Borchardt, Rudolf
(1877–1945), Schriftsteller, Dichter, Herausgeber und Übersetzer. 2014 erschienen im Rahmen der von Gerhard Schuster und Hans Zimmermann herausgegebenen Briefausgabe Borchardts Briefe an seine Frau Marie Luise. Der Nachlaß befindet sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. (Stand 5/2016)
Borchardt, Rudolf
(1877–1945), Schriftsteller, Dichter, Herausgeber und Übersetzer. (Stand 3/2023)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 5/2016 | Paulkes letzter Tag
- 3/2023 | Fortsetzung der Lebenserinnerungen. Mit einer Vorbemerkung von Gerhard Schuster
Vorbemerkung Die Autobiographie »Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt«, in fünf Folgen von den »Münchner Neuesten Nachrichten« 1927 (...)
LeseprobeBorchardt, Rudolf
Fortsetzung der Lebenserinnerungen
Vorbemerkung
Die Autobiographie »Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt«, in fünf Folgen von den »Münchner Neuesten Nachrichten« 1927 und 1928 veröffentlicht, aber ungekürzt im Gesamtumfang von 120 Buchseiten unter dem vom Verfasser bei Georg Gottfried Gervinus geborgten Titel erst postum erschienen (Prosa VI 1990, zuletzt 2002 mit Nachwort von Gustav Seibt), galt bisher als »vollendet«, wenngleich im chronologischen Gerüst naturgemäß nicht abgeschlossen. Literarisch gleichrangig steht dieser Bericht über den Zeitraum zwischen 1877 und 1885 neben Walter Benjamins »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« – einsetzend mit Reflexionen über den »Sinn der Autobiographie«, gefolgt von Details zur jüdischen Familien- und Gelehrtengeschichte als Beispiele für die von Borchardt behauptete Königsberger »Kreuznahme« im Zeichen der Freiheitskriege von 1813 als Beginn einer (angeblich) geglückten Assimilation. Dazwischen ein Exkurs zur Krise des deutschen Verlagswesens in der Jahrhundertmitte. Das Ganze vor einem Fresko der gründerzeitlich expandierenden Reichshauptstadt.
Hauptthema sind die »Vorschul-Monate« des Kindes. Während Borchardts Eltern sich in Moskau und St.Petersbhurg befinden, sitzt der zurückgelassene Sohn zwischen verhüllten Möbeln in einer Riesenetage am Kronprinzenufer, koloriert die Neuruppiner Bilderbogen von Gustav Kühn (etwa Motive aus Donizettis Oper »Lucia di Lammermoor«) und vertieft sich tagelang lesend und dabei immer sich selbst herauslesend in nationale Tragödien wie die der Hohenstaufen in Richard Roths Kinderbuch »Kaiser, König und Papst« von 1875 (darin: »Manfred und Karl von Anjou, Cerra und Caserta«) oder stellt Heroenkämpfe aus Gustav Schwabs »Schönsten Sagen des klassischen Altertums« nach (darin: »Achill und Deiphobus«). Zwischendurch konversiert er im Selbstgespräch mit den neobarocken Meißener Figuren einer Schauvitrine (»Porzellanvögel«) und reckt sich auf Zehenspitzen vor dem Salonporträt der »Pompejanerin«. Ein Findelkind, das sich selbst als nur »angenommen« träumt (»meine wahrscheinliche Herkunft und Bedeutung …«), gerät dem Erzähler zum prinzlichen Demiurgen, den seine Phantasiewelt beschützt und zugleich verbirgt. Ihm aber auch verbietet, gegenüber anderen auch nur »einen Zipfel« von seinen Geheimnissen zu lüften.
Unversehens schlägt das Märchen um in »hoffnungsloses Unglück«. Denn der zurückgekehrte Vater unterwirft ihn der Aufsicht eines kleinbürgerlichen »Elementar-Lehrers« (für Erdkunde, Mathematik, Schönschreiben) namens Gustav Adolf Hallbauer in Moabit (Turmstraße 14 /III), der gegen Bezahlung Schüler als »Pensionisten« in seine dürftige Wohnung aufnimmt und deshalb in den Memoiren den sprechenden Namen »Halbherr« tragen muß. Gemeinsam mit zwei »Schicksalsgefährten« – »Höllmann« und »Selwitz« –, Sprößlinge des »neudeutschen Unternehmertums« aus einer Wannsee-Villa wie er selbst, leidet der Achtjährige nun, in ein schmieriges Mehrbettzimmer verbracht, wochenlang unter der »rohen Luft« dieser »Wärter« und einer miserablen Verköstigung. Aber »Ordnung«, so belehrt ihn die »gamsige Nase« der Hausfrau beim Strümpfestopfen, »herrsche überhaupt nur bei den Ständen, die von ihrer Hände Arbeit lebten. Wenn die armen Leute den reichen nicht Ordnung hielten, so würde bei denen alles täglich neu gekauft werden müssen mit dem ruchlosen Gelde, das die scheffelten.«
Mit dem Schockerlebnis dieses vom Autor gezielt als prä-faschistisch akzentuierten Sozialneids endet der bisher bekannte Text. Effektvoll mündet er zugleich in das Fanal eines Stolzes, den Borchardt sich lebenslang bewahrt und der ihn und seine Familie noch 1944 während der zwangsweisen Verbringung durch die deutsche Wehrmacht aus der Lucchesia bis nach Innsbruck retten wird: »Das Leben und die Sitten, die Worte und das Wesen des Pöbels, seine Kost und seine Wohnung, sein Geruch und die vollständige Verlogenheit aller seiner Äusserungen, waren mir so unbekannt wie die von Patagoniern und wirkten, ohne dass sie eine Feindseligkeit gerade gegen mich hätten zu kehren brauchen, an sich unverlierbar auf mein Inneres mit dem Zuge, mit dem sich rotes Eisen einbrennt und seinen Weg bezeichnet. Ein anderer wäre davongelaufen, ein zweiter hätte sich dagegen abgestumpft, ein dritter sich angepasst, ein vierter es an sich ablaufen lassen, ohne es sonderlich zu merken.« Der letzte Satz nimmt ein Lebensfazit vorweg: »Aber ich würde schwerlich, auch wenn ich es gekonnt hätte, mir Mitwisser und Teilnehmende meines Leids gesucht haben, weil ich, verstossen wie ich mich deuchte, auch verstossen sein wollte und eine Verschlossenheit sich in mir aufrichten fühlte, die den Charakter der Zuflucht hatte und eben darum niemanden in sich einließ.«
An diese trotzige Aufgipfelung schließen nun drei bisher im Nachlaß nicht identifizierte Folgeseiten an, nach Papierqualität und Tinte unzweifelhaft; auf der Mitte des letzten Blattes erfolgt der endgültige Textabbruch (Deutsches Literaturarchiv Marbach). Imaginiert werden darin noch die ersten Schultage des Sextaners im Französischen Gymnasium am Reichstagufer (Klassenstärke: »sechzig wie die Teufel tobende Knaben«), der als ein »Kostgänger« des Hallbauer-Halbherrs sogar bevorzugte Behandlung durch Lehrerkollegen genießt und den seine Mitschüler eben darum neidvoll beobachten oder opportunistisch umwerben – zugleich mit der Verdächtigung, daß er wie andere solche Bevorzugten von den »Klassenaufgaben und Versetzungslisten« durch »heimliche« Schubladeneinblicke wisse und dies an Kameraden weitergebe oder eben nicht. In wenigen Strichen, syntaktisch kompakt, entsteht das Szenarium eines Machtspiels, dessen Bedrohlichkeit der Halbwüchsige, gutgläubig und fern aller »berlinischen« Gerissenheit seiner Altersgenossen, erst kaum begreift. Eine intrikate Studie, die schon als Vignette die Psychologie zeitgenössischer Schülerromane überbietet.
Der ursprünglichen Disposition folgend hätte Borchardts Lebensbericht die Gymnasialjahre (Marienburg, Wesel) und seine Studiensemester seit 1895 (Berlin, Bonn, Göttingen) bis zum »Annus Mirabilis« 1902 einschließen sollen, kulminierend in der Krise um die (zum Vorteil der Poesie) unerreichbar gebliebene »Vivian« Margarete Ruer in Nassau und den lebensverändernden Besuch bei Hofmannsthal in Rodaun. Endgültig aufgegeben wird dann die Niederschrift dieses Rückblicks auf den »finsteren hagen« frühkindlicher Sozialisation in denselben Wochen des Jahres 1928, in denen der fünfzigjährige Übersetzer der »Göttlichen Komödie«, »inmitten unseres lebens an der fahrt«, mit seiner Schlußarbeit an den Terzinen des »Paradieses« beginnt. Vollständig erscheint dieses Experimentalwerk 1930 im Verlag der Bremer Presse und bei Ernst Rowohlt – mit einem ausgreifenden Nachwort, adressiert an Konrad Burdach, das die Faktoren der eigenen Bildungsgeschichte noch einmal benennt, aus wiederum anderer Perspektive als 1924 im »Eranos-Brief« an Hofmannsthal und erst recht abweichend von der priapischen Selbstbespiegelung im Schelmenroman »Weltpuff Berlin« von 1938.
Gerhard Schuster
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SINN UND FORM 3/2023, S. 424-428, hier S. 424-426