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Heftarchiv – Leseproben

Zagajewski, Adam

4/2008 | Fragmente eines nicht existierenden Tagebuchs

Alles werde ich euch sowieso nicht erzählen. Schließlich komme ich aus der osteuropäischen Schule der Diskretion; wir sprechen nicht über Scheidungen und behalten unsere Depressionen für uns. Es passiert ja auch nichts. Das Leben fließt ruhig dahin, ringsum, vor dem Fenster, ein grauer, ungewöhnlich warmer Dezember. Ein paar Konzerte. Im Anwaltsklub in der Sławkowska-Straße gastierte eine ausgezeichnete junge Sängerin. Gestern dann ein sehr schönes Konzert mit Musik von Schostakowitsch (und dem ihm gewidmeten Streichquartett seines Biographen Krzysztof Meyer, »Au delà d'une (...)

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6/2009 | Über die Treue. Imre Kertész' geduldige Arbeit am Mythos des Romans

Im Prado hängt ein Bild von Francisco de Zurbarán, das Christus am Kreuz zeigt; zu seinen Füßen stehen aber nicht die traditionellen Figuren der christlichen Ikonographie, sondern ein Maler mit Palette – gewiß ein Selbstporträt, wenngleich der Titel suggeriert, es handele sich um den Evangelisten Lukas. Das Gemälde erweitert das traditionelle Passionsmotiv um ein Bild des Künstlers, das unter anderem für die ästhetische Selbstreflexion steht. Zurbarán sagt uns auf diese Weise, daß die Relation zwischen dem Göttlichen, dem Schmerz und dessen Darstellung selbst für die größten (...)

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1/2011 | Unser Europa

Vor nicht allzu langer Zeit waren viele Europäer bereit, für ihr Land, für Frankreich, Deutschland oder auch Polen, zu sterben. Für Europa möchte heute wohl niemand sein Leben geben. Ist Europa also nur eine Fiktion? Wenn ja, dann eine verlockende. Nicht so real wie Gott, der Tod, das Schöne, wie Italien und Rom, das Christentum, Gut und Böse, Liebe und Sehnsucht, aber realer als der Sozialismus, als Vollbeschäftigung, klassenlose Gesellschaft und internationale Solidarität, realer auch als visionäre Politiker oder altruistische Künstler.
Hugo von Hofmannsthal, der (...)

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4/2013 | Der Essay als Raum freien Denkens. Gespräch mit Basil Kerski und Sebastian Kleinschmidt

BASIL KERSKI: Gedicht und Essay sind in der polnischen Literatur diejenigen Gattungen, die am deutlichsten mit eigener Stimme sprechen. Hier fanden die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ihren besonderen polnischen und zugleich universellen Ausdruck. Ein Meister beider Gattungen ist Adam Zagajewski. Sebastian Kleinschmidt fördert sie in der von ihm geleiteten Zeitschrift Sinn und Form in eindrucksvoller Weise. Gedichte und Essays aus Polen waren in den letzten beiden Jahrzehnten – vor allem dank der Übersetzungen Henryk Bereskas und Bernhard Hartmanns – in der Berliner (...)

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6/2014 | Aleksander Wats Erinnerungen, nach Jahren wiedergelesen

Die erste Ausgabe von »Mój Wiek« (Mein Jahrhundert) erschien 1977 in London, genau zehn Jahre nach dem Tod des Autors (die deutsche Fassung aus dem Jahr 2000 trägt den Titel »Jenseits von Wahrheit und Lüge. Mein Jahrhundert. Gesprochene Erinnerungen 1926–1945«). Wats Freunde im Exil waren sicher verärgert, weil sich die Veröffentlichung so lange hinzog, aber für die Leser in Polen war es ein besonderer, gleichsam sorgfältig gewählter Moment – im Land entstand gerade die Massenopposition, die damals noch elitär, das heißt auf Bildung ausgerichtet und dem Lesen zugeneigt war. (...)

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Zeller, Michael

3/2022 | Alter europäischer Boden. Der ukrainische Erzähler Wladimir Korolenko

Der ukrainische Erzähler Wladimir Korolenko Es fing damit an, daß eine Freundin wegen eines Wohnungsumzugs ihre Bücherregale durchforstete. Unter den aussortierten Büchern fielen mir zwei Auswahlbände in die Hände, »Russische Erzähler« hieß der eine, »Klassische Erzählungen Rußlands« der andere. Sie waren älteren Datums und fast ohne Lesespuren. In beiden Bänden entdeckte ich Geschichten von Wladimir Korolenko. Das überraschte mich. Denn die »Staatliche wissenschaftliche Bibliothek« der ostukrainischen Stadt Charkiw, in der ich schon mehrfach aus meinen Büchern gelesen (...)

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