sollten den »Mythos« hinterfragen, den vor allem der Neuromantiker Richard Benz so betörend ausgemalt hat, mich als jungen, nach Orientierung suchenden Eleven durch alle weltanschaulichen Umbrüche begleitend und begeisternd. Dabei denke ich zuerst an seine Autobiographie mit dem hochfahrenden Bindestrich-Titel »Lebens-Mächte und Bildungs-Welten meiner Jugend« (1950), sodann an seine großangelegte Kulturgeschichte der romantischen Bewegung (»Die deutsche Romantik«, 1937) und nicht zuletzt an sein Spätwerk »Heidelberg, Schicksal und Geist« (1961), das ein verklärendes, die Moderne fast gänzlich aussparendes Bild unserer Stadt entwirft und gestaltet. Diese Donnerworte, Schicksal und Geist, haben mich fast benommen gemacht und wohlig eingelullt, als zählte ich, selbst einer der »Geistigen«, schon dazu (wobei anzumerken wäre, daß Benz mit solch dröhnendem Vokabular nicht allein dastand; ein Großteil der damaligen Geisteswissenschaftler, die Benz’ Arbeiten als »unwissenschaftlich« ablehnten, hat sie genauso unkritisch gebraucht). Wir alle konnten uns hinter solchen Begriffen eine Zeitlang verbergen, uns an ihnen festklammern in unserer Unsicherheit, bevor uns die nächste Serie von Kategorien, diesmal soziologische, die nach Fortschritt klangen und auch nicht haltbarer waren, überkam.
Eine nicht gerade große, eine überschaubare Stadt also in ihrer frühsommerlichen Schönheit. Der Blick über ihren mittelalterlich-barocken Kern, den Neckar mit der Brücke und die ihn begleitenden Berge in die Rheinebene hinaus hat etwas Beruhigendes, Schützendes, aber auch Befreiendes, Leuchtendes, auf jeden Fall etwas ganz Besonders; eine Art Aufbruch. »Der Jüngling, der Strom« zieht bekanntlich davon bis zum fernen Ozean und noch darüber hinaus ins Metaphysische. Der junge Hölderlin wollte oder mußte ihm folgen und nach ihm so mancher Student, der sich, Hölderlins Oden-Ton nachahmend, als Dichter verstand – während ich als Jüngling lieber hierblieb im Deutschen Haus am Marsiliusplatz, wo sich um 1960 noch das Germanistische Seminar befand, in dessen Grimmsaal ich auf der knarrenden Empore saß und die Werke der Romantiker Tieck und Wackenroder (»Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« – was für ein Titel!) studierte, Zeile um Zeile, Wort um Wort, um sie mir einzuprägen. Manchmal warf ich ein Stöckchen oder ein Blatt Papier in den Fluß und sah ihm nach, wie es in die Ebene hinausschwamm. Oder ich ging auf stillen Waldwegen, im Mühltal, am Schloßberg, im Schwetzinger Park spazieren, Goethes »Werther« oder Mörikes »Maler Nolten« memorierend – eine inzwischen weithin untergegangene Lebensform.
Nein, Heidelberg ist nicht Weimar, aber als ehemalige Residenzstadt mit diesem vergleichbar, selbst wenn Weimar immer kleiner und wohl auch provinzieller war. Doch wirklich große Literatur (oder das, was man dafür ansieht) ist in Heidelberg, anders als in Weimar, kaum entstanden. »Stadt der Literatur« – wir sollten die Ansprüche vielleicht etwas bescheidener formulieren, neigen die hier Hängengebliebenen doch dazu, den eher harmlosen, freilich reizvollen Ort auch um ihrer selbst willen zum Mittelpunkt der geistigen Welt zu erheben. Wo sie auszuharren gezwungen waren, mußte es paradiesisch zugehen. Autoren wie Richard Benz, Rudolf K. Goldschmit-Jentner, Edwin Kuntz, Emil Belzner hielten die Vorstellung nicht aus, abseits der Metropolen in einer kleinteilig bebauten Stadt mit einer den Vogelflug nachahmenden Bogenbrücke und einem zerstörten Renaissance-Schloß zu leben. Alles mußte bedeutend und hauptstädtisch sein: das pfalzgräfliche Mittelalter, die kurfürstlich-katholische Barockzeit, die Lieder gleich Schmetterlingen sammelnde Romantik, die 1803 unter badischer Herrschaft neu begründete Universität, das Stadttheater natürlich, das Museum. Sogar die linksradikale Jugendrevolte von 1968 und die verspielte Sponti-Ära der siebziger Jahre sind inzwischen hoffähig geworden; man schmückt sich mit jenen, die mit Literatur wenig im Sinn hatten. Für den nicht gerade bescheidenen Benz, der das zweibändige Werk »Die Stunde der deutschen Musik« verfaßte, war die Musikgeschichte mit Schuberts Liedkompositionen im Grunde abgeschlossen. Dem 20. Jahrhundert widmete er kaum eine Zeile; es konnte ja nichts Gutes mehr kommen.
Wäre dieser unbescheidene Blick auf die vermeintliche oder wirkliche Größe der hier entstandenen Literatur, Malerei, Musik nicht auch produktiv nutzbar zu machen, zumal in unserer Zeit, wo all dies nichts mehr oder nur wenig zu gelten scheint, etwa als Gegenbild zur bedenkenlosen Vermischung von E- und U-Kunst, deren Zeugen wir seit längerem sind? Ich verkenne nicht, daß wir selbst, die sogenannten 68er, es waren, die zum Angriff auf die bürgerliche Hochkultur bliesen und die Klassiker, auch Gedichte, zugunsten von kritischer Illustrierten-Betrachtung oder TV-Krimis oder Schlagern aus den Lehrplänen verbannten. Wäre es nicht an der Zeit, am Singulären und Utopischen unserer Literatur festzuhalten, am Ernst der Sprache, an der Tiefe der Bilder, und damit ein Zeichen zu setzen gegen den Müllhaufen aus Trivialliteratur, Fernsehunterhaltung, Internet-Vernetzung?
In dem Fall sollte man es aber anders anpacken als der konservative Benz, der die wesentlichen Herausforderungen seiner Epoche, Expressionismus und Surrealismus, schon als Student der Kunstgeschichte bei Henry Thode nicht an sich heranließ, das Wilde und Schrille verabscheute und mied, während ich in meinen schüchternen Anfängen die älteren Werke »mit heißem Bemühn« (wie Faust das nennt) studierte und zugleich für alles Neue aufgeschlossen war, also Richard Benz verehrte und seinen Generationsgefährten Georg Trakl, Georg Heym und Ernst Blass nachstrebte, die er gar nicht zu kennen schien.
Vermutlich geht es den meisten, wenn von Heidelberg, seiner Landschaft und seiner Literatur die Rede ist, weniger um hermeneutische »Sinnfelder«, »Sinnfiguren « und ähnliche Abstraktionen als um die besondere »Atmosphäre«, um die »Aura«, die dieser Stadt seit mindestens zwei Jahrhunderten zugeschrieben wird, eine poetische »Stimmung«, etwas schwer zu Bestimmendes und gerade deshalb so Anziehendes – anziehend wie die im rötlichen Abendschein aufleuchtende Sandsteinbrücke, die Marianne und Max Weber 1914 in »einer Stunde höchster Feierlichkeit« an »das Blut von Tausenden« denken ließ, das bald ehrenvoll fließen werde.
Den steilen, mit duftendem Efeu dicht bewachsenen Schloßberg stieg ich als Schüler Mitte der fünfziger Jahre hinauf, um bei den Schloßfestspielen mitzuwirken (»Die Räuber«, »Die Freier«, »Ein Sommernachtstraum«), und vernahm dort zum ersten Mal ganz deutlich, hochpathetisch und aus nächster Nähe die Sprache der Poesie, die ich nie mehr vergaß. Etwas später, als Student, kehrte ich auf meinen Streifzügen im Haus Schloßberg 49 ein, vordem »Künstler-Pension Neuer«, und saß den für mich damals uralten Neuer-Töchtern gegenüber, die unverheiratet inmitten ihrer Bücher und Erinnerungen lebten, mit Werken von Goethe, George, Gundolf, von Jacob Burckhardt, Max Kommerell und Norbert von Hellingrath, darunter Widmungsexemplare; der Blick ging von der Terrasse zum Schloß hinüber und zum Neckar hinab. An diesem Ort, so scheint es mir im nachhinein, dürfte ich dem »Geist der Literatur«, falls es ihn geben sollte, wiederholt begegnet sein, ich Spätentwickler und miserabler Schüler, der mühelos in die Welt der Bücher eintauchen konnte. Meine »Literarischen Führungen«, die den Adressen und Worten der Dichter folgen, doch erst viel später, 1988 begonnen wurden, haben am Schloßberg ihren idealen Ursprung. Hier, in den hohen Räumen, fühlte ich mich fast zu Hause. Im Rauschen der Bücher, die zu mir sprachen, wähnte ich mich selbst den vielwissenden, aber extrem eitlen Professoren gewachsen, wahre Katheder-Fürsten, die sich kaum eine Blöße gaben und immer so taten, als wären sie die an der Härte der Verhältnisse leidenden Dichter, während ich der Überzeugung war, recht eigentlich einer zu sein.
Ich möchte nicht noch einmal die Literaturgeschichte Heidelbergs durchbuchstabieren und von Wolkenstein ausgehend die entsprechenden Titel aneinanderfügen, sondern anhand ausgewählter Texte nach dem Heidelberg-Bild (oder auch nur dem meinen) fragen, wie ich es schon in meinem 1986 bei Insel erschienenen Lesebuch sowie in meinem Beitrag zu dem von Elmar Mittler 1996 herausgegebenen Band »Heidelberg. Geschichte und Gestalt« versucht habe. Jaspers’ Gefühl, hier an bestimmten Tagen »einige Meter über dem Boden« zu schweben – hält es bis heute vor? Lebt dieser »lebendige Geist«, von einzelnen getragen, fort, trotz der immer dreisteren Vermarktungsstrategien in der Periode der »Kulturwirtschaft«? Worin besteht das Besondere und Faszinierende dieser Stadt? Mobilisiert sie noch immer die Dichter? Wir meinen ihre Bilder zu kennen, die sich im günstigen Fall mit unseren eigenen Urbildern treffen; doch in ihren stärksten Momenten verweisen sie auf eine andere Welt.
(…)
SINN UND FORM 3/2016, S. 399-414, hier S. 399-404