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Heftarchiv – Leseproben

Gal-Ed, Efrat

6/2016 | Das unbekannte Jiddischland. Ein Gespräch mit Ruth Renée Reif über Itzik Manger

RUTH RENÉE REIF: Der "Prinz der jiddischen Ballade" wurde Itzik Manger genannt. Isaac Bashevis Singer sah in ihm einen "jiddischen Baudelaire", einen der größten Dichter jiddischer Sprache. In Ihrer Biographie entwerfen Sie ein lebendiges Bild seines Schaffens und seiner jiddischen Lebenswelt. Wie bewerten Sie aus heutiger Perspektive die Bedeutung seines Werks? EFRAT GAL-ED: Itzik Manger war ein überaus origineller Künstler. Er schaffte es, eine eigene Stimme zu entwickeln, indem er verschiedene Formen der europäischen Literatur mit dem Jiddischen verschmolz.(...)

Leseprobe
Gasdanow, Gaito

4/2020 | Straßenlaternen

Die Bibliothek Sainte-Geneviève in Paris hat meines Erachtens vor allem den Nachteil, daß Rauchen dort verboten ist; weil ich gezwungen war, lange Stunden dort zu verbringen, litt ich sehr darunter. Mir standen zu der Zeit die Aufnahmeprüfungen für die Universität bevor; zum Kauf der kostspieligen politischen und philosophischen Bücher, deren Inhalt ich ungefähr zu kennen hatte, fehlte mir das Geld, so mußte ich mich wohl oder übel in die Bibliothek Sainte-Geneviève begeben. Alle vierzig oder fünfzig Minuten ging ich aus dem Lesesaal auf den Hof und zündete mir eine Papirossa an. (...)

Leseprobe
Geisel, Sieglinde

1/2012 | Universum der Zentrifugalkräfte. Zum schriftstellerischen Werk von Thomas Harlan

»… die eisige Unbefangenheit der Fische…« (Thomas Harlan, »Heldenfriedhof«)   Als ich Thomas Harlan im Januar 2009 in der Klinik bei Berchtesgaden, in der er sein letztes Lebensjahrzehnt verbrachte, für ein Interview aufsuchte, tat ich es als gescheiterte Leserin. Ich war elektrisiert von der Sprache in „Heldenfriedhof“, seinem Hauptwerk, doch ich fand keinen Weg durch das Dickicht der Geschehnisse und Figuren, der Schauplätze und Zeiträume. Unser Gedankenaustausch, der bis zu seinem Tod am 16. Oktober 2010 andauerte, wurde zu einer gemeinsamen Erkundung dieser Prosa und (...)

Leseprobe
Geiser, Christoph

2/2018 | Der Neandertaler von Darmstadt

Das Auge Gottes, übrigens, war auch noch nicht im Bus. Ja, vielleicht war das säumige Auge Gottes überhaupt der Grund, warum der Bus, der sich nach und nach mit immer mehr saumseligen Fruchtbringenden füllte, noch immer nicht losfahren konnte, weil das Auge Gottes, die Treppe des Staatstheaters beherrschend, noch immer jedes einzelne Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft auf seine Linse bannen wollte und damit den Abstieg all der Fruchtbringenden über die Treppe behinderte und verzögerte – während wir dasaßen, auf unserem Bänkchen am Fenster zur Nacht, eingezwängt zwischen den Stehenden, die Panische mir gegenüber und die Verhärmte. Sukzessive immer mehr eingezwängt, unaufhaltsam. Den Ehernen sah ich erst, als es schon zu spät war. So stolperte ich, bereits panisch, über die Füße der Linguistik … Panik, ja. Urplötzlich. (...)

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Genazino, Wilhelm

4/2010 | Gespräch mit Claus-Ulrich Bielefeld

CLAUS-ULRICH BIELEFELD: In Ihrem Roman "Das Glück in glücksfernen Zeiten" erzählen Sie aus dem Leben des 41jährigen Gerhard Warlich. Der hat über Heidegger promoviert, arbeitet aber als Geschäftsführer einer Großwäscherei. Und er verspürt den Drang, seine Mitmenschen manchmal "über die allgemeine Ödnis des Wirklichen" aufzuklären. Die Ödnis des Wirklichen, ist das der Stachel, der im Fleische Gerhard Warlichs steckt und auch in dem Ihrer anderen Helden? WILHELM GENAZINO: Das kann man so sagen. Die Ödnis des Wirklichen ist nicht nur der innerste Kern dessen, was meine Protagonisten sehen, sondern auch dessen, was ich sehe, worüber ich mich nicht beruhigen kann. (...)

Leseprobe

2/2019 | »Ich sehe mich als Überlebenden meiner Krisen«. Gespräch mit Ralph Schock

RALPH SCHOCK: Du hast für den Saarländischen Rundfunk deinen Roman »Bei Regen im Saal« eingelesen. Wie war die Wiederbegegnung mit dem Buch? WILHELM GENAZINO: Im großen und ganzen hat es mir gut gefallen. Wenn ich es noch einmal schreiben müßte, würde ich den einen oder anderen Satz streichen, aber das ist normal. Um gewisse Aufdringlichkeiten zu bemerken, zum Beispiel überdeutliche Erläuterungen, die die Mitarbeit des Lesers überflüssig machen, braucht man eben Abstand. SCHOCK: Gab es auch die eine oder andere Stelle, wo du denkst: Da hätte ich noch einen Satz ergänzen (...)

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Georgi, André

6/2016 | Seestück

Sand wie verdreckter Schnee, darüber ein Meer, das seine weißen Schaumkronen dem Strand entgegenspült, tiefblau, die Farbe des Todes, der Himmel wiederum eine pastellene Verheißung der Erlösung und zugleich eine Ankündigung des Nichts: Drei Flächen, ocker, schwarzblau, pastellblau – der Übergang vom Strand zum Meer eine scharfe Grenze, ausgefranst dagegen der Übergang vom Meer zum Himmel, ein loderndes Blau, wie ein hinter dem Horizont züngelnder Brand einer Stadt, in den falschen Farben gemalt. Vorne ein Mann in schwarzem Gewand, mit eigentümlich verdrehter Gestalt, Oberkörper und Gesicht dem Brand hinter dem Meer zugewandt, die Füße aber zur Seite zeigend, eine instabile Lage, kein Mensch könnte so stehen, der Kopf hat einen Entschluß gefaßt, den durchzuführen die Füße verweigern.
(...)

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Girard, René

4/2007 | Gespräch mit Wolfgang Palaver

PALAVER: Sie sagen, schon die ersten biblischen Texte seien, verglichen mit den Texten der Griechen, blutiger, grausamer und von ganz unverhüllter Gewalt. Deshalb ist das biblische Erbe für viele ein Erbe der Gewalt. Sie haben die Psalmen einmal mit einem umgedrehten Fell verglichen. GIRARD: Mit einer Tierhaut. Gesäubert und bearbeitet ist sie wunderschön, glänzend, großartig. Aber wenn man sie gleich nach dem Abziehen wie einen Handschuh umdreht, ist überall Blut. Ja, die Mythen sind wie ein Fell, daher werden sie gehegt und gepflegt. Der heutige Leser findet die Psalmen abstoßend, weil er noch die blutige Haut des Opfers sieht. (...)

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Gissing, George

1/2023 | Bücher und das ruhige Leben

(…)

IV.
Es regnete fast den ganzen Tag, dennoch war es für mich ein Tag der Freude. Ich hatte gefrühstückt und war in eine Karte von Devon vertieft (wie liebe ich doch gute Karten!), um eine Reiseroute zu erkunden, die ich im Auge hatte. Da klopfte es an meine Tür, und Mrs. M. trug ein großes Paket in braunem Papier herein, das, wie ich mit einem Blick sah, Bücher enthalten mußte. Die Bestellung hatte ich vor einigen Tagen nach London geschickt, aber nicht erwartet, daß meine Bücher schon so bald eintreffen würden. Mit pochendem Herzen legte ich das Paket auf den (...)

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Glück, Louise

2/2017 | Abenteuer. Gedichte

ERINNERUNGSTHEORIE Vor langer Zeit, lang bevor ich zu einer leidenden Künstlerin wurde, die vor Sehnsucht vergeht, aber unfähig zu dauerhaften Bindungen ist, lang davor war ich ein ruhmreicher Herrscher, der ein geteiltes Land wiedervereint hatte – so verkündete es mir die Wahrsagerin, die mir aus der Hand las. Große Dinge liegen vor dir oder vielleicht hinter dir, genau läßt sich das nicht sagen. Doch würde das, fügte sie hinzu, wirklich einen Unterschied machen? In diesem Augenblick bist du ein Kind, das die Hand der Wahrsagerin hält. Alles andere ist Hypothese und Traum. Aus (...)

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González, Tomás

5/2013 | Reise an die Küste

Für Don Gabriel
diese Geschichte, die aus dem wenigen entstand, das ich weiß oder erinnere, und dem unendlich vielen, das ich nicht weiß oder vergessen habe. »Übermorgen ist der dritte«, sagte die Mutter.
»Schon wieder November«, erwiderte Emma. »Das Jahr ist wie im Flug vergangen.«
Am nächsten Tag räumten Mutter und Tochter das Bett und die anderen Möbel aus dem Zimmer, von dem man auf die Mangobäume und die Gartenmauer dahinter schaute, und stellten zwei Reihen Stühle auf – so wurde es zum Eisenbahnwagen. Aus dem Wohnzimmer entfernten sie allen Zierrat (...)

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Granin, Daniil

4/2008 | Gespräch mit Friedrich Schorlemmer und Franziska Thun-Hohenstein

(…) DANIIL GRANIN: Am 17. Juni 1941 befand ich mich mit den Resten meines Regiments auf dem Rückzug. Bei Leningrad wurden wir von den Deutschen bombardiert. Alle liefen durcheinander, auseinander und davon. Ich auch; ich rannte nach Hause und habe meiner Schwester gesagt, gleich kommen die Deutschen, bleib am Fenster, und wenn sie kommen, weck mich. Ich war todmüde und überzeugt, daß die Deutschen bald in die Stadt kämen. Aber sie kamen nicht. Das ist mir bis heute ein Rätsel. Wir hatten wirklich keine Verteidigung, die Stadt war absolut offen. Als ich zu schreiben anfing, habe ich mich kaum mit dem Krieg befaßt, das war noch zu schwer für mich. Aber dieses Rätsel ließ mir keine Ruhe.

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Greg, Wioletta

2/2021 | Silberne Unendlichkeitszeichen. Gedichte

OSTERGEDICHT
Kalter April. Die Küken reiften
in dem Käfig unter der großen Glühbirne,
die wir Glucke nannten.

Ich gab ihnen kleingeschnittenes Futter:

hartgekochte Eier, Schafgarbe, Wasser auf einem Deckel.
Ich schaute sie an – Geschöpfe, die nach Sand und
Schleim rochen, ausgeschlüpft aus einer Dunkelkammer,
die wie die Pausen in der Stromversorgung war.

Dieses Knistern in der Dunkelheit, wenn die Birne erlosch,
die steif werdenden Fleckchen, das Flimmern.

SCHWIMMUNTERRICHT
Ich war kaum sechs (...)

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Grimm, Thomas

3/2007 | Gespräch mit Inge und Walter Jens und Manfred Mayer

FRAGE: Sie beschäftigen sich schon so lange mit der Familie Mann, daß man fast sagen kann, sie gehört zu Ihrem Haushalt. Wie hat das eigentlich alles angefangen? INGE JENS: Eines Tages kam der Verleger Günther Neske mit einem Stapel Briefe von Thomas Mann an Ernst Bertram. Weiß der Teufel, woher er die hatte. Er sagte zu meinem Mann: »Das sollten Sie edieren.« Der guckte drauf und sagte: »Um Himmels willen! Handschriftlich! Nein, nicht mit mir.« Neske war etwas betreten, und da sagtest du: »Fragen Sie doch mal meine Frau.« Und der Verleger hat sich darauf eingelassen, (...)

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Gröschner, Annett

2/2023 | Minutentexte

Für Alexander Kluge 1: Hartguß und Herzweiche oder der Elefant im Raum,
über den ich sprechen will

Mit den Zufällen ist es wie mit den Seelen von Häusern. Ich glaube nicht an sie, aber sie können mich trotzdem überwältigen. Nehmen wir das Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße 23 mit seinen verborgenen Bewohnern. In der Villa kreuzen sich die Zufälle auf ganz besondere Art.
Ich liebe Bauakten, weil sie so unbestechlich auf ein Ergebnis hinauslaufen. Das Ergebnis ist ein Haus, das sich nach und nach der Bauakte entfremdet oder ganz und gar wieder (...)

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Große, Jürgen

3/2021 | Die Namen des Bösen

Präambel: Methodische Probleme der Dämonenkunde

In der politischen Publizistik sind Modernisierungstheoreme nach wie vor beliebt. Über ein Jahrhundert waren sie zumeist als Säkularisierungstheorien aufgetreten. In diesen ging es nicht einfach darum, dem politischen Gegner ein Modernitätsdefizit, gar intellektuelle Zurückgebliebenheit zu unterstellen. Säkularisierungstheoretiker erhoben auch den Anspruch, solche Defizite erklären zu können: Der moderne Mensch, zumal wenn geistig-moralisch schwach gebaut, leide an einem Sinnverlangen, das einst die Religion befriedigt habe. (...)

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Grünbein, Durs

3/2011 | Tauchen mit Descartes. Gespräch mit Michael Eskin

MICHAEL ESKIN: Sie haben einmal gesagt, "Der cartesische Taucher" sei Ihr vielleicht wichtigstes Buch. Könnten Sie das näher erläutern? DURS GRÜNBEIN: Dieses Buch ist im Grunde ein ,Kommentar’ – zu dem Buch, das mir am meisten am Herzen liegt, dem Erzählpoem "Vom Schnee oder Descartes in Deutschland". Mit ihm habe ich mich als Dichter am weitesten vorgewagt, den größten Abstand zu unserer Gegenwart gewonnen und sie so, aus der barocken Vogelperspektive, zum ersten Mal deutlich gesehen: als die gewaltige Neuzeit, die sie ist. Das ist der Sinn meiner cartesischen Expedition. (...)

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Gumpert, Martin

4/2018 | Lebenserinnerungen eines Arztes. Autobiographische Aufzeichnungen. Mit einer Vorbemerkung von Jutta Ittner

Augenzeuge der Wahrheit? Eine Vorbemerkung Erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod wurde der jüdische Arzt und Schriftsteller Martin Gumpert (1897–1955) als wichtiger Zeitzeuge entdeckt. Er gehört zu den Menschen, die gerade deshalb so interessant sind, weil sie ihr Dasein im Schatten großer Namen führten. Es bedurfte gründlicher Spurensuche, um herauszufinden, daß der Grünschnabel, der die Nächte im Café des Westens durchdiskutierte und bereits 1913 anonym oder unter dem Pseudonym »M. Grünling« tiefgefühlte pubertäre Gedichte u. a. in Franz Pfemferts »Aktion« (...)

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Gurk, Paul

2/2019 | Die Vision des Paul Gurk von den Wolken. Mit einer Vorbemerkung von Gernot Krämer

Vorbemerkung Visionen spielen im vielgestaltigen, so gut wie keine literarische Gattung aussparenden Werk Paul Gurks eine nicht immer offensichtliche, aber doch zentrale Rolle, die in persönlichen Erfahrungen ihren Ursprung hatte. »Ich habe ja auch die ganz seltene Gabe oder Belastung«, schrieb er am 13. Juli 1937 an seinen Freund Rudolf Möbius, »der Fähigkeit völliger Verwandlung mit totalem Verlust des Zeitempfindens. Diese sehr zweideutige Gabe bemerkte ich zuerst vor vielen Jahren mit einem wirklich panischen Erschrecken im Zoologischen Garten in Berlin. Es schien gerade die Sonne (...)

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