Brecht, Bertolt
(1898 – 1956), Mitglied der Akademie der Künste.
Siehe auch SINN UND FORM:
- 5/1949 | Aus allem etwas machen
- Sonderheft Bertolt Brecht/1949 | Kleines Organon für das Theater
- Sonderheft Bertolt Brecht/1949 | Der kaukasische Kreidekreis
- Sonderheft Bertolt Brecht/1949 | Gedichte
- Sonderheft Bertolt Brecht/1949 | Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar
- 5/1950 | Tschaganak Bersijew oder Die Erziehung der Hirse. Nach G. Fischs »Der Mann, der das Unmögliche wahr gemacht hat«
- 6/1950 | Kinderlieder
- 4/1951 | Aus: Das Verhör des Lukullus
- 5/1951 | An die Künstler und Schriftsteller Deutschlands
- 6/1951 | Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen
- 1/1952 | Notizen zur Barlach-Ausstellung
- 5/1952 | Die Antigone des Sophokles. Nach der Hölderlinschen Übertragung für die Bühne bearbeitet.
- Sonderheft Arnold Zweig/1952 | Mitglieder der Deutschen Akademie der Künste an ihren Präsidenten [Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Friedrich Wolf]
- 2/1953 | Stimmen der Mitglieder der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege. Zum Tode J. W. Stalins
- 3-4/1953 | Zu Hanns Eislers »Johann Faustus«. Thesen zur Faustus Diskussion
- 3-4/1953 | Erwin Strittmatters »Katzgraben«
- 6/1953 | Gedichte
- 5-6/1954 | Zum Tode Paul Rillas
- 5-6/1954 | Aufsätze zur Theaterpraxis
- 1/1955 | Erklärung
- 2/1955 | Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegeben werden? Zum »Darmstädter Gespräch«
- 3/1955 | Der Friede ist das A und O. Rede bei der Verleihung des Internationalen Stalin-Friedenspreises in Moskau, Mai 1955
- 3/1955 | Leben des Galilei. Erste bis dritte Szene
- 5-6/1956 | Die Gesichte der Simone Machard
- 1-2-3/1957 | Aus dem Arbeitsbuch: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui
- 1-2-3/1957 | Aus den letzten Gedichten
- 1-2-3/1957 | Augsburger Theaterkritiken
- 1-2-3/1957 | Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar. Drittes Buch
- 1-2-3/1957 | Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui
- 1-2-3/1957 | Gedichte aus dem Nachlaß
- 1-2-3/1957 | Geschichten vom Herrn Keuner
- 1-2-3/1957 | Flüchtlingsgespräche
- 1-2-3/1957 | An Helene Weigel zum 1. Mai 1950
- 1-2-3/1957 | Einige Irrtümer über die Spielweise des Berliner Ensembles. Kleines Gespräch in der Dramaturgie
- 1-2-3/1957 | Vier Psalmen
- 5/1957 | Das Manifest
- 1/1958 | Briefe des jungen Brecht an Herbert Ihering
- 1/1958 | Der Brotladen
- 4/1958 | Volkstümlichkeit und Realismus. Geschrieben 1938 im Exil
- 1/1959 | Aus den Gedichten im Exil
- 5-6/1959 | Gleichermaßen gefährlich und nützlich
- 3/1960 | Gedichte aus den Jahren 1920-1932
- 5-6/1961 | Betrachtung der Kunst und Kunst der Betrachtung
- 1/1962 | Gedichte
- 5-6/1962 | Rede über die Widerstandskraft der Vernunft
- 1/1963 | Gedichte aus den Jahren 1933-1945
- 2-3/1963 | Die dialektische Dramatik
- 6/1963 | In memoriam Hans Otto. Offener Brief an den Schauspieler Heinrich George
- 2/1964 | Shakespeare-Aufsätze
- 4/1964 | Gedichte aus den Jahren 1935-1955
- 5/1964 | Briefwechsel Bertolt Brecht - Thomas Mann
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Kleiner Beitrag zum Thema Realismus
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Zwei Briefe an Hanns Eisler
- 5/1967 | Der große Oktober (1937)
- 3/1973 | Die Teppichweber von Kujan-Bulak Ehren Lenin
- 4/1973 | Lob des Revolutionärs
- 4/1975 | Die Wahrheit einigt
- 2/1976 | Unveröffentlichte Briefe
- 5/1980 | Zwei »Buckower Elegien«
- 6/1986 | Tagebuchaufzeichnungen 1916
- 1/1988 | In den neunziger Jahren
- 1/1988 | Brief an Therese Ostheimer
- 1/1991 | Vorwort zu Turandot
- 5/1995 | Zwei Briefe
- 3/2006 | Aus der Sammlung Cohen
- 4/2016 | Ich, Berthold Brecht, alt: 20 Jahre. Mit einer Vorbemerkung von Erdmut Wizisla
- 2/2024 | »Solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich.« Briefwechsel mit Käthe Reichel. Mit einer Vorbemerkung von Helene Herold
Vorbemerkung Es mag überraschen, daß Bertolt Brecht, als dessen ausgemachtes Thema die dritte Sache gilt, offenbar kaum Schwierigkeiten hatte, in der ersten Person zu sprechen. Mehr als einhundert seiner Gedichte beginnen mit dem Wort »ich«. Streicht man Texte weg, in denen ein Dienstmädchen, der Glücksgott, der Sperling, ein Grammophonbesitzer oder eine gewisse Katharina im Spital zu Wort kommen, Reden von Figuren also, bleiben immer noch etliche, wo hinter dem Ich die Person Bertolt Brecht angenommen werden kann, zumal ihnen ab und an noch sein Name eingeschrieben ist. Das berühmteste Beispiel beginnt mit der Zeile »Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern«, entstand am 26. April 1922, wurde später verändert in »Bertolt Brechts Hauspostille« aufgenommen und leistet bereits in der Überschrift einen Beitrag zur Etablierung einer Marke: »Vom armen B. B.« Ein Rollengedicht auch dieses?
LeseprobeBrecht, Bertolt
Ich, Berthold Brecht, alt: 20 Jahre
Aus dem Archiv der Akademie der Künste
Vorbemerkung
Es mag überraschen, daß Bertolt Brecht, als dessen ausgemachtes Thema die dritte Sache gilt, offenbar kaum Schwierigkeiten hatte, in der ersten Person zu sprechen. Mehr als einhundert seiner Gedichte beginnen mit dem Wort »ich«. Streicht man Texte weg, in denen ein Dienstmädchen, der Glücksgott, der Sperling, ein Grammophonbesitzer oder eine gewisse Katharina im Spital zu Wort kommen, Reden von Figuren also, bleiben immer noch etliche, wo hinter dem Ich die Person Bertolt Brecht angenommen werden kann, zumal ihnen ab und an noch sein Name eingeschrieben ist. Das berühmteste Beispiel beginnt mit der Zeile »Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern«, entstand am 26. April 1922, wurde später verändert in »Bertolt Brechts Hauspostille« aufgenommen und leistet bereits in der Überschrift einen Beitrag zur Etablierung einer Marke: »Vom armen B. B.« Ein Rollengedicht auch dieses?
Der hier erstmals gedruckte Text gehört ins Vorfeld des programmatischen »Hauspostillen«-Poems und ist doch vollkommen eigenständig zu lesen. Bislang waren zwei weitere Gedichte mit der Redefigur »Ich, Bertolt Brecht« als Auftakt bekannt: ein um 1938 entstandenes und ein weiteres, das die Berliner und Frankfurter Ausgabe auf die Jahre 1952 /53 datiert. Das nun zugängliche dürfte der erste Versuch sein, einen Text so anzufangen, es steht unverkennbar in der Nachfolge François Villons.
Brecht hat die vier unbetitelten Strophen mit Blei auf ein einmal gefaltetes A4-Blatt niedergeschrieben, von dem nur eine Hälfte gefüllt ist. Es handelt sich nicht um eine Reinschrift, sondern um einen ersten Entwurf. An mehreren Stellen überschrieb Brecht Buchstaben und Wörter; nicht alle Änderungen sind so ausgeführt, daß der neue Sinn eindeutig wäre. Das Archiv der Akademie der Künste erwarb die Handschrift von Klaus Völker, der sie in den frühen sechziger Jahren von Brechts Augsburger Jugendfreund Georg Pfanzelt, dem Orge der »Hauspostille« und Adressaten der Widmung von »Baal«, erhalten hatte. Der erfreuliche Zuwachs erreicht das Archiv in einem für die Forschung wie auch für die Institution günstigen Moment, weil die Archivdatenbank, mit der auch das von Herta Ramthun erarbeitete Bestandsverzeichnis und die Daten sämtlicher Zugänge online gegangen sind, durch kombinierbare Suchoptionen Funde ermöglicht, die früher nur besonders Glücklichen oder Fleißigen gelangen.
Das Gedicht dürfte 1918 entstanden sein. Es gibt keinen Grund, die Altersangabe im Text nicht als Zeitpunkt der Niederschrift anzusehen. Im Frühjahr 1918 entdeckte Brecht Villon für sich. In einem Brief an Caspar Neher erklärte er Anfang oder Mitte März: »Ich will ein Stück schreiben über François Villon, der im XV. Jahrhundert in der Bretagne Mörder, Straßenräuber und Balladendichter war.« Unter dem frischen Eindruck der Lektüre entstand in dieser Zeit »Die Ballade vom François Villon«, die ebenfalls Eingang in die »Hauspostille« fand. Der junge Brecht identifiziert sich mit dem Outlaw, sein Gedicht »Ich, Berthold Brecht, alt: 20 Jahre« ist eine Wunschautobiographie. Zwar war er nicht »armer Leute Kind«, wie seine Ballade es dem französischen Barden nachsagt. Brecht ist – so sagt er es in »Verjagt mit guten Grund« aus den »Svendborger Gedichten « – »aufgewachsen als Sohn / Wohlhabender Leute«, was in unserem Gedicht aufscheint in der Formulierung »ich, der ich Wohlleben gewohnt war«. Hier schlüpft einer in den Mantel eines Vorgängers, probiert dessen Haltungen aus und ahmt versuchsweise den Gestus nach. Zu einer Beschwerde, wie sie der Ältere beherrschte – »sein Testament / In dem er Dreck schenkt allen, die er kennt«, heißt es im »Sonett zur Neuausgabe des François Villon« –, scheint der Nachgeborene sich erst aufraffen zu müssen. Der Protest ist ihm nicht in die Wiege gelegt. Der Sprecher unserer Fassung weiß, daß er »noch beinah nichts vom Leben litt / eh’r wie ein rohes Ei geschont war«. Das »dennoch« am Schluß der ersten Strophe markiert den Bruch mit der Herkunft. Eine Änderung zeigt, wie Brecht diesen reflektierte: Er verschob die Zeile »ich, der ich Wohlleben gewohnt bin« in die Vergangenheit und überschrieb das letzte Wort mit »war«. Die Zeit des »Bedientwerdens« sollte als eine längst abgeschlossene verstanden werden, was auch die Wortwahl demonstriert. Hieß es am Beginn der vierten Strophe zunächst »So schreib ich denn …«, so änderte Brecht dies in »So schlag ich denn …« – und zwar die Beschwerdeschrift der Luft »in die Fresse«. Der Ton und der Gestus der »Dreigroschenoper « sind hier vorgeprägt.
[…]
Erdmut Wizisla
SINN UND FORM 4/2016, S. 477-481, hier S.477-478
Vorbemerkung
Helene Weigel empfiehlt Bertolt Brecht 1950 eine junge talentierte Schauspielerin. Sie hat Waltraut Reichelt im Februar in (...)
Brecht, Bertolt
»Solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich.« Briefwechsel mit Käthe Reichel
Vorbemerkung
Helene Weigel empfiehlt Bertolt Brecht 1950 eine junge talentierte Schauspielerin. Sie hat Waltraut Reichelt im Februar in Rostock in der Inszenierung »Herr Puntila und sein Knecht Matti« unter der Regie von Egon Monk gesehen. Brecht engagiert Käthe Reichel, wie sie sich später nennt, nach einem kurzen Vorsprechen im Oktober 1950 für das Berliner Ensemble. Er ist zu dem Zeitpunkt zweiundfünfzig Jahre alt, ist ein gefeierter Dichter, Schriftsteller und Theatermann und hat lange Exiljahre überstanden. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland versucht er in Ostberlin eine eigene Theatertruppe, das Berliner Ensemble, aufzubauen, das zunächst noch als Gast am Deutschen Theater spielt. Käthe Reichel ist gerade vierundzwanzig, als sie Brecht im Oktober begegnet. Bis dahin hat sie sich vor allem durchgeschlagen: Sie ist in einfachen Verhältnissen in Berlin Mitte aufgewachsen, kannte von frühester Kindheit an Existenzängste und Hunger, war aber mutig und dreist genug, nach Ende des Krieges ans Theater zu gehen und zu behaupten, sie sei Schauspielerin, ihre Zeugnisse seien im Bombenhagel verlorengegangen. Sie wird zunächst in Greiz engagiert, dann in Gotha und Rostock. Anschließend wechselt sie ans Berliner Ensemble. Am 12. Januar 1951 schreibt Käthe Reichel ihren ersten Brief an Brecht: »Allerherzlich danke ich für die Hilfe und große Freundlichkeit, die Sie mir bei meinen ersten Gehversuchen in Berlin, in so reicher Zahl erwiesen haben. Ich danke sehr und bin ganz ergeben Ihre Käthe Reichel«.
Brecht fördert die junge Schauspielerin, unterstützt sie beim Rollenstudium. Schnell scheinen beide sich nahegekommen zu sein. Vermutlich im Sommer 1951, der Brief ist nicht datiert, sendet Brecht ihr »10 Vorschriften«: »lieber k., hier sind 10 vorschriften, bitte studier sie nicht daraufhin, ob sie gerade für dich gemünzt sind. Sie sind für dich geschrieben, aber nicht auf dich gemünzt. (1 z.b. bedeutet nicht, dass ich bei dir laschheit gesehen habe. aber ich sah die anspannung und wenn du sie vermeiden willst, dürfte es nicht durch laschheit geschehen. von 3 erliegst du nur der verführung zur absonderung ein wenig. 4 und 7 musst du beachten. auch 8.) praktische vorschläge«. Käthe Reichel bedankt sich am 16. September 1951. Sie befindet sich zu einem Erholungsaufenthalt auf Schloß Wiepersdorf in Brandenburg, dem ehemaligen Wohnsitz von Achim und Bettina von Arnim. Schon kurz nach ihrer Bekanntschaft mit Brecht muß sie verstehen, daß sie ihn nicht für sich allein haben kann, was für sie schwer zu ertragen ist. Die aus diesen Tagen erhaltenen Briefe erzählen von einem vertrauten Umgang miteinander, immer wieder hört man auch Reichels Berliner Tonfall heraus, mit dem sie zwischen Frechheit und Verehrung für Brecht changiert.
Im Sommer 1952 ist Käthe Reichel offenbar erneut zur Kur. Auch in dieser Zeit halten die beiden engen Kontakt. Brecht zeigt sich sachlich fürsorglich, Reichels Briefe sind gefühlvoller, bringen ihre Verliebtheit und Sehnsucht zum Ausdruck. Er schreibt von seiner Arbeit, von den Stücken, die ihn beschäftigen, und von den Rollen, die sie spielen soll. Sie wiederum berichtet kleinteiliger und ausführlicher, schildert ihr Tagewerk und spricht immer wieder von ihrer Zuneigung zu ihm.
Daß es eine enge Beziehung zwischen Brecht und Reichel gibt, bleibt auch den Mitarbeitenden, den Schauspielern und Schauspielerinnen am Berliner Ensemble nicht verborgen. So schreibt etwa Regine Lutz in einem Brief an ihre Eltern vom 21. September 1952 bezüglich der Rolle der Manuela in »Die Gewehre der Frau Carrar«, diese bekäme wohl »die Reichel, die Freundin vom Brecht«.
1955 geht Käthe Reichel als Gast an die Städtischen Bühnen in Frankfurt. Sie kehrt nicht mehr fest ans Berliner Ensemble zurück. Der Kontakt zu Brecht bleibt bestehen, sie bekommt sogar ein bescheidenes Häuschen in Buckow von ihm geschenkt. Auch dieses Haus ist Gegenstand der Briefe. Reichel hat es zunächst gepachtet, will es aber besitzen. Sie will nie wieder aus einer Bleibe hinausgeworfen werden, wie sie es als Kind erleben mußte. Brecht gewährt ihr den Wunsch. Das Haus befindet sich in der Nähe von Brechts und Weigels Sommersitz am Schermützelsee. Reichel ist, außer Ruth Berlau, der er ein Haus in Dänemark schenkte, die einzige von Brechts zahlreichen Mitarbeiterinnen und Freundinnen, die ein solches Unterpfand bekommt.
Aus dem gesamten Briefwechsel sticht ein Stück besonders hervor. Ein Brief ohne Datum, ohne Anrede, ohne Unterschrift, der in der Forschungsliteratur schon Käthe Rülicke zugeordnet wurde, aber sicher von Käthe Reichel stammt. Indizien wie die Schreibmaschinentypen und Besonderheiten in Ausdruck und Interpunktion sprechen eindeutig für sie als Verfasserin. Für ihre Perspektive auf die Beziehung zu Brecht ist er besonders aufschlußreich: »Daß man Dir keinen Liebesbrief schreiben kann, all den törichten Unsinn, den man denkt, nie sagt, den man höchstens schreibt – nur Dir nicht – das ist schlimm. Sicher verstehst Du gar nicht was ich meine (ich meine das Bedürfnis, jemanden zu streicheln, auf die Augen zu küssen – Deine Augen sind lustig und listig – solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich). Du ›betrachtest‹ alles, immer produktive Folgerungen ziehend – d. h. es gibt wenige, ganz wenige und seltene Sekunden, wo Du es nicht mehr tust! Wie ich diese Sekunden liebe!!!«
Für Brechts Sicht der Dinge ist ein Brief mit angefügter Keuner-Geschichte bezeichnend. Er schreibt ihr (ohne Datum): »liebe kattrin, nach alldem argen: wäre es nicht gut, wenn du mir alles gäbst, was du an freundlichkeit geben kannst und von mir alles nähmst, was ich an freundlichkeit dir geben kann und wir nähmen als maass der freundlichkeit handlungen? dann wäre keine frage nach dem was fehlt, dann gäbe es eine zuversicht von dem was da ist. es gibt nichts besseres als freundschaft; was darüber hinaus ist, ist nur gut, wenn es die freundschaft gibt.«
Insgesamt liegen 99 Briefe vor. 33 davon tragen ein Datum, 66 keines, was die chronologische Zuordnung erschwert. Über Hinweise und Bezüge wurde dennoch versucht, eine sinnvolle Reihenfolge und Gliederung zu erstellen. Kurz vor Redaktionsschluß kamen zu den bereits bekannten 84 Briefen, die sich im Archiv Darstellende Kunst und im Bertolt-Brecht-Archiv der Akademie der Künste befinden, 15 Schriftstücke hinzu, deren Sperrung gerade erst abgelaufen war. Ein Glücksfall, denn darunter waren Antworten auf bereits vorhandene Briefe, außerdem werden die Hintergründe von Reichels Frankfurter Engagement näher beleuchtet. Die hier vorgelegte Auswahl umfaßt 22 Briefe von Käthe Reichel und 21 von Bertolt Brecht. Außerdem existieren 12 kurze Zettelgrüße, die alle kein Datum tragen und hier nicht abgedruckt werden.
Die Briefe sind mit wenigen Ausnahmen mit der Schreibmaschine geschrieben, von Brecht in seiner bekannten Kleinschreibung. Die Zettelgrüße wurden meist per Hand verfaßt. Auffällig sind Brechts Anreden »lieber k.« sowie »liebe kattrin«. Sie schreibt immer an ihren »lieben Bert«.
Den letzten Brief an Bertolt Brecht schreibt Käthe Reichel am 22. August 1956, nicht wissend, daß er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr lebt. Sie ist auf einer Reise durch den Kaukasus und berichtet ihm von dort, von einer langen Überfahrt über das Schwarze Meer und von einer Sternschnuppe, bei deren Anblick sie seinen Namen ausspricht, weil Leute ihr erzählt hätten, das bringe Glück.
Das Berliner Ensemble verläßt sie endgültig nach Brechts Tod und wird festes Mitglied am Deutschen Theater. Als Schauspielerin macht sie noch auf vielen Bühnen und auch beim Film Karriere. Immer wieder ist sie politisch aktiv. 1989 ist sie Mitinitiatorin der großen Massenkundgebung vom 4. November auf dem Alexanderplatz und nach der Wende hungert sie mit den Kali-Kumpels von Bischofferode für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. 1996 erhält Käthe Reichel den Alternativen Nobelpreis für die Kampagne »Mütter, versteckt eure Söhne«, eine Aktion gegen den Tschetschenien-Krieg. Ab 2001 tritt Käthe Reichel mit einer eigenen Fassung von Brechts »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« auf und trägt das Drama als Ein-Personen-Stück vor.
Brecht bleibt zeit ihres Lebens der wichtigste Mann für sie. Seinem Eindruck konnte und wollte sie sich nie entziehen. Dem Medium, das sie verbunden hat, ist sie treu geblieben und hat mit dem Buch »Windbriefe an den Herrn b.b.« 2006 noch einmal 45 Briefe an den Abwesenden gerichtet. 2011 veröffentlicht sie ihre Autobiographie unter dem Titel »Dämmerstunde – Erzähltes aus der Kindheit«. Käthe Reichel ist 2012 in ihrem Haus in Buckow gestorben.
Helene Herold
SINN UND FORM 2/2024, S. 149-181, hier S. 149-151